Die Autorin

Julia Niederstraßer – Foto © privat

Julia Niederstraßer wurde 1992 in Norddeutschland geboren und studiert in Kiel momentan Deutsch und Philosophie. Zuvor hat sie eine Ausbildung zur Kauffrau für Marketingkommunikation abgeschlossen. Sie sitzt aufgrund einer Muskelerkrankung im Rollstuhl und liebt es daher die Charaktere ihrer Texte die Dinge erleben zu lassen, die sie selber nicht machen kann.

Das Buch

Mira hatte immer einen Traum: professionell Basketball spielen. Ihre Familie hat diesen Traum stets mitgeträumt. Doch dann hat er alles zerstört: ihre Familie, ihre Liebe zum Spiel, ihre Freundschaft zu Samuel. Deswegen hat Mira ihre größte Leidenschaft aufgegeben, zum Wohle aller anderen. Aber plötzlich steht Samuel mit seinen tiefbraunen Augen wieder vor ihr. Auch er hat den Sport, den sie beide lieben, aufgeben müssen. Auch ihn hat es an den Rand eines Abgrunds gebracht. Gefühle, die Mira nie erwartet hätte, erwachen plötzlich in ihr.
Es scheint Schicksal, dass die beiden sich nun wiedersehen. Denn sie merken bald: Nur wer seine Vergangenheit hinter sich lässt, kann seine eigene Zukunft schreiben. Und manchmal geht das einfach besser zu zweit.

Von Julia Niederstraßer sind bei Forever erschienen:
Wenn ich dich sehe
Falling into you

Julia Niederstraßer

Falling into you

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Januar 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-487-9


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Motto

»Sei du selbst«, sagen sie und ritzen ihre Pläne mit Schönschrift in dein Gehirn.
»Sei du selbst«, sagen sie und stopfen ihre Wünsche
sanft auf deine Lippen.
»So bin ich«, donnert das Herz und hofft, dir mit jedem Schlag näher zu kommen.

Prolog


Früher war ich davon überzeugt, jeder Moment sei kostbar. Ist es wert, bedacht zu werden, immer und immer wieder erzählt zu werden. Denn alle Augenblicke des Lebens gehören zu dir, sind dein. Fehlt eine Sekunde, fehlt ein Teil von dir, also erinnere dich. Das war unser Motto.

»Mi, weißt du noch? Als wir fünf waren und ich dir die Zuckerwatte ins Gesicht gedrückt habe?«

»Vor oder nachdem dein Dad abgehauen ist?«

»Danach, davor hattest du sie in den Haaren.«

Erinnere dich, selbst wenn es wehtut. Du darfst nichts vergessen, nie! Zu viele machen das, und ich verstehe jetzt, warum. Manche Augenblicke sollen nicht zu dir gehören, weil du sie nicht haben willst. Weil du nicht mit ihnen
klarkommst.

Jeder Moment ist wertvoll - das ist eine Lüge.

Manche Erinnerungen gehören ausgelöscht.

Andere müssen abrufbar sein, um die Momente zu überstehen, die alles andere als wertvoll sind.

Kapitel 1


»Starrst du schon wieder in der Gegend rum, Mira? Das tut dir nicht gut, komm rein, und hilf mir beim Tischdecken«, mahnt die helle Stimme meiner Mom durch das Küchenfenster.

»Bin gleich da«, gebe ich zurück und rühre mich nicht. Obwohl unser Garten mit den vier Hängematten, den sechs mächtigen Rosskastanien, einem kleinen Pool und einer Sitzgarnitur aus Korbgeflecht sehr gemütlich ist, dient er eher als Mini-Basketballplatz. Sowohl von den Hängematten, die an den Bäumen befestigt sind, als auch von den Sitzen aus kann der Korb beobachtet werden. Eine Tribüne, auf der ich mit den Beinen über dem Korbgeflecht der Armlehne sitze. So oft, wie ich meinen Gliedern in letzter Zeit die Blutzufuhr abkappe, feiern sie garantiert jede bewegliche Minute. Vielleicht pflichten sie meiner Mom sogar bei und würden schnellstmöglich in die Küche fliehen, weg von den fünfundvierzig Minuten auf der Gartengarnitur, die ein Muster in die Haut quetscht.

Aber sie können nicht, weil ich nicht kann. Denn während immer weniger Blut durch meine Beine fließt, klebt mein Blick nach wie vor an dem Basketballkorb. Es macht zu viel mit mir. Obwohl ich schon etliche Minuten daraufstarre, vergeht das Gefühl nicht. Es bleibt, als gehe es gar nicht anders.

Bei dem Anblick legt sich ein Schatten über mein hüpfendes Herz. Eine kleine Verdunklung, die kaum Platz einnimmt und doch so präsent ist. Eigentlich wäre ich gerade beim Training, würde in der Mädchen-Schulmannschaft mein Bestes geben und jede Sekunde davon genießen.

Ich fühle das Leder des Basketballs, höre die kanonenartigen Befehle unseres Coach und bilde mir ein, den Ball im Korb zu versenken. Eine Sekunde kann ich die Illusion aufrechterhalten.

Eine volle Sekunde, in der ich glücklich bin. Sie reicht nur nicht aus, um mich vergessen zu lassen, dass es schon lange nicht mehr so ist. Der Schatten auf meinem Herzen lässt mich nicht los, zeigt Vergangenes, das mich immer begleitet.

Ich vermisse die Stunden, die an mir vorbeigerauscht sind, weil ich einzig und allein Basketball im Kopf hatte. Ich möchte wieder wissen, wie es ist, zu spielen, ohne dass der Trainer, Dad oder Grandma meckernd am Rand stehen. Ich bin gespannt darauf, mit meiner Schwester, die endlich alt genug ist für die Highschool, im selben Team zu sein. Aber nichts davon trifft ein, denn ich bin nicht dort, sondern hier in unserem Garten und warte darauf, dass meine Schwester von genau diesem Training zurückkehrt.

Haben Schatten verschiedene Farbtöne? Je länger ich auf das Netz des Korbes starre, bin ich davon überzeugt: Mein Schatten trägt unterschiedliche Nuancen der Dunkelheit mit sich herum. Je düsterer die Gedanken, je mehr ich mir bewusst mache, was ich verpasse, desto dunkler wird der Schatten.

Das Metallnetz klirrt im Wind, viel leiser als bei einem Basketball, der hindurchfällt. Meine Schwester kann mit dem Leistungsdruck umgehen, anders als ich. Vinnie wird noch konzentrierter, ich raste aus. Mehr als ein Jahr ist es her, und trotzdem geht es mir nicht gut.

Der Atem entweicht zischend meinen Lippen, wie immer hoffe ich, dass das Geräusch lauter ist als meine Gedanken. Es ist eine Sache, den Schatten zuzulassen, sich einzugestehen, was man verpasst. Eine ganz andere ist es allerdings, die Erinnerungen freizugeben. Doch meistens ist der Schatten nicht allein und das Zischen nicht laut genug. Dann flackert auf, weshalb ich den Basketball aufgegeben habe. So lange, bis ich die Gedanken, die Erinnerungen wegschieben kann. Trotzdem bleibt jeden Tag der besorgte Tonfall meiner Mom, sobald sie mich in der Nähe eines Basketballs sieht. Oder der warnende Blick meiner Schwester und der kurze Besuch von Dad, der nur noch Gast in seinem eigenen Haus ist. Schweigt also mein Kopf, übernimmt meine Familie den Job der Erinnerung, und nachts sorgt der ständig wiederkehrende Vogel-Albtraum dafür.

Und sie alle haben jedes Recht der Welt, mich niemals vergessen zu lassen. Selbst wenn ich es eigentlich muss, um nicht durchzudrehen. Deshalb gewähre ich mir nur zu verdrängen, niemals aber zu vergessen. Denn es ist meine Schuld. Es ist und bleibt meine Schuld, dass die Gesichter meiner Eltern nicht immer so entspannt waren, sondern wütend oder tränennass. Es ist meine Schuld, dass Vinnie mit so jungen Jahren mehr Streit als Freude erfahren hat.

Dass ich der Auslöser für all das gewesen bin, versuche ich täglich beiseitezuschieben. Ich ignoriere die Bilder meiner Mom, wie sie mich mit entschlossener Miene festhält, während ich schreie, weine und immer wieder brülle, dass ich es nicht mehr aushalte. Dass ich dem Druck von Dad, Grandma und dem Team nicht standhalten kann und alles hinwerfe, wenn das nicht bald aufhört. Ich ignoriere die Erinnerungen an meine Schwester, die durch die ständigen Streitereien zu viel getrunken hat. Täglich versuche ich zu vergessen, dass Mom Dad angefleht hat, aufzuhören, mich zu drillen, und dass er es nicht konnte. Dass sie ihn deswegen verlassen hat, allein um mich zu schützen. Dass sie meinetwegen unglücklich war. Genau wie meine Schwester, für die die Trennung zu hart war, weshalb sie durch den Alkohol ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

All das verdränge ich und fokussiere mich auf den Lichtblick: Obwohl alles meine Schuld war, hatte ich geschafft, es wiedergutzumachen. Zumindest ein bisschen. Seit ich nicht mehr spiele, braucht Vinnie sich nicht mehr zu betrinken. Denn die Streitereien unserer Eltern sind weniger geworden. Mom muss mich nicht schützen, und Dad ist nicht unentwegt enttäuscht von meinen Leistungen. Es funktioniert so gut, dass Dad uns besuchen kommt und er und Mom es noch mal miteinander versuchen. Auch wenn sie darauf besteht, dass er nicht mehr bei uns wohnt, sind die Gesichter meiner Familie wieder entspannter. Diese Bedingung hat Mom gestellt, um Vinnie vor dem Druck zu bewahren, den Dad eines Tages vielleicht auch auf sie ausübt.

Das Opfer, was ich dafür bringen musste, ist es wert. Zumindest in den meisten Augenblicken, in denen ich es hinbekomme, nicht darüber nachzudenken. Nicht an das Spiel zu denken, das ich so sehr liebe.

Ich atme laut aus, kralle die Finger in die Rückenlehne und drücke die Stirn auf das Korbgeflecht. Ich weiß nicht, wieso ich mir das antue, weshalb ich hier so oft sitze und dem Sport hinterhertrauere, der mir und meiner Familie unendlich viel zugemutet hat. Es quält mich, den Basketballkorb anzustarren, und doch tue ich es immer wieder.

Obwohl ich es meide, den Schulsportplatz zu betreten, wandert mein Blick automatisch zu den Körben, wenn ich dort bin. Es tut weh, aber es wäre noch schlimmer, dem Basketball komplett den Rücken zu kehren. Also starre ich, trainiere meine Schwester und die D-Fighters und genieße die Sekunden Glück, die es mir gibt. Trotzdem hat Mom recht. Hier draußen zu sitzen und den Basketballkorb anzustarren, ruft den Schatten und die Erinnerungen hervor. Es tut mir nicht gut, aber ich kann nicht anders. Wahrscheinlich bin ich masochistisch veranlagt. Ich pruste ungläubig und hebe den Kopf.

Mein Blick trifft ihren. Das giftige Grün ihrer Augen erreicht mich sogar aus der Entfernung, ein kalter Schauer kriecht über meinen Rücken. Kein Gartentor der Welt würde mich vor der Missbilligung meiner Grandma schützen, deren Gesicht hinter dem Tor zwischen den Bäumen auf meinem haftet. Nie verzieht sie eine Miene, dennoch spricht der Ausdruck für sich. Wie eine Mauer spannen sich die Lippen, lassen kein Lächeln oder Wort hindurch.

Obwohl ich mit der Anwesenheit von Grandma hätte rechnen müssen, bin ich wie schon die letzten Monate damit überfordert, auf sie zu reagieren. Das einzig Gute daran ist, dass ich durch ihre Gestalt von den miesen Gedanken abgelenkt werde.

Ich schaffe es nicht, den kalten Schauer abzuschütteln und ein Gespräch mit meiner eigenen Großmutter anzufangen.

Zu deutlich sehe ich den Moment, der ihre Augen in Gift verwandelte. Spüre, wie mein Magen eine Etage tiefer sackte, mein Herz mit sich riss und einen Teil davon betäubte.


Vinnie hockt neben mir auf dem Bett und behält die geöffnete Zimmertür und den Flur im Blick.

»Dads Nasenflügel haben gebebt, hast du gesehen? Er hebt also nicht nur wegen uns ab, sondern auch dank Grandma«, scherzt sie. Die Augen huschen unsicher vom Flur zu mir und wieder zurück. Das Herz muss in meine Ohren gewandert sein, es schlägt laut auf das Trommelfell ein.

»Er klärt das mit ihr. Wenn selbst Dad begriffen hat, dass es für alle besser ist, dass ich nicht mehr spiele, muss Grandma das auf jeden Fall einsehen. Und dann beben Dads Nasenflügel wieder weniger«, erläutere ich und höre mich selbst kaum. Das Schlagen auf dem Trommelfell überschattet meine Stimme. Nur gegen die Stille im Haus kommt es nicht an. Ich hätte erwartet, die Diskussion hinter der gegenüberliegenden, geschlossenen Tür zumindest bruchstückhaft mitzubekommen. So aber ist der Lärm in mir das einzige Geräusch, das mit mir und meiner Schwester wartet.

Die Tür öffnet sich schwungvoll, Vinnie und ich zucken zusammen, und Grandma stürmt heraus. Mein Herz verstummt.

»Du wusstest mal, was es heißt, zu kämpfen!«, brüllt sie und wirbelt zu Dad herum, der mit bebenden Nasenflügeln im Türrahmen steht. Grandmas Wirbeln wirkt eher wie ein anmutiges Gleiten. Dad baut sich vor seiner Mom auf und deutet mit gestrecktem Finger an ihr vorbei. Keinen Millimeter rührt er sich, sondern zeigt bedeutend auf Vinnie und mich.

»Und genau deswegen lebe ich von meiner Familie getrennt. Nur wenn ich akzeptiere, dass Mira nicht mehr spielt, kann die Familie noch gerettet werden. Und du musst das auch. Es geht um Mira, nicht um uns!«

Grandma wirbelt erneut umher, marschiert auf mich zu und verkündet mit erhobener Stimme: »Wenn du jetzt aufhörst, habe ich keine Enkelin mehr, du wirst sterben. Langsam und kümmerlich, weil du einfach aufgibst!« Vinnie holt hörbar Luft. Grandmas Blick bohrt sich in meinen, und aus ihren wackelpuddinggrünen Augen wird etwas Giftiges. Mein Magen sackt eine Etage tiefer und reißt das Herz mit sich. Ich balle die Hand zur Faust, immer wieder, als würde sie dem Herzen beim Pumpen helfen. Eine Kälte besetzt die Fingerkuppen und breitet sich in jeder Zelle aus. Alles ist betäubt, nur nicht genug, um nichts mehr mitzubekommen.

Mom poltert die Treppe rauf und blickt zwischen uns hin und her.

»Was ist hier denn los?«

Grandma streicht über ihre weiße Faltenbluse und antwortet gebieterisch: »Sobald ihr wieder bei Sinnen seid, könnt ihr gern zu mir kommen. Bis dahin habe ich euch nichts mehr zu sagen.« Ich könnte vieles erwidern. Erklären, dass ich nicht aufgebe und dass das mein Wille ist. Aber all das habe ich ihr andauernd erzählt, und jetzt kann ich es nicht mehr.

Denn ein Stückchen meines Herzens ist betäubt, und niemand bekommt es mit. Niemand sieht, dass ein winziges bisschen von mir gestorben ist.

Sie dreht sich um und gleitet die Stufen hinab.


Ich weiß zu genau, wie es ist, von Grandma fallen gelassen zu werden, und deshalb kann ich auch jetzt nicht mit ihr sprechen. Ich blinzele, als könne ich damit das warme Wackelpuddinggrün von früher zurückholen. Doch mir ist klar, dass das nur passieren wird, falls ich jemals wieder anfange zu spielen.

Egal, wie stark sie mich mit meinem Dad unter Druck gesetzt hat oder wie oft sie mir zu verstehen gegeben hat, dass ich mich anders ernähren müsse, wenn ich an die Spitze wolle, konnte ich stets das Wackelpuddinggrün erkennen. Sie stand hinter mir, wusste, wie sehr ich Basketball liebte, und dann habe ich Nein gesagt. Immer und immer wieder, aber sie wollte es nicht akzeptieren. Nachdem selbst mein Dad, der mindestens ebenso wie seine Mom daran interessiert war, dass ich Erfolg hatte, begriff, dass ich mit dem Druck nicht umgehen konnte, musste er eingreifen. Seit dem Machtwort ist das Grün giftig, so sehr, dass Grandma mit niemandem von uns mehr redet.

Stattdessen beobachtet sie. Gesellt sich mit großer Distanz zu mir und wartet am Gartentor darauf, dass Vinnie vom Training zurückkehrt oder meine Eltern hinauskommen. Nur um jeden von uns mit Schweigen zu strafen, weil sie meinen Ausstieg aus dem Team befürworten.

Am Anfang dachte ich, es könnte ein Annäherungsversuch sein, doch die giftigen Augen sollen den Schatten nur noch dunkler werden lassen, mir verdeutlichen, was ich verloren habe. Das realisierte ich nach und nach, weil sie jedes Mal stumm starrt.

Trotzdem kann ich nie gehen. Ich schaffe es nicht, auch nur mit dem Bein zu zucken, um mich vom Basketballkorb und der größten Gegnerin meines aufgegebenen Sportlerdaseins abzuwenden.

»Mira, wie oft haben wir schon darüber gesprochen …«, mitten im Satz bricht Mom ab und steht halb in der Terrassentür. Ich reiße mich vom Anblick meiner Grandma los, die sich, ohne ihre Schwiegertochter zu beachten, umdreht und davongleitet. Mit hundertfünfzig Jahren wird sie vermutlich immer noch graziler laufen als so manche Königin. Der kalte Schauer verschwindet, dafür bleibt der besorgte Ausdruck auf dem Gesicht von Mom.

»Es ist jedes Mal ein Schock, sie zu sehen«, gibt sie zu und schlängelt das Geschirrhandtuch von einer Hand zur nächsten. Ich runzle die Stirn und gucke automatisch zum Basketballkorb. Vinnie müsste demnächst mit dem Training fertig sein.

Spöttisch sage ich: »Das klingt, als wäre sie eine Schwerverbrecherin.« Innerlich stimme ich ihr allerdings zu. Mom verengt die Augen und kann sich nicht von dem Gartentor lösen, hinter dem Grandma eben verschwunden ist.

Mit spitzer Miene erwidert sie: »Wer mit seiner Familie bricht, nur weil die Enkelin eine Entscheidung trifft, die man nicht gutheißt – oder weil der Sohn seine Tochter beschützt -, ist so was Ähnliches.« Oder einfach davon überzeugt, das Richtige zu tun. So sehr sie mir auch wehgetan hat, kann ich den Gedanken nie ganz beiseiteschieben.

Ich rappele mich langsam auf und knete die Beine, bevor ich aufstehe, damit der Blutfluss wieder angeregt wird.

Ein Teil meines Herzens wird immer dunkler und betäubter sein als der Rest.

»Hat Dad …«, beginne ich und sehe Mom unsicher von der Seite an. »Spricht er immer noch nicht über die Auseinandersetzung mit Grandma?« Sie fährt nachdenklich über das Geschirrtuch und guckt überallhin, nur nicht zum Nachbarhaus, in dem besagte Frau wohnt.

»Es sind viele unschöne Worte gefallen, und irgendwann werden die zwei darüber sprechen müssen. Das hat aber nichts mit dir oder Vinnie zu tun. Ihre Ansichten haben deinem Dad nicht immer gutgetan, das musste mal raus. Als wir selber noch Basketball gespielt haben, sind wir ihr blind gefolgt. Es hat Sinn gemacht, was uns deine Grandma von klein auf eingebläut hat. Aber sie nimmt es einfach zu ernst. Manchmal glaube ich, sie nimmt es deinem Dad übel, dass er am College andere Interessen hatte. Dabei ist das absolut abwegig. Immerhin hat sie selber nur privat und nie in einem großen Team gespielt, und jetzt tut sie so, als läge es schon seit Jahren in der Familie, Basketball-Profi zu werden – so ein Blödsinn, niemand von uns hat ernsthaft darauf gehofft.« Ich schlucke und setze ein Lächeln auf. Das Niemand fühlt sich plötzlich extrem weit entfernt an.

Mom schüttelt den Kopf und fügt gereizt hinzu: »Die jahrelangen Predigten machen so viel kaputt: Kämpfe für das, was du liebst, andernfalls lebst du nicht.«

»Vinnie ist gleich da, Zeit, den Tisch zu decken.« Grandmas Weisheit ist zu viel für mich.


Gedankenverloren verteile ich die Butter auf dem Schwarzbrot und greife nach dem erstbesten Aufstrich, ohne zu wissen, in was ich gleich hineinbeißen werde. Ich bin in Gedanken und formiere im Kopf die neue Mannschaftsaufstellung. Daher höre ich zwar die Stimmen meiner Eltern, verstehe sie aber nicht.

Wenn Kimberley im Spiel bliebe, müsste ich mindestens zwei andere Spielerinnen herausnehmen, die zusammen den gleichen Klassifizierungswert wie sie besitzen. Das verringert wiederum die Chancen auf den Sieg.

Vierzehn, die magische Zahl beim Rollstuhl-Basketball. Zwei Ziffern, die für Gerechtigkeit sorgen sollen. Zahlen, die die körperliche Verfassung der Spielerinnen berücksichtigen und gleichzeitig einige von ihnen ausschließen. Denn wenn der Gesamt-Punktwert der Klassifizierung des Teams diese magische Zahl überschreitet, muss aussortiert werden. Sobald Spielerinnen wie Kimberley auf dem Feld sind und somit eine 4,5 mit ins Spiel bringen, können eigentlich nur noch Mannschaftsmitglieder agieren, die einen wesentlich niedrigeren Punktwert haben. Was bedeutet, dass jede Mitspielerin mit einer hohen Zahl fast automatisch draußen bleiben muss. Wie ich es hasse!

Schließlich sind wir eine Mannschaft. Nicht unbedingt die beste, aber wir gehören zusammen. Zwölf Menschen, die als Spielerinnen und Ersatzspielerinnen in Schieberollstühlen ausgesprochen gut einem handelsüblichen Basketball hinterherjagen und diesen mit ihrer Wurfkraft in den Korb katapultieren. Und ich, die für die Taktiken, Aufstellungen und Trainingseinheiten zuständig ist. Wie soll ich da auch nur einer einzigen Person mitteilen, dass ihr Punktwert einfach zu hoch ist? Dass die körperliche Einschränkung nicht stark genug ist, um auf dem Feld während eines Spiels der Highschool-Meisterschaft stehen zu dürfen. Denn genau das sagen diese Zahlen aus.

Je höher der Wert, desto weniger Einschränkungen hat die Spielerin. Natürlich steckt dahinter ein Sinn, das ist mir klar. So können auch Sportlerinnen eingesetzt werden, die weitaus mehr Schwierigkeiten in den Bewegungen haben als andere. Ein guter Gedanke, der mich nur leider wenig tröstet. Was bleibt, ist das Aussortieren, für das ich zuständig bin. Wie herzlos. So was kann ich nicht.

Arianna ist da viel besser. Mit dribbelndem Ball wird sie morgen garantiert die Augen verdrehen und grinsen. Ich höre schon, wie sie mit gespieltem Ernst sagt: »Spuck’s aus, wer von uns ist nicht behindert genug?«

Als ich das erste Mal so herumgedruckst habe, war Arianna – ganz die rettende beste Freundin – eingesprungen. Und hat mich mit genau dieser Äußerung erschrocken zusammenzucken lassen, obwohl wir schon ewig befreundet sind. Ich kenne ihre Art, weiß, wie sie mit ihrer Lähmung umgeht. Und dennoch erschrecke ich mich viel zu häufig. Was Arianna an manchen Tagen gezielt provoziert. Damit ich endlich auch im Umgang mit den anderen körperlich Beeinträchtigten … oh, schön, laut meiner besten Freundin Behinderten, abgehärtet werde. Daher ist mir auch jetzt schon klar, dass sie morgen grinsend auf mich warten wird. Bereit, ihren Spruch loszulassen. Es sei denn, ich werde einfach eine klar formulierte Entscheidung treffen und nicht herumdrucksen. Ohnehin kann ich mir nicht erklären, weshalb es mir so schwerfällt, Worte wie Behinderung und behindert auszusprechen.

In dem halben Jahr, in dem ich die D-Fighters nun schon trainiere, sollte ich mich langsam mal daran gewöhnt haben. Außerdem habe ich mit allen Teammitgliedern Spaß, verstehe mich mit ihnen und kann mit Arianna Witze über deren Krankheit machen. Trotzdem ist es komisch. Jemanden aus dem Spiel zu nehmen, tut mir leid. Selbst wenn es, wie morgen, nur das Training betrifft. Zumal es nur zwei kleine Zahlen sind, die darüber entscheiden, wessen Behinderung letztendlich nur zweiter Klasse ist (Seht ihr, ich kann auch sehr gut Witze über dieses Thema machen!). Wenn ich es irgendwie schaffe, dass jede Spielerin gleich häufig auf dem Feld ist, und dabei berücksichtige, auch ab und an eventuell zu gewinnen, müssen doch alle glücklich sein, oder? Ich könnte eine Tabelle erstellen oder …

Ein mechanisches Klicken der Wohnungstür ersetzt die Stimmen meiner Eltern, die mich während der Überlegungen nicht gestört haben. Das Klicken lässt die Gedanken vergehen und meine Eltern innehalten. Automatisch erhebe ich mich und gehe zielstrebig zu unserem Kühlschrank, der drei ausladende Schritte vom Esstisch entfernt ist. Der tägliche Gang für meine Schwester, den ich seit einiger Zeit allein übernehme, anstatt mich mit meiner Grandma abzuwechseln. Ein kalter Schauer kriecht über meinen Rücken, lässt den Erdbeer-Bananen-Smoothie kurz in meiner Hand wackeln. Ich strecke den Arm zur Seite und halte ihn Vinnie hin. Mit verschwitzten, halblangen, braunen Haaren nickt sie und nimmt ihn entgegen. Erschöpft lässt sie sich auf dem Stuhl neben meinem nieder. Bevor sie sich hinsetzt, eilen meine Eltern wie immer auf sie zu und entledigen sie ihrer quietschpinken Sporttasche und der schwarzen Trainingsjacke. Ein Team. Eingespielt, abgestimmt und seit vier Monaten zu den Abendessen wieder vereint.

Lächelnd nehme ich neben ihr Platz und versuche es aufrechtzuerhalten, als ich beiläufig auf das Motiv auf ihrem T-Shirt schaue. Ein Vogel, der mich an den Rand meines Albtraums bugsiert. Mein Lächeln wackelt. Unbemerkt, denn Vinnie berichtet bereits von ihrem Basketballtraining.

Ich bin geübt darin, nicht an den Traum zu denken, der jede Nacht noch dunkler macht. Trotzdem kann ich es nicht komplett abschalten. Ich höre meiner Schwester zwanghaft zu und spiele mit dem Ohrring in meinem Ohr herum, um mich abzulenken. Es ist unser Sport, der die Emotionen auf dem faltigen Gesicht meines Dad zum Tanzen bringt, die müden Knochen meiner Mom belebt und Vinnies stets konzentrierte Augen euphorisch glänzen lässt. Und in mir immer das Gefühl der glücklichen Familie hervorruft, was wir so lange nicht hatten. Ein Team, ein Wirgefühl.

Wären da nur nicht die Vögel, die mich an den Albtraum erinnern. Oder der Schatten, der mir zwar mithilfe von Basketballkörben schmerzhaft verdeutlicht, was ich zurückgelassen habe, aber ebenso sehr eine glückliche Sekunde schenkt. Schluss damit! Das hier ist meine vereinte Familie. Entschlossen denke ich an Vinnies letzten Heimsieg und die Gesichter meines Familienteams. Auf den leeren Stuhl neben Dad achte ich nicht, spare ihn aus, so wie es hier jeder tut. Langsam erscheint mein Lächeln wieder an seinem gewohnten Platz, und ich beiße in mein Brot. Uäh, Leberwurst.

Kapitel 2


»Sag es!«, schmunzelt Arianna auf meinem Handybildschirm und fasst ihr schweres schwarzes Haar zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Video-Anrufe sind eine tolle Erfindung, wer auch immer sich das ausgedacht hat, sollte einen Feiertag nach sich benannt bekommen.

Gelassen lehne ich mich in meinem Bett zurück und zucke mit den Achseln. Wie ungewohnt es sich anfühlt, dabei keine pieksigen Haarspitzen mehr zu spüren, sondern luftige Leere. Nach drei Wochen habe ich mich immer noch nicht an meine wilde Kurzhaarfrisur gewöhnt. Beiläufig streiche ich über meine Strähnen. Sie sind wesentlich dunkler als Vinnies. Ein bisschen wie Laub, beteuert Arianna jedes Mal, sobald ich die helleren Töne lobe und darüber nachdenke, meine eigenen aufzuhellen. Laub sei gemütlich, warm und einladend. Denn wer will nicht gern über eine Laubdecke laufen, nur damit es leise unter den Füßen raschelt? Arianna besitzt definitiv die Gabe, Dinge positiv zu sehen.

»Mademoiselle?! Bist du bei mir oder noch bei der Aufstellung?«, unterbricht sie meine Haarangelegenheiten. Sie war in den Sommerferien eindeutig zu lange in Frankreich.

Möglichst gelassen zucke ich erneut mit den Achseln: »Die steht, ich lasse einfach alle spielen.«

Tadelnd verdreht sie die Augen und meint dennoch mit gutherzigem Klang in der Stimme: »Holy shit, jede Woche das Gleiche. Ehrlich, Mira, wir kennen alle die Regeln, es wird nun mal durchgewechselt. Du machst dir das Leben so schwer.« Vielleicht hätte ich es sogar ernst nehmen können. Aber irgendwie verliert der Tadel seine Ernsthaftigkeit durch die neongelben Kontaktlinsen, die sie trägt. Heute ist sie also eine Katze. Oder krank. So ganz gesund sieht das nämlich nicht aus.

»Ich möchte einfach nicht, dass jemand wegen mir und meiner Entscheidung desillusioniert wird. Also lass mich morgen mein Konzept vorstellen, ohne vorher schon zu meckern. Ich bin halt für ein starkes Teamgefühl.« Sie holt ungehalten Luft, doch ich gehe dazwischen und deute auf ihre Augen, indem ich meinen Finger in Richtung des Handybildschirms bewege.

»Wieso ist heute die Katze dran? In der Schule waren deine Augen noch blau mit Sternen.«

»In der Schule war das kleine, liebe Sternenmädchen auch noch angebracht. Als meine Mom sich dann plötzlich ankündigte, waren die Krallen angesagt«, antwortet Arianna leichthin. Die steile Falte auf ihrer Stirn verrät jedoch, wie nah ihr das Thema geht. Ihre Mom verursacht diese Falte regelmäßig, sodass das runde Gesicht meiner besten Freundin plötzlich von einer Furche verunstaltet wird.

»So schlimm?«, hake ich mitfühlend nach.

Sie schnalzt mit der Zunge. »Es ist besser, wenn sie uns gar nicht erst besuchen kommt.«

Ich nicke zustimmend. So hart es klingen mag, wer seine Familie verlässt, nur weil die Krankheit des Kindes zu anstrengend ist, braucht nicht wiederzukommen. Jedenfalls nicht, um ausschließlich über das eigene, unsagbar aufregende Leben zu schwärmen und Vorhaltungen zu machen, wie man das eigene führen soll. Sie zerstört mehr, als dass sich Arianna darüber freut, ihre eigene Mom zu sehen. Die andauernden Geschichten ihres Musikerlebens können nur traurig machen. Sie prahlt und erzählt Anekdoten, sobald sie über die Türschwelle schreitet, dabei ist sie lediglich die Frau eines unbekannten Möchtegern-Rocksängers. Nicht ein einziges Mal erweckt sie den Anschein, ihre Familie oder ihre Tochter zu vermissen. Sie tut nicht mal so. Seit acht Jahren wiederholt sich ihr Verhalten. Das einzig Gute daran ist wahrscheinlich, dass sich diese Besuche auf jedes Vierteljahr begrenzen.

Als Außenstehende hätten einige diese Frau wahrscheinlich längst rausgeworfen, sobald sie kommt. Sogar Arianna nimmt sich das ständig vor, selbst ihr Dad hat es etliche Male angeboten. Doch so sehr sie ihre Mom verabscheut, irgendwas hält sie bei ihr. Etwas, das wohl nur eine Tochter versteht.

Ich warte noch einen Moment ab, um ihr die Gelegenheit zu geben, weiterzusprechen. Arianna schüttelt sich jedoch nur, als müsse sie einen Geist vertreiben, der sie eisig umklammert. Energisch reibt sie die Furche auf der Stirn.

»Anderes Thema. Ich habe Dating-Portale für uns durchsucht, die besten Kandidaten zeige ich dir morgen in der Freistunde. Du glaubst gar nicht, was da für Kerle rumlungern. Sei froh, dass ich die Vorauswahl getroffen habe.«

Gähnend spähe ich auf meinen Nachtschrank, der wie ein Basketballkorb aussieht. Anstelle eines Loches für den Ball gibt es eine dünne, weiße Platte, auf der mein Wecker steht. Vier leuchtend rote Zahlen scheinen mir entgegen. Zweiundzwanzig Uhr.

»Warum genau machen wir das noch mal? Ich schaffe es nicht mal, noch länger mit dir zu quatschen, weil ich so müde bin. Wie soll ich da noch einen Kerl einbauen?«, werfe ich zwar ein, weiß aber, dass es mit Arianna nur witzig werden kann.

»Männer, meine liebe Mira, machen das Leben wesentlich spannender. Deshalb machen wir das. Und eventuell, weil wir in der freien Wildbahn keine Zeit dafür haben.«

»Also treffen wir uns auch nur online mit denen? Das Zeitproblem haben wir nach dem Kennenlernen ja immer noch«, bemerke ich.

Altklug kommentiert sie: »Ein Schritt nach dem anderen, wir behalten erst mal im Kopf, dass Männer spannend sind. Der Rest kommt hinterher. Vielleicht lernen wir auch einfach nur haufenweise Kerle kennen. Kann ja nicht schaden, oder?«

»Abgesehen davon, dass diese Treffen tödlich enden könnten, weil wir aus Versehen einen mörderischen Psychopathen daten, kann uns wirklich nichts passieren. Von daher: Ich freue mich!«, erwidere ich sarkastisch und grinse.

Ich taste blindlings nach meiner Schlafbrille neben dem Wecker und positioniere sie auf meiner Stirn, damit ich noch sehen kann. Zwei aufgenähte Glubschaugen baumeln an dem Sichtschutz über meinen echten hinunter. Ein Geschenk von Arianna, das die bösen Träume abhalten soll. Andere nutzen dafür Traumfänger, aber hey, so ist meine beste Freundin eben.

Wieder einmal verdreht sie die Augen, winkt und legt auf. Lächelnd kuschele ich mich in meine bordeauxfarbene Wolldecke mit dem Bleistiftmuster. Selbst wenn es gefährlich werden kann, wir einen Reinfall nach dem anderen erleben und unsere Herzen nicht vor Freude durchdrehen, freue ich mich darauf. Denn Arianna nimmt solche Aktionen ernst. Beißt sich fest und ist mit dem ganzen Herzen dabei, ohne zu verzweifeln, wenn einer ihrer Pläne nicht aufgeht. Es kann nur witzig werden. Außerdem, ganz vielleicht entpuppt sich einer von denen tatsächlich als der Mann unserer Träume.


Ich wälze mich hin und her, spüre, wie ich mich in der Decke verheddere, und kann nichts dagegen tun. Der Albtraum mit den Vögeln kommt. So deutlich die Signale meines Körpers sind, so machtlos bin ich. Denn ich bin dem Schlaf bereits viel näher als dem Wachzustand und bekomme doch zu viel mit, um ruhevoll auf den Traum zuzugleiten. Ich werde ihn erleben, mich wie einer der Vögel fühlen und nicht aufwachen. Erst am Ende, dem Ende meiner Artgenossen, kann ich dem Albtraum entfliehen. Das weiß ich, und trotzdem wälze ich mich hin und her. Schneller, immer schneller im Takt meines Pulses. Ich stöhne, bin mir bewusst, dass das Geräusch gleich ganz anders klingen wird. Höher, quietschiger, fiepsig …


Ein synchrones Rascheln von Gefieder, ein fröhlicher Chor aus Zwitscherklängen und die parallelen Hüpfer meiner Brüder und Schwestern, zu denen ich perfekt passe. Auf ein unsichtbares Kommando hin erheben wir uns gemeinsam und lassen den sandigen Untergrund hinter uns. Im Gleichtakt schlagen wir unsere Flügel, auf und ab, bis wir höher und höher steigen. Mit jeder kalten Luftschicht, die wir passieren, rücken wir enger zusammen, verlangsamen unsere rauschenden Bewegungen und gleiten den bauschigen Wolken entgegen. Eine schwarz glänzende Linie treibt auf sie zu, unterbricht die geschlossene Ansammlung feiner Wassertröpfchen, die sich zu einem Himmelsgebilde formiert haben, und schwebt gleichsam weiter. Eine Linie aus unzähligen Federn, die zusammengewachsen sind, ohne dass ihr jeweiliger Anfang erkennbar ist. Nach einigen weiteren Wolkendurchbrüchen, die unsere Flügellinie nicht aus der Balance bringen, neige ich meinen Kopf wie immer zu meinen Brüdern und Schwestern. Ihre gelblichen Schnabelspitzen dirigieren uns nach wie vor geradeaus, und unser Gefieder weht in dieselbe Richtung. Ich kann nicht beurteilen, wo meine Flügel enden und die nächsten beginnen. Angestrengt fokussiere ich die schwarz glänzende Linie, versuche eine Grenze auszumachen. Aber wir sind ein Schwarm, wir existieren gemeinsam. Jedes Mal, wenn ich das begreife, habe ich das Gefühl, als würde mindestens ein Wurm meinen Schnabel wieder heraufkriechen. Nur der Gedanke an neue Wolken, durch die ich mit einem Salto fliege, hält das längliche Vieh zurück. Ich, der kleine schwarze Vogel, der unbekannte Wege ganz allein zurücklegt. Aufregung braust durch meine Adern, lässt mein Herz glücklich schneller flattern. Ich …

Panisches Gezwitscher ertönt plötzlich hinter mir, ohne dass meine Stimme im Chor vertreten ist. Irritiert wende ich und stoße mit meinen wild schlagenden Flügeln gegen kaltes Metall. Die Linie gleicht jetzt einem wilden Meer aus Punkten, der Chor klingt schief. Viel schlimmer ist allerdings, dass meine Brüder und Schwestern hinter dem Metall sind und ich weder zu der zerstörten Linie noch zu dem schlechten Chor gehöre. Hektisch ziehe ich weite Kreise, suche eine Lücke, doch um mich herum befinden sich nur kalte Streben, und meine Flügel werden mit jedem schnellen Auf und Ab lahm. Mein Gefieder ist zerzaust, und aus meinem Schnabel piepsen völlig falsche Laute. Mein Schwarm rückt weiter in die Ferne, sodass ich noch wilder versuche, aus diesem Käfig herauszukommen, aber das Einzige, was ich schaffe, ist, einen kleinen Sandsturm unter mir zu erzeugen. Ich bin viel zu weit in den Lüften, wie kann da Sand sein? Ängstlich sehe ich hinunter, fliege langsamer, als unzählige dumpfe Töne mich verschreckt an das Metall pressen. Mit geweiteten Augen stiere ich zwischen den Streben hervor und stoße ein kreischendes Zwitschern aus. Schwarze Körper liegen kreuz und quer auf dem sandigen Untergrund. Das Gefieder rot gesprenkelt, die Flügel geknickt. Ein Federregen verteilt sich segelnd auf meine Brüder und Schwestern. Ich stelle das Schlagen bestürzt ein, falle zu Boden und lande im gleichen Moment im Sturzflug, als sich die kalten Streben klickend auflösen. Verzweifelt starre ich meinen toten Schwarm an, kann mich ihnen nicht nähern. Und dennoch: Aufregung braust durch meine Adern, lässt mein Herz glücklich schneller flattern. Freiheit.

Kapitel 3


Wer uns nicht kennt, könnte meinen, Arianna und ich wären zwei völlig normale Teenager. Ausgelassen, ein wenig müde von der letzten Party und in dem Maße zufrieden, wie es für Jugendliche üblich ist. Tatsache ist allerdings, wir schummeln uns heute wieder mal durch den Tag. Der nächtliche Albtraum voller Vögel hat mich erst in den Morgenstunden losgelassen, und meine beste Freundin musste viel zu lang an ihre Mom denken. Von daher bahne ich uns zwar routiniert einen Weg durch die knapp zweitausend Mitschüler der St. Joseph-Highschool, kann jedoch nicht unbedingt mit Schnelligkeit glänzen. Das angesteuerte Ziel für die Freistunde ist unser Stammplatz in der Nähe des Sportplatzes.

Ein Plateau bietet uns den perfekten Überblick über die schwitzenden Sportler. Es ragt in etwa zwei Meter Höhe ein Stück über den kurz gemähten Rasen des Sportplatzes. Hier oben erreicht uns das Getümmel der Schülerschaft nur in weit entfernter Distanz, und die Atemgeräusche der Athleten wehen als ein leises Prusten zu uns herauf.

In der Regel kommt niemand hierher. Warum auch? Auf dem Asphalt stehen lediglich eine knorrige Rosskastanie und eine Bank, deren Lack abgesplittert ist. Allenfalls der Baum könnte ein Lockmittel zu diesem Ort sein, schließlich ist er das Symbol unseres Bundesstaats.

Arianna sitzt wie immer neben der Bank, während ich es mir darauf im Schneidersitz gemütlich mache. Meine beste Freundin schiebt die Sonnenbrille ins Haar und zieht in der frühherbstlichen Wärme ihr Handy aus dem Maxirock.

»Ist es zu übertrieben, wenn ich deinen derzeitigen Look folgendermaßen beschreibe: eine richtige Mademoiselle! Das senfgelbe Trompetenärmelshirt verleiht meinen Laubhaaren und dem Baumstammbraun meiner länglichen Augen in dem schmalen Gesicht einen herbstlichen Unterton. Heftig schön!«

»Gegenfrage«, beginne ich und bemühe mich, ernst zu bleiben. »Wenn sich jemand selber so beschreibt, was denkst du dann von der Person?«

Arianna tippt auf das Handy ein und reckt dabei das Kinn. Sie beteuert: »Ich wäre völlig aus dem Häuschen, weil die Person Stil- und Selbstbewusstsein hätte.« Triumphierend hält sie mir das Display hin, ohne mich wirklich gucken zu lassen. »Mr GentleLove sieht das übrigens genauso.«

»Wer?«

Ihr Grinsen ist so breit, als hätte sie eine Melone verschluckt.

»Einer unserer Dates. Er wollte wissen, was du anhast«, erklärt sie lapidar, woraufhin ich den Mund öffne. Seit wann ist Arianna so leichtgläubig?

Mit Nachdruck fordere ich: »Ari, du musst den Kerl löschen, der klingt gruselig. Das musst du doch gemerkt haben.«

»Holy shit, was denkst du denn? Ich bin doch nicht blöd. Sobald der Typ anzüglich wird, ist er raus.« Meine Frage, was noch anzüglicher sein kann, als sich zu erkundigen, was der andere anhat, geht in dem Unheil verkündenden Klackern von Stilettos unter. Ich hebe den Blick und bin mir sicher, dass mich das Universum hasst.

Mrs Campbell, die Direktorin, marschiert mitten in unserer Freistunde auf uns zu. Ihre gertenschlanke Statur mit dem Overall, die blonden Locken, die einbetoniert sein müssen, da sich nicht ein Haar bewegt, und die ernste Miene sehe ich das erste Mal seit Jahren so nah. Ein mulmiges Gefühl durchfährt mich. Ich glaube, unser letztes Gespräch drehte sich um Schinkenpizza, die ihr Sohn und ich uns teilen wollten. Lächelnd hatte sie mich daran erinnert, dass ich den Schinken bei der letzten Bestellung so eklig fand, dass ich ihn wieder ausgespuckt habe. Ich bin mir nicht sicher, aber ich bin dann wohl bei einer Margherita geblieben. Ich schüttele mich bei der Vorstellung und versuche einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Arianna hingegen kann die Verwunderung schlecht verbergen.

»Ms Moore, Ms Taylor«, grüßt sie uns distanziert, was mich ein bisschen wurmt. Sie wartet unsere Antwort nicht ab, sondern wendet sich bereits zum Gehen ab und bellt mir zu: »Ms Moore, bitte mitkommen.« Das Universum hasst mich definitiv.


Auf dem Weg in ihr Büro sagt sie kein Wort, stattdessen führt sie mich raschen Schrittes durch die leeren Gänge, die vom Klackern ihrer Schuhe ausgefüllt werden. Als ich kurz darüber nachdenke, die Stille mit einem »Ich habe heute übrigens keinen Schinken gegessen« aufzulockern, biegt die Direktorin ab und öffnet ruckartig eine Tür. Einen Moment bleibe ich stehen, irritiert, ob ich ihr auch in diesen Raum folgen oder lieber warten soll. Ihre hastige Handbewegung bedeutet mir, einzutreten. In dem Augenblick entdecke ich eine weitere Person, die auf einem Stuhl sitzt und den Oberkörper zu uns dreht.

Das Universum hasst mich nicht nur, es verarscht mich ganz offensichtlich.

»Samuel«, nuschele ich und kann nicht eintreten. Irgendwas zerrt an mir, macht mich klein.

Mein Name schlüpft einfach so über seine Lippen, tonlos, unbedeutend: »Mira.« Ohne mein Zutun runzele ich die Stirn. Er hat mich nicht Mi genannt. Ich fühle mich noch kleiner, weil mir bewusst wird, dass er das nicht mehr tun wird. Wir sind keine Freunde mehr, ganz einfach.

Der Blick seiner hellbraunen Augen bohrt sich in meinen. Durch die kurzen dunkelblonden Haare, die an der Stirn wirr abstehen und an den Seiten noch kürzer sind, ist die Sicht auf sie völlig frei. Sie wirken in diesem Moment noch runder, als sie ohnehin schon sind. Ein Blick genügt, um festzustellen, dass mich seine Augen immer noch an Bälle erinnern. Seit zehn Jahren schon ziehen sie mich zu sich. Rund und ebenmäßig, wie der verblasste, bereits unendliche Male bespielte Basketball, der mir vertraut ist. Der da sein muss, den ich halten muss, damit ich mich beim Spiel sicher fühle. Mit dem Ball, den wir uns um unsere Zahnlücken grinsend zugeworfen haben. Samuel Campbells hellbraune Augen erinnern mich genau daran.

Ich starre, es ist fast wie bei dem Basketballkorb. Eine Sekunde höre ich uns lachen. Eine volle Sekunde kann ich spüren, wie es war, glücklich zu sein. Und dann schiebt sich der Moment in meinen Kopf, in dem er mir vor vier Jahren den Rücken kehrte. Ich wusste nicht, dass er am nächsten Tag nicht mehr zu unserem gemeinsamen Training kommen würde. Mir war nicht klar, dass wir niemals gemeinsam auf dem Platz stehen würden, um für das Highschool-Team zu siegen. Auch wenn das utopisch war, da die Mannschaften Jungen und Mädchen trennen, war es unser Wunsch. Und dann änderte sich alles. Der Traum, in dem ich mit ihm zusammen für die Joseph Lions antrat, war nur noch meiner. Erst hinterher wurde mir bewusst, dass er die Freundschaft gegen eine neue Mannschaft eingetauscht hatte.

Es dauerte einen gesamten Tag, bis ich eine entscheidende Lektion verinnerlichte: Du musst nichts sagen, um dich auszudrücken. Samuel konnte das. Er kam nicht mehr zu unserem Training, beendete unsere Freundschaft ohne ein einziges Wort. Dafür entdeckte ich ihn mit den älteren Jungs, die für die Auswahl der St. Joseph übten. Mehr musste ich nicht wissen, mehr konnte ich nicht fassen.

Weshalb mich mein bester Freund fallen ließ, erfuhr ich nicht. Es wäre aber auch zu viel gewesen. Für mich und den ständigen Druck, nicht gut genug zu sein.

»Bitte«, sagt Mrs Campbell und verweist auf den freien Stuhl neben ihrem Sohn, der sich fast gelangweilt abwendet. Bin ich denn die Einzige, die es komisch findet, nach vier Jahren wieder das erste Wort miteinander zu wechseln? Ich atme ein, versuche mich krampfhaft daran zu halten, was ich von ihm weiß. Keine Gefühle, nur das Wissen der letzten Zeit.

Er war der Erste, der mich fallen gelassen hat. Und das, obwohl ich ihm mit tapsigen Schritten den Ball aus dem Pool gefischt habe, weil er noch nicht schwimmen konnte. Deshalb kann ich ihn jetzt zum Kotzen finden. Für ihn gibt es kein Team. Die Mannschaft ist nur Deko, um ihn noch mehr strahlen zu lassen. Deshalb ist es in Ordnung, mich abzuwenden, sobald ich ihn auf dem Basketballfeld entdecke, und
dagegenzuhalten, wenn ihn wieder einmal alle anhimmeln, egal ob Freshmen oder Seniors.

Er sei kein Teamplayer, anstrengend, aber natürlich ein super guter Sportler, räume ich immer ein. Etwas anderes zu behaupten, wäre bei einem Stipendium für das St. Lanes College absurd. Egal, wie bescheuert ich ihn finde, er ist und bleibt der Spieler, der schon Monate vor seinem Abschluss eine Zusage für das College einer der besten Basketball-Mannschaften des Landes bekommen hat. Und nun ist all das vorbei, seit sechs Monaten ist seine fantastische Zukunft wertlos.

Zumindest verraten das Klatsch und Tratsch. Mitten im Training soll er umgekippt sein, sodass er vom Krankenwagen abgeholt werden musste. Ein Arztbesuch soll all seine Zukunftsperspektiven weggewischt haben. Was genau bei diesem Arztbesuch herauskam, weiß niemand.

»Ich beiße nicht«, witzelt Samuel. Es klingt hohl und macht mich sauer.

Weil mir das Aufeinandertreffen mehr ausmacht als ihm.

Weil mich seine Nähe viel mehr in die Bredouille zu bringen scheint als die Distanz.

Weil ich zwischen den ganzen Gedanken, die ihn schlecht dastehen lassen, noch immer diese eine Sekunde Glück erkenne.

Erneut atme ich ein und denke an Arianna. Eigentlich sind wir Expertinnen im Abschirmen vor der bitterbösen Samuel-Droge. Wenn andere quietschen, bleiben wir cool. Denn wir kennen sein wahres Gesicht, das, mit dem er Freunde stehen lässt. Wenn wir uns konzentrieren, ich auf den Moment und Arianna auf meine Schilderungen, quietscht keiner von uns. Ich nicke mir selber zu, lasse die Direktorin hinter mir die Tür schließen und nehme Platz.

Mit gefalteten Händen sitzt mir Samuels Mom am Schreibtisch gegenüber und meidet den Blick ihres Sohnes.

»Ms Moore, falls Sie sich bei solchen Entscheidungen mit jemandem besprechen müssen, ist es selbstverständlich gar kein Problem«, startet Mrs Campbell einen neuen Versuch, woraufhin Samuel neben mir schnaubt. Einfach ignorieren, er befindet sich in einer wirklich miesen Lage, da darf man schon mal unhöflich sein.

»Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Rollstuhl-Basketball ist ein Mannschaftssport, uns kommt es wirklich darauf an, an einem Strang zu ziehen. Wenn Samuel …« Ich unterbreche meine Ausführungen, da es merkwürdig ist, in seiner Gegenwart über ihn zu sprechen, als wäre er nicht da. Entschlossen drehe ich mich zu ihm und bete darum, dass die Abschirmung auch bei einem direkten Augenkontakt funktioniert. Kein Quietschen, sondern cool bleiben. »Du bist ein Einzelkämpfer, der Star im Team. Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Werte der Mannschaft gut zusammen vermitteln und vertreten können, wenn du Co-Trainer und ich Trainerin wären.«

Weil es mich vergessen lässt, dass ich ihn nicht mag. Weil es mir vorgaukelt, dass er immer noch der lachende Junge von früher ist, der mit großen Augen verfolgt hat, wie ich den Ball mit gespreizten Fingern versenkt habe.

»Eben weil ich gespielt habe, weiß ich, dass es Stars und Einzelkämpfer gibt«, antworte ich und mustere ihn eindringlich.

Anders als früher verbirgt er hinter seinen Worten eine ganze Welt. Ich höre ihn, nehme die Stichelei wahr, bemerke die Stärke, mit der er spricht, doch es kommt nicht das an, was er eigentlich sagt. Als würde er den eigentlichen Inhalt, der in ihm selbst gefangen bleibt, mit Worten verschleiern.

»So einfach lässt du von deiner Meinung ab?«

Die Direktorin steht auf, schüttelt mir anstelle ihres Sohnes die Hand und sagt: »Vielen Dank, ich bin mir sicher, das wird eine fruchtbare Zusammenarbeit.« Sie schenkt mir einen flüchtigen Blick und nickt dankbar.