Aus dem Englischen von Christian Jentzsch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Damned (Trackers #4)
erschien 2018 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.
Copyright © 2018 by Nicholas Sansbury Smith
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Katrin Holle
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-748-6
www.Festa-Verlag.de
Für meinen Zwillingsbruder Zachary Angaran Smith.
Danke für all das, was du für Risikojugendliche tust.
Wir brauchen mehr Menschen wie dich auf dieser Welt.
Die Hölle ist leer und alle Teufel sind hier.
William Shakespeare
1
Sam »Raven« Spears sah zu, wie sich die Flüchtlinge im Bond Park um das Feuer scharten. Kalter Regen fiel und drohte die Flammen zu löschen, aber Regen war immer noch besser als Schnee.
Raven legte sich eine Hand auf den Kopf, als könnte das die Migräne vertreiben. In seiner zerfetzten Ohrmuschel pulsierten die Schmerzen und sein Körper fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Hammer bearbeitet. Er erinnerte sich an die alte Redensart des Marine Corps, Schmerz sei eine Schwäche, die den Körper verlasse.
Ja, das ist Schwachsinn.
Schmerz war eine der rauesten Empfindungen, die ein Mensch erfahren konnte – er war der Befehl des Körpers aufzuhören, dumme Sachen zu machen, die ihn umbringen konnten. Raven war noch nie gut darin gewesen, Befehle zu befolgen.
Dennoch war er noch am Leben, ebenso wie seine Familie.
Jetzt musste er einen Weg finden, dass es auch so blieb.
Er ging weiter zum Bond Park, wo er Detective Lindsey Plymouth in der Menge suchte. Zwei Tage waren vergangen, seit Chief Colton als Geisel genommen worden war, sodass ihnen nur noch einer blieb, ihren Gefangenen Jason Cole und die erste Ladung mit Versorgungsgütern am Highway 34 abzuliefern.
Die Zeit wurde knapp und er musste Lindsey finden, um noch einmal ihren Plan durchzugehen. Auf halbem Weg über die Straße hielt ihn eine Stimme auf.
»Sam, wir haben ein Problem an der Straßensperre auf dem 34er.«
Margaret, die Telefonistin und Fahrdienstleiterin des Polizeireviers, stand in der geöffneten Tür des Rathauses. Er trabte zu ihr.
»Was für ein Problem?«
Lindsey kam um die Ecke des Reviers gelaufen. Mit Mantel und Wollmütze, dem Dienstgürtel um die Taille und einem Bushmaster AR-15 auf dem Rücken. Sie sah aus, als wollte sie in den Krieg ziehen.
»Wir kriegen gleich Gesellschaft«, verkündete sie.
»Ich hole die Pferde«, lautete Ravens Antwort, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte.
Vom Krähennest wurde eine Leuchtrakete abgefeuert. Raven verfolgte ihren Aufstieg in den Himmel.
»Keine Zeit. Wir müssen den Volkswagen nehmen«, widersprach Lindsey. »Ich habe ein Gewehr für dich mitgebracht.«
Sie liefen um die Ecke zum Parkplatz des Gebäudes, wo der bereits mit Waffen und Ausrüstung beladene VW Käfer stand. Raven schnappte sich das AR-15, das auf dem Beifahrersitz lag, und legte ein Magazin ein. Es war zwar nicht seine Armbrust, doch die Zeiten hatten sich geändert. Er brauchte Kugeln, um sich gegen die Feinde zu wehren, die sich von allen Seiten näherten.
Der kleine Wagen verließ den Parkplatz mit quietschenden Reifen.
Die Straßen auf dem Weg zum Highway 34 waren verlassen, bis auf ein paar Kinder, die am Straßenrand Fahrrad fuhren. Sie hielten an, um dem Wagen zuzuwinken, doch Raven erwiderte die Geste nicht. Alle Eltern hier wussten, wie gefährlich es außerhalb der Stadt war. Für ihn war es unfassbar, dass sie ihre Kinder nach draußen ließen.
Raven kurbelte sein Fenster herunter und rief: »Fahrt nach Hause!« Dann lud er seine Waffe durch und wandte sich Lindsey zu.
»Hast du eine Ahnung, was los ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass Jackson gemeldet hat, dass bei der Abzweigung, die zum Storm Mountain führt, ein Fahrzeug angehalten hat.«
»Scheiße«, murmelte Raven.
Der alte Käfer schnurrte wie ein asthmatischer Kater. Die Karosserie klapperte bei ihrer einigermaßen hohen Geschwindigkeit.
»Hast du letzte Nacht Schlaf gekriegt?«, fragte Raven in dem Versuch, eine belanglose Unterhaltung zu beginnen.
Sie schüttelte den Kopf. »Du?«
Raven zuckte die Achseln. »Ich habe versucht, es Creek so behaglich wie möglich zu machen, aber sein Auge macht ihm wirklich zu schaffen. Und der verdammte Kragen um seinen Kopf ist auch keine Hilfe.«
»Tut mir leid.«
Sie hatten den Angriff am Storm Mountain immer noch nicht verwunden. Don Aragon und Officer Hines hatten für ihren Verrat gebüßt. Ihre Leichen verrotteten noch im Wald, trotzdem fühlte sich Raven nicht besser. Wenn ein Mensch wie Officer Hines den Versuch wagte, Lindsey zu töten, dann steckte die Welt in ernsthaften Schwierigkeiten.
Ravens Finger krampften sich um das Gewehr und er biss die Zähne zusammen, als ihm klar wurde, dass er sich bereits wieder auf das nächste Gefecht vorbereitete.
Hinter einer Kurve kam die Straßensperre in Sicht. Dale Jackson und drei andere Männer zielten mit ihren Gewehren auf einen Pick-up, der ungefähr 400 Meter vor der Barriere angehalten hatte. Raven konnte vage zwei Männer im Führerhaus und einen auf der Ladefläche ausmachen.
»Sieht ganz so aus, als hätten wir ein paar Beobachter«, lautete sein Kommentar.
Lindsey fuhr den VW hinter die Betonbarriere und stellte den Motor ab. Raven öffnete die Tür und ging dann geduckt zu den beiden Pick-ups, die quer auf der Brücke über den Big Thompson River standen.
»Womit haben wir’s zu tun?«, fragte Raven Dale.
Dales Blick wich nicht von dem Pick-up. »Drei Männer. Alle schwer bewaffnet. Sie haben gesagt, sie wollen mit jemandem reden, der hier was zu sagen hat.«
»Das wäre dann wohl ich«, meldete sich Lindsey zu Wort. »Ich horche mal, was sie wollen. Gebt mir Rückendeckung.«
»Warte.« Raven hielt sie am Arm fest. »Das könnte eine Falle sein.«
Er ließ ihren Ärmel los und sah sich die Bäume, die die Schlucht säumten, eingehender an. Dabei ließ er seinen Blick von links nach rechts und wieder zurück gleiten. Nichts rührte sich auf den Hängen, was dennoch nicht ausschloss, dass irgendwo da draußen ein Heckenschütze postiert war.
»Ich gehe«, entschied Raven.
»Auf keinen Fall.« Lindsey wollte sich wieder in Bewegung setzen, doch Raven hielt sie zum zweiten Mal am Arm fest. Sie fuhr herum und funkelte ihn an.
»Lass los«, fauchte sie.
Dale hob eine Braue. »Wollt ihr zwei eine Runde tanzen oder mit diesen Kerlen reden?«
»Schön«, erwiderte Raven, als sich Lindsey durch die Barriere quetschte.
»Sie meint es ernst«, kommentierte Dale. »Du solltest besser nicht mit ihr streiten, Mann.«
»Ohne Scheiß.« Raven behielt sie im Auge, während sie die Straße entlangging.
»Detective Lindsey Plymouth vom Estes Park Police Department«, rief sie. »Geben Sie sich zu erkennen.«
Die Türen des Pick-ups öffneten sich und Männer in militärischem Drillich und mit Skimasken über dem Gesicht stiegen aus. Der Kerl auf der Ladefläche hatte sein Gewehr genommen und zielte damit auf sie. Raven visierte mit seiner Waffe die Mitte des Hutes der Colorado Rockies an, den der Mann auf dem Kopf trug.
»Versuch’s nur, du Stück Scheiße, dann verpass ich dir ein drittes Auge«, murmelte Raven.
Dale warf ihm einen Blick zu, sah gleich darauf jedoch sofort wieder durch das Zielfernrohr seiner Waffe.
Der Fahrer des Pick-ups ging Lindsey mit einem Matchbeutel in einer Hand entgegen. Fünf Meter vor ihr blieb er stehen und warf ihr den Beutel vor die Füße.
»Sheriff Thompson hat eine Botschaft für euch hinsichtlich seiner Forderung«, verkündete er.
»Uns bleibt noch ein Tag, seine Forderung zu erfüllen«, antwortete Lindsey.
»Richtig.« Der Mann zuckte die Achseln, dann drehte er sich um und ging zum Pick-up zurück, wobei ihm seine beiden Kumpel Rückendeckung gaben.
Raven behielt den Mann auf der Ladefläche im Fadenkreuz, hatte den Finger am Abzug und war bereit, jederzeit einen Schuss abzugeben.
»Was, glaubst du, ist wohl in dem Beutel?«, flüsterte Dale.
»Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt wissen will.« Ravens Blick huschte zu Lindsey. Als sie den Beutel aufhob, blieb ein roter Fleck auf der Straße zurück.
Raven fluchte. Thompson hatte gedroht, Colton in kleinen Stücken zurückzuschicken, wenn sie seinen Forderungen nicht nachkamen. Mit dem Beutel in der Hand lief Lindsey rasch zur Straßensperre zurück. Fahrer und Beifahrer stiegen in den Pick-up und wendeten. Beim Losfahren produzierte der Wagen eine Fehlzündung, die wie ein Schuss klang, was Lindsey dazu veranlasste, sich bäuchlings auf den Asphalt zu werfen.
»Wir sehen uns, Schlampe!«, rief ihr der Mann auf der Ladefläche zu.
Raven setzte mit einem Sprung über die Barrikade hinweg und lief zu ihr. Lindsey war auf den Knien und starrte auf den Asphalt. Der Inhalt des Beutels war herausgerollt, als sie sich zu Boden geworfen hatte. In einer Wasserpfütze lag ein abgetrennter Kopf auf dem Gesicht.
Dale und die anderen Männer kamen ebenfalls angelaufen. »Ist das Colton?«, fragte einer von ihnen.
Lindsey griff langsam nach dem Kopf, doch Raven legte ihr eine Hand auf die Schulter, bevor sie ihn umdrehen konnte.
»Lass mich das tun«, schlug er vor, während er ihr aufhalf.
Die Freiwilligen und Lindsey sahen wie gebannt zu, als sich Raven bückte, den Atem anhielt und dann langsam den Kopf umdrehte.
Kalte braune Augen starrten Raven an.
Er atmete seufzend aus. Es war nicht Colton.
Raven zog einen Zettel aus dem Mund des Toten. Beim Aufrichten glättete er den Zettel und las den Text darauf laut vor.
»Wir sehen uns morgen mit der ersten Ladung und meinem Mann, sonst ist Colton an der Reihe.«
Polizeichef Marcus Colton trank einen Schluck von der wässrigen Suppe. Er hatte keinen großen Hunger. Nachdem sie Clint Bailey bei Sonnenaufgang aus seiner Zelle geschleift hatten, war ihm der Appetit vergangen. Das Geschrei hatte bis in den Morgen hinein angedauert und schließlich mit einem gutturalen Röcheln aufgehört.
Er wusste, dass er den Farmer nie wiedersehen würde. Und wenn er es nicht schaffte, von hier zu verschwinden, würde er das gleiche Schicksal erleiden. Clint war seine beste Aussicht für eine Flucht gewesen, und selbst wenn es Colton gelang, irgendwie aus seiner Zelle zu kommen, konnte er nirgendwohin.
Er warf einen Blick durch das vergitterte Fenster nach draußen auf die untergehende Sonne. Schneeflocken trieben an dem Glas vorbei. Mehrere mit Gewehren und Schrotflinten bewaffnete Männer patrouillierten auf den Gehsteigen rings um das Sheriffbüro. Thompson nutzte es als Dreh- und Angelpunkt, um die umliegenden Gemeinden zu terrorisieren. Den Gesprächen zufolge, die Colton belauscht hatte, war Estes Park das nächste Ziel seines expandierenden Unternehmens.
Ein Jeep fuhr draußen vor dem Haus vor und Coltons Kiefermuskeln spannten sich, als er sah, dass es Raven war. Sie hatten ihm das Fahrzeug ebenso abgenommen wie seine Waffen und die Ausrüstung. Und bald, befürchtete er, würden sie ihm auch das Leben nehmen.
Er wandte sich vom Fenster ab und widmete sich wieder der Zellentür. Hier an diesem Ort auf der falschen Seite der Gitterstäbe zu sein, war für ihn eine der schlimmsten Erfahrungen seines ganzen Lebens. Die Kombination aus Angst und Einsamkeit setzte ihm gewaltig zu. In der Dunkelheit zu sitzen, ohne zu wissen, wie spät es war, wie es seiner Familie ging und ob er sie je wiedersehen würde, führte ihn an den finsteren Rand posttraumatischer Belastung.
Du musst stark sein. Du darfst nicht aufgeben.
Colton leerte seinen Teller Suppe, trank das Glas mit warmem Wasser aus und kehrte zu seiner Pritsche zurück. Essen und Wasser waren ein gutes Zeichen, entschied er. Sie würden keine Lebensmittel an jemanden verschwenden, den sie umbringen wollten.
Nachdem er sich Nahrung zugeführt hatte, brauchte er jetzt Ruhe. Ein paar Minuten nachdem er sich auf seine Pritsche gelegt und die Augen geschlossen hatte, öffnete sich die Vordertür des Gefängnisses und Schritte klickten auf dem Beton.
Colton setzte sich auf, wach und bereit. Er ballte die Hände zu Fäusten wie vor einem Boxkampf und war fest entschlossen zu kämpfen, wenn er sich verteidigen musste.
Das Licht mehrerer Kerzen erwärmte den Korridor, dann gesellte sich der Schein einer Fackel hinzu. Drei Männer traten vor seine Zellentür und blieben stehen. Im Schein der Flammen erkannte er das raue Gesicht von Sheriff Mike Thompson.
»Marcus, schön dich zu sehen«, begrüßte ihn Thompson wie einen alten Freund. Sein Blick huschte zu Coltons geballten Fäusten. »Also das ist aber keine Art, mich zu begrüßen, oder?«
Colton beachtete ihn nicht, sondern begutachtete die beiden Schläger neben Thompson. Beide trugen ein Gewehr, an ihrem Dienstgürtel hing eine Scheide mit einer Machete darin.
»Was haben Sie mit Clint gemacht?«, fragte Colton.
Ein schiefes Grinsen von Thompson. »Hast du das nicht gehört?«
Colton versuchte nicht zu reagieren, aber er verspürte einen so starken Drang, ihn zu schlagen, dass er bis zehn zählen musste, um seine Wut zu bezähmen.
Thompson trat dicht an die Gittertür und blinzelte ihn an. »Clint hat mir erzählt, ihr zwei hättet eine Flucht geplant. Ist das wahr?«
Colton hielt den Mund geschlossen.
Mit der Geschwindigkeit eines Boxers schlug Thompson gegen die Gitterstäbe vor Coltons Gesicht. Als Colton daraufhin mit keiner Wimper zuckte, lächelte Thompson wieder. »Wie es so schön heißt, Marcus, im Zweifel für den Angeklagten. Ich werde annehmen, dass Clint hinsichtlich eures kleinen Fluchtplans gelogen hat.«
»Sag ich, legen wir sie um«, meldete sich der Mann links von Thompson zu Wort. Er sprach mit einem ausgeprägten russischen Akzent.
Thompson runzelte die Stirn und betrachtete den Mann von oben bis unten. »Iwan, wir können nicht jeden umlegen, sonst verlieren wir unser Druckmittel. Vielleicht haben sie dir das in Mütterchen Russland nicht beigebracht.« Thompson zeigte mit dem Finger auf die Zelle. »Marcus ist ein Druckmittel.«
Colton war bereits aufgefallen, dass einige von Thompsons Männern Russen waren. Vor Jahren hatte Colton mehrere Fälle mit Beteiligung der Russenmafia bearbeitet, die sich wegen des Marihuana-Geschäfts in Fort Collins niedergelassen hatte. Sie hatte auch andere Drogen mitgebracht. Härtere, die Familien zerstörten. Die Gangster waren rücksichtslose, brutale Männer, die ihre Gegenspieler ermordeten und ihre Leichen wie Abfall in Gräben abluden.
Colton fügte die Russenmafia der wachsenden Liste der Bedrohungen hinzu, zu der außerdem Nazis, Bosse des organisierten Verbrechens in Gestalt von Nile Redford und verzweifelte Zivilisten gehörten.
Thompson wandte sich wieder an Colton. »Deine Leute haben noch einen Tag, mir meinen Mann Jason Cole zu übergeben. Ich hoffe für dich, dass sie es tun, Marcus. Und ich hoffe für dich, dass sie auch die Vorräte mitbringen und mich nicht bescheißen. Ich kann’s echt nicht ab, wenn man mich bescheißt.«
Colton wollte Thompson sagen, er könne sich ficken, schwieg aber.
»Du bist heute ja ein richtig stiller Hurensohn«, fuhr Thompson fort. »Ich dachte, der große Marcus Colton hätte mehr zu sagen. Vielleicht ist ja die kleine rothaarige Polizistin unterhaltsamer.«
Colton umklammerte die Gitterstäbe und drückte zu. »Wag es ja nicht, Lindsey anzurühren, du Stück Scheiße, sonst schlag ich dir das Gesicht zu Brei!«
Thompson grinste im Fackelschein. »Aha. Der Hund kann also doch noch beißen. Das ist gut. Ich habe Pläne mit dir.«
Colton verfluchte sich dafür, die Beherrschung verloren zu haben.
»Keine Sorge, ich tu ihr nichts. Solange deine Leute abliefern.« Thompson wackelte mit dem Finger vor Coltons Gesicht herum und fügte hinzu: »Aber wenn nicht, werde ich Spaß mit ihr haben.«
Colton presste die Kiefer zusammen und sah zu, wie Thompson die beiden Männer von seiner Zelle wegführte. Er wusste, dass er ihnen besser nichts hinterherrufen sollte, doch seine Wut war zu groß, um sie im Zaum zu halten.
»Hey, Thompson, warum beenden wir das nicht auf die altmodische Art? Wie Männer. Du und ich. Eins gegen eins, im Käfig.«
Das weckte Thompsons Aufmerksamkeit. Er blieb stehen, dann ging er langsam zurück und sah Colton an.
»Ich habe gehört, du warst mal Boxer, jetzt bist du nur noch ein abgewrackter alter Mann, Marcus. Du würdest gegen mich keine Minute überstehen.« Thompson lachte, aber in seiner versteinerten Miene lag keinerlei Humor. »Vielleicht nehme ich dich sogar beim Wort. Wenn ich damit fertig bin, dir die Augen einzuschlagen, piss ich dir in die leeren Höhlen. Allerdings nicht heute.«
Thompson und seine Männer gingen. Colton setzte sich auf die Pritsche, schwer atmend und mit klopfendem Herzen. Er wusste, seine Aussichten, das hier zu überleben, waren gering bis nicht vorhanden. Jetzt konnte er nur noch auf die Hilfe eines Mannes zählen, um nach Estes Park und zu seiner Familie zurückzukehren.
2
In den weißen Korridoren Constellations war alles still. Gewöhnlich herrschte in dem Unterwasserbunker mehr Aktivität, doch heute Nacht war nur ganz wenig Personal der Einrichtung in den Gängen unterwegs.
Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Verteidigungsministerin Charlize Montgomery. Soeben war eine Besprechung mit dem neuen Vizepräsidenten Tom Walter zu Ende gegangen. Er und Ellen Price, die Ministerin für Gesundheit und Soziales, koordinierten die Bemühungen, der Ausbreitung der Cholera in den Überlebenszentren Einhalt zu gebieten. Wegen der Epidemie waren bereits einige aufgegeben worden. Überall im Land starben die Menschen an Krankheiten, die im 21. Jahrhundert als weitestgehend ausgerottet galten. Die Bedingungen waren katastrophal, sowohl in den FEMA-Lagern als auch in den Städten.
Aber sie konnten nicht viel tun.
Sie konnten sich glücklich schätzen hier in Constellation, wo sie immer noch reichlich Lebensmittel, sauberes Wasser und Zugang zu modernster Medizin hatten. Tatsächlich war sie gerade zur Krankenstation unterwegs, um Albert Randall zu besuchen. Charlize wollte kurz nach ihm sehen, bevor sie sich ein paar Stunden Schlaf genehmigte. Big Al kämpfte um sein Leben. Sein Zustand war kritisch, nachdem er bei der Rettung seiner Schwester in Charlotte, North Carolina, einen Bauchschuss abbekommen hatte. Die Ärzte taten alles, um ihn zu retten, aber nach Komplikationen im Anschluss an die erste OP und wegen der inneren Blutungen lag er jetzt im Koma.
Ihr stockte der Atem bei dem Gedanken, dass sie ihn tatsächlich verlieren konnte. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie besorgt sie war, doch Ty bemerkte es trotzdem.
»Alles in Ordnung mit dir, Mom?«, fragte er sie, wobei er sich in seinem Rollstuhl zu ihr umdrehte.
»Ja, Schatz. Alles in Ordnung.« Es war eine Lüge. Nichts war in Ordnung mit ihr. Sie hatte ihren Stabschef Clint Johnson verloren. Sie hatte ihren Bruder verloren. Sie hätte auch Ty beinahe verloren. Und jetzt war sie kurz davor, ihren vertrauten Leibwächter und engsten Freund zu verlieren.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand den Korridor entlangging, hörte sie auf, Tys Rollstuhl zu schieben, kniete sich vor ihn und umarmte ihn. »Ich will dir nur sagen, wie sehr ich dich liebe«, erklärte sie ihm.
Tys Stimme klang in ihrer festen Umarmung gedämpft. »Ich wusste doch, dass irgendwas nicht stimmt.«
Charlize suchte verzweifelt die richtigen Worte, um auszudrücken, was sie empfand. »Man kann jemandem nie zu oft sagen, dass man ihn liebt«, brachte sie schließlich hervor, als sie ihn losließ.
»Alles wird gut«, versicherte ihr Ty.
Charlize lächelte, obwohl es ihr gerade das Herz brach. Sie sollte eigentlich ihn trösten, nicht umgekehrt. »Ich weiß. Du bist so ein tapferer Junge.«
Sie erhob sich und trat wieder hinter den Rollstuhl. Ty schüttelte den Kopf. »Ich komme allein zurecht.«
Sie folgten gemeinsam dem Korridor und Ty bewegte den Rollstuhl mit den Schwüngen seiner Arme schneller vorwärts, als sie laufen konnte.
»Es hört sich so an, als würden du und Dave gut miteinander zurechtkommen«, wechselte sie das Thema, während sie sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten. »Er ist ungefähr in deinem Alter, nicht wahr?«
Ein enthusiastisches Nicken von Ty. »Er ist witzig. Ich bin froh, dass Albert ihn vor den bösen Menschen in Charlotte gerettet hat.« Er wurde langsamer und wartete auf sie. »Mom, sind die bösen Menschen jetzt überall?«
Früher hatte sie sehr darauf geachtet, was sie ihrem Sohn erzählte, aber mittlerweile war er alt genug und hatte selbst schon so viel erlebt, dass er es jetzt verstand. Außerdem war es ihr wichtig, dass sie ihm nichts verheimlichte. Sie wusste nicht, wie lange sie hier unten leben würden, und sie wollte auf keinen Fall, dass Ty von der wirklichen Welt abgeschirmt aufwuchs.
»Ja, Schatz. Es gibt auch gute Menschen und es gibt immer mehr gute als böse. Menschen wie Big Al.«
»Ja. Aber die Bösen kommen immer wieder davon. Wann findet ihr Fenix?«
Die Frage versetzte ihr einen Stich. »Wir finden ihn«, versicherte ihm Charlize. »Du musst mir vertrauen.«
Als sie die Krankenstation erreichten, schob sie ihre Wut auf den Mörder ihres Bruders beiseite. Dies war ein Ort des Heilens und Gesundwerdens und keiner für Rachegedanken. Die 30 Betten der Station waren alle belegt, von einem verwundeten Kongressmitglied bis hin zu Alberts Zwillingsschwester Jacqueline.
Das leere Foyer war mit cremefarbenen Stühlen und einem Zeitungsständer möbliert. Die für die Einrichtung dieser Anlage verantwortlichen Ingenieure und Innenarchitekten hatten es geschafft, sie wie den Wartebereich eines richtigen Krankenhauses aussehen zu lassen. Charlize vergaß beinahe, dass sie sich tief unter Wasser befanden.
»Ich bin gleich wieder da. Kannst du kurz hier warten?«, fragte sie.
Ty streckte die Hand aus, um sich eine Zeitschrift aus dem Ständer zu nehmen. Seine Finger reichten nicht ganz heran und Charlize zog sie für ihn heraus und gab sie ihm.
Ein Beweis mehr, dass ihn seine Behinderung … nun ja, behinderte, und Behinderungen würden die meisten Menschen in dieser neuen, brutalen Welt, in der sie jetzt lebten, das Leben kosten.
Doktor Parish saß an ihrem Arbeitsplatz gleich um die Ecke und tippte etwas. Sie merkte auf, als Charlize zu ihr kam.
»Ah, Madam Secretary, guten Abend«, begrüßte Parish sie mit einem müden Lächeln.
Das dunkelhäutige Gesicht der Ärztin war vor Erschöpfung eingefallen. Wahrscheinlich war sie seit mehr als 24 Stunden im Dienst, was in letzter Zeit für viele Leute in Constellation normal war, auch für Charlize.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie.
»In den letzten Stunden ist eine Verbesserung eingetreten.« Parish bedeutete Charlize, ihr zu folgen. »Kommen Sie, machen Sie sich selbst ein Bild. Ich glaube, Sie werden überrascht sein.«
»Kann ich Ty mitnehmen?«
Parish zuckte die Achseln. »Ich wüsste nicht, warum nicht.«
Charlize kehrte ins Foyer zurück. »Sie sagt, wir können Big Al besuchen!«
Er folgte Charlize und Parish durch einen weiteren Korridor und an einer Schwester vorbei, die gerade eines der Zimmer verließ. Die junge Frau nickte Charlize zu und schenkte Ty ein Lächeln.
Charlize warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer, wo Alberts Schwester untergebracht war. Sie saß in ihrem Bett und starrte auf die Wand gegenüber. Der Anblick ließ Charlize innerlich frösteln.
Die Drogenlieferungen über die mexikanische Grenze hatten nicht aufgehört, nachdem in den USA die Lichter ausgegangen waren. Alles würde nur noch schlimmer werden.
Parish blieb vor der fünften Tür auf der rechten Seite stehen und öffnete sie für Charlize und Ty. Albert lag im Krankenbett, ein weißes Laken bis zum Kinn hochgezogen. Charlize war überrascht von seinem Anblick. Denn der ehemalige Footballspieler wirkte beinahe zerbrechlich. Er biss die Zähne zusammen bei dem Versuch, sich aufzusetzen.
»Übernehmen Sie sich nicht, Sir«, warnte ihn Parish.
»Guten Abend, Ma’am«, begrüßte Albert Charlize, als er sie sah. Seine Stimme klang angestrengt, aber sein Ton war so höflich wie immer. Er lächelte, als Ty ins Zimmer rollte. »Wie geht’s dir, Kumpel?«
»Alles gut«, strahlte Ty. »Wie geht’s dir, Big Al?«
Albert gelang ein Achselzucken, obwohl seine Reaktion darauf schließen ließ, dass es ihm wehtat. »Ich fühle mich wie angeschossen.«
Charlize trat neben das Bett. »Wie lange sind Sie schon wach?«
Er sah Parish Hilfe suchend an.
»Etwas über zwei Stunden«, antwortete sie für ihn.
»Wie geht es Jacqueline?«, fragte Albert die Ärztin.
»Sie kommt wieder in Ordnung. In 24 Stunden dürfte sie weitgehend entgiftet sein.«
Albert entspannte sich ein wenig. »Und Dave?«
»Er ist mein neuer Freund«, warf Ty ein. »Wir spielen später noch Rennautos.«
»Er ist ein guter Junge.« Mit einem ungläubigen Kopfschütteln fügte Albert hinzu: »Er hat mir das Leben gerettet.«
Charlize musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Dass Dave jemandem das Leben gerettet hatte, war ihr neu.
»Er hat mir erzählt, er hat einen von den Orks getötet, aber ich dachte, er macht nur Spaß«, bekundete Ty. »Ist das wahr?«
Alberts Blick wanderte zwischen Charlize und Ty hin und her. »Er hat einen Mann erstochen, der mich andernfalls getötet hätte.«
Eine Schwester klopfte an die Tür und öffnete sie. »Entschuldigen Sie die Störung, aber Colonel Raymond ist hier«, verkündete die junge Frau.
Charlize nickte. »Lassen Sie ihn eintreten.«
Colonel Mark Raymond erschien in der geöffneten Tür. »Schön, dass Sie wach sind, Officer Randall«, lauteten seine Begrüßungsworte.
»Vielen Dank, Sir.«
Raymonds Blick huschte zu Charlize und ihr war sofort klar, dass er sie allein sprechen wollte. Sie entschuldigte sich, ging mit ihm nach draußen auf den Korridor und zog die Tür hinter sich zu, aber nicht ins Schloss.
»Tut mir leid, Sie stören zu müssen, Ma’am, es gibt Neuigkeiten hinsichtlich der chinesischen Flotte«, begann er. »Die ersten Schiffe treffen innerhalb der nächsten 24 Stunden bei uns ein, und zwar in zwölf verschiedenen Häfen der Ostküste.«
»Gut. Sind die Häfen bereit?«
»Unsere Truppen sind stationiert und bereit, die Chinesen nach ihrer Ankunft zu begleiten. General Thor hat gerade unser erstes Treffen mit General Ken Lin vereinbart, der das Kommando über die chinesische Wiederaufbauhilfe hat. Ich begebe mich morgen nach Fort Lauderdale, wo ich mich mit dem General und der chinesischen Delegation treffe.«
»Hoffen wir, sie können die Vorräte und Ausrüstung dahin bringen, wo sie gebraucht werden.« Der Leiter der Katastrophenschutzbehörde schien der Aufgabe gewachsen zu sein, dennoch gab es Millionen Dinge, die schiefgehen konnten. »Ich komme in die Zentrale, wenn ich hier fertig bin, dann können wir alles im Detail besprechen.«
»Klingt gut, Ma’am.«
Charlize kehrte ins Zimmer und zu Alberts Bett zurück. Ty sah sie an und sein neugieriger Blick kündigte eine Frage an.
»Sind die Chinesen die Guten oder die Bösen?«, kam sie einen Moment später.
Im ersten Moment wusste Charlize nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie war immer noch nicht restlos überzeugt davon, dass die Chinesen nichts mit dem ursprünglichen Angriff zu tun hatten, aber sie hatte keine Zweifel, dass sie in der Vergangenheit mehr hätten tun können, um Nordkorea an der Entwicklung seines Atomprogramms zu hindern. Sie gab den Chinesen nicht die Schuld am Krieg, traute ihnen aber auch nicht.
»Das wird sich bald herausstellen«, antwortete sie schließlich. Unter den Tisch fallen ließ sie, dass sie Colonel Raymond morgen zu dem Treffen mit General Lin begleiten würde.
Motoren dröhnten, Auspuffrohre blubberten und Metallrahmen ratterten über den Asphalt, als die Fahrzeugarmada ausrückte. Es roch durchdringend nach Benzin und Abgasen. General Dan Fenix liebte es. Es war amerikanisch und er würde auch weiterhin für diese große Nation kämpfen, bis er schließlich starb. Zum Glück hatte er soeben einen Weg gefunden, sein Leben zu verlängern.
Er musste nur Raven Spears töten, die Stadt Estes Park einnehmen und einen Haufen Waffen und Gold aushändigen.
Fenix würde das nicht allein erledigen. In etwas weniger als einer Stunde traf er sich mit den Sons of Liberty. Sergeant Zach Horton hatte den Befehl über die anderen Divisionen übernommen und war mit dem Rest ihrer Bruderschaft zum Sammelpunkt unterwegs.
Doch Fenix war auch klar, dass Nile Redford kein Idiot war. Wahrscheinlich wusste er, dass das Zusammentreffen eine Falle sein konnte, weswegen er befohlen hatte, Fenix die Handschellen nicht abzunehmen und ihm für die Dauer des Zusammentreffens eine Waffe an den Kopf zu halten.
Die Sons of Liberty waren die Besten der Besten. Erfahrene Männer. Harte Männer. Viele von ihnen mit Dienstzeit bei den Marines. Männer mit rasiertem Kopf und kühlem Herzen. Keine Möchtegern-Neonazis. Echte Neonazis. Die verdammte SS wäre stolz darauf gewesen, mit diesen Männern zu kämpfen.
Neben Fenix saß Nile Redfords Version eines harten Mannes. Hacker, der Kerl mit dem Gürtel voller ausgefallener Folterwerkzeuge.
Das Klischee brachte ihn zum Lachen, doch er beherrschte sich. Später würde noch genug Zeit für herzliches Gelächter sein.
»Ihre Männer sollten besser auch kommen.« Hacker warf Fenix einen Blick zu. »Und die Ware, die Sie angeblich haben, sollte auch besser geliefert werden, sonst schneide ich Ihnen die Eier ab.«
»Ich bin ein Mann, der sein Wort hält«, versicherte ihm Fenix.
Hacker ließ seine Gewichtheberschultern kreisen und zog seinen Foltergürtel ein Stück höher. »Das werden wir ja sehen.«
»Wir erreichen gleich den Treffpunkt«, meldete der Fahrer des Jeeps. Fenix hatte gehört, dass Hacker ihn Jade nannte. Ein rotes Kopftuch hielt die dichten schwarzen Haare des indianischen Mannes im Zaum. Er sah in den Rückspiegel und starrte Fenix finster an.
Redfords Cousin Theo drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten um. Er trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug und einen Cowboyhut. Aus irgendeinem Grund wollten Theo und Redford unbedingt einen auf altmodische Gangster machen, Fenix hingegen fand, dass sie einfach nur albern aussahen.
»Ihre Männer sind hoffentlich da und hoffentlich unbewaffnet.« Theos Blick wanderte zu Hacker. »Wenn dieses Nazi-Arschloch eine falsche Bewegung macht, verpasst du ihm eine Kugel zwischen die Augen, klar?«
»Mit Vergnügen, Mann.«
Fenix war nicht mehr sonderlich nach Grinsen zumute. Jetzt war er nur noch wütend.
»Vielleicht übernehme ich das auch selbst.« Theo zückte eine glänzende .357 Magnum mit langem Lauf.
Fenix ignorierte den Möchtegerngangster absichtlich und wandte sich ab, um die schneebedeckten Pinien zu betrachten, die am Straßenrand vorbeizogen, während die kleine Fahrzeugkolonne einen schmalen Pass erklomm. Sie waren irgendwo auf der Westseite der Rocky Mountains, aber den genauen Standort kannte er nicht.
»Wir sind da«, verkündete Theo ein paar Minuten später. Er zeigte auf die Dächer mehrerer Hütten, die auf der rechten Straßenseite zwischen den Bäumen zu erkennen waren.
Hacker öffnete die Tür auf seiner Seite und ging um den Wagen, um Fenix aus dem Jeep steigen zu lassen. Theo richtete den Lauf der .357 Magnum auf Fenix’ Gesicht, kaum dass dessen Stiefel den Erdboden berührten.
»Glauben Sie bloß nicht, ich würde Ihnen nicht Ihr reaktionäres Hirn wegpusten«, versicherte ihm Theo. »Mir ist völlig egal, was Nile sagt. Sie sind nichts weiter als ein dämliches Nazi-Arschloch.«
Fenix setzte sich in Bewegung und folgte dem Weg in der schneidend kalten Luft. Nicht gerade der Geschmack von Freiheit, aber immerhin besser als die Zelle in Redfords unterirdischer Spielhölle.
Das Jagdlager bestand aus fünf Hütten mit brettervernagelten Fenstern, krummen Abflussrohren und vermodernden Veranden. Es wirkte, als wäre es schon lange nicht mehr benutzt worden. Er sah keine Spur von seinen Brüdern, vertraute aber darauf, dass die Sons of Liberty da sein würden.
»Horton!«, rief Fenix. »Sind Sie hier irgendwo?«
Hinter ihm schwärmten 20 von Redfords Männern mit automatischen Gewehren aus. Jade huschte in den Wald, wohl um die Umgebung nach einem Hinterhalt abzusuchen, und kurz darauf war sein rotes Kopftuch zwischen den Bäumen verschwunden.
»Wo sind denn alle?«, fragte Hacker.
Theo spannte den Hahn seines Revolvers. »Rufen Sie noch mal«, forderte er Fenix auf.
»Horton!«, wiederholte Fenix. Der Ruf hallte durch den Wald.
In der Ferne schrie ein Vogel und im Unterholz bewegte sich ein kleines Tier.
Die Tür der zweiten Hütte von rechts schwang auf und ein Mann mit zwei Reisetaschen kam heraus. Alle Gewehrläufe richteten sich auf die Gestalt.
»General!«, rief der Mann mit rauer Stimme.
Fenix grinste. Es war Horton. Er kannte sonst niemanden, der mit 45 wie ein 60-jähriger Kettenraucher klang. »Du bist ein erfreulicher Anblick, du alter Schweinehund«, begrüßte ihn Fenix.
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Sir«, fuhr Horton fort. Er trat aus dem Schatten der Pinien und betrachtete die Männer, die ihre Gewehre auf ihn richteten.
»Taschen abstellen«, befahl Theo.
»Kein Grund für Feindseligkeit«, erwiderte Horton, während er sanft die Taschen auf den Boden stellte und die Hände hob. »Ich bin unbewaffnet, wie angewiesen. Ich bin nur hier, um mit General Fenix zu reden und die erste Ladung Gold abzuliefern. Die Waffen sind einen Kilometer entfernt.«
Theo drückte Fenix den Lauf seiner .357 Magnum gegen den Hinterkopf. »Vorsicht«, knurrte Fenix.
»Alles klar hier draußen«, meldete Jade, der eben aus dem Wald zurückkehrte. »Keine Anzeichen für einen Hinterhalt, Scharfschützen oder sonst irgendwas.«
»Ich bin allein, wie ich schon sagte«, erwiderte Horton.
Tja, das ist bedauerlich, dachte Fenix. Er hatte auf einen Hinterhalt gehofft, vermutlich hatte Horton seine Befehle über Funk für bare Münze genommen.
Theo zeigte auf die Reisetaschen. Hacker ging hin und sah den Inhalt durch.
»Sieht nach der Hälfte von dem aus, was uns versprochen wurde«, verkündete Hacker.
»Hervorragend«, bekundete Theo.
Fenix ging die paar Schritte zu seinem Stellvertreter, und Theo folgte ihm mit der Magnum. Horton nahm die Hände herunter und klopfte Fenix auf die Schulter.
»Vorsicht«, warnte Theo.
»Nur die Ruhe, Mann«, beschwichtigte Horton. Als er die Hand von Fenix’ Schulter nahm, ließ er etwas in dessen Jackentasche fallen.
Vielleicht lag Fenix falsch und Horton hatte doch einen Plan, der nicht vorsah, dass Fenix am Ende wieder in der Gefängniszelle landete. Trotzdem hatte er keine Ahnung, was zum Henker jetzt in seiner Tasche war, und im Moment konnte er nicht nachsehen.
»Wie du weißt, haben die Sons of Liberty eine Vereinbarung mit Redford getroffen …«, begann Fenix.
»Mr. Nile Redford«, korrigierte Theo.
»Genau.« Fenix konzentrierte sich auf Horton. »Ist die Aufklärung im Gebiet Estes Park abgeschlossen?«
»Ja, Sir. Unsere Männer haben neun Straßensperren identifiziert, die ständig von mindestens 50 Männern und Frauen bewacht werden. Um die 30 weitere Bewaffnete sind innerhalb der Stadt stationiert. Sie haben überraschend viel Feuerkraft und sind gut organisiert.«
»Sie haben also eine Miliz … schlau. Wirklich schlau.«
»Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die Stadt einnehmen können. Die Frage ist nur, um welchen Preis.«
»Was mich betrifft, je mehr tote Nazis, desto besser«, warf Theo ein.
Hortons Blick huschte zu der Rothaut, doch Fenix schüttelte unmerklich den Kopf.
»Wenn wir allerdings nur diesen Raven Spears schnappen sollen, wäre das eine andere Geschichte«, fuhr Horton fort.
»Wir haben eine andere Vereinbarung«, erklärte Theo. »Mr. Redford will, dass Sie die Vorräte und Verbrauchsgüter sicherstellen, die von der Regierung nach unserem ersten Überfall abgeworfen wurden. Das wird sich nur machen lassen, wenn Sie ihre Soldaten ausschalten.«
»Soll ich Mr. Redford verständigen?«, fragte Hacker. Theo zögerte, dann nickte er. Hacker schaltete das Funkgerät ein, in dem es rauschte und knisterte. »Mr. Redford, bitte kommen, over.«
Ein paar Sekunden später drang dessen Stimme aus dem Gerät. »Ich höre.«
»Wir haben die erste Hälfte des Goldes, aber Estes Park ist viel besser verteidigt als bei unserem ersten Überfall.«
»Lass mich mit Fenix reden«, erwiderte Redford.
Hacker ging zu ihm und hielt das Funkgerät so, dass Fenix hineinsprechen konnte.
»Ich bin hier«, meldete er sich.
»Heute ist Ihr Glückstag«, begann Redford. »Ich habe soeben Nachricht von einem alten Freund erhalten, dass der Sheriff von Fort Collins Estes Park als Teil seines expandierenden Territoriums betrachtet. Sie können Ihren Männern sagen, dass sie sich einstweilen zurückhalten sollen. Bringen Sie mir nur das Gold und die Waffen.«
Hortons Kiefermuskeln spannten sich, eine Eigenart, die Fenix verriet, dass er in Erwägung zog, aktiv zu werden.
Theo drückte Fenix wieder den Lauf der Magnum an den Hinterkopf. »Zurück zum Jeep«, befahl er.
»Wohin bringen Sie ihn?«, wollte Horton wissen.
»Geht Sie nichts an«, entgegnete Theo.
»Du solltest dich lieber vorsehen, du …«
»Alle bleiben ganz ruhig«, unterbrach Fenix energisch. »Sergeant, ich melde mich.«
Hortons Blick wanderte von Theo zu Fenix. »Ja, Sir«, bestätigte er schließlich.
Theo schnaubte. »Das dachte ich mir.« Mit einem Rucken des Kopfes deutete er auf den Jeep. »Also los, Sie alter Hund.«