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Alle Geschehnisse und Charaktere sind frei erfunden und stehen in keinem Zusammenhang mit anderen Werken. Ähnlichkeiten sind nicht gewollt oder beabsichtigt.

Für Martin und Claudia.
Ohne euch gäbe es weder dieses Buch noch meine Faszination für die Natur und das darin enthaltene Risiko.

INHALT

PROLOG

Tag 1 – Montag: Camp Summerlake

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Tag 2 – Dienstag: Spuren

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Tag 3 – Mittwoch: Verbotene Pfade

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Tag 4 – Donnerstag: In der Nacht, da kommen sie

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Tag 5 – Freitag: Lichterloh

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Tag 6 – Samstag: Offenbarungen

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Tag 7 – Sonntag: Spiel mir das Lied vom Tod

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Tag 8 – Montag: Zwischen Toten und Lebenden

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

NACHWORT

DANKSAGUNG

PROLOG

Charlie kann zwischen den Baumwipfeln gerade noch erkennen, wie auch das letzte Stück der Sonne hinter einem der Berge versinkt. Dieses Spiel der Natur geschieht dabei in einem solch kurzen Zeitraum, dass man hätte denken können, selbst die am hellsten leuchtenden Sonnenstrahlen würden vor etwas fliehen. Nicht nur die Dunkelheit nimmt nun still ihren Platz ein, sondern auch eine unangenehme und stechende Kälte.

Es ist Frühjahr. Die trockenen Blätter vom vergangenen Herbst zerbröseln förmlich unter den Schuhsohlen. Mit jedem Schritt scheint sich der plötzliche Umschwung bemerkbarer zu machen. Charlie kann die Veränderung am eigenen Leib spüren. Da ist dieses immer schneller werdende Pochen in seiner Brust, und ein Kribbeln, das sich seinen Weg bis zu den Fingerkuppen bahnt. Es fühlt sich so an, als wäre er mit der Natur verbunden. Als würde er realisieren, dass hier irgendetwas gewaltig schiefläuft und sie es nicht geschafft haben, vor Sonnenuntergang ins Camp zurückzukehren.

Das sonst so vertraute Waldgebiet verwandelt sich in einen Irrgarten, dessen Ausgang nicht gefunden werden will.

Im Wald herrschen andere Regeln.

Es gibt einen Grund, weshalb Tag und Nacht getrennt sind, weswegen es einen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt.

Alles hat einen Grund.

Und einer dieser tausend Gründe ist gefährlicher und verbotener als die anderen. Angsteinflößender, mysteriöser, ja, fast schon grausamer.

Es ist der Grund, weswegen sie hier sind.

»Wir sollten uns beeilen, hörst du? Die anderen müssen erfahren, was wir herausgefunden haben, andernfalls …« Ben läuft es kalt den Rücken hinunter. »Ich will es mir gar nicht vorstellen, also bitte geh weiter.«

Charlie blickt in das fast nicht mehr zu erkennende Gesicht seines Freundes. Achtet auf das leichte Zittern seines Unterkiefers, auf den verängstigten und hilflosen Blick. Die Dringlichkeit in seiner Stimme ist kaum zu überhören, trotz seiner Bemühungen, gelassen zu klingen.

Ein kurzes Nicken von Charlie genügt. Er will keinen unnötigen Lärm machen, keine Aufmerksamkeit erregen. Dennoch kann man die beiden Teenager hören. Das weitaus größere Problem besteht allerdings darin, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Genau genommen haben Charlie und Ben einen solchen nicht einmal; doch in so einer Situation wäre es unklug, sich seine ungünstige Lage ins Gedächtnis zu rufen.

Schweigen hilft.

Charlie hat noch Hoffnung. Möglicherweise können sie bald das Lagerfeuer in der Ferne erkennen, Menschen, die Lichtung. Ihre Suche hat sich anders entwickelt als geplant. Sie ist außer Kontrolle geraten.

Alles ist außer Kontrolle geraten.

Wenn man für einen kurzen Augenblick den Atem anhält, dann kann man sie sogar hören. Die Schreie. Die Schreie von Link. Doch er ist tot, für immer.

»Hörst du das?« Ben hält abrupt an. Sein Blick sucht hektisch die Umgebung ab.

»Was soll ich denn hören?«

Vorsichtig und ohne einen Laut zu machen geht Ben in die Hocke. Danach beginnt er die kalte Erde abzutasten. So, als hätte er etwas verloren.

Nach ein paar Sekunden hält er inne.

»Kannst du mir jetzt bitte sagen, was los ist?«

»Abdrücke am Boden, dieser Schatten. Jemand war schon vorher hier. Ich glaube … nein … ich bin fest davon überzeugt, dass uns jemand ab dieser Lichtung gefolgt ist.«

Charlie schüttelt kaum merklich den Kopf. »Das kann nicht sein. Wir wurden darauf trainiert, dass wir schon von Weitem hören können, wenn sich ein Mensch nähert. Es kann sich gar niemand unbemerkt an uns heranschleichen.«

Ein Windstoß fährt zischend durch die Bäume und die darauffolgende Kälte macht die Situation noch beklemmender. Das Geräusch ähnelt dem Heulen eines Tieres.

Ben sieht nun von unten zu Charlie auf. »Der Abdruck. Er … er stammt auch nicht von einem Menschen.«

Erneut ist ein beängstigendes Geräusch zu vernehmen. Es klingt tiefer, fast wie ein Knurren. Diesmal ist es nicht der Wind. Diesmal ist es etwas anderes.

»Charlie, gehen wir denn überhaupt in die richtige Richtung? Wir sollten doch schon längst beim Camp sein.«

Stille.

Unterbewusst ahnen die beiden bereits, dass sie nicht länger allein sind. Dass sich noch etwas anderes in diesem Waldabschnitt befindet. Etwas Lebendiges.

»Ich dachte, du weißt, wohin wir müssen.«

Ein Rascheln, einige Meter entfernt.

Aus Bens Stimme ist jegliche Emotion gewichen. Er wirkt blass. »Derjenige, der für das verantwortlich ist, was wir auf der Lichtung gesehen haben, will sicher nicht, dass jemand davon erfährt.«

»Glaubst du wirklich, irgendwer oder irgendetwas hat uns bemerkt?«

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Mit zittriger Hand zeigt Ben auf einen schwarzen Umriss in unmittelbarer Nähe. Langsam gewöhnen sich Charlies Augen an die Dunkelheit. Er kann mehr erkennen. Beine. Vier Stück. Gefletschte Zähne, spitz und darauf wartend, alles und jeden in Stücke zu reißen. Rote Augen, die im Mondlicht glänzen und genau auf sie gerichtet sind.

»LAUF!«

Die beiden Teenager rennen so schnell sie können. Tiefhängende Äste bohren sich in ihre Gesichter und machen das Sehen fast unmöglich. Eine kleine Unachtsamkeit und sie stechen sich damit die Augen aus. Als Ben, halbblind wie er ist, über einen umgefallenen Baumstamm stolpert, schmeckt er augenblicklich Blut. Sein Blut. Er hat sich so fest auf die Zunge gebissen, dass sich der dickflüssige, rote Saft in seinem ganzen Mund verteilt. Trotzdem rennt er weiter. Er weiß, dass das seine einzige Chance ist zu entkommen. Auf keinen Fall will er wissen, welches unmenschliche Wesen sie gerade durch den Wald jagt.

Trotz ihrer Bemühungen sind die zwei Freunde nicht schnell genug, denn als sie am nächsten Gebüsch vorbeihetzen, springt eine weitere Gestalt aus der Dunkelheit.

Dann wird ihnen schwarz vor Augen.

Alles, was gegen die Natur ist,
hat auf die Dauer keinen Bestand.
Charles Darwin

Tag 1 – Montag

Camp Summerlake

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1

Ich schaue ihm tief in die Augen. Studiere seine strahlend goldene Erscheinung, seine sanfte Art, mit der er es immer wieder schafft, mich zum Schmunzeln zu bringen. Ein wahrer Freund. Ein Pionier. Ich wage sogar zu behaupten, ein Heiliger. Er redet kein Wort, stattdessen denkt er den ganzen Tag nur nach. Er ist sogar so wissbegierig, dass er sich nur ein paar Sekunden mit einem Thema beschäftigt. Lernen, vergessen, lernen. Die perfekte und einzige Methode, sich durchgehend schlau zu fühlen, ohne schlau zu sein.

Er muss nie Zähne putzen, was auch daran liegen könnte, dass er gar keine Zähne hat, aber das sei mal dahingestellt. Er wohnt in einem Schiff. Dieses ist Gott sei Dank in der Mitte gebrochen, sonst würde er noch wegsegeln. Zumindest ein paar Sekunden lang, bis er wieder vergessen hat, wie man das Schiff überhaupt steuert. Und jetzt … jetzt verlasse ich ihn für zwei Wochen.

»Hey Bruno, vergiss mich nicht, solange ich weg bin, ja?«

Meine Schwester stürmt in das Zimmer. »Lukas, beeil dich, du wirst in …« – sie unterbricht ihren Satz schlagartig, als sie mich sieht. Dann verdreht sie die Augen. »Während du weg bist, spüle ich deinen widerlichen Goldfisch das Klo hinunter.«

»Das würdest du nicht tun.«

»Stimmt.« Sie macht eine theatralische Pause: »Ich werde ihn von unserer Katze fressen lassen.«

Ich schnappe meinen vollgepackten Rucksack und richte mich auf.

»Würde ich dir nicht raten, denn sonst muss ich deinem Professor wohl oder übel gestehen, dass der Aufsatz über die Geschichte Lateinamerikas gar nicht von dir ist.«

Sie verschränkt die Arme. »Der ist sehr wohl aus meinen Händen.«

»Aus deinen Händen, aus meinem Kopf.«

Meine Schwester verstummt für einen kurzen Moment, bevor sie zu einem weiteren Angriff übergeht. »Wie du meinst, aber wenn mein Bruder kein erfolgreicher Fußballspieler ist, sollte ich ihn idealerweise für irgendetwas anderes gebrauchen können.«

»Ich kann doch Fußball spielen.«

Sie lächelt. »Wie du gerade sagtest: in deinem Kopf …«

Eins zu Null für dich, große Schwester!

Nach einem beherzten Atemzug reiche ich ihr die Hand. »Machen wir einen Deal. Solange ich weg bin, wird niemand verraten oder umgebracht, okay?«

Sie schlägt belustigt ein und verschwindet mit einem einfachen »Tschüss. Viel Spaß im Wald, du Freak« aus meinem Zimmer.

Dann kehrt wieder Ruhe ein.

Ich kann dennoch spüren, dass mein Puls zu rasen beginnt. Zweifel bohren sich wie giftige Pfeilspitzen in meinen Verstand und ich bekomme ein unwohles Gefühl. Für einen kurzen Augenblick hatte ich es aus meiner kleinen Welt verdrängt. Meine Schwester hat mich mit ihrem Abschied bedauerlicherweise wieder in die Realität zurückgeholt und an den Aufenthaltsort meiner nächsten zwei Ferienwochen erinnert.

Den Wald der tausend Lichter.

Das Wildnis- und Erlebniscamp Summerlake.

Irgendwo im Nirgendwo.

Mitten im Wald.

Eine Adresse gibt es nicht, denn die Teilnehmer werden direkt von zu Hause mit einem Bus abgeholt und hingebracht. Man erzählt sich, dass es dort schon schräge und mysteriöse Vorfälle gegeben habe. Doch das sind bloß Gerüchte. Kein Jugendlicher, der einmal das Camp besucht hat, trägt Informationen an die Außenwelt. Alle schweigen.

Ich mit meinen sechzehn Jahren bin dieser Herausforderung sicherlich gewachsen, doch trotzdem krampft sich mein Bauch zusammen, wenn ich daran denke.

Ich kenne niemanden. Weiß nichts über das Camp und bin zu allem Überfluss ein völliger Anfänger, wenn es um Überlebenstechniken geht. Ich bin schon froh, wenn ich an einem Samstag einkaufen gehe und nicht von einer wildgewordenen Menschenmasse niedergetrampelt werde. Das ist Überleben für mich.

Wer weiß, welche giftigen Pflanzen oder gefährlichen Tiere es dort gibt?

Ja, wer weiß, was für Leute ich kennenlernen werde?

Immerhin werde ich es bald herausfinden. Ob ich will oder nicht …

Ohne einen weiteren Gedanken an all das zu verschwenden, verlasse ich unsere Wohnung. Wir wohnen im Erdgeschoss. Ein Grund mehr, weshalb uns die niedliche Großmutter aus Stock sieben zu hassen gelernt hat. Ich versuche ihr zwar manchmal mit ihren Einkaufstaschen zu helfen, doch ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, bloß durch meinen Geruchssinn zu erkennen, wann sie wieder mit hundert Packungen Hundefutter vor der Tür steht. Einen Hund habe ich in all den Jahren übrigens nicht gesehen.

Als ich den putzigen kleinen Rasen vor dem Hochhaus betrete, entdecke ich meine Mutter auf dem Parkplatz. Zappelig und nervös wie immer!

Genervt stelle ich mich zu ihr.

»Gut, dass du rauskommst. Der Bus sollte in wenigen Minuten da sein. Hast du alles?«

Ich schaue auf meinen Rucksack. »Ich denke schon …«

»Klingt ja nicht sehr überzeugend. Du rufst mich an, wenn du etwas brauchst, okay?«

Ich setze eine kritische Miene auf. »Mom, es ist deine Schuld, dass ich in dieses Camp gehen muss, also behandle mich nicht wie ein Kleinkind.«

Meine Mutter ist eine Person für sich. Kurz gesagt: Skurril, skurriler, Mary. Ich glaube ja, dass sie sich diesen Namen selbst ausgedacht hat und ihr ursprünglicher schon längst vergessen wurde. Ich könnte mir vorstellen, dass ihre Eltern sie Irmtraud oder Adelgunde getauft haben. Leider ist niemand mehr da, den ich diesbezüglich fragen könnte. Ihre Eltern sind tot, sagt sie zumindest. Und wenn sie das sagt, dann leben sie vermutlich noch. Meinen Vater hat sie schon vor sehr langer Zeit verlassen. Sie hält es kaum länger als ein paar Monate bei einer Person oder an einem Ort aus. Ein Wunder, dass sie noch mit mir und meiner Schwester zusammenlebt und uns nicht in eine größer gebaute Babyklappe gesteckt hat.

Mary ist eine Abenteurerin. In ihren besten Jahren ist sie um die ganze Welt gereist. Hatte einen Typen nach dem anderen. Ich vermute, sie hatte mehr Männer im Bett, als andere in ihrem ganzen Leben gesehen haben. Als Alibi sagt Mary immer, dass sie sich für die Kulturen anderer Länder interessiert. Jedoch ist sie einer dieser Menschen, die sagen, sie könnten Italienisch sprechen und in echt beherrschen sie nur den Satz »Mi non parlo italianoIch spreche kein Italienisch.« Irgendwie kämpft sich meine Mutter dann mit Übersetzungen aus dem Internet durch. Einmal hat sie erzählt – was, wie gesagt, so viel heißt wie: Es ist komplett anders passiert, oder: Es ist überhaupt nicht passiert –, dass sie eine solche Internetübersetzung in einem chinesischen Restaurant angewendet hat. Leider übersetzte ihr glorreiches Ursteinhandy »Kellner, noch eine Runde« in »Ich esse Hunde«. Sie merkte es erst, als ihr Essen komisch schmeckte.

Jedes Kind hat seiner Mutter sicher schon eine Karte geschenkt, auf der stand: Du bist die beste Mama der Welt. Das kann mathematisch gar nicht funktionieren, weil es sonst sehr viele »beste Mütter« geben würde. Deswegen war ich zu ihrem letzten Geburtstag gleich ehrlich und habe auf die Karte geschrieben: »Du bist zwar nicht die beste Mama der Welt, aber ich schätze, du befindest dich im oberen Drittel.«

Wenn man es genau nimmt, sollte ich mich gar nicht beschweren, denn manchmal beneide ich meine Mutter. So viele mitreißende Geschichten, die sie erzählen kann. Ich hingegen verbringe meine Zeit damit, mir über unerklärliche Funde und Geschehnisse Gedanken zu machen. Auch wenn es bloß um einen stinknormalen Kaugummi geht, der unter einen Autositz geklebt wurde. Wie ging diese Verschwörung vonstatten? Wer ist schuldig und wer unschuldig? Welchen Nutzen könnte die Person daraus ziehen, einen Kaugummi genau an diesem Tag und in diesem Winkel unter einem Sitz zu positionieren?

Neben dem durchaus kniffligen Kaugummifall stöbere ich auch noch in Akten und Büchern, die weitaus mysteriösere Erscheinungen behandeln: Berichte über Ufos, Serienkiller, verschwundene Personen, verbotene Areale und im Geheimen durchgeführte Experimente. Meine Lehrer bestärken mich, schwärmen davon, dass ich ein unfassbares Talent im logischen Schlussfolgern habe.

Na großartig! Was genau soll ich mit einer solchen Information denn anstellen? Mich für die nächste Staffel von »Sherlock Holmes« oder »Die drei ???« bewerben? Eines ist auf jeden Fall sicher: Mit einem hohen IQ hat man es im Leben kein bisschen einfacher. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre wenigstens etwas dümmer oder primitiver und könnte mich für Schlagzeilen interessieren wie: Ist sie gewollt schwanger oder ungewollt dick? Die Gerüchteküche brodelt.

»Erde an Lukas! Hallo? Ich rede mit dir.«

»Sorry, Mom. War gerade abwesend. Was brauchst du denn?«

Sie seufzt, holt einen Brief aus ihrer Hosentasche und streckt ihn mir entgegen.

Ich schaue meine Mutter ungläubig an. »Was ist damit?«

»Das wirst du schon sehen. Solltest du dich im Camp überfordert fühlen, dann lies ihn. Er kann dir …«

»Mom, was zur Hölle willst du mir damit sagen? Ich bin keine zehn mehr.«

Mary quetscht mir den Brief hastig in meinen ohnehin schon zu vollen Rucksack. »Nimm ihn dir einfach als Erinnerung mit.«

»Ich bin doch nur zwei Wochen weg.«

»Ja, aber … wenn du einmal nicht weiterwissen solltest, öffnest du ihn trotzdem, okay?«

Ich zucke genervt mit den Schultern.

»Versprochen?«

»Ja! Okay! Meinetwegen.«

Ich fasse es nicht! Erst besteht sie darauf, dass ich in dieses blöde Camp gehe, und dann macht sie auch noch auf »mysteriöse Mutter«. Leider kann ich ihr dieses Image nicht abkaufen und rechne damit, Fotos von Katzenbabys und den Spruch »Haha! Verarscht! Komm mit deinen Problemen allein klar« in dem Brief vorzufinden.

Ganz in meine Gedanken vertieft, bemerke ich den Bus erst, als er knapp neben dem Gehsteig zum Stehen kommt. Die Außenwände sind in glänzendem Schwarz lackiert, die Fenster so sauber geschrubbt, dass ich meinem Spiegelbild entgegenblicke. Meine braunen wuscheligen Haare habe ich mir vor der Abreise auf die Seite gekämmt. Leider ist mir dieses Vorhaben nicht sonderlich gelungen, denn ich muss sie mir öfter aus dem Gesicht streichen, als mir lieb ist. Die grüne Augenfarbe, die mich von meinen anderen Familienmitgliedern unterscheidet, ist nicht zu erkennen. Zumindest nicht in den Fenstern des Busses. Wenn man mich direkt ansieht, kann man gar nicht anders, als mir ununterbrochen in die Augen zu starren. Das habe ich jedenfalls gesagt bekommen. Vielleicht war das aber einfach nur ein unfassbar einfallsloser Anmachspruch …

Etwas unsicher mache ich einen Schritt auf den Bus zu. Mit einem Zischen öffnet sich die Tür und ich kann den Busfahrer erkennen. Er trägt eine grüne Militärkappe, eine im Ausschnitt steckende Sonnenbrille und ein Camouflage-T-Shirt, das ihm bestimmt eine Größe zu klein ist. Höchstwahrscheinlich hat er sich sogar absichtlich ein kleineres gekauft, damit seine Muskeln noch mehr zur Geltung kommen, als sie es so oder so schon tun.

»Na? Steigst du ein oder wartest du darauf, dass ich den roten Teppich für dich ausrolle?«

»Muss nicht rot sein, aber ein Teppich wäre toll.«

Seine Miene verfinstert sich.

Ich werfe einen hilflosen Blick zu meiner Mom. »Haben die in der Wildnis keinen Humor?«, flüstere ich und setze ein gekünsteltes Grinsen auf.

Sie lächelt. »Nun geh schon, du wirst wohl oder übel ohne mich zurechtkommen müssen. Hauptsache, du vergisst den Brief nicht.«

Ich versuche erst gar nicht zu widersprechen und betrete den Bus.

Habe ich da ein Funkeln in ihren Augen gesehen?

Schnell drehe ich mich nochmal zu ihr um. Tatsächlich wirkt ihre Art, mich anzusehen, unerwartet fremd. Ich erkenne Stolz in ihrem Blick, aber auch noch etwas anderes … einen unbeschreiblichen Ausdruck von Trauer, begleitet von einer Spur Unsicherheit.

Unsicherheit?

Ich atme tief ein und aus. Mir geht es gut. Ich werde die nächsten zwei Ferienwochen soweit genießen, wie ich es kann. Alles ausblenden. Den Alltag, meine Probleme und die durchwachsene Beziehung zu meiner Mutter. Dennoch bekomme ich einige Fragen nicht aus meinem Kopf.

Warum dieser Abschied? Und warum dieser Brief? Sie hat sich doch noch nie so viele Sorgen gemacht. Warum, um alles in der Welt, jetzt?

Ich habe keine Möglichkeit mehr, sie das zu fragen, denn im nächsten Moment schließt sich die Tür vor meinen Augen und ich bin komplett auf mich allein gestellt.

2

»Da sieh mal einer an, bist wohl doch noch eingestiegen.« Der Busfahrer trommelt ungeduldig mit seinem Zeigefinger aufs Lenkrad. »Such dir einen Platz aus, Junge. Wir wollen doch nicht, dass du dir die Nase brichst, wenn ich losfahre.«

»Ich heiße Lukas und nicht Junge, falls es Sie interessiert.«

Mein Gegenüber hebt die Augenbrauen und beginnt danach hämisch zu lachen. Auch wenn ich es persönlich eher als Grunzen bezeichnen würde.

»Mut hast du schon, Junge. Kannst mich duzen, ich bin doch nicht die Queen. Ach, und meinen Namen wirst du schon noch früh genug erfahren.«

Eine Stimme ist aus dem hinteren Teil des Busses zu hören. »Wann fahren wir denn endlich weiter? Ich langweile mich hier ja schon zu Tode.«

»Reg dich ab, Niklas. Lukas wollte sich gerade einen Platz suchen, nicht wahr?«

Eine rhetorische Frage. Gerissen!

Ich nicke widerstandslos und gehe zögerlich zu den Sitzreihen.

Viele nervt meine provokante und offene Art, doch ich lasse mir einfach nicht alles gefallen. Nicht mehr. Ich wurde viele Jahre meines Lebens ungerecht behandelt. In der Schule, zu Hause und manchmal auch von meinen angeblichen Freunden. Ich hatte keinen Vater, der auf mich aufgepasst hätte. Stattdessen eine Mutter, die sich oft ganze Wochenenden nicht hat blicken lassen. Diese Kurzausflüge beschreibt sie mit dem treffenden Satz: die stetige Suche nach Nervenkitzel. Seit ich den Mut habe, nicht tatenlos rumzusitzen, sondern meine Probleme selbst in die Hand nehme, behandeln mich plötzlich alle mitfühlend und wohlgesinnt …

Wer’s glaubt!

Die meisten Sitzplätze sind schon besetzt. Einige unterhalten sich mit ihrem Nachbarn, die anderen haben sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt und starren gedankenverloren aus dem Fenster. Der dunkelblonde Junge in der ersten Reihe ist so in sein Buch vertieft, dass er mich nicht einmal wahrnimmt. Soweit ich es erkennen kann, flirtet auf den hinteren Sitzen gerade ein rothaariger, durchtrainierter Junge mit einer Gruppe von Mädchen. Eines hört ihm überraschenderweise nicht zu, sondern hat ihre volle Konzentration auf mich gerichtet. Ich schmunzle und hebe die Hand. Mit dieser dezenten Geste versuche ich ihr klarzumachen, dass auch ich sie gesehen habe. Als rechts von mir jedoch eine Stimme ertönt, wende ich meinen Blick ab.

»Hey, Lukas! So heißt du doch, oder?«

Ich halte an und mustere den Jungen neben mir kritisch.

»Da ist wohl jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden. Entspann dich, ich werde dich schon nicht beißen.«

»Tut mir leid, ich bin einfach ein bisschen durch den Wind.«

Mein Gegenüber runzelt amüsiert die Stirn. »Nenn mir eine Person in diesem Bus, die das nicht ist. Wir fahren in ein Camp, über das wir so gut wie nichts wissen, und das auch noch mit Leuten, die wir so gut wie nicht kennen. Also sag mir, wer hier nicht durch den Wind ist?«

Als ich mit meiner Antwort zögere, setzt der Junge erneut an. »Ich heiße übrigens Valentin. Kommt vom Lateinischen und bedeutet so viel wie gesund und stark sein. Notiz am Rande: Ich bin keines davon. Wie dem auch sei, wenn du willst, kannst du dich neben mich setzen. Ich schätze nämlich, dass sich der Alte noch einmal aufregen wird, wenn du weiter im Gang stehen bleibst.«

Dankend lasse ich mich auf dem Platz nieder. Im Hinterkopf behalte ich das Mädchen aus der letzten Reihe.

Während sich der Bus ruckelnd in Bewegung setzt, mache ich es mir bequem, werfe einen Blick aus dem Fenster und kann gerade noch meine Mom erkennen, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwindet. Sie hat sich keinen Zentimeter bewegt, seit ich eingestiegen bin. Noch immer derselbe Gesichtsausdruck.

»Das war vorhin eine echt mutige Aktion von dir.«

»Ehrlich gesagt, bin ich nicht sonderlich stolz darauf, mich gegen einen Busfahrer aufzulehnen«, bringe ich hervor.

Valentin lächelt. »Das ist doch kein gewöhnlicher Busfahrer, sondern der Leiter des Camps. Magnus.«

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. »Ich … das … das wusste ich nicht.«

Es ist das erste Mal in dieser Unterhaltung, dass ich Valentins Gesicht genauer betrachte. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Markante Wangenknochen, etwas dunklere und kürzere Haare, die sich wild kräuseln, ein paar Sommersprossen und hellbraune Augen.

»Bist du dir ganz sicher?«, murmle ich.

Valentin zeigt auf eine Sitzreihe hinter uns. »Die haben es mir zumindest erzählt.«

Ich spähe nach hinten und starre einen der zwei Jungen direkt an. Als meine Augen nach oben wandern, greife ich mir instinktiv an die Stirn. Exakt an die Stelle, bei der die Narbe meines Gegenübers beginnt.

»Du musst nichts sagen. Ich weiß, was du denkst«, behauptet der entstellte Jugendliche. Die Narbe reicht von seiner Stirn bis zum Kinn. Scheußlicher Anblick!

»Bin beim Jagen in meine eigene Falle getreten. Ist aber auch schon Jahre her.«

»Jahre? So lange jagst du schon?«

»Seit ich denken kann, Kleiner.«

Der Junge neben ihm sieht nicht annähernd so gefährlich aus. Er hat sich eine Mütze auf den Kopf gestülpt und trägt eine Brille mit runden Gläsern.

Unterschiedlicher könnten die zwei nicht sein.

Der Teenager mit der Narbe lehnt sich zu mir. »Ich bin Niklas. Im Prinzip müsste ich meinen Namen gar nicht erwähnen, du hast ihn dir sicher schon gemerkt. Weißt du, ich bin der, der sich vorhin beim Campleiter aufgeregt hat.«

Als könnte man darauf stolz sein!

Ich seufze: »Ja, war nicht zu überhören.«

Niklas lässt meine Aussage unkommentiert. »Und das neben mir ist …«

»Ich glaube, ich kann mich selbst vorstellen.«

Der zweite Junge reicht mir die Hand. »Ich heiße Emil. Du kannst mich aber auch gerne Emilios nennen.«

Valentin stupst mich mit dem Ellbogen an, um mir etwas zuzuflüstern: »Der hat anscheinend noch nicht begriffen, wofür Spitznamen gut sind.«

Ich unterdrücke mein Lachen.

»Was gibt es denn da zu grinsen?«, zischt Emilios.

Valentin antwortet gelassen. »Gar nichts. Kümmert euch jetzt wieder um eure eigenen Probleme.«

Niklas wandert mit seinem Kopf noch näher nach vorne. Langsam wird es unangenehm. »Du hast mir hier gar nichts zu sagen. Überhaupt unterhalten wir uns gerade mit deinem niedlichen neuen Freund und nicht mit dir.«

Ich schlucke. »Nun gut … ich wollte das Gespräch eigentlich auch gerade beenden.«

»Ach, wolltest du?«

Leider bemerke ich Niklas’ schnellen Handgriff zu spät. Er hat seinen Arm nach vorne gestreckt, in meine Hosentasche gegriffen und meine Geldtasche hervorgeholt.

»Hey! Gib das wieder her.« Wütend knirsche ich mit den Zähnen.

Irgendwo hört der Spaß auf!

»Na, was haben wir denn hier Schönes.« Niklas holt ein paar kleine Kärtchen aus den Seitenfächern und beginnt zu lesen.

Emil versucht ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. Als er das zu seiner Zufriedenheit geschafft hat, sieht er mich verwundert an.

»Du hast also laut diesen Karten einen Intelligenzwettbewerb gewonnen? Schaust ja gar nicht so clever aus.«

»Dieses Wissen wird dir in der Wildnis nicht helfen, Lukas.« Niklas’ Stimme klingt selbstsicher und herausfordernd. »Warum stellen wir dein Gehirn nicht auf die Probe? Ich habe ein Rätsel für dich, ja?«

Valentin mischt sich in das Gespräch ein: »Lukas, du musst das nicht machen. Das sind Proleten.«

Ich atme durch. Wenn sie spielen wollen, dann bitte! »Leg los, Niklas. Sag mir dein Rätsel.«

Erfreut über meine Antwort reicht er mir meine Geldtasche zurück. »Du musst dir vorstellen, dass du an eine Kreuzung mit zwei Wegen kommst. Der eine Weg führt dich zu ewigem Reichtum und der andere in den sicheren Tod. Du weißt aber nicht, welcher wohin führt. Vor dieser Weggabelung steht ein Haus, in dem Zwillinge wohnen. Einer von ihnen sagt immer die Wahrheit und der andere lügt jedes Mal. Es steht jedoch nur einer der beiden Zwillinge vor dem Haus. Du weißt nicht, ob es derjenige ist, der die Wahrheit sagt, oder derjenige, der lügt.«

Niklas macht eine kurze Pause.

»Erzähl schon weiter«, hakt Emil nach, dessen Neugierde nun ebenso geweckt ist.

»Also gut. Du darfst diesem Zwilling eine einzige Frage stellen. Anhand der Antwort musst du wissen, welcher der Wege dich zu deinem Ziel führt und welcher in den Tod.«

»Das kann man doch gar nicht lösen«, protestiert Valentin und schüttelt fassungslos den Kopf. Daraufhin lässt er sich in seinen Sitz zurückfallen.

»Warum ausgerechnet dieses Rätsel?«, frage ich Niklas und kaue auf meiner Unterlippe.

»Was soll ich sagen … es nervt mich, dass ich die Antwort nicht kenne.«

»Wie? Du kennst die Antwort selbst nicht?«

»Nein. Mir wurde das Rätsel zwar gestellt, aber die Antwort wurde mir nicht verraten.«

Ich räuspere mich. »Tut mir leid, da kann ich dir auch nicht weiterhelfen.«

Emil scheint zufrieden. »Doch nicht so schlau, was?«

Ich ignoriere seine Provokation und wende mich von den beiden ab. Entspannt lehne ich mich in meinem Sitz zurück.

Valentin flüstert mir abermals motivierende Worte zu. »Es ist nicht schlimm, dass du das Rätsel nicht lösen konntest. Dieser Trottel kennt die Antwort ja selbst nicht.«

»Komisch. Dabei ist die Antwort leichter, als man denkt«, flüstere ich zurück und zwinkere.

»Wie?! Was meinst du damit?«

»Ganz einfach. Ich erkläre es dir. Du fragst den genannten Zwilling, welchen Weg dir sein Bruder geraten hätte, und dann nimmst du den anderen.«

Valentin denkt konzentriert nach. »Und das funktioniert?«

»Absolut. Wenn derjenige vor dem Haus steht, der immer die Wahrheit sagt, wird er dir wahrheitsgemäß den falschen Weg sagen, weil er weiß, dass sein Bruder immer lügt.«

»Stimmt! Und dann nimmst du den anderen, also den richtigen!«

»Genau. Sollte derjenige vor dem Haus stehen, der immer lügt, wird er dich anlügen und den falschen Weg sagen.«

Valentin grinst erfreut. »Und somit gehst du wieder den richtigen, weil du ja immer den entgegengesetzten wählst.«

»Korrekt.«

»Du bist genial! Warum hast du ihnen die Lösung nicht verraten?«

»Einerseits ist es viel lustiger, wenn sie das Rätsel ihr Leben lang nicht lösen können, und andererseits wären sie wohl noch beschissener drauf, wenn ihnen klar wird, dass sie nicht die Schlauesten hier sind.«

Valentin lehnt wohlgelaunt seinen Kopf ans Fenster. Zufrieden mit meiner Antwort schmunzelt er noch eine ganze Weile, bis er nach einiger Zeit ein neues Thema anfängt. Seine Stimme hat sich verändert. Er wirkt nachdenklich. »Warst du denn schon mal in so einem Camp?«, fragt er mich leise und betrachtet die vorbeiziehende Landschaft.

Wir biegen soeben in einen Wald ab. Bäume ragen dicht gedrängt aus der Erde, verursachen eine beklemmende Stimmung. Zugleich wird die Straße holpriger und es fällt mir immer schwerer, mich zu entspannen.

»Nein, und du?«

»Ich auch nicht.«

Wenigstens bin ich nicht der Einzige.

Immer tiefer geht es in das mir unbekannte Gebiet. Auch die anderen Teenager sind überraschend leise geworden. Ich würde sogar behaupten: Es herrscht eine unangenehme Stille …

»Sag mal, Valentin. Kennst du dieses eine Mädchen aus der letzten Reihe? Das mit den schulterlangen braunen Haaren und dieser Stupsnase? Ich glaube, sie hat eine schwarze Bomberjacke an.«

»Stupsnase? Bomberjacke? Deine Beschreibung ist ja fabelhaft.«

»Ja … ich … keine Ahnung.«

»Kaja.«

Ich schaue ihn verwirrt an.

»Sie heißt Kaja. Ich kenne sie, weil sie nur ein paar Straßen von mir entfernt wohnt. Sie geht mit einem meiner Bekannten in die Schule.«

»Da sieh mal einer an … danke jedenfalls. Weißt du denn auch, was sie …«

Ich schaffe es nicht, meinen Satz zu Ende zu bringen, denn nach einem fürchterlichen Knall pralle ich mit so einer Wucht gegen den Sitz vor mir, dass ich Blut schmecke. Schnell greife ich mir an die Nase. Ein ohrenbetäubendes Quietschen ist zu hören. Dann ist alles still. Der Bus ist zum Stehen gekommen.

»Verdammt!« Magnus öffnet hektisch die Tür und rennt nach draußen.

Ein Mädchen beginnt zu weinen.

»Alea! Reiß dich zusammen.«

Der Junge mit den roten Haaren quetscht sich an den Sitzreihen vorbei und verschwindet gleichfalls aus dem Bus.

Mit wackeligen Knien erhebe ich mich von meinem Platz. Mir ist schwindelig. Noch immer tropft Blut aus meiner Nase und befleckt meine Hose.

»Alles gut da draußen?« Die Frage kommt von Emil.

Keine Antwort.

»Los, Leute. Alle raus hier!«, ruft Niklas und macht einen Schritt zur Tür.

Valentin dreht sich abrupt zu ihm um. »Du bist hier nicht der Chef!«

»Nein, aber hast du jetzt eine klügere Idee, du Besserwisser?«

Valentin gibt nach und lässt sich nicht weiter auf die Diskussion ein. Tatächlich erheben sich kurz darauf schon die Ersten von ihren Sitzplätzen und gehen Richtung Ausgang. Einigen ist der Schock ins Gesicht geschrieben. Auch ich steige vorsichtig aus dem Bus und stelle mich neben Magnus. Der Campleiter kniet vor einem zerplatzten Reifen, schaut wie versteinert auf den Boden.

Als sich alle draußen versammelt haben, fängt er sich wieder und ergreift das Wort.

»Na schön. Immerhin eine perfekte Situation, um mich vorzustellen. Ich bin Magnus und für euch verantwortlich. Das heißt: Alles hört auf mein Kommando. Wem das nicht passt, der kann unverzüglich nach Hause gehen. Falls er den Weg weiß.«

Ein paar ältere Jungs kichern.

»Leider sind wir durch diesen kleinen Unfall dazu gezwungen, zu Fuß zum Camp zu gehen. Es ist nicht mehr so weit und ich sehe es als eine ideale Gelegenheit, den Wald hier besser kennenzulernen. Um den Bus wird sich jemand kümmern. Fragen?«

Niemand macht auch nur einen Mucks. Stattdessen starten ein paar der Jugendlichen damit, das Gepäck aus den Stauräumen zu schaffen und anschließend zu verteilen. Danach hebt Magnus demonstrativ die Hand, ruft: »Gut, also, mir nach!« und verlässt die Straße. Er geht direkt in den Wald. Dicht gefolgt von Niklas und Emil. Zögerlich folgen ihm auch die anderen. Nur ich und Valentin bleiben noch einen Moment wie angewurzelt stehen.

»Ist das gerade wirklich passiert?«, fragt mich Valentin und blickt zum Fahrzeug. Seine Stimme zittert.

»Ich schätze schon.«

Vorsichtig knie ich mich hin und betrachte den Boden genauer. Dann sehe ich sie: Scherben. Haufenweise spitze, dicke Scherben! Sie wurden in mehreren Linien quer über die Straße platziert. Magnus hätte niemals ausweichen können.

Ich hebe eine von ihnen auf und halte sie in die Luft. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als mir klar wird, was hier wirklich passiert ist.

Bestürzt drehe ich mich zu Valentin um. »Das … das war kein Unfall.«

Er sieht die Scherbe in meiner Hand und reißt die Augen auf. »Du meinst …« Seine Stimme versagt.

»Ja, die Reifen sind nicht einfach so geplatzt, Valentin. Irgendjemand hat diese Scherben auf die Straße gelegt. Irgendjemand hat gewollt, dass wir aussteigen.«

3

Meine Behauptung: Übers Wasser zu gehen ist einfacher, als dieses Camp ohne Ehrfurcht zu betreten.

Sorry, Jesus!

Der Wald erinnert an ein Löwengehege. Natürlich ohne Sicherheitsmaßnahmen und Zäune. Statt Löwen gibt es Wildschweine, Bären, Wölfe, Hirsche und, nicht zu vergessen, die gefürchtete Malacolimax tenellus. Hierbei handelt es sich zwar nicht um ein riesengroßes fleischfressendes Monster, aber um eine ziemlich eklige Schneckenart. Und ganz ehrlich: Die Wahrscheinlichkeit, auf eine Schnecke zu treten, ist viel höher, als von einem Bären gefressen zu werden.

Ich denke einen kurzen Moment angestrengt nach.

Okay, eigentlich hat der Ort nicht wirklich was mit einem Löwengehege gemeinsam …

Ich revidiere meine Aussage: Der Wald erinnert an ein Gehege.

Besser!

Die meisten der Bäume stehen so dicht nebeneinander, dass man sich gefangen fühlt. Eingegrenzt. Man kann nie alles erkennen, nie genau sehen, was auf einen zukommt. Überall sind Augen, die dich beobachten, Krallen, die über die Rinde kratzen. Auch wenn du sie nicht siehst, es gibt sie. Und sie warten nur auf dich. Über dir im Schutz der Baumkronen, unter dir, lauernd eingegraben, vor dir zwischen den Bäumen und hinter dir im Schatten der Dunkelheit.

Der Geruch von feuchter, nasser Erde liegt in der Luft. Fast etwas modrig. Gelegentlich überwiegt der süßliche Geruch von Harz. Ein Mischwald. Es muss in der Nacht geregnet haben, denn als ich über das Moos am Boden streiche, spüre ich kleine Wassertropfen auf meiner Haut.

»Der Wald kann einem sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Es ist besonders hier, findest du nicht?«

Die Frage kommt von Valentin. Er hat angehalten, um tief und innig Luft zu holen.

»Ich habe Respekt davor«, gestehe ich.

»Respekt habe ich auch, das kannst du mir glauben. Eine gute Freundin von mir hat sich in einem Wald das Leben genommen.«

Ich halte inne.

Valentin dreht mir den Rücken zu und schlendert weiter. »Vergiss es. Über so etwas spricht man nicht, ich weiß.«

»Über so etwas spricht man vielleicht nicht, aber man sollte es.« Ich hole entschlossen auf.

Ein paar Meter vor uns unterhalten sich einige Mädchen und noch weiter vorne befinden sich die restlichen Teenager. An der Spitze: Magnus.

»Du meinst, man sollte über den Tod reden?«, will Valentin wissen.

»Nein, im Gegenteil. Man sollte über das Leben reden.«

»Wie jetzt? Ich dachte, es geht dir um meine verstorbene Freundin?«

»Tut es ja auch. Jeder Tod erinnert uns daran, dass das Leben bloß eine Lüge ist.«

Valentin scheint beeindruckt. »Steht hier etwa der neue Goethe vor mir?«

»Wohl eher nicht, aber Goethe hätte sich gerne etwas von mir abschneiden können«, äußere ich mit einem sarkastischen Unterton.

Er beginnt zu grinsen, doch nach ein paar Sekunden hakt er nach. »Wie meinst du das mit der Lüge?«

»Nun, wenn wir es ganz genau betrachten, leben wir doch nur, um dem Tod zu gefallen.«

Valentin sieht mich irritiert an. »Das ergibt doch gar keinen Sinn.«

»Vielleicht nicht. Vielleicht aber schon. Wir wollen am Ende des Lebens doch alle etwas haben, worauf wir stolz sein können, etwas, wodurch wir den anderen im Herzen bleiben. Also ist das glückliche Leben bloß eine Ausrede, um zufrieden sterben zu können. Ich glaube, deine Freundin hatte einfach keine Kraft mehr, sich eine solche Ausrede zurechtzulegen. Wann ist sie denn gestorben?«

»Vor fast genau einem Jahr. Und ich Trottel habe noch das Seil in ihrem Zimmer gesehen. Ich wusste ja nicht, dass sie sich damit …«

Er verstummt.

»Sie hat sich aufgehängt?«

Valentin nickt. »Tut mir leid, dass ich dir dieses Thema aufgedrängt habe.«

»Nein, mir tut es leid. Ich hätte dich nicht ausfragen sollen.« Ich klopfe ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Du kannst ja nichts dafür, dass ich so eine vertrauenswürdige Ausstrahlung habe.«

Er lacht. »Jaja, träum weiter. Du kannst aber sehr wohl was dafür, dass du pausenlos angibst. Überhaupt bist jetzt du dran. Erzähl mir etwas von dir

Belustigt puste ich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich heiße Lukas.«

»Und weiter?«

»Punkt.«

Er verdreht die Augen.

»Etwas, das noch nicht so viele wissen, du Idiot.«

Wenn er wüsste.

Ich werde leiser. »Seit einigen Jahren heiße ich zwar Lukas, aber das war nicht immer so.«

»Was?!«

»Einer der Gründe, weshalb ich meine Mom hassen könnte.«

Interessiert dreht er sich zu mir. »Warum das?«

»Heikles Thema … als sie mit mir schwanger war, hat sie es sich trotzdem nicht nehmen lassen, auf Partys zu gehen. Kurz gesagt: Sie hat getrunken.«

»Oh, scheiße. Das tut mir leid.«

Ich winke ab. »Muss es nicht, ist ja nicht deine Schuld. Jedenfalls hat sie bei einem Trinkspiel verloren und jemand, den sie erst seit ein paar Stunden gekannt hat, durfte mir einen Namen geben.«

»Und das hat sie zugelassen?«

Mein Blick schweift in die Baumkronen. Manche der Sonnenstrahlen durchbrechen das Blätterdickicht und wärmen meinen Körper.

»Hätte sie von ihm danach nicht jahrelang Geld bekommen, vermutlich nicht. Sie hätte meine Schwester und mich ohne dieses Geld nicht versorgen können. Meinen Vater hat sie schon in ihrem dritten Schwangerschaftsmonat verlassen. Ich glaube aber auch, dass ihr der Name tief im Inneren Spaß gemacht hat.«

»Sie hat dich ausgelacht?«

»Ich weiß es nicht. Meine Mutter ist eine Frau, die ich nicht einschätzen kann. In letzter Zeit ist sie plötzlich so nett zu mir … keine Ahnung. Meinen vorigen Namen habe ich zum Glück ändern können.«

Während des Gesprächs habe ich gar nicht bemerkt, dass wir auf einen breiteren Wanderweg abgebogen sind. Die Bäume rechts und links von uns werden spärlicher und immer mehr Sonnenlicht lässt den Wald in einem leicht goldenen Schimmer glänzen. Außerdem steigt mir der Geruch von Rauch in die Nase.

Ein Lagerfeuer! Wir sollten gleich da sein.

»Das ist echt eine ungewöhnliche Geschichte, Lukas. Ein Detail wäre aber noch interessant. Du hast zwar erwähnt, dass dein früherer Name schrecklich war, aber wie genau du geheißen hast, weiß ich immer noch nicht.«

Ich atme tief durch. »Eigentlich sage ich es ungern, aber wenn du es unbedingt wissen willst …«

»Nein, halb so wild. Du musst es nicht sagen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Im Grunde will ich gar kein Geheimnis daraus machen. Ich hieß Ach…«

Als ich im selben Moment auf etwas Glitschiges trete, kann ich nicht mehr schnell genug reagieren und verliere das Gleichgewicht. Mit rudernden Armen und einem jähen Schrei komme ich auf dem rauen Waldboden auf.

»FUCK!«

Ich habe es befürchtet: Schnecken! Riesige, schleimige Schnecken!

Ein leichtes Ziehen durchfährt meinen Rücken und mein Steißbein brennt höllisch. In dieser ungünstigen Position bleibe ich noch kurz liegen, bis ich mir von der Hand aufhelfen lasse, die mir entgegengestreckt wird.

»Danke, Valentin. Ich …«

Es ist nicht Valentin.

»Oh … ehm … danke, Kaja.«

Sie sieht mich verblüfft an. »Kennen wir uns, oder woher weißt du, wie ich heiße?«

Ich lächle gekünstelt und zeige auf Valentin.

Dieser setzt seinen Weg pfeifend fort, als hätte er es nicht gehört.

Kaja schaut mir interessiert in die Augen. »Hm, na dann wäre es doch fast schon fair, wenn ich auch deinen Namen kennen würde. Oder ist es dir lieber, wenn ich dich ›unbekannter Schneckentöter‹ nenne?«

Ich bringe kein Wort heraus.

Warum ist dieses Mädchen jetzt schon lustiger als ich?!

»Ich … heiße Lukas.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Lukas. Mein Name ist … ach, da war ja was.«

Sie zwinkert mir zu und beginnt weiterzugehen. Ich gehe mit schnellem Schritt hinterher.

»Wie hast du bemerkt, dass ich hingefallen bin?«

»Dein ›Fuck‹ war nicht zu überhören.«

Fuck!

»Eigentlich benutze ich solche Schimpfwörter nicht, aber …«

»… der Wald macht uns alle zu Tieren«, vervollständigt sie meinen Satz.

Ich lache lautlos. »Ja, so in etwa.«

Auch Valentin schließt sich uns an. »Hey! Ich bin übrigens Valentin. Wir kennen uns.«

»Ja, tatsächlich. Von irgendwoher kommst du mir bekannt vor. Hattest du nicht einen Bruder?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nicht ich hatte, sondern ich hätte