Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Collateral – Blood & Roses #6
erschien 2014 im Verlag Smashwords.
Copyright © 2014 by Callie Hart
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Alexander Kopainski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-812-4
www.Festa-Verlag.de
EINS
Sloane
Es gibt so viele Möglichkeiten, wie der menschliche Körper auf Stress reagieren kann. Erhöhte Herzfrequenz. Schlaflosigkeit. Panikattacken. Probleme beim Schlucken. Brustschmerzen. Schwindelgefühl. Die Liste ist schier endlos. Ich glaube, ich hake gerade jeden einzelnen Punkt der Aufstellung ab, während Zeth und ich über die Staatsgrenzen zurück nach Washington fahren.
Ein kluger Mensch würde in die andere Richtung steuern. Ein kluger Mensch würde schleunigst den gesamten verdammten Bundesstaat durchqueren, ins verflixte Kanada verduften, seinen Namen ändern, irgendwo im Nirgendwo einen kleinen Baumarkt kaufen und bei allem, was ihm heilig ist, inständig hoffen, dass sich keine mexikanischen oder englischen Gangster so weit in den Norden verirren würden. Aber nicht wir. O nein. Das wäre ja viel zu vernünftig.
Nein, wir sind unterwegs zu einem Treffen mit einer bestimmten DEA-Agentin – einer Frau, die persönlich meine Karriere im St. Peter’s Krankenhaus versaut und außerdem meine Schwester angeschossen hat. Ich verspüre nicht das geringste Verlangen, Agent Lowell je wiederzusehen, doch es sieht so aus, als hätte ich keine große Wahl. Denn der Überraschungsehemann meiner Schwester brettert auf dem lautesten je gebauten Motorrad direkt hinter uns her. Ich schwöre, es hat nie ein lauteres Motorrad als diese Höllenmaschine gegeben.
Meine Zähne klacken schon seit 100 Kilometern vibrierend aufeinander. Es bessert die Situation nicht unbedingt, dass Rebel in einem Abstand von 30 Metern vier andere Biker folgen, anscheinend um die Dinge im Auge zu behalten. Wir fahren in Rebels Hummer, und Michael schläft tief und fest auf der Rückbank, bekommt nicht das Geringste vom kehligen Gebrüll der Motorräder hinter unserem Heck mit.
Zeth verhält sich relativ still, seit wir im Morgengrauen aufgebrochen sind, und ich hatte bisher kein großes Verlangen, ihn zu einem Gespräch zu verleiten. Nun jedoch, da wir uns allmählich unserem Ziel nähern, merke ich ihm an, dass er etwas loswerden will. Er fasst herüber und legt die Hand auf meinen Oberschenkel, bremst mein wippendes Knie. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich damit gewippt hatte. »Du weißt, was du zu tun hast, wenn wir dort sind, richtig?«, fragt er nach.
Sein Haar ist deutlich gewachsen, seit er Lacey vor all den Wochen in die Notaufnahme gebracht hat. Irgendwie kann ich ihn mir bei administrativen Dingen wie einem Besuch beim Friseur für einen Haarschnitt gar nicht vorstellen. Dafür erscheint er mir zu … zu fremdartig. Als sollte ihn aus irgendeinem Grund etwas so überaus Menschliches und Notwendiges nicht betreffen.
Eine Fliegersonnenbrille schirmt seine tiefbraunen Augen ab, dennoch weiß ich, welcher Ausdruck aus ihnen spricht: Besorgnis. Missfallen. Irritation. Seit Rebel entschieden hat, dass ich mich allein mit Agent Lowell treffen muss, wechseln sich diese Emotionen in Zeths Gesichtszügen ab. Anscheinend entspricht die Vorgehensweise nicht seiner Vorstellung von einem ausgeklügelten Plan. Andererseits werden weder er noch Rebel mit zu dem Treffen kommen und riskieren, dass sie auf Anhieb verhaftet werden.
Somit obliegt mir die alleinige Verantwortung für die Verhandlungen mit der Drug Enforcement Agency, und die Aussicht darauf empfinde ich alles andere als entspannend. Deshalb wippt mein Knie wie verrückt. »Ja, ich weiß, was ich zu tun hab«, bestätige ich. »Nicht nachgeben. Keine Informationen herausrücken, die sie zu dir führen können. Nicht zu lange bleiben. Darauf achten, dass ich nicht verfolgt werde, wenn ich gehe …«
»Die werden dir auf jeden Fall folgen, wenn du gehst. Du musst nur sicherstellen, dass du sie abschüttelst, bevor du in die U-Bahn steigst.« Zeth umklammert das Lenkrad so krampfhaft, dass seine Knöchel weiß hervortreten. Er starrt wieder stur geradeaus durch die Windschutzscheibe. Seine Kiefermuskeln arbeiten. »Du solltest das echt nicht tun«, brummt er leise mit knurrendem Unterton.
Er macht sich Sorgen um mich. Zwar hat er es nicht mit Worten ausgesprochen, aber ich lerne diesen so verwirrenden Mann jeden Tag besser und besser kennen, und ich weiß, dass er mit dieser Entscheidung hadert. Und er hat schwer damit zu kämpfen, mich tun zu lassen, was Rebel verlangt, um die Sicherheit meiner Schwester zu gewährleisten.
Eigentlich sollte ich das gar nicht mehr für sie tun. Ich hätte mich längst von ihr lossagen sollen. Aber wenngleich ich bezweifle, dass ich mich in nächster Zeit dazu durchringen kann, mit Alexis zu reden, will ich trotzdem nicht, dass sie Lowell in die Hände fällt. Immerhin ist und bleibt sie meine Schwester. Auch wenn sie sich nicht so verhält, für mich bedeutet dieses Band immer noch etwas. Außerdem gehört es mit zu Rebels Tauschhandel, dass er uns hilft, Lacey zu finden, wenn wir ihm mit Lowell helfen, und im Augenblick brauchen wir in der Hinsicht jede Hilfe, die wir kriegen können.
Lacey.
Von dem Schlag taumeln wir noch immer. Das will mir nach wie vor nicht in den Kopf – wie sie einfach mit Charlie gehen konnte, nach allem, was er Zeth hat durchmachen lassen. Nachdem er mich von der Straße abgedrängt hat. Nachdem er die arme Frau in der Tankstelle umgebracht und damit nur bezweckt hat, Aufmerksamkeit zu erregen.
Zeth will den Namen seiner Schwester nicht mal aussprechen.
Ich kann nachvollziehen, was er empfindet.
Ungeachtet dessen bin ich regelrecht krank vor Sorge. Geht es Lace gut? Flippt sie gerade aus? Kommt sie zurecht? Immerhin ist es 48 Stunden her, seit Charlie sie mit zur Herzogin genommen hat, der komatösen Frau, die mittlerweile zweifellos gestorben ist. Muss sie sein. Oliver war nicht der Meinung, dass sie noch lange durchhalten würde, und Lacey hat geglaubt, die Frau wäre ihre leibliche Mutter. Das wird ihren Kopf völlig durcheinandergewirbelt haben.
»Sloane? Hörst du mir eigentlich zu? Welche Linie musst du nehmen?« Zeths schotterraue Stimme unterbricht meine Gedankengänge und fordert meine Konzentration.
»Die 458. An der Universität steige ich um. Ich treffe euch bei Fresco’s, und dann hauen wir schleunigst ab.«
Zeth brummt und kaut auf der Unterlippe. Das habe ich bei ihm noch nie zuvor gesehen. Seine Schultermuskeln wirken dermaßen angespannt, dass ich allein von dem Anblick Kopfschmerzen bekomme. »Und was wirst du ihr sagen?«, fragt er. »Was wirst du Lowell sagen?«
Ich gehe mein Drehbuch in Gedanken durch, vergewissere mich, dass ich mir alles eingeprägt habe. Eigentlich nicht wirklich schwer, zumal Rebel will, dass ich die Wahrheit sage. »Dass ich nicht weiß, wo meine Schwester ist. Dass aber Rebel an einem vorläufig geheimen Ort auf ihre Zustimmung zu unseren Forderungen wartet. Und dass er sich stellt und freiwillig in ihren Gewahrsam begibt, sobald wir die Garantie von ihr haben. Ich schnappe mir die Dokumente, darunter eine Verfügung von einem Bezirksrichter, die bestätigt, dass sämtliche Anklagepunkte gegen dich, Michael und mich vom Tisch sind. Danach verrate ich ihr, wo er ist.«
Zeth bläst die Luft durch die Nase aus und nickt knapp. »Eine saudumme Idee«, schimpft er bei sich. Ich halte es auch für eine saudumme Idee, andererseits sind uns die Möglichkeiten restlos ausgegangen. »Sorg einfach dafür, dass du’s durchziehst und von dort wegkommst, okay?«, sagt Zeth mit leiser Stimme zu mir.
Ich sehe ihn mit hochgezogener Augenbraue an und verspüre ein leichtes Triumphgefühl. »Warum? Machst du dir etwa Sorgen?«, ziehe ich ihn auf, obwohl ich es besser nicht tun sollte. Aus dem Augenwinkel wirft er mir einen ausdruckslosen Blick zu.
»Ob ich mir Sorgen mache?« Er lacht leise, und es ist kein freudiges Lachen, sondern ein durch und durch gequältes. »Verdammt, ich scheiße mich fast an, Sloane. Es gibt keinen Grund, warum diese Schlampe dich nicht einfach verhaften und als Druckmittel benutzen sollte. Sie ist schlau. Sie weiß, dass sie mit dir einen fetten Trumpf in der Hand hätte.«
»Ja, aber es ist ja auch nicht so, als wärst du dumm. Du würdest nicht Hals über Kopf zu meiner Rettung angestürmt kommen. Du würdest dich nicht einfach stellen, wenn sie mich wirklich als Druckmittel benutzt. Also wäre es sinnlos, wenn sie mich verhaftet.« Stille hält im Auto Einzug, und mein Herzschlag pulsiert wummernd durch meine Ohren. Zeth verkrampft wieder die Kieferpartie, und über mir schwappt eine Übelkeit erregende Ahnung zusammen. »Zeth? Das würdest du nicht tun«, sage ich.
Er verzieht keine Miene. »Würde ich nicht?«
Ich wirble herum, kämpfe mit dem Sitzgurt, damit ich ihn ansehen kann. »Nein, würdest du nicht. Ich bezweifle schwer, dass Lowell etwas in der Art abziehen wird. Sie weiß, dass sie Rebel dann nie in die Finger kriegt. Aber so oder so, wenn es haarig wird, müsst du und Michael los und Lacey finden. Das musst du tun. Und dich nicht freiwillig stellen, um mich rauszupauken. Ich kann ein paar Nächte in einer Gefängniszelle verkraften. Und länger kann sie mich realistisch gesehen nicht festhalten.« Zeth gibt einen erstickten Laut tief aus der Kehle von sich. Ich balle die Hand zur Faust und knuffe ihn kräftig in den Arm. »Was denn, glaubst du etwa, ich könnte eine Handvoll Nächte in einer Zelle nicht aushalten? Kann ich sehr wohl. Wenn’s sein muss jedenfalls.«
Zeth fasst nach oben und nimmt die Sonnenbrille ab, damit er mir direkt in die Augen sehen kann. Ich kann die Wut erkennen, die er tapfer kämpfend bändigt. »Du wirst meinetwegen nie auch nur eine einzige Nacht in einer Zelle verbringen, Sloane. Niemals. Eher sterbe ich, als dass ich das zulasse.« Frustriert bläst er den Atem aus und starrt wieder mit finsterer Miene durch die Windschutzscheibe.
Mein Magen brodelt, als wäre er mit Batteriesäure gefüllt. Ich komme mir ein wenig dumm vor. Zeth hat Zeit im Gefängnis verbracht. Er hat unzählige Nächte in einer Zelle geschlafen, wahrscheinlich mit einem totalen Irren zusammengesperrt, nur mit jeder Menge Zeit, aber keinem Ausweg. Er weiß, was es bedeutet, von der Außenwelt ausgeschlossen zu sein, wie schrecklich es zweifellos ist – und ich mache auf großspurig und spiele es herunter. Ich gebe mich, als könnte ich es locker wegstecken – obwohl ich in Wahrheit stark daran zweifle, dass ich es könnte.
»Tut mir leid«, flüstere ich geknickt. »Ich hab nicht richtig nachgedacht.«
Eine Weile erwidert Zeth nichts. Er fährt nur, die Augen stur geradeaus gerichtet. Die Muskeln treten angespannt an seinen tätowierten Unterarmen hervor. Dann holt er tief Luft und sagt etwas, das mir das Herz bricht. »Ich will dich glücklich machen, Sloane. Ich will, dass du in Sicherheit bist. Das hier ist nicht das Leben, das du verdienst. Deine Freiheit aufs Spiel zu setzen, um meine Schwester zu finden und Rebel zu helfen … Du solltest nie auch nur überlegen müssen, so etwas zu tun. Also ja: Falls dich Lowell verhaftet, ist das Erste, was ich verfickt noch mal tue, mich zu stellen. Und Rebel liefere ich ihr gleich mit. Ich werde ihr im verschissenen Handumdrehen jeden liefern, den sie haben will. Denn ich werd unter keinen wie auch immer gearteten Umständen zulassen, dass du in Gefahr gerätst oder in Unannehmlichkeiten hineinschlitterst. Solange irgendwas in meiner Macht steht, um es zu verhindern, werd ich nicht zulassen, dass du mit Nutten und Crackjunkies eingesperrt wirst, Sloane. Für keine Scheißminute. Für keine verfickte Sekunde.«
Ich weiß wirklich nicht, was ich darauf erwidern soll. Es käme Wahnsinn gleich, wenn Zeth täte, was er sagt. Aber nicht das verschlägt mir die Sprache, sondern vielmehr die Leidenschaft in seiner Stimme. Die Entschlossenheit in seinen Augen. So hat er noch nie zuvor mit mir geredet. Ich will dich glücklich machen, Sloane. Ich will, dass du in Sicherheit bist.
Es spielt keine Rolle, dass ich ihm gesagt habe, ich liebe ihn, und er es nicht erwidert hat. Das hier zählt. Diese Äußerung, die er eben von sich gegeben hat, ist alles, was ich hören musste, um zu wissen, dass es nicht hoffnungslos verrückt von mir war, schon die ganze Zeit an ihn geglaubt zu haben. Vor anderthalb Monaten hätte ich nie zu träumen gewagt, dass irgendwann solche Worte aus seinem Mund dringen könnten. Ich hätte es mir nicht mal vorstellen können. Aber Zeth besitzt sehr wohl eine weiche Seite, die er mir endlich nach und nach offenbart, und jedes Mal wenn ich einen flüchtigen Blick darauf erhasche, spüre ich, wie ich ihm mehr und mehr verfalle.
Die Fliegersonnenbrille ist auf dem Armaturenbrett geblieben, wo Zeth sie abgelegt hat. Er wirft mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu, und seine Lippen verziehen sich zu einem kaum merklichen, verhaltenen Lächeln. »Sag mir, dass du damit klarkommst«, fordert er mich auf. »Ich muss nämlich hören, wie du’s aussprichst.«
»Lowell meinst du?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, dass er nicht darauf anspielt. Blinzelnd sieht er mich an, und der Ansatz jenes Lächelns verschwindet. Ich strecke den Arm aus, löse seine rechte Hand vom Lenkrad und halte sie fest. Ein gewagter Zug meinerseits – wir haben noch nicht wirklich eine Stufe körperlicher Zuwendung außerhalb von Sex erreicht. Aber ich bin bereit dafür. Ich will es sein. Was er vom Austausch liebevoller Berührungen hält, weiß ich nicht – bis er die Finger durch meine fädelt und meine Hand mit kräftigem Griff festhält.
Erleichterung durchströmt mich. Im Augenblick fühlt sich alles, jede noch so kleine Geste, jedes sorgfältig überlegte Wort, wie ein Experiment an. Ein Experiment, das entweder ein ruhmreicher Erfolg werden oder verheerend nach hinten losgehen kann. »Ich komme damit klar«, beteuere ich und achte darauf, ihm dabei direkt in die Augen zu sehen. »Ich kann und werde verkraften, womit auch immer du mich konfrontierst, Zeth. Ich bin stärker, als ich aussehe.«
Er schüttelt leicht den Kopf, und ein weiteres kaum wahrnehmbares Lächeln spielt um seine Mundwinkel. Dann sieht er mich eindringlich an, als würde er in mich hineinschauen, und er tut etwas, das mein Herz zum Jubilieren bringt. Er hebt unsere miteinander verflochtenen Hände an den Mund und haucht einen zärtlichen Kuss auf mein Handgelenk. »Spielt überhaupt keine Rolle, wie du aussiehst, Sloane. Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne.«
Zeth rollt mit dem Wagen vor den Eingang der Marlewood Shopping Mall und ignoriert das zornige Hupen anderer Verkehrsteilnehmer, die auf die Gegenfahrbahn ausscheren müssen, um den Hummer zu umfahren. Michael wacht nicht mal auf. Der Mann könnte glatt ein Erdbeben verschlafen.
Ich schnappe mir meine Handtasche – die ich mir irgendwie in all dem Wahnsinn bewahrt habe – und setze dazu an, die Tür zu öffnen. Zeth packt mein Handgelenk und hält mich mit festem Griff zurück. »Warte.«
Ich wollte beim Aussteigen kein großes Tamtam verursachen. Sich aufwendig zu verabschieden, obwohl es, wenn alles nach Plan verläuft, nur für wenige Stunden ist, schien mir eine schlechte Idee zu sein. Noch mehr Anspannung. Noch mehr Stress obendrauf. Aber ich sehe die Unentschlossenheit in Zeths Augen. Dann blinzelt er, und die Unentschlossenheit schlägt in Entschlossenheit um. Er beugt sich über den Sitz und legt mir zart die Handfläche auf die Wange.
»Stell nichts Dummes an«, murmelt er. »Zwing mich nicht dazu, dich rausholen zu müssen, okay?«
Ich nicke, und Zeth überwindet die letzten Zentimeter zwischen uns. Und er küsst mich. Er … küsst … mich!
Solange ich lebe, solange wir zusammen sein werden, wird es für mich nie eine Selbstverständlichkeit sein, von diesem Mann einen Kuss zu bekommen. Niemals. Ich habe so lange auf den ersten gewartet, dass es dieses und jedes andere Mal, wenn er sich mir entgegenstreckt und die Lippen auf meine drückt, etwas Besonderes, etwas Denkwürdiges sein wird. Sein Mund ist heiß und fordernd. Die zurückhaltende Berührung seiner Handfläche an meiner Wange entwickelt sich rasch weiter, als er mein Handgelenk loslässt, damit er mein Gesicht in beide Hände nehmen kann. Seine Atmung wird abgehackt und schneller, aber nicht weil ihn der Kuss aufgeilt. Es ist kein Kuss dieser Art. Es liegt vielmehr daran, wie ernst er den Kuss meint.
Als er mich loslässt, überkommt mich der bislang größte Anflug von Zweifeln. Wir sollten das nicht tun. Wir sollten vielmehr auf Rebel pfeifen und schleunigst das Weite suchen. Ich weiß, dass Zeth denkt, wir würden erst in Sicherheit sein, wenn Charlie aus dem Weg geräumt ist – wobei ich mich zu akzeptieren weigere, dass er glaubt, der alte Mann müsste dafür tot sein. Denn wenn wir unsere Namen ändern und uns gefälschte Ausweise besorgen, wie schwierig könnte es dann schon sein, abzuhauen und unterzutauchen?
Als ich darüber nachdenke, wird mir nach und nach klar, was eine Flucht in Wirklichkeit bedeuten würde. Nie lange an einem Ort bleiben. Sich auf mindere Gelegenheitsjobs beschränken. Niemals Lacey finden. Sich nirgendwo niederlassen können.
Nie wieder als Ärztin arbeiten können.
Der Zug für Letzteres ist vielleicht so oder so schon abgefahren, trotzdem liegt mir allein der Gedanke daran so schwer im Magen wie ein Stein. Scheiße.
Als ich zu Zeth aufschaue, drückt seine Stirn gegen meine, und er starrt mich eindringlich an. Ich kann praktisch sehen, wie ihm dieselben Gedanken durch den Kopf gehen. Er weiß, dass es für uns keinen anderen Ausweg gibt. Außerdem ist er nicht der Typ dafür, irgendetwas den Rücken zuzukehren und davor wegzurennen.
»Du musst gehen«, flüstert er.
Wie zur Betonung ertönt ein lautes Klopfen am Beifahrerfenster des Hummer. Der verfluchte Rebel. Er hat einen entschieden grimmigen und ungeduldigen Ausdruck in der Visage. Am liebsten würde ich den Mistkerl kastrieren. Zeth lässt mich los und ich steige rasch aus. Ich schaue nicht zurück. Das kann ich nicht. Aus irgendeinem schrecklichen Grund fühlt es sich an, als hätte ich gerade Lebewohl zu Zeth gesagt und würde ihn für sehr, sehr lange Zeit nicht wiedersehen.
»Tolle Art, unauffällig zu bleiben, wenn man den Verkehr vor dem Treffpunkt für ein geheimes Treffen blockiert«, merkt Rebel sarkastisch an.
»Willst du jetzt, dass ich’s tue, oder nicht?«, herrsche ich ihn an.
»Ich mein ja nur. Hier.« Er fasst in die Tasche seiner schwarzen Jeans und holt einen USB-Stick daraus hervor. Rebel überreicht ihn mir, benutzt beide Hände, um meine Finger um den Gegenstand zu wickeln, als wäre der Stick eine heilige Reliquie. »Verlier das nicht. Ist kennwortgeschützt.«
»Und wie heißt das Kennwort?«
»Accordia«, antwortet er langsam, als hätte das Wort eine spezielle Bedeutung für ihn.
Meine Brust zieht sich schmerzlich zusammen, als der Hummer hinter Rebel vom Randstein rollt und im Verkehr verschwindet. Ich verstaue den USB-Stick in meiner Handtasche und sehe Rebel mit gerunzelter Stirn an. »Wo ist dein Bike? Wo sind deine Jungs?« Von den anderen Widow Makers fehlt jede Spur.
»In der Umgebung untergetaucht. Denk dran, sag ihr nicht, wo sie mich findet, bevor du die Dokumente hast. Und gib ihr auch nicht das Kennwort für den Stick, bevor sie ihren Teil der Abmachung eingehalten hat.«
»Okay. Alles klar.« Damit wende ich mich ab und steuere in das Einkaufszentrum – geredet habe ich genug darüber. Ich will es einfach hinter mich bringen – aber Rebel legt mir eine kräftige Hand auf die Schulter, hält mich zurück. »Sloane, du musst zu deiner Schwester. Bitte. Sobald du die Dokumente hast, musst du nach New Mexico. Sie wartet auf dich. Und sie würde … würde mir nicht verzeihen, wenn ich nicht zurückkomme.«
Mir ist danach zumute, ihm zu sagen, dass mir Alexis im Augenblick herzlich egal ist. Allerdings habe ich das Gefühl, das wäre der Situation nicht zuträglich. Rebel würde nur darüber diskutieren wollen, und ich bin ohnehin schon beinah zu spät für das Treffen dran.
»Na schön. Scheiße.« Ich reibe mir mit den Händen das Gesicht und versuche, die Fassung zu bewahren. »Ich fahre hin und treffe mich mit ihr. Aber ich nehm’s nicht auf mich, deinen Beziehungsscheiß in Ordnung zu bringen, Rebel. Und überhaupt, was ist das eigentlich für ein Name, Rebel?«
Der Boss der Widow Makers strahlt mich an – nicht gerade der Ausdruck, den man von einem Mann erwarten würde, der kurz davorsteht, sich freiwillig der DEA zu stellen. »Einer, der meinen Vater in den Wahnsinn treiben soll«, erwidert er. »Sag Soph, dass ich bald zu Hause sein werd.« Und damit wendet er sich ab und macht sich in lockerem Laufschritt den Bürgersteig entlang davon.
Ich bleibe allein zurück.
Ich bin so lange nicht mehr allein gewesen, dass mich die Erkenntnis jetzt förmlich schockiert. Niemand beobachtet mich. Niemand passt auf mich auf, um mich vor Schaden zu bewahren. Und niemand würde mich davon abhalten, einfach davonzuspazieren.
Ein Kribbeln breitet sich über meine Arme und die Rückseiten meiner Beine aus. Ich könnte es wirklich tun. Ich könnte einfach weggehen. Dann wird aus dem Kribbeln ein Übelkeit erregendes, lähmendes Gefühl. Als ob das wirklich eine Möglichkeit wäre. Im Ernst, ich könnte es nicht, selbst wenn ich es versuchte. Der Mann, in den ich mich verliebt habe, würde mich immer wieder umkehren lassen. Als ich das Einkaufszentrum betrete, schreit ein kleiner Teil meiner selbst wie am Spieß in mir. Ich glaube, es ist der Teil, der zuständig für meinen Selbsterhaltungstrieb ist.
Es dauert eine Weile, bis ich den Weg zum Gastrobereich finde. Er befindet sich drei Stockwerke tiefer im Untergeschoss, und Zeth hat mir geraten, den langen Weg hinunter über so viele Rolltreppen wie möglich zu nehmen, damit ich die Lage bestmöglich auskundschaften kann. Um mir einzuprägen, wo sich die verschiedenen Ausgänge befinden. Und um zu planen, in welche Richtung ich soll, falls ich einen schnellen Abgang machen muss. Auch wenn es beinah einer Zeitverschwendung gleichkommt. Wenn mich Agent Lowell wirklich in Gewahrsam nehmen will, wird es nicht allzu schwierig für sie.
Es ist fünf nach eins, als ich die Fressmeile erreiche – den Ort, den wir für unser Treffen genannt haben. Wenigstens hat sich Rebel bei Ort und Zeit etwas gedacht. Die Horden um die Mittagszeit – scharenweise Leute, die sich in langen Schlangen anstellen, um sich während der Pause einen Happen zu holen – erschaffen eine Wand von Körpern, durch die man sich mühelos unbemerkt davonstehlen kann.
Lowell sitzt bereits an einem Tisch in der Mitte des Gastronomiebereichs, den Blick starr auf das leuchtende Display ihres Handys gerichtet, das auf dem Tisch vor ihr liegt. Ich eile durch das wogende Menschenmeer und nehme schnell auf der anderen Seite des Tisches Platz, bevor ich es mir anders überlegen und die Flucht ergreifen kann.
Agent Lowell schaut nicht von ihrem Telefon auf. Ihre Finger bewegen sich flink über den Touchscreen und tippen etwas. »Sie kommen zu spät«, lässt sie mich wissen.
»Ich weiß.«
»Das verrät mir, dass Sie unzuverlässig sind, Dr. Romera. Warum sollte ich jemandem vertrauen, der unzuverlässig ist?«
Darüber muss ich unwillkürlich lachen. »Sie vertrauen mir ohnehin nicht. Wahrscheinlich waren Sie sich nicht mal sicher, ob ich überhaupt aufkreuzen würde.«
Ein frostiges, unangenehmes Lächeln breitet sich in Lowells Zügen aus. Endlich legt sie das beknackte Handy beiseite und schaut zu mir auf. »Und wenn wir mal davon ausgehen, dass Sie recht haben? Ich traue Ihnen nicht, Sie trauen mir nicht. Wie soll dieses Arrangement also ablaufen?«
Ich zucke mit den Schultern und bedenke sie meinerseits mit einem genauso frostigen, unangenehmen Lächeln. »Wir verlassen uns auf das uralte Prinzip von Angebot und Nachfrage, würde ich sagen. Sie wollen Informationen, die ich habe. Ich will im Gegenzug etwas dafür. Ist eigentlich ganz einfach.«
Agent Lowell zieht eine Schnute und streicht mit einer Hand über ihr makellos fixiertes Haar. Ich frage mich, wie diese Szene auf die Familien, Bekannten und Arbeitskollegen wirkt, die an den Tischen um uns herum sitzen und rasch ihr Mittagessen einwerfen. Sehen Agent Lowell und ich bloß wie zwei Freundinnen aus, die sich zum Lunch treffen? Oder können die Leute, die von uns ausgestrahlte Feindseligkeit spüren, weil sie die Luft wie ein fauliger Gestank verpestet?
»Ich will beide«, teilt mir Lowell mit ausdrucksloser Miene mit. Tatsächlich kommt sie sogar etwas gelangweilt rüber. Allerdings hat sie dunkle Ringe unter den Augen, und ich weiß, dass ihre gleichgültige Haltung geschauspielert ist. »Wenn ich nicht beide bekomme, Rebel und Ihre Schwester, dann gibt es keinen Deal.«
Die Vereinbarung, die wir gestern telefonisch getroffen haben, hat nur für Rebel gegolten. Aber ich habe mich auf die Eventualität vorbereitet, dass sie es sich anders überlegt, die Torpfosten verschiebt und mehr als das verlangen könnte, worauf wir uns geeinigt hatten. Ich bin gewappnet.
»Ich habe nur den Widow Maker anzubieten. Wenn Ihnen das nicht gut genug ist, können Sie die ganze Sache vergessen.« Ich sehe sie mit verengten Augen an. »Würden Sie mir denn überhaupt glauben, wenn ich Ihnen sage, wo sie ist? Würden Sie wirklich glauben, dass ich meine eigene Schwester verraten würde?«
»Es heißt, Sie sind neuerdings nicht allzu erfreut über die kleine Alexis«, merkt Lowell an. Sie zupft an einem abgestanden aussehenden Sandwich mit Salat auf einem Teller vor ihr, zerpflückt das Ding zerstreut. »Vielleicht haben Sie ja genug davon, sie zu beschützen.«
Ich schüttle nur den Kopf. Agent Lowell seufzt und schiebt den Teller mit dem schalen Sandwich von sich. »Na schön. Also Rebel für eine saubere Weste. Sagen Sie mir, wo er steckt.«
»Zuerst brauche ich die Dokumente.«
Lowell schleudert mir einen angewiderten Blick entgegen. Eigentlich ist die Frau ziemlich attraktiv, aber ihre allgemein negative Einstellung gegenüber dem Leben hat tiefe Linien in ihrem Gesicht hinterlassen, wodurch sie den Eindruck vermittelt, permanent unglücklich zu sein. »Es dauert seine Zeit, solche Dokumente zu beschaffen, Dr. Romera. Außerdem haben wir Wochenende. Ich kann nicht einfach bei Richter Goldstein zu Hause aufkreuzen und anfangen, Forderungen zu stellen. Heute hat seine Tochter ihre Bat Mitzwa. Vor Montag werde ich die Unterschrift nicht besorgen können.«
Auch auf diese Ausrede bin ich vorbereitet. »Wenn das so ist, können wir gern ein neues Treffen vereinbaren. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass Rebel dann noch dort sein wird, wo er gerade ist. Sie kennen ja diese Bikertypen.« Ich schenke ihr ein durch und durch unaufrichtiges Lächeln. »Die sind immer gern auf Achse.«
Lowell verzieht den Mund zu einer mürrischen Grimasse. »Da wir nun endlich ein Gespräch führen, was halten Sie von einem kleinen Blick in die Augen der nackten Tatsachen, hm? Es gibt da ein paar Dinge, von denen Sie bestimmt keine Ahnung haben und die Ihre Einstellung gegenüber dem Ablauf hier ändern könnten.« Sie beugt sich zur Seite und holt eine Aktenmappe aus ihrer Louis-Vuitton-Handtasche hervor. In Filmen verheißen Aktenmappen nie gute Neuigkeiten. Ich bezweifle, dass es in diesem Fall anders ist.
»Ist mir egal, was Sie mir zeigen wollen, Lowell«, herrsche ich sie an und klatsche die flache Hand auf die Aktenmappe, damit die Frau sie nicht aufschlagen kann. »Ich bin nicht daran interessiert. Alles, was ich will, sind die Dokumente, dann sind wir hier fertig.«
Lowell reißt die Mappe unter meiner Hand weg und öffnet sie trotzdem. Sie legt ein Foto vor mich auf die Tischplatte. »Das ist Ray Peterson«, sagt sie und tippt mit einem Fingernagel auf die geweiteten Augen des toten Mannes, der mir von dem Bild entgegenstarrt. Es ist ein Farbfoto, daher lässt sich die Blutlache nicht übersehen, in der er liegt.
Ich stütze mich an der Tischplatte ab und beuge mich vor, um einen genauen Blick auf das Bild zu werfen. Kurz scheint Lowell enttäuscht zu sein. Vielleicht hat sie damit gerechnet, dass ich mich übergeben würde oder so. Eine solche Taktik funktioniert vielleicht bei jemandem, der nicht die letzten zwei Jahre in der Unfallabteilung einer Notaufnahme gearbeitet hat. Aber da ich schon mehr als genug abgetrennte Körperteile und innere Organe, die eigentlich nie das Tageslicht erblicken sollen, zu Gesicht bekommen habe, entlockt mir Agent Lowell damit nur hochgezogene Augenbrauen. »Und worauf wollen Sie damit hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass der Arbeitgeber Ihres Lovers letzten August eine Meinungsverschiedenheit mit Ray Peterson hatte. Was damit geendet hat, dass dem armen Ray der Hinterkopf weggepustet wurde. Sie geben sich bei dieser ganzen Geschichte so überaus cool, Dr. Romera. Ist das auch cool für Sie?« Lowell zückt ein weiteres Foto, das deutlich die klaffende Wunde an Rays Schädel zeigt. Blinzelnd starre ich darauf, bevor ich Lowell mit einem finsteren Blick bedenke.
»Ich weiß, dass Charlie Holsan ein Arschloch ist. Spielen Sie darauf an, dass Zeth diesen Mann umgebracht hat?«
»Das tue ich.«
»Und Ihr Beweis dafür?«
»Zeth war bis vor wenigen Monaten Holsans Vollstrecker. Wer sonst könnte es getan haben?«
Ich schnaube und schiebe die Fotos über den Tisch zurück zu ihr. »Ist das die Art von Logik, die Verbrecher überführt, Agent Lowell? Denn falls ja, mache ich mir ernste Sorgen um den Zustand des Strafrechtssystems der Vereinigten Staaten.«
»So sollte es sein«, faucht sie mir entgegen. »Wenn es so wäre, würden Leute wie Rebel und Zeth vielleicht nicht frei herumlaufen und Chaos anrichten. Dann würde es auch weniger Abschaum geben, der junge Frauen wie Alexis von der Straße weg entführt. Hier.« Sie zieht einen ganzen Packen Fotos – mindestens 20 – heraus und klatscht sie vor mich hin. »Das sind alles Menschen, die in Charlie Holsans Auftrag ermordet worden sind. Wenn nicht mindestens die Hälfte davon auf das Konto Ihres Bettgespielen geht, Sloane, dann scheiße ich Regenbogen. Und da Sie mich jetzt kennengelernt haben: Komme ich Ihnen wie jemand vor, der Regenbogen scheißt?«
Mein Puls rast. Mittlerweile liegt ein ganzer Haufen Fotos vor mir ausgebreitet, und alle zeigen die verstümmelten und überaus toten Körper unzähliger Menschen. Aber ich begreife, was die Frau vorhat. Es ist verflucht offensichtlich. Wenn es ihr gelingt, mich umzudrehen, mir vor Augen zu führen, wie gefährlich der Mann ist, auf den ich mich eingelassen habe, dann wird ihre Aufgabe erheblich einfacher. Pech nur für sie, dass mich nichts von all dem überrascht.
Ich weiß, dass Zeth früher Menschen verletzt hat.
Ich weiß, dass Zeth Menschen getötet hat.
Ich weiß, dass er schier unaussprechliche Dinge getan hat.
Ich weiß, dass er sich für ein Monster hält.
Aber ich kenne ihn auch.
Es gibt keine Entschuldigung dafür, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Das ist mir bewusst. Daran halte ich fest, davon bin ich unerschütterlich überzeugt. Aber Zeth hat Charlies Feinde nicht umgebracht, weil er es wollte oder weil ihm danach zumute war, und ganz sicher nicht, weil es ihm Vergnügen bereitet hat. Er hat es getan, weil er hohl war. Er hat es getan, weil er vom Moment seiner Geburt an von Gewalt umgeben war und nie etwas anderes gekannt hat. Er hat es getan, weil Charlie Holsan der Mann war, zu dem er als Kind aufgeschaut hat. Charlie Holsan war das Vorbild, das Zeth geprägt hat. Er hat es getan, weil es ihm Charlie Holsan aufgetragen hat.
Und trotz allem, trotz der Brutalität seiner Vergangenheit und seiner Erziehung, steckt immer noch Freundlichkeit in ihm. Er hat mich beschützt. Er hat für mich gekämpft. Er hat meine Schwester für mich gefunden und mir durch so viel hindurchgeholfen. Er ist nicht mehr hohl. Und ich weiß mit Sicherheit, dass er nie wieder jemandem das Leben nehmen wird. Es sei denn, er muss es tun, um mich zu beschützen.
»Der Mann ist bösartig«, fährt Lowell fort und tippt zur Betonung nacheinander auf die Bilder. »Was, wenn es nächstes Mal nicht irgendeine Ihnen unbekannte Zielperson ist, Sloane, hm? Was, wenn er die Knarre das nächste Mal auf Ihren Kopf richtet?«
O Mann. Das hat sie jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Das reicht. Ich hab die Schnauze voll.
Ich stehe so jäh auf, dass der billige Plastikstuhl umkippt, auf dem ich gesessen habe. Gefühlte 100 Leute hören auf zu essen, zu trinken, zu reden, zu lachen und starren mich an. »Sie kennen diesen Mann nicht. Sie kennen ihn eindeutig überhaupt nicht.«
Lowell hebt die Hände. »Entschuldigung. Es tut mir leid, Sloane. Setzen Sie sich, okay? Setzen Sie sich einfach wieder hin. Wir sind hier noch nicht fertig.«
»Na, dann passen Sie mal auf.«
Ich bewege mich durch die Menschenmenge davon, dann fange ich an, zu drängeln und zu rempeln, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Dieses Weib wollte die Dokumente gar nicht von diesem Richter besorgen. Hatte sie nie vor. Sie ist hergekommen, um mich dazu zu bringen, Zeth zu verraten, aus keinem anderen Grund.
Mein Blut kocht förmlich in den Adern. Ich habe kein Handy dabei. Rebel hat für den Fall darauf bestanden, dass ich observiert werde und womöglich vergesse, dass die Wände Ohren haben können, aber im Augenblick wünschte ich inständig, ich hätte ein Telefon zur Hand. Ich will Zeth anrufen. Ich will ihn finden und schleunigst weg von hier.
Obwohl ich mich nicht umdrehe, um nachzusehen, ob mir Lowell folgt, weiß ich, dass sie es tun wird. Ich weiß auch, dass sich andere Agenten unter die Menschen gemischt haben werden und mich beobachten. Spielt keine Rolle. Blindlings stürme ich weiter, kann nur noch daran denken, mir einen Weg durch die dicht gedrängten Menschenmassen zu erkämpfen. Ich renne eine Rolltreppe hinauf, schubse Leute, fest entschlossen, an ihnen vorbeizugelangen, und …
Ich bleibe stehen.
Was zum Teufel soll das?
Als ich oben an der Rolltreppe ankomme, setze ich dazu an, mich an dem Mann vorbeizudrängen, der mir den Weg versperrt – nur stelle ich fest, dass ich den Mann kenne. Es ist mein Vater.
»Hallo, Sloane.«
Ich stolpere von der Rolltreppe, stütze mich an seiner Brust ab. Meine Handflächen liegen an der braunen Wildlederjacke an, die ich ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Er wirft mir ein trauriges Lächeln zu, und da weiß ich, dass mir gleich das Herz gebrochen werden wird.
»Hast du einen Moment Zeit?«, fragt er mich mit leiser Stimme und streicht mir eine Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, hinters Ohr zurück. »Ich denke, wir sollten uns unterhalten.«