Herausgegeben, aus dem Russischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von Ivo Gloss
Illustriert von Renate Gloss
Impressum
Bibliothek der Science Fiction des Ostens
Herausgegeben von Ivo Gloss
Band 1
Kir Bulytschow, Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes
Deutsche Erstausgabe, Januar 2020
© 2020 Kira Soschinskaja (Erzählungen)
© 2020 Ivo Gloss für die deutschen Übersetzungen, das Nachwort, die Bibliographie und die Zusammenstellung dieses Bandes
© 2020 Renate Gloss für die Textillustrationen
© 2020 dieser Ausgabe: Memoranda Verlag
Der Herausgeber dankt Michail Manakow (Tscheljabinsk), der auf jede Frage zu Kir Bulytschow und dessen Schaffen eine Antwort zu wissen scheint.
Gestaltung: benSwerk [www.benswerk.com]
Umschlagabbildung unter Verwendung eines Fotos der Skulptur
»Arbeiter und Kolchosbäuerin« von Vera Muchina
Karikatur auf Umschlagklappe: Kir Bulytschow (Selbstporträt, 1995)
Lektorat: Erik Simon
Korrektur: Christian Winkelmann & Hannes Riffel
Alle Rechte vorbehalten
Memoranda Verlag
Hardy Kettlitz
Ilsenhof 12 | 12053 Berlin
Kontakt: verlag@memoranda.eu
www.memoranda.eu
Gebundene Ausgabe ohne ISBN (nur über Verlag)
ISBN 978-3-948616-00-7 (Klappenbroschur)
ISBN 978-3-948616-01-4 (E-Book)
Inhalt
Impressum
Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes
Der Tod im Stockwerk tiefer
Der freie Tyrann
Der alte Iwanow
Kir Bulytschow – Phantast
Deutschsprachige Veröffentlichungen von Kir Bulytschow (Igor Moshejko)
Weitere Bücher bei MEMORANDA
Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes
Die hier geschilderten Ereignisse spielten sich im letzten Lebensjahr Leonid Iljitsch Breshnews[1] ab. Seinerzeit war eine Veröffentlichung völlig undenkbar: Das System der Grabesstille und der allumfassenden freiwilligen Amnesie funktionierte tadellos. Die halbe Krasnojarsker Oblast hätte in der Erde versinken können, und wir hätten es ignoriert, außer wenn sich zufällig ein ausländischer Tourist dort befunden hätte. Von dem Erdbeben in Aschchabad erfuhr ich zwanzig Jahre nach der Zerstörung der Stadt und von dem Krieg in Afghanistan erst mit dem Beginn des Abzugs unserer Truppen. Bis dahin war ich in dem Glauben gewesen, dass wir dort selbstlose Hilfe mit Nahrungsmitteln und Gütern des Grundbedarfs leisteten.
Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst hatte, die Umstände der Großen Abstimmung auf Papier festzuhalten. Möglicherweise eine Vorahnung vom Ableben des Generalsekretärs.
Ich habe die Kabine mit eigenen Augen gesehen. Ende Oktober ging sie in der Nähe von Swenigorod am Ufer der Moskwa auf dem Gelände des Gästehauses der Akademie nieder. Sie sank im Morgengrauen herab, ohne Fanfaren und Feuerwerk, zwischen Treibhäusern, in denen Rosen und Nelken für befreundete Organisationen herangezogen wurden, auf der Böschung über der Bootsanlegestelle.
Die Kabine sah nicht sonderlich eindrucksvoll aus und hatte Ähnlichkeit mit einer Blechgarage. Ihr Dach leuchtete, während die Wände matt waren. Die Tür war geschlossen.
Als sich der vom Gärtner alarmierte Direktor des Gästehauses der Kabine näherte, dachte er zunächst, dass sich irgendjemand einen schlechten Scherz erlaubt habe. Er versuchte die Tür zu öffnen, vermochte es jedoch nicht.
Während man auf das Eintreffen der Miliz wartete, begann die Verkündung der Kabine. Sie verkündete, und wir Urlauber bildeten einen dichten Ring um sie.
Die Stimme der Kabine war tief und akzentlos.
»Bürger der Sowjetunion«, sprach die Kabine. »Wir, Psychologen der Gemeinschaft Galaktischer Zivilisationen, führen ein Experiment durch, an dem wir euch teilzunehmen bitten. Unser Ziel ist es zu ermitteln, wer von jenen, die die Welt der Lebenden verlassen haben, in eurem Lande am beliebtesten ist. In drei Tagen, um zwölf Uhr Moskauer Zeit, werden alle Bürger der Sowjetunion ein Signal vernehmen. Dann soll jeder gedanklich den Namen des von ihm meistgeliebten Menschen aussprechen. Die Person, die die meisten Wünsche auf sich vereint, wird im Inneren dieser Kabine wieder zum Leben erwachen. So, wie sie im Moment ihres Ablebens war, aber gesund und lebensfähig. Denkt nach, liebe Brüder und Schwestern.«
Die Stimme der Kabine war nicht nur auf dem Territorium des Gästehauses zu hören. Auf rätselhafte Weise erklang sie in allen Ecken und Enden des Landes, in den Ohren eines jeden meiner vielen Millionen Mitbürger.
»Eine Provokation«, sagte der Direktor des Gästehauses. Das war die erste Reaktion auf die Bekanntmachung. Die anderen Zuhörer schwiegen. In diesem Moment wusste noch niemand, dass die Kabine sich an das ganze Volk gewandt hatte. Wir dachten, die Ansprache sei nur an uns gerichtet. Und da es nicht zum guten Ton gehörte, an außerirdische Besucher zu glauben, auch wenn es einen sehr danach verlangte, gaben sich die Menschen um mich herum zweifelnd und lächelten unsicher.
Etwa eine halbe Stunde später trafen mehrere Militärlastwagen und drei schwarze »Wolga« auf dem Gelände des Gästehauses ein. Die Wiese rings um die Kabine wurde von Kräften des KGB abgesperrt, und die Bewohner des Gästehauses wurden in speziellen Bussen nach Moskau gebracht und dort jeder einzeln verhört. Der Vorfall hatte keine negativen Folgen für die Augenzeugen, wenn man davon absieht, dass man mich nicht zum Urlaub nach Bulgarien hinausließ.
Am nächsten Morgen versammelte sich das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU, um den Bericht von Generalleutnant Koljadkin entgegenzunehmen.
Den Vorsitz hatte Leonid Iljitsch Breshnew, der damals noch lebte.
Zunächst sprach Generalleutnant Koljadkin, der berichtete, die Kabine sei allseitig verschlossen, ein Vordringen ins Innere bislang noch nicht gelungen, aber eine Spezialistengruppe arbeite daran. Eine Probenentnahme zur Analyse sei aufgrund der extremen Härte des Materials noch nicht möglich gewesen. Es sei begonnen worden, das Objekt zu untergraben.
»Das heißt, Sie haben noch nichts getan?«, fragte Breshnew an Andropow[2] gewandt, der bereits nicht mehr beim KGB arbeitete, aber Leonid Iljitsch hatte das vergessen.
»Übereile kann nur schaden«, sagte Andropow. »Wir haben noch drei Tage.«
»Was wird aus den Vereinigten Staaten von Amerika gemeldet?«, fragte Breshnew.
»Dobrynin[3] hat telefonisch mitgeteilt, dass es in den USA zu einem ebensolchen Phänomen gekommen ist«, berichtete Außenminister Gromyko. »In New Jersey. Es herrsche eine Massenhysterie.«
»Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um eine Provokation handelt«, gab Tschernenko[4] zu bedenken. »Die können das – rufen ›Haltet den Dieb!‹, dabei sind sie selber die Diebe.«
»Eine wichtige Bemerkung von Konstantin Ustinowitsch«, sagte Breshnew nachdenklich. »Wer möchte noch etwas sagen?«
»Es gibt Informationen aus Peking«, sagte Gromyko nach einer kurzen Pause.
»Bei denen etwa auch?«, wunderte sich Pelsche.[5]
»Offizielle Verlautbarungen gibt es nicht, aber der Text wurde von den Dolmetschern unserer Botschaft aufgefangen. Der Inhalt ist derselbe.«
»Nicht ausgeschlossen, dass das eine Provokation ist«, sagte Ustinow.[6] »Ich schlage eine Mobilmachung im Westen und im Fernen Osten vor.«
»Und was sagen unsere Wissenschaftler?«, fragte Breshnew.
Wissenschaftler waren zur Sitzung des Politbüros nicht geladen worden. Für sie antwortete Andropow: »Ich habe die Akademie der Wissenschaften um Informationen gebeten. Die sind skeptisch. Sie versichern, dass es im Weltall kein Leben gibt.«
»Setzen Sie die Untersuchungen fort«, sagte Breshnew. »Kommen wir jetzt zu anderen Angelegenheiten. Ich möchte Sie, Genossen, über meine Unterredungen mit dem Genossen Machel unterrichten, der, wie Sie wissen, der Führer der Republik Moçambique ist.«
Das Politbüro ging somit zu wesentlicheren Dingen über, vermochte sich aber nicht in sie zu vertiefen, weil eine halbe Stunde später jedes seiner Mitglieder wie auch jeder andere Bürger der UdSSR die Wiederholung der Bekanntmachung der Kabine vernahm.
Schweigend hörten sich die Politbüromitglieder die Bekanntmachung an. Dann sagte Breshnew: »Eine Schallisolierung scheint ja in diesem Raum so gut wie gar nicht vorhanden zu sein.«
»Wir werden Maßnahmen ergreifen«, sagte Tschernenko.
»Reichlich spät«, sagte Breshnew. »Wenn wir hier drinnen etwas von draußen hören können, dann hat uns auch jemand von draußen belauschen können.«
»Eine sehr richtige Feststellung«, sagte Tschernenko.
Daraufhin sagte eine Zeit lang niemand mehr etwas, bis Dolgich[7] sich schließlich erkühnte, das Schweigen zu brechen: »Es gibt eine Mitteilung aus Nowosibirsk. Dort war es auch zu hören.«
»Was aber, wenn es keine Provokation ist?« Breshnew ließ den Blick langsam über seine Kampfgenossen gleiten.
»Möglicherweise sollten wir darauf reagieren«, unterstützte Andropow als Erster den Generalsekretär.
Es wurde eine Unterbrechung zur Einnahme des Mittagessens und zur Durchführung medizinischer Maßnahmen beschlossen. Danach wollte man sich erneut versammeln.
Zu dieser Zeit fuhr ich in einem Bus, dessen Fenster mit Vorhängen verdunkelt waren, in Richtung Moskau. Neben mir saß Professor Jewstignejew vom Institut für Ichthyologie.
»Was halten Sie davon?«, fragte ich.
Der Professor wirkte nachdenklich, die Brille war auf die Nasenspitze gerutscht und schien sich zum Sprung in die Brusttasche des Jacketts anzuschicken. Der Professor roch nach Staub und Zwiebel. Er sah so sehr wie ein Professor aus, dass völlig klar war: In der Wissenschaft war er eine Null. Die Wissenschaft bringen nur solche voran, die nicht wie Professoren aussehen.
»Meine Frau ist gestorben«, sagte der Professor und versuchte, mit dem Finger den Vorhang am Fenster ein kleines Stück beiseitezuschieben, als zweifelte er daran, dass man uns tatsächlich nach Moskau brachte.
»Bürger«, sprach ihn von hinten ein Leutnant an, »es ist nicht gestattet hinauszuschauen.«
»Das tut mir leid«, sagte ich zum Professor.
»Aber vielleicht ist das ja eine Chance, sie zurückzuholen?«
Ich blickte ihn verwundert an. Der Professor glaubte also an die Macht der Kabine.
»Ich verstehe«, sagte der Professor. »Jeder hat seinen eigenen Wunsch.«
»Dann stehen Ihre Chancen schlecht«, konstatierte ich lächelnd.
»Aber vielleicht gibt es doch eine Chance«, sagte der Professor. »Jeder Mensch, auch wenn er nicht daran glaubt, wird sich die Auferstehung einer ihm nahen Person wünschen. Jeder hat einen anderen Wunsch. Aber ich habe einige Ersparnisse.«
»Und?«
»Sie zum Beispiel, haben Sie schon darüber nachgedacht, wen Sie wiederbeleben möchten?«
Mir wurde bewusst, dass ich das noch nicht getan hatte.
»Puschkin vielleicht?«, sagte ich unsicher.
»Sie sind nicht verheiratet? Nun, Sie sind ja auch noch jung.«
»Nein, ich bin nicht verheiratet.«
»Und wenn ich Ihnen nun …« Der Professor fing die Brille auf, die sich zum Sprung entschlossen hatte. »Wenn ich Ihnen, sagen wir, fünfzig Rubel böte und Ihnen den Namen meiner Frau mitteilte? Sie können das Geld doch gebrauchen?«
»Ich würde das auch umsonst tun«, sagte ich. »Nur sind Ihre Chancen gleich null.«
»Ich habe viertausenddreihundert Rubel auf dem Sparbuch«, flüsterte der Professor mir ins Ohr.
»Sparen Sie sich Ihr Gequatsche für später auf!«, befahl der Leutnant von hinten.
»Und wenn ich zwanzig Leute engagiere?«, fragte der Professor hastig und bewegte seinen Kopf eilig von meinem Ohr weg. Sein Blick war leer und wirkte wie der eines Vogels.
»Ich muss nachdenken«, sagte ich.
»Sechzig Rubel?«, fragte der Professor. »Mehr kann ich nicht.«
»Und wenn ich nun das Geld nehme und dann zufällig an jemand anderen denke?«
»So naiv bin ich nicht«, antwortete der Professor. »Sie werden mir dafür unterschreiben, dass Sie sich verpflichten, nur an meine verstorbene Frau zu denken.«
Die Idee des Professors war wirklich naiv. Er wusste nicht, dass im Puschkin-Museum in der Kropotkinstraße bereits eine Kommission tagte, die einstimmig die Resolution annahm, Alexander Sergejewitsch Puschkin wiederauferstehen zu lassen.
Zur gleichen Zeit tanzte eine lärmende Menge um das Stalin-Museum in Gori. Viele waren davon überzeugt, dass bald der wahre Führer ins Leben zurückkehren und Ordnung in dieses verkommene Land bringen werde.
Das Politbüro hatte sich nach dem Essen erneut versammelt. Die Lenker des Staates waren satt, aber aufgeregt. Historische Entscheidungen standen bevor.
»Zunächst«, sagte Leonid Iljitsch, »wollen wir uns die Informationen aus dem Ausland anhören. Bitte sehr, Andrej Andrejewitsch.«
Gromyko kaute auf den Lippen, bevor er begann: »Ich will mich kurzfassen. In den USA herrscht Anarchie. Das Fernsehen führt Meinungsumfragen durch. Stürmische Demonstrationen haben begonnen.«
»Einen Augenblick.« Mit einer Geste unterbrach Breshnew den Redner und wandte sich an Schtschelokow[8], der zu dieser Politbürotagung mit eingeladen worden war.
»Verstärken Sie die Moskauer Miliz«, sagte Breshnew. »Aktivieren Sie die Offiziersakademie und die Milizschulen. Aber Sie wissen ja Bescheid, ich brauche Ihnen das ja nicht alles zu sagen. In der Hauptstadt muss Ordnung herrschen.«
»Bereits veranlasst.« Schtschelokow erlaubte sich ein Lächeln.
»Was wollen die reaktionären Kreise?«, fragte Breshnew Gromyko. »Und wofür tritt die progressive Öffentlichkeit ein?«
»Wie immer bietet sich ein widersprüchliches Bild«, sagte Gromyko. »Die progressive Öffentlichkeit im Süden des Landes tritt für die Wiederbelebung des Schwarzenführers Martin Luther King ein.«
Breshnew dachte nach. Dann sagte er: »Ich erinnere mich an den Genossen Martin Luther. Er hat viel für den Frieden getan. Was verlangt das Monopolkapital?«
»Hier gehen die Meinungen völlig auseinander«, berichtete Gromyko. »Ich habe eine Aufstellung nach Prozenten. Nach dem Stand von dreizehn Uhr. Auf dem ersten Platz liegt Lincoln.«
»Natürlich«, sagte Breshnew. »Ich kenne den Genossen Lincoln. Ein progressiver Staatsführer. Wie sieht es in der Volksrepublik China aus? Das kann uns nicht gleichgültig sein.«
»Radio Peking verkündete die bevorstehende Wiederauferstehung Mao Tse-tungs. Diese Wiederauferstehung sei durch den weisen Genossen Mao selbst vorhergesagt worden.«
»Das wohl kaum«, bemerkte Breshnew.
»Ich halte das für eine absichtlich gelegte falsche Fährte«, mischte sich Kusnezow[9] ein. »Einflussreiche Kräfte in der Volksrepublik China werden das nicht zulassen.«
»Warum?« Breshnew tippte Kusnezow mit dem Bleistift in die Brust. Das interessierte ihn.
»Da würden Köpfe rollen. Das wäre so, wie wenn wir Stalin wiedererwecken würden.« Kusnezow erinnerte an die Zeiten des Personenkultes.
Er stockte, weil er plötzlich das Gefühl hatte, sich in einem luftleeren Raum zu befinden. Es herrschte eine solche Stille in dem Zimmer, als ob alle aufgehört hätten zu atmen.
Sie schwiegen eine ganze Minute lang. Und blickten auf Breshnew. Endlich sagte Breshnew: »Das war taktlos, Genosse Kusnezow. Das hätten wir von Ihnen, einem bejahrten Mann, nicht erwartet. Keine Minute darf ein Kommunist vergessen, dass wir den großen verstorbenen Führer Wladimir Iljitsch Lenin haben.«
»Das war ja auch gar kein Vorschlag«, beeilte sich Kusnezow zu sagen. Rote Flecken liefen über seine Wangen. »Ich wollte ja auch Iljitsch vorschlagen.«
»Wenn«, warf Tschernenko ein, »das alles nicht doch eine Provokation ist.«
»Genau«, unterstützte ihn Breshnew. »Aber eine Provokation von wem? Haben Sie das ermitteln können?«
»Ich fürchte, es ist keine«, sagte Andropow. »Obwohl ich es in der gegebenen Situation vorziehen würde, dass es eine wäre.«
»Wieso?«, fragte Breshnew und stieß seufzend Luft aus.
»Wenn es eine Provokation ist, dann wird sie zu nichts führen. Wenn es keine ist oder aber, sagen wir, eine Provokation in galaktischem Maßstab, dann sind wir verpflichtet, das Ereignis unter Kontrolle zu bringen und sicherzustellen, dass sich das Volk einstimmig genau den Kandidaten wünscht, den das Politbüro auswählen wird. Und wir müssen eine entsprechende Entscheidung fällen.« Andropows Stimme war leise, aber fest und bedrohlich. Er war Berija[10] ähnlich geworden, und obwohl diese Ähnlichkeit nur äußerlich war, erschauerte Breshnew doch innerlich.
»Was für eine Entscheidung?«, vernahm Breshnew die eigene dumpfe, stockende Stimme und begriff, dass diese Stimme ihm verriet: Sie hatte keine Fragen zu stellen. Sie hatte eine Entscheidung zu verkünden.
»Sie haben es doch selbst gesagt!«, wunderte sich Andropow.
»Die Menschheit hat nur ein Genie hervorgebracht«, sagte Tschernenko. »Und wir brauchen Wladimir Iljitsch doch, nicht wahr, Leonid Iljitsch?«
Doch Breshnew reagierte nicht. Weder mit einem Wort noch mit einer Geste. Denn nun hatte er verstanden … Das war eine Provokation. Das war eine gigantische, kosmische, vielleicht sogar galaktische Provokation, die gegen ihn persönlich, den Generalsekretär, gerichtet war, wie auch gegen die Sowjetmacht als Ganzes.
Ustinow, der den Gedankengang des Generalsekretärs noch nicht nachvollzogen hatte, goss auch noch Öl ins Feuer.
»In Basiskollektiven und einigen Militäreinheiten finden spontane Versammlungen unter der Losung ›Lenin ist mit uns! Lenin ist niemals gestorben!‹ statt«, sagte er. »Ich schlage unter den gegebenen Umständen vor, das Begehren der Massen zu unterstützen.«
Es wurde Beifall geklatscht.
Breshnew stand schweigend auf und ging zum Ausgang.
Von der Tür eilten ihm Leibwächter und Arzt entgegen. Sie nahmen an, der Generalsekretär bedürfe ärztlicher Hilfe. Doch der ging an ihnen vorbei.
Man entließ mich in aller Herrgottsfrühe. Ich wandte ein, dass die Metro zu dieser Zeit noch nicht fahre.
»Für ein Taxi reicht es bei Ihnen schon noch«, entgegnete mir der Major, der das letzte Verhör durchgeführt hatte. Er kannte offenbar den Inhalt meiner Brieftasche.
Ich bekam kein Taxi und musste zu Fuß gehen. Es war ein klares, aber kaltes Morgengrauen. Die letzten Blätter lagen auf der Straße.
Die Stadt führte ein seltsames Leben. Wie während der Olympischen Spiele. An jeder Ecke standen Milizionäre. Mal zu zweit, mal zu dritt.
Vor dem Kreiskomitee der Partei standen einige frierende, von einem Fuß auf den anderen tretende Rentner, deren Gesichter gleichermaßen Schwermut wie Entschlossenheit ausdrückten. Eine Kette von Milizionären trennte sie von der Tür des Kreiskomitees.
Als ich vorbeiging, hob einer der Rentner, der eine schwarze, mit Abzeichen von Divisions- und Armeejubiläen behängte Jacke trug, die knöcherne Faust und rief halblaut: »Lenin ist niemals gestorben!« Die Milizionäre schwiegen.
Natürlich, begriff ich: Wir werden Iljitsch wiedererwecken.
Am Puschkin-Denkmal auf dem Puschkinplatz legten einige alte Frauen ungeachtet der frühen Stunde einen Kranz aus Astern nieder.
In diesem Moment erklang, einem jeden ins Bewusstsein dringend, erneut die Stimme der Kabine. Der Text war derselbe. Die Alten richteten sich auf, und eine von ihnen rief laut: »Bis bald, unser Genie!«
Ein Milizionär begann die alten Frauen höflich in Richtung Metro-Eingang abzudrängen.
Eigentlich hätte ich die fünfzig Rubel von dem Professor ruhig nehmen können, dachte ich. Er hat sowieso keine Chance.
Das Politbüro tagte seit dem Morgen.
Schtschelokow erstattete Rapport über die innere Lage. Dann folgte der Bericht des Komitees für Staatssicherheit. Die Situation im Lande war im Wesentlichen ruhig, vor Ort wartete man die Entscheidungen der Zentrale ab. Ja, man forderte sogar diese Entscheidungen, befürchtete, die Initiative aus der Hand zu geben. In einigen Gebieten wurden, die Entscheidung des Politbüros vorwegnehmend, Resolutionen »Geben wir Iljitsch dem Volk zurück« verabschiedet. Breshnew schwieg. Dann verlas Gromyko ein Telegramm des linken Flügels der liechtensteinischen Partei der Arbeit, in dem es unter anderem hieß: »Wir hoffen, lieber Leonid Iljitsch, Sie bei der Parade zu Ehren des Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf der Tribüne des Mausoleums an der Seite Wladimir Iljitsch Lenins zu sehen, dessen Werk Sie fortgeführt haben.«
Breshnew öffnete den Mund. Alle warteten gespannt, was er sagen würde. Breshnew fragte: »Ist ›Sie‹ dort groß geschrieben?«
»Hier ist alles groß geschrieben, Leonid Iljitsch«, antwortete Tschernenko Gromyko zuvorkommend.
Wieder schwiegen alle. Es musste etwas unternommen werden. Die Situation war wesentlich komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Der erste Beschluss, der gestern noch einstimmig unterstützt worden war, erwies sich nach nächtlichem Grübeln als keineswegs ideal.
»Diese Genossen aus Luxemburg«, begann Breshnew.
»Aus Liechtenstein«, berichtigte Gromyko ihn respektlos, und Breshnew ging durch den Kopf, dass Gromyko sich allzu offensichtlich als sein Nachfolger fühlte. Aber Andropow würde das nicht zulassen. Nein, das wird er nicht. Breshnew stellte diese Überlegung an, ohne dabei seinen eigenen Tod im Blick zu haben – der war außerhalb des Denkbaren. Was ihn aber nicht daran hinderte, über die Nachfolge nachzudenken.
»Diese Genossen aus Luxemburg«, fuhr Breshnew fort, »stellen mich gemeinsam mit Lenin auf das Mausoleum. Das ist taktlos.«
Andropow bemühte sich, nicht zu schmunzeln. Zu deutlich sah er dieses Bild vor sich – die beiden nebeneinander. Der eine mit Schirmmütze, der andere mit Hut. Nein, das musste unbedingt verhindert werden.
»Aber wer wird denn dann im Mausoleum liegen?«, fragte auf einmal Kunajew.[11] Diese Frage war derart unsinnig, dass sie wirklich nur vom Vertreter einer mittelasiatischen Republik stammen konnte.
»Im Mausoleum«, sagte Andropow, der inzwischen alles durchdacht hatte, leise und bestimmt, »wird Wladimir Iljitsch Lenin liegen.«
»Und auf der Tribüne?« Kunajew begriff nicht.
»Auf der Tribüne wird Leonid Iljitsch stehen, und wenn sich die Umstände nicht verändern, dann sind auch Sie da.«
Zustimmendes Geraune war zu vernehmen. Alle hatten begriffen, dass es nicht die richtige Zeit war, Iljitsch wiederzuerwecken. Tschernenko hub zu einer kleinen Rede zu diesem Thema an, doch Kusnezow stoppte ihn, indem er ihm sanft seine Hand auf den Ellenbogen legte. In dieser Situation konnte jedes Wort zu viel schlimme Folgen haben.
»Es muss eine Alternativlosung ausgebracht werden«, sagte Andropow. »Über meine Kanäle wurde mir mitgeteilt, dass die chinesische Führung sich darum bemühen wird, Sun Yat-sen wiederauferstehen zu lassen.«
»Ich kenne den Genossen Sun Yat-sen«, sagte Breshnew friedlich. Das Schlimmste war überstanden. Er war wieder unter Gleichgesinnten, Helfern und Kampfgenossen. »Er hat viel für die chinesische Revolution getan. Ein Klassiker der chinesischen Revolution.«
»Klassiker?«, überlegte Dolgich laut. »Genau, ein Klassiker!«
»Nur nicht Stalin!«, rief Ustinow. »Ich habe mit ihm gearbeitet.«
»Sorgen Sie bitte dafür«, wandte Breshnew sich an ihn, »dass in Georgien alles ruhig bleibt.«
»Die Genossen werden ihre Pflicht erfüllen«, sagte Ustinow.
Am Abend verkündete ein Sprecher noch vor den Hauptnachrichten mit feierlicher, bebender Stimme die Entscheidung des Politbüros und des Ministerrates: »Morgen um zwölf Uhr Moskauer Zeit wird ein jeder Bürger der Sowjetunion seiner Pflicht vor der Partei und der Menschheit gerecht werden. Ein jeder wird wünschen, dass nach langer Grabesruhe der führende Klassiker des Marxismus-Leninismus erwache und sich der Erfüllung seiner Verpflichtung der progressiven Menschheit gegenüber widme – Karl Marx.«
Während diese Mitteilung erfolgte, saß ich bei Eleonora.
Ella machte Kaffee. Die roten Höschen umspannten ihr Gesäß derart unverschämt eng, dass mir mit einem Schlag klar wurde, warum sie sich in einem solch permanenten Zustand sexueller Erregtheit befand.
»Hast du gehört?«, rief ich. »Sie haben Marx ausgewählt.«
»Ich hab’s gehört«, antwortete Ella ruhig. »Ich bin ja nicht taub.«
»Aber warum nicht Lenin? Warum? Das Volk wird das nicht verstehen.«
»Wozu brauchen die Lenin?«, wunderte Ella sich aufrichtig. »Was sollen sie mit ihm? Ihm Rechenschaft darüber ablegen, wie sie seine hehren Ideen in die Tat umgesetzt haben?«
»Ella, hör auf!«, sagte ich. »Du hast keine Ahnung von Politik.«
»Und du keine vom Leben. An ihrer Stelle hätte ich ihn so tief verbuddelt, dass kein Außerirdischer ihn jemals mehr erreichen kann.«
»Und Marx?«
»Muss ich dir das erklären? Marx spricht ja nicht einmal Russisch. Sie werden ihm das Institut für Marxismus-Leninismus geben und eine Datsche in Barwicha. Wie alt war er, als er starb?«
»Alt.«
»Dann kann er sich doch noch ein paar schöne Jährchen mit seiner Sonderrente machen. Oder noch besser – man gibt ihn in die DDR. Sollen die ihn doch feiern.«
Ella hatte recht, aber ein drückendes Gefühl der Ungerechtigkeit wollte mich nicht verlassen. Irgendetwas stimmte nicht, war nicht in Ordnung.
»Das heißt, die Amerikaner holen sich Lincoln, die Chinesen Mao und wir uns einen deutschen Klassiker?«
»Du hast dir wieder zu viele feindliche Stimmen angehört«, sagte Ella. »Und die hetzen natürlich, wie immer. Wir werden noch sehen, wer bei ihnen wiederaufersteht. Vielleicht ja überhaupt niemand. Wenn das ein Bluff ist.«
»Wie, ein Bluff?«
»Ein kosmischer Bluff. Ein ganz gewöhnlicher Bluff. Trink den Kaffee und zieh dich aus. Ich muss heute noch zur Nachtschicht, hast du das vergessen?«
Ella ist Krankenschwester in der Psychiatrie. Sie hat einen starken Charakter.
Ich war an jenem Abend ein miserabler Liebhaber. Ella war unzufrieden mit mir. Völlig zur Unzeit fragte ich: »Und was, wenn sie, das heißt wir, uns Lenin wünschen? Oder Lermontow?«
»Würdest du dich wohl endlich mal konzentrieren?«, zischte Ella verärgert.
Später, während sie sich anzog, sagte sie: »Jeder wünscht sich, wen er will? Wo denkst du hin?! Morgen werden wir einheitliche Beschlüsse fassen. Und sogar noch Proben durchführen.«
Sie hatte recht. Den ganzen folgenden Tag brodelte das gesamte Land. Unter der Losung »Marx ist niemals gestorben!« wurden in jeder Fabrik und jedem Kolchos spontane Meetings organisiert. Im Radio sangen Pioniere ein von dem Komponisten Schainski über Nacht geschriebenes munteres Lied:
Immer weiter, Band für Band,
wächst’s ›Kapital‹ aus Marxens Hand.
Und der Refrain lautete:
Es kommt Band neun, es kommt Band zehn,
lasst uns studieren und verstehn!
Auch wir wurden zusammengerufen.
Kuprijanow sagte, die schöpferische Entwicklung des Marxismus erhalte einen gewaltigen Impuls, der es uns erlauben werde, die philosophischen Systeme des Westens weit hinter uns zu lassen. Neue Strömungen, die die Sorge widerspiegeln … und so weiter. Dann trug ein Vertreter der Kreisleitung vom Blatt eine nicht zur Weiterverbreitung bestimmte Ausarbeitung vor, die das Wesentliche enthielt: Hier wurde offen darüber berichtet, dass das Politbüro und die Regierung die Frage ausgiebig beraten haben. Es sei der Vorschlag geäußert worden, den von uns allen heiß geliebten Wladimir Iljitsch Lenin wieder zum Leben zu erwecken. Jedoch habe eine über galaktische Kanäle erhaltene Nachricht die Partei und ihren Generalsekretär persönlich davon überzeugt, dass im Falle eines erfolgreichen Ausganges der ersten Wiedererweckung der Sowjetunion das exklusive Recht auf eine Wiederholung des Experimentes eingeräumt werden werde. Unter diesen Umständen und in der tiefen Überzeugung, dass die Partei nicht das Recht habe, auch nur das kleinste Risiko im Zusammenhang mit der Wiedererweckung unseres Iljitsch zuzulassen, sei beschlossen worden, den Führer des Proletariats erst dann wiederzuerwecken, wenn die Wissenschaft mit absoluter Sicherheit garantieren könne, dass seine geistigen Fähigkeiten dadurch keinen Schaden erleiden werden.
Ich kann nicht behaupten, dass ich dem Glauben schenkte, aber viele taten es. Es wurde nicht direkt gesagt, aber zu verstehen gegeben, dass alles Neue risikobehaftet ist. Ein Misserfolg mit Marx, das wäre ein Unglück, ein Misserfolg mit Lenin aber eine Katastrophe.
Als ich von der Arbeit kam, war das Puschkin-Denkmal von einer Kette aus Ordnungskräften abgesperrt. Blumen lagen keine mehr da. Das Puschkin-Museum war wegen Inventur geschlossen. Gerüchten zufolge hatte es in Gori Verhaftungen gegeben. Die Straßen waren voller Menschen, wie an einem Feiertag. Viele, insbesondere Jugendliche, lärmten und ignorierten die Miliz. Eine lange Panzerkolonne rollte die Straße der Metroerbauer entlang.
Die Lichter in den Gebäuden des KGB an der Lubjanka brannten bis in den Morgen hinein. Oft kamen schwarze »Wolga« herausgeschossen, die mit quietschenden Reifen das Denkmal des Ersten Tschekisten umrundeten und dann zum Alten Platz jagten. Dann kehrten sie zurück.
Auf Drängen der Ärzte verbrachte Breshnew die Nacht im Reanimationsraum. Nur Andropow wurde zu ihm gelassen. Sie tranken ein paar Tassen Tee und erinnerten sich an Episoden aus dem Krieg. Über den bevorstehenden Tag wurde nicht gesprochen. Andropow hatte dem Generalsekretär versichert, dass alles vorbereitet sei.
Am folgenden Tag versammelte sich die Bevölkerung im ganzen Land in den Fest- und Konferenzsälen.
Dröhnende Musik. Die Rentner und die Pioniere wurden in den Kindergärten und in den Roten Ecken der Hausverwaltungen zusammengerufen. Auf den Straßen blieben nur Milizionäre und ehrenamtliche Ordnungskräfte zurück.
Zehn Minuten vor zwölf wiederholte die Kabine ein letztes Mal ihre Bekanntmachung. Fünf vor zwölf heulten die Sirenen der Betriebe und Fabriken auf. Der Countdown begann.
Ausländische Korrespondenten wurden nicht nach Swenigorod gelassen. Die Stadt selbst und die umliegenden Wälder waren von Panzern umschlossen.
Das Politbüro und die Generalität befanden sich in einem bombensicheren Bunker, der an einer Stelle, an der früher ein Treibhaus stand, erbaut worden war. Breshnew blickte durch ein starkes Periskop auf die geschlossene Kabinentür.
Eine Minute vor zwölf brach Grabesstille im Land an. Nur das Metronom tickte.
Dann sechs kurze Zeitzeichen.
Und nun ertönte es gleichzeitig aus allen Lautsprechern der Sowjetunion: »Wir möchten, dass der Begründer des Marxismus, Karl Marx, wieder zum Leben erwacht!«
»Wir möchten … dass der Begründer …«
»Wir möchten …«
›Ich möchte‹, dachte Breshnew. Und er konnte nichts dagegen tun. In seinem von den Versammlungen und dem Mangel an Schlaf ermüdeten Gehirn erstand das Bild seiner verstorbenen Mutter.
»Mutti!«, flüsterte er.
Die Kabinentür begann langsam zur Seite zu gleiten.
Andropow nahm einem Offizier das tragbare Pult mit dem Knopf aus den Händen. Natürlich vertraute er auf den einheitlichen Willen seines Volkes, aber er trug die Verantwortung.
Andropows Finger erstarrte über dem Knopf. In der Kabinentür erschien ein Mensch …
Andropow drückte den Knopf.
Die Explosion zerfetzte die Kabine, und ihre niederstürzenden Trümmer begruben den Sänger Wladimir Wyssozki[12] unter sich. Seine Gitarre flog weit zur Seite und landete fast unbeschädigt auf dem trockenen Herbstgras. Mit dem vorausschauend von den Pionieren des Komitees ausgehobenen und mit Dynamit gefüllten Graben unter der Kabine war der Fehler korrigiert worden. Die Asche Wladimir Wyssozkis wurde in einer Gefängniszelle des KGB beigesetzt.
Das Politbüro sprach diese Frage nicht weiter an. Es wurde lediglich bekannt gegeben, dass das Experiment aus technischen Gründen, deren Ursachen außerhalb der Grenzen der Sowjetunion lägen, fehlgeschlagen sei.
Aus der chinesischen Kabine war Konfuzius hervorgetreten. Einen Monat später verstarb er aufgrund des ständigen Verdrusses. In den USA schenkte die Kabine dem Land den Filmstar Marilyn Monroe. Sie lebt bis auf den heutigen Tag.
Wir aber haben alles vergessen.
»Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes«
(Eдинaя вoля coвeтскoгo нaрoдa);
verfasst 1986, erstveröffentlicht 1991;
Übersetzung nach der Ausgabe:
K. Булычeв: Встрeчa тирaнoв (1992)
[1] Breshnew starb am 10.11.1982 (hier und im Folgenden Anmerkungen des Übersetzers).
[2] Andropow, Juri Wladimirowitsch: 15.6.1914 – 9.2.1984. Bis 1982 KGB-Chef, ab Mai 1982 Sekretär des Zentralkomitees, nach Breshnews Tod dessen Nachfolger als Staats- und Parteichef.
[3] Dobrynin, Anatoli F.: Botschafter in den USA.
[4] Tschernenko, Konstantin Ustinowitsch: 24.9.1911 – 10.03.1985. Andropows Nachfolger als Staats- und Parteichef.
[5] Pelsche, Arwid J.: 26.1. 1899 – 1.6. 1983. Leiter des Parteikontrollkomitees. Mitglied des Politbüros.
[6] Ustinow, Dmitri Fjodorowitsch: 30.10.1908 – 20.12.1984. Verteidigungsminister.
[7] Dolgich, Wladimir I.: damals Kandidat des Politbüros, geb. 1924.
[8] Schtschelokow, Nikolai A.: 26.11.1910 – 13.12.1984. Innenminister 1966–1982.
[9] Kusnezow, Wassili Wassiljewitsch: 13.02.1901 – 5.6.1990. Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets.
[10] Berija, Lawrenti Pawlowitsch: 29.3.1899 – 23.12.1953 (hingerichtet). Früherer Innenminister und Geheimdienstchef.
[11] Kunajew, Dinmuhamed A.: 12.1.1912 – 22.8.1993. Parteichef der KP Kasachstans. Nach der Auflösung der Sowjetunion erster Präsident des unabhängigen Kasachstan.
[12] Wyssozki, Wladimir: 25.1.1938 – 25.7.1980. Populärer Liedermacher, Sänger und Schauspieler. Wurde bei einer Umfrage 2018 hinter Juri Gagarin zur zweitwichtigsten Persönlichkeit Russlands des 20. Jahrhunderts gewählt.
Der Tod im Stockwerk tiefer
Vorwort des Autors
Dieser Roman wurde 1987 geschrieben und 1989 gedruckt, also ganz kurz vor dem Beginn der großen Veränderungen in der Sowjetunion. Doch selbst in jenen Monaten übte die Partei nach wie vor die Kontrolle über das Land aus, obwohl ihre Macht ins Wanken geriet.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass mein Held im letzten und entscheidenden Moment in einem Land, das fest im Griff der Korruption ist, all seine Hoffnungen auf das Politbüro setzt. Zu dessen erlauchten Ohren will er die Nachricht von der Tragödie tragen.
Es versteht sich von selbst, dass das gesamte Finale des Romans heute anders geschrieben worden wäre, abgestimmt auf das Wertesystem im heutigen Russland. Ich wollte den Schluss ändern, damit er der Gegenwart mehr entspräche, ließ es dann aber doch bleiben.
Ich erinnerte mich an eine sehr schöne Erzählung der Schriftstellerin Teffi, die sie noch vor der Revolution geschrieben hatte. In dieser Geschichte kauft sich eine bescheidene und geradezu puritanische Gymnasiallehrerin einen englischen Kragen. Als sie ihn anlegt, stellt sie fest, dass sie zu diesem Kragen auch eine passende Bluse kaufen muss. Nach der Bluse kommt der Rock, dann die Schuhe und so weiter. Wenn ich mich recht entsinne, endet die Erzählung mit dem Satz: »Und dann trat sie auf die Straße hinaus und war glücklich.«
Ebendiese Geschichte ließ mich von meinem Vorhaben dann doch wieder Abstand nehmen. Ich habe kein einziges Wort an diesem Roman geändert. Es ist ein Roman über die Wirklichkeit des Jahres 1987, über die letzten Jahre oder gar Monate der Herrschaft des Kommunismus. Wenn ich den Schluss ändere, dann muss ich auch einige der Helden ändern oder zumindest ihr Verhalten. Dann muss ich die Helden auch anders denken lassen …
Also, ich lade Sie ein in das Jahr 1987!
In jenem Jahr war ich in Swerdlowsk zu einem Vortrag im Auftrag der Gesellschaft »Wissen«. Man hatte mich in einem dieser überall gleichen fünfgeschossigen Bahnhofshotels untergebracht. Die Fenster gingen auf den Bahnhofsplatz hinaus. Die Swerdlowsker Luft trug Beimengungen chemischer Substanzen und Rauch heran. Ich begann den Roman noch in jenem Hotel.
Erster Teil: Vor Mitternacht
Das Flugzeug landete bei Tagesanbruch. Die Passagiere sammelten sich am unteren Ende der Gangway und traten von einem Fuß auf den anderen. Bläulicher Schnee, bläulicher Himmel, gelb die Lichter des Flughafens. Dann ging es im Gänsemarsch zur Empfangshalle. Der bläuliche Schnee endete an der Überdachung, wo viele in Erwartung ihres Gepäckes verharrten. Dort lag von den Schuhen der Reisenden abgefallener schmutziger Matsch. Nur wenige wurden erwartet. Doch Schubin gehörte zu den wenigen. Der Vorsitzende der Stadtorganisation der Gesellschaft »Wissen«, als welcher sich Fjodor Semjonowitsch Nikolaitschik vorstellte, schickte sich sofort an, Schubin die Verspätung der Maschine vorzuhalten. »Vierzig Minuten!«, sagte er in einem Ton, als ob Schubin das Flugzeug in der Luft abgebremst hätte. Neben ihm stand eine dunkeläugige junge Frau mit Schirmmütze und Kunstlederjacke. Sie war die Fahrerin und hieß Elja.
Der graue Moskwitsch der Gesellschaft »Wissen« stand auf einem verlassenen bläulichen Platz. Die Tür war festgefroren und ließ sich nur mit Mühe öffnen. Nikolaitschik teilte mit, dass sie einen kleinen Abstecher in das neue Viertel machten, wo er eine Zweizimmerwohnung erhalten habe. Nachdem sie in den völlig ausgekühlten Wagen gestiegen waren, kramte Nikolaitschik einen zerknitterten Zettel hervor und machte sich, ohne einen Blick auf das Papier zu werfen – denn was hätte er in der Finsternis auch schon erkennen können –, daran, Schubin zu informieren, wo und wann der auftreten werde. Besonders hob er hervor, dass er zwei öffentliche Vorlesungen organisiert habe.
»Wir können Sie natürlich nicht wie einen Pop-Star bezahlen, aber die Leute hier sind interessiert.«
Nikolaitschik hatte das Profil eines Maya, jedoch wurde dieser Eindruck durch einen blaugrauen herabhängenden Schnurrbart gestört, der bei den Indianern nicht üblich war. Der Wagen fuhr über eine vereiste Chaussee zwischen düsteren zackigen Fichtenmauern. Schubin fielen die Augen zu, und er lehnte die Wange an das Seitenfenster. Die Scheibe stand einen Spalt offen, sodass es von dorther zog. Die hereinströmende Luft war unrein, es schien eine Müllkippe in der Nähe zu sein.
»Waren Sie das diese Woche im Fernsehen?«, fragte Elja. »Ich habe mir Ihren Namen gemerkt.«
»Dieser Umstand wird den Besuch der Veranstaltungen positiv beeinflussen«, sagte Nikolaitschik. »Denn eigentlich interessiert man sich bei uns zurzeit mehr für die inneren Probleme. Ökologie, Preisreform, na Sie wissen ja selber.«
Der Wald war zu Ende. Hinter einem Stückchen Ödland, auf dem ein paar Speicher verstreut waren, begann eine lange Werkmauer aus Betonplatten. Schornsteine, die sich wie Säulen eines im Laufe der Jahrhunderte verfallenen antiken Tempels in den Himmel reckten, stießen Rauchschwaden unterschiedlicher Färbungen aus.
Hinter dem Betrieb kam ein Wohnviertel, fünfgeschossig und schwermütig. Die gleichmäßig zwischen die Fünfgeschosser gestellten neungeschossigen Türme verstärkten den Eindruck der Schwermut nur noch. An einer Bushaltestelle schmachteten dunkle Gestalten.
»Hier verabschiede ich mich von Ihnen«, sagte Nikolaitschik.
»Zehn Uhr zwanzig werde ich Sie im Hotel anrufen. Ruhen Sie sich bis dahin aus.«
»Danke, dass Sie mich abgeholt haben.«
»Das ist unsere Pflicht. Wir holen jeden ab«, sagte Nikolaitschik, während er die Wagentür öffnete. »Gleich welchen Ranges und welcher Bedeutung.«
Schubin hegte den Verdacht, dass in seinem Falle beide Faktoren nur ungenügend ausgeprägt waren.
»Und wann soll ich Sie abholen?«, fragte Elja.
»Wie immer«, antwortete Nikolaitschik. Sie fuhren weiter. Elja sagte: »Wie immer – das sagt noch gar nichts.«
Die Standardbauten endeten. Der Wagen fuhr eine lange Straße eingeschossiger Häuser entlang. Früher einmal, als die Stadt noch klein war, hatten diese Häuser das aus Stein errichtete zweigeschossige Zentrum umringt. An einer Kreuzung standen sie lange an einer roten Ampel.
»Kennen Sie Sergijenko?«, fragte Elja. »Er war diesen Monat hier.«
»Was macht der?«
»Er ist Chemiker«, sagte Elja. »Beschäftigt sich mit Ökologie. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Fragen es da gab, erst gegen eins hat man ihn gehen lassen. Silantjew hat daraufhin unseren Nikolaitschik zu sich bestellt. Solche soll er in Zukunft nicht mehr einladen.«
»Wodurch hat er Silantjew denn so verärgert?«
»Es gibt bei uns so ein Komitee«, sagte Elja. »Für Umweltschutz. Die liegen mit dem Futtermittelkombinat im Clinch, und mit dem Chemiewerk. Und sie treten überall auf.«
»Ich verstehe«, sagte Schubin.
»Ich wollte mal zu einem Meeting gehen, aber Nikolaitschik hat davon erfahren und es mir verboten. Man hatte ihm damals gerade die Wohnung versprochen, und da wollte er keine Dissidenten in seinem Kollektiv haben.«
»Hier geht es ja ganz schön streng zu.«
»Gronski, Nikolajew und Silantjew – das sind die großen Drei«, sagte Elja. »Was soll Silantjew machen? Durch die beiden großen Betriebe fließen der Stadt beträchtliche Mittel zu. Eine Hand wäscht die andere. Das ist doch klar.«
Sie waren im Stadtzentrum angelangt. Die frühere langweilige, aber logische Linie der zweigeschossigen Steinhäuser, die auf einen Platz mit einer großen Kirche und einem säulenverzierten eindrucksvollen Amtsgebäude führte, wurde durch sich dazwischenzwängende hohe Plattenbauten und die gläserne Hässlichkeit eines neuen Kaufhauses zerstört.
»Dient die Kirche als Lager?«, fragte Schubin.
»Nein, wo denken Sie hin?! Dort ist ein Kino, das aber bald der Philharmonie Platz machen muss. Die Akustik ist einfach umwerfend.«
Als sie auf den Bahnhofsplatz fuhren, an dem sich das Hotel »Sowjetskaja« befand, war es endgültig hell geworden, und es herrschte reger Betrieb.
»Sie sollten uns im Sommer besuchen, wir haben viel Grün hier«, sagte Elja.
Bahnhofsplätze sind selten schön, aber der frostige Novembermorgen, die schwarzen Baumskelette auf dem Bahnhofsvorplatz, der Bahnhof selbst, erbaut offenbar nach dem Krieg in dem Versuch, die Ideale des Klassizismus mit dem Optimismus der Epoche zu vereinen, aber schon lange nicht mehr gestrichen, die Seitenflügel, die den schmutzig-schneeigen Raum im rechten Winkel zur lang gestreckten Bahnhofsfassade begrenzten, und schließlich die Krönung des Platzes, das Hotel, ein fünfgeschossiger Typenbau – dieser gesamte Komplex provinzieller Gewöhnlichkeit versetzte Schubin in jenen Gemütszustand, der Selbstvorwürfe generiert. Was hat mich hierhergetrieben? Die drei Hunderter, die mir die Vorlesungen einbringen, oder die Scheu davor, mich mit der Moskauer »Wissen« zu streiten, zumal diese in Person der geschäftstüchtigen Ninotschka Georgijewna als Dank für die planmäßige Visite hier für den Herbst eine attraktive Reise durch das Baltikum in Aussicht gestellt hat?
Elja sagte: »Ich stelle den Wagen ab und komme dann nach.«
»Riecht es hier immer so?«, fragte Schubin.
»Wir haben uns daran gewöhnt. Die Chemieindustrie.«
Schubin stieg die fünf rutschigen Stufen zu den Glastüren empor und prallte erfolglos zunächst gegen die rechte und dann gegen die mittlere, bevor die linke schließlich nachgab. Im Vestibül, auf einem Stuhl am Eingang, dämmerte ein alter Mann mit einer roten Armbinde. Er wachte nicht auf, als Schubin vorbeiging. Auf hölzernen Bänken schliefen diejenigen, welche keine Zimmer bekommen hatten. Die Rezeption war verwaist, doch da kam Elja, die sich nicht scheute, das ganze Hotel aus dem Schlaf zu reißen, und lautstark fragte: »He, ist hier jemand wach? Hier ist ein Gast.«
Jemand auf den Holzbänken erwachte und sagte: »Nichts frei.«
Die Empfangsdame tauchte von irgendwoher seitlich auf. Sie war derart verärgert über Schubins Erscheinen, dass sie ihn keines Wortes würdigte. Sie hielt fordernd die Hand über den Tresen, und Elja übersetzte: »Haben Sie Ihren Ausweis dabei?«
Schubin holte den Ausweis hervor, und die Dame begann die Reservierung zu suchen. Schubin fühlte sich unwohl vor jenen, die inzwischen auf den Bänken erwacht waren und ihm unfreundliche Blicke in den Rücken bohrten, hatte aber auch Angst, dass die Empfangsdame seine Reservierung nicht finden könnte und ihm nichts anderes übrig bliebe, als in dieser Halle am Rande einer der Bänke Platz zu nehmen und auszuharren, bis Nikolaitschik bei Beginn des Arbeitstages die Gerechtigkeit und die Autorität der Gesellschaft »Wissen« wiederherstellen würde. Doch die Reservierung fand sich an.
Während Schubin das Anmeldeformular ausfüllte, erwachte das Hotel zum Leben. Jemand trat an den Tresen heran, um der Empfangsdame möglichst nahe zu sein und sich ihr in Erinnerung zu bringen, und am Eingang stritt sich ein schmächtiger Offizier in Begleitung seiner voluminösen Gattin und zweier Kinder mit dem Pförtner, der nur immer wieder monoton wiederholte: »Es ist nichts frei, es ist nichts frei, es ist nichts frei.«
Die Treppe herunter kamen drei Kaukasier in Ledermänteln und Bisammützen. Sie unterhielten sich in kurzen Repliken.
Elja sagte: »So, nun sind Sie also untergebracht. Ich werde Ihre Vorlesung heute auf jeden Fall besuchen.«
Erst hier, im erleuchteten Vestibül, sah Schubin, wie jung sie war. Die Augen kastanienbraun, die Lippen intensiv rosa. Wenn sie sprach, war eine goldene Krone zu sehen. Elja reichte Schubin die Hand. Sie hatte lange Finger, die Handfläche war trocken und glatt, die Rückseite jedoch rau wie bei einem Menschen, der mit bloßen Händen in der Kälte arbeiten muss.
»Ruhen Sie sich aus«, sagte sie. »Er wird nicht gegen zehn anrufen. Er wird bis zwölf durchschlafen. Und früher bekommt er den Wagen auch nicht von mir. Auch ich habe Schlaf nötig. Ich bin Ihretwegen nicht dazu gekommen, mich hinzulegen.«
Sie sagte das ohne Vorwurf, und Schubin fühlte keine Schuld.
»Danke«, sagte er. »Das heißt, ich habe fünf Stunden.«
»Mindestens.« Elja lächelte.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie lief zum Tresen und fragte: »Ist warmes Wasser da? Unser Gast ist schließlich aus Moskau.«
»Jaja«, sagte die Empfangsdame. »Waschen Sie sich.«