Mein Weg zu Padre Pio

Ich widme dieses Buch meinen Eltern Idda und Albert, meinen Geschwistern Monika, Stefan und Mathias und meinen engsten Weggefährten Edith, Fredrik Timo und Anja.

PROLOG

Sommer 1981. Saharastimmung. Der Wind kräuselt Sand in die Luft. Es ist heiss. Sehr heiss. In der Gästekabine des Fussballclubs San Marco in Lamis spricht der Trainer der A.C. San Giovanni Rotondo zu seiner squadra. «Heute spielen wir mit drei Stürmern. Marco spielt auf der rechten Flügelposition. Marco, Du bist schnell. Nutze die Räume auf Deiner Seite gut aus. Und Du bist jung. Verrichte auch Defensivarbeit. Hilf Deinen Kameraden im Mittelfeld. Hol Dir dort die Bälle. Die Mannschaft steht hinter Dir. Es ist Dein erstes offizielles Spiel für unseren Verein. Gib alles. Forza Marco! Forza San Giovanni Rotondo!»

Rund 250 Zuschauer schauen sich das Spiel San Marco in Lamis gegen San Giovanni Rotondo an. Marco gehört seit vier Wochen zum Gästeteam. Er kommt aus der Schweiz und spielte dort für den FC Uznach. Nun ist er in Süditalien, um die italienische Sprache zu lernen und Fussball zu spielen. Viel mehr wissen seine Teamkollegen noch nicht über ihn. Und er ist froh, dass sie ihm keine unangenehmen Fragen stellen.

Seine Vergangenheit interessiert hier keinen. Was zählt, ist der Fussball. Was zählt, ist dieses Spiel. Was zählt, sind die Tore. Das Endresultat zählt. Alles andere ist Nebensache. In die squadra kommt er durch Umberto, der zum Freundeskreis des Fussballclub-Präsidenten Raffaele gehört. Nach einigen Probetrainings merken die Clubverantwortlichen und der Trainer, dass Marco, obwohl er aus der Schweiz kommt, ein hervorragender Fussballspieler ist.

In den Trainings fällt auf, dass er wendig und schnell ist, einen guten Torriecher hat und beidfüssig spielen kann. Etwas, was die meisten Fussballer nicht beherrschen. Zudem hat der junge Mann trotz sprachlichem Manko bereits ein grosses Selbstvertrauen und auf dem Rasen viel Durchsetzungsvermögen. Trainer und Mitspieler mögen Marco und nehmen ihn kameradschaftlich in die Mannschaft auf. In zwei Trainingsspielen schiesst er drei Tore. Verständlich, dass man ihn jetzt in einem Ernstkampf sehen will und grosse Hoffnungen in sein fussballerisches Talent setzt.

Die Heimmannschaft geht in der 15. Minute 1:0 in Führung. Es ist ein glückliches Tor. Ein Freistoss-Treffer, der durch einen Verteidiger unglücklich abgelenkt wird. Der Torhüter hat keine Chance, den Ball noch zu erreichen. Die Zuschauer jubeln frenetisch. Einige halten sich kleine Radios ans Ohr und hören die Live-Übertragungen der Spiele der Serie A. San Giovanni Rotondo erhöht den Druck und kommt zu guten Chancen. Kurz vor der Pause ergibt sich auf der rechten Seite ein Eckball. «Schiess Du die Ecke», fordert Captain Tonino den neuen Mitspieler auf.

Marco setzt sich den Ball und tritt ihn scharf in Richtung Penaltypunkt. Die Heimmannschaft kann den Eckball befreien, aber nur knapp über die Strafraumgrenze hinaus. Dort steht Tonino unbedrängt. Dieser nutzt die Gelegenheit und trifft mit einem satten Schuss an Freund und Feind vorbei zum verdienten Ausgleich. Tonino und Marco jubeln gemeinsam. «Gute Ecke», lobt er ihn. «Guter Schuss», gibt dieser ihm das Lob zurück. Kurze Zeit später pfeift der Schiedsrichter zur Halbzeit. 1:1 steht die umkämpfte Partie. Inzwischen ist es windstill. Die Hitze ist noch stärker zu spüren. Schatten gibt es hier keinen. Die Pause kommt allen gelegen.

Während dieser hält der Trainer eine kurze Rede. «Spielt weiter so, Jungs! Macht die Räume eng. Bewegt Euch auch ohne Ball. Bietet Euch an und setzt die gegnerische Mannschaft stärker unter Druck. Versucht, öfters über die Flügel zu spielen. So entstand der Ausgleichstreffer! Wenn wir weiter so spielen, holen wir hier Punkte.» Dann geht er zu einzelnen Spielern hin und spricht ihnen aufmunternde Worte und kurze Parolen zu. Marco klopft er auf die Schulter. «Gutes Spiel, Marco. Gib weiter Vollgas!»

Die zweite Halbzeit beginnt mit einem Paukenschlag. Ein Stürmer der gegnerischen Mannschaft lässt sich beim ersten Angriff im Strafraum theatralisch fallen. Eine klare «Schwalbe». Aber der Schiedsrichter pfeift Penalty für das Heimteam. Der Schütze versenkt diesen sicher zur 2:1-Führung. Die Fans der Heimmannschaft jubeln erneut. Die Gästemannschaft ist wütend. Einzelne Spieler legen sich mit südländischem Temperament mit dem Schiedsrichter an. Das Resultat ist eine rote Karte. Platzverweis für Giancarlo! Che merda!

Mit einem Mann weniger heisst es für die verbliebenen Spieler, noch mehr zu arbeiten, längere Wege zu gehen und mehr Energie aufzuwenden, um nicht ein weiteres Gegentor zu bekommen. Die Stürmer müssen vermehrt Defensivaufgaben übernehmen. Dementsprechend selten entstehen Offensivaktionen. Die Heimmannschaft kommt in regelmässigen Abständen zu guten Chancen, die sie aber nicht nutzen kann.

Nach einer dieser Chancen kickt der Torhüter einen Abschlag über die Mittellinie hinaus. Marco kann diesen Ball annehmen und unter Kontrolle bringen. Die gegnerische Mannschaft ist bei ihrer Chance zu weit aufgerückt. Nur zwei Verteidiger versuchen, dem flinken Schweizer den Ball abzunehmen. Mit einer raffinierten Finte enteilt er diesen und kann alleine auf den Torhüter losziehen.

Er täuscht einen Schuss mit dem rechten Fuss vor, umspielt aber den Torhüter und kann den Ball in der 82. Minute sicher zum 2:2-Ausgleich einschieben. Toooor! Marco, der neue Spieler von San Giovanni Rotondo, schiesst sein erstes Meisterschafts-Tor in Süditalien, in diesem fussballverrückten Land. Die Mitspieler jubeln, bilden eine Traube und umarmen ihn. Die Heimmannschaft ist konsterniert, sucht aber intensiv und mit viel Druck die erneute Führung. Bis zum Schlusspfiff fällt jedoch kein weiteres Tor. Die Partie San Marco in Lamis gegen San Giovanni Rotondo endet mit einem 2:2-Unentschieden.

Die Gästemannschaft feiert das Unentschieden fast wie einen Sieg. Nach der kurzen Rückfahrt von San Marco in Lamis nach San Giovanni Rotondo lädt der Präsident die Mannschaft zum Nachtessen ins Stammlokal ein. Die Stimmung ist freudig und aufgelöst. Umberto, der das Spiel nicht gesehen hat, gesellt sich in die Runde. «Bravo Marco. Ich habe gehört, dass Du Deine Sache sehr gut gemacht hast. Das freut mich. Du erhälst von mir einen Bonus!» Dann steckt er Marco ein kleines Notenbündel zu. 20 000 Lire. Marco bedankt sich. Das zusätzliche Geld kann er gut gebrauchen. Es entspricht einem Mittagessen, einer Schachtel Zigaretten und drei Flaschen Bier.

20 000 Lire entsprachen 1981 rund 20 Schweizerfranken.