Adele Mann
Lilly Blaze - In Love
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Informationen
Impressum neobooks
Mom hasste den Krebs. Sie hasste ihn, weil er ihren Körper zerfraß, und auch, weil er ihrer Meinung nach unsere Familie zerstört hatte. Ich konnte ihr all die Jahre über nicht die Wahrheit sagen. Dass Dad uns so oder so verlassen hätte. Ich glaube, er hat nur auf eine Gelegenheit gewartet, uns endlich loszuwerden, und der Krebs hat sie ihm geliefert. Wie sonst soll ich es mir erklären, dass Dad keine zehn Monate nach Moms Krebsdiagnose eine Siebenundzwanzigjährige geheiratet hat, die bereits wenige Monate später ein Baby bekam. Man muss kein Genie sein, um zu wissen, dass sich Miss Siebenundzwanzig Dad bereits vor seinem glorreichen Abgang geschnappt hatte. Sie bekamen ihren Sohn, und ich verlor einen Vater, der sich bis dahin ohnehin nie besonders für mich interessiert hat. Damals wurde mir mehr denn je klar, dass Dad Mom nur geheiratet hatte, weil sie mit mir schwanger war. Mir schien es, als hätte er stets auf den Moment gewartet, wann er sich dafür rächen konnte.
Mom hat es das Herz gebrochen. Sie erlaubte sich bis zum Schluss nicht, zuzugeben, dass Dad nur getan hat, was anständig war, als er sie zur Frau nahm, weil Großvater, der Geldspender der Familie, ein halbwegs anständiger Mensch war und es von ihm verlangte. Sobald Grandpa tot war, musste mein sogenannter Vater, den ich in den letzten Jahren nur Erzeuger nannte, den Schein der Anständigkeit nicht länger wahren. Und dann kam die erste Krebsdiagnose. Für Mom und mich ein Schock. Für Dad die perfekte Gelegenheit. Von da an gab es nur noch Mom und mich. Und jetzt gibt es nicht mal mehr das.
Mom hasst den Krebs nun nicht mehr. Denn inzwischen ist sie tot. Der verdammte Krebs hat am Ende der zweiten Runde doch noch gewonnen und sie mir für immer weggenommen.
„Lilly Blaze?“ Eine Sekretärin mit langen, braunen Haaren und vorsichtiger Stimme steckt ihren Kopf durch die Tür und unterbricht meine Gedanken, indem sie mich anspricht.
„Ja?“
„Sie können jetzt reingehen.“ Aufmunternd lächelt sie mich an. Ich hasse dieses mitleidige Lächeln. Seit Monaten folgt es mir überallhin.
„Danke.“ Ich stehe auf und gehe vom Wartebereich in die Kanzlei. Das Büro von James Falcon ist nicht zu verfehlen. Ich klopfe kurz und betrete sein Arbeitszimmer. Sofort sieht er von seinem Schreibtisch hoch. James ist Ende fünfzig, füllig und trägt, wie immer, wenn ich ihn sehe, einen guten Anzug. Der Großteil seines Haars ist ergraut. Einen Zustand, den meine Mom niemals erreichen wird. Nicht mehr. Sofort brennen meine Augen. Ich räuspere mich, um das Gefühl, jeden Moment heulen zu müssen, zurückzudrängen. James mustert mich betroffen. Er bemerkt es. Schließlich hat unser Familienanwalt mich viel zu oft in diesem Zustand erleben müssen.
„James.“
„Ich würde gerne sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen, junge Dame, aber die Umstände deiner Besuche machen mir das unmöglich.“ Er nennt mich immer noch junge Dame. Schon seit der Scheidung meiner Eltern, als ich ein Teenager war.
„Da kann ich nur zustimmen.“ Ich atme durch und setze mich auf den gepolsterten Sitz vor seinem Schreibtisch. Der Raum riecht nach asiatischem Take-Away-Essen und seinem etwas zu süßlichen Eau de Cologne.
„Wir müssen auf niemanden warten. Bill hatte …“ Er stoppt, denn James wird klar, dass er den Satz nicht auf gute Weise beenden kann. Da der Satz in der Luft hängt, beende ich ihn:
„… er hatte nicht viel Familie übrig, seit Mom tot ist.“
Ich spüre wieder das Brennen im Magen. Seit ihrer Beerdigung quält es mich. Selbst als die Tränen versiegten, blieb mir das hohle Brennen im Bauch, mal mehr, mal weniger heftig. Mein ständiger Begleiter.
„Ja.“ Er rutscht auf seinem Stuhl vor, als wäre ihm das unangenehm, was ich verstehen kann. Wer muss schon innerhalb weniger Wochen zwei Testamentseröffnungen in einer Familie abhandeln, bis nur noch der jüngste Spross dieser vom Glück verlassenen Familie vor einem sitzt, weil niemand übrig ist, dem er das Testament verlesen kann. Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit Onkel Bill hier, um Moms Testamentseröffnung hinter mich zu bringen, und jetzt bin ich wieder hier, um dasselbe für Bill zu tun. Das alles war zu viel für ihn. Bill hatte einen Herzinfarkt und hat mich mit all dem Schmerz und Kummer alleingelassen. Ich weiß, das klingt egoistisch, aber genauso fühlt es sich an. Jetzt ist niemand mehr da, auf den man zählen kann. Ich bin allein.
„Bitte, James, lass es uns einfach hinter uns bringen!“
Er lächelt mich mit gerunzelter Stirn an. „Das ist auch in meinem Sinne. Aber vorher muss ich wissen, wie es dir geht.“
Wie es mir geht? Ständig werde ich das gefragt. Wie soll es mir schon gehen? Ich bin gerade einundzwanzig geworden, musste die Uni abbrechen, um Mom zu pflegen, die in meinen Armen gestorben ist, mein Lieblingsonkel ist ihr schneller gefolgt, als ich verkraften konnte, und ich habe so gut wie kein Geld mehr und keine Aussicht auf irgendeinen richtigen Job. Nicht mal für eine Mindestlohnstelle tauge ich.
„Ich habe keine Ahnung … Fakt ist, in einem Monat muss ich aus der Wohnung ausziehen. Moms Schulden sind zwar fast alle abbezahlt, aber Dads Blutgeld reicht nicht, um weiter dort wohnen zu bleiben, also bräuchte ich dringend einen Job. Doch wie sich herausgestellt hat, ist eine Elite-College-Abbrecherin ohne Ausbildung keine attraktive Kandidatin für den Arbeitsmarkt … So in etwa geht’s mir. Und der Einzige, zu dem ich hätte gehen können, ist mir gerade weggestorben.“ Zornige Tränen rollen mir über die Wangen und tropfen unerhört warm in meine verkrampften Hände. Ich schäme mich.
James presst die Lippen fest zusammen. Er reicht mir ein Taschentuch aus der riesigen Box auf seinem Tisch.
„Danke.“ Ich atme lange aus, bis ich mich beruhigt habe. „Tut mir leid … Es ist nur … Bill wollte, dass ich bei ihm einziehe, sobald ich hier alles geregelt habe. Aber dann kam dieser Anruf, und ich musste wieder auf eine Beerdigung, um mich von jemandem zu verabschieden, den ich geliebt habe. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das alles wirklich passiert ist.“
Während ich mir die Nase putze, streiche ich das schwarze Baumwollkleid glatt. Dass gerade heute ein warmer, schöner Frühlingstag ist, empfinde ich als Schlag ins Gesicht.
James steht auf. Er setzt sich auf den Stuhl neben mir. Seine warmen, dicklichen Finger legen sich über meine Faust.
„Lilly“, sagt er streng, aber sanft. „Ich weiß, dass es sich für dich anfühlt, als würdest du gerade an einem Abgrund stehen, aber ich schwöre dir, dass deine Lage nicht hoffnungslos ist. Denn die Menschen, die dich lieben, hatten nur eins im Sinn: so gut sie konnten für dich zu sorgen.“
Verständnislos sehe ich ihn an.
James zieht eine Akte von seinem Tisch auf seinen Schoß.
„Scheiß auf den offiziellen Mist! Du musstest dir das schon bei deiner Mutter anhören. Wenn du einverstanden bist, werde ich dir einfach sagen, was in Bills Testament steht.“
„Ja, bitte.“ Ich stoße Luft aus meinen Lungen und setze mich auf, um mich zu konzentrieren und um zu hören, was Onkel Bill in seinen letzten Worten zu sagen hatte.
James räuspert sich und liest den handgeschriebenen Zettel vor, auf dem „Letzter Wille und Testament“ steht.
„Meine liebste Lilly! Du weißt, dass du immer meine Lieblingsnichte warst, und das nicht nur, weil du auch meine einzige bist. Deshalb habe ich mein bisheriges Testament geändert, als wir Lauren verloren haben. Auf deinen Versager von Vater verlasse ich mich keinen Deut, wenn es darum geht, Vorkehrungen für dich zu treffen. Deshalb, Herzblatt, nehme ich das lieber selbst in die Hand, so gut ich kann. Geld habe ich leider nicht viel, und was ich habe, wird dir nicht weiterhelfen. Doch ich habe eine Sache, die mir neben deiner Mutter und dir alles bedeutet hat: meine Bar. Sie ist nicht gerade eine Goldgrube. Doch sie ist ein Zuhause und ein Ort, der für dich sorgt, wenn du dich gut um ihn kümmerst. Ich weiß, du bist noch sehr jung und du solltest eigentlich das College beenden, jetzt, wo du nicht länger für deine Mom sorgen musst. Aber das Geld, das dafür nötig wäre, kann ich dir leider nicht hinterlassen. Und das tut mir sehr leid. Doch dass ich dir sehr wahrscheinlich sehr bald irgendetwas hinterlassen muss, ist mir klar. Denn mein Arzt meint, ich habe Herzwände, die dünn wie Papier sind, und ich werde auf keinen Fall noch Jahre vor mir haben, nicht mal annähernd. Ich weiß, das ist unfair, es erst jetzt zu erfahren. Doch ich wollte euch beide nicht damit belasten. Lauren brauchte jede Kraft, um gegen den Krebs zu kämpfen, und du hattest für eine junge Frau bereits genug eigene Sorgen. Doch der marode Zustand meines Herzens hat auch sein Gutes. Ich muss mich auf meinen Arsch setzen und dieses Ding hier schreiben, ehe es zu spät ist. Diese Sache ist mir wichtig. So wie du, mein Herzblatt. Und um dir das zu zeigen, hinterlasse ich dir das Einzige im Leben, was ich jemals gut hinbekommen habe, meine Bar: Bill’s Blaze. Da meine Pumpe wenigstens so lange durchhalten sollte, bis du einundzwanzig bist, darfst du die Bar führen und meine Alkoholschanklizenz geht auf dich über. Das hat unser Anwalt bereits geklärt. Lilly, ich weiß, das ist nicht der Weg, den dein Leben verlaufen sollte, aber es ist alles, was ich dir geben kann: ein Ort zum Arbeiten und Leben, der hoffentlich so gut für dich sorgt, wie er für mich gesorgt hat. Du kannst die Bar auch verkaufen und mit dem Geld eine Weile über die Runden kommen, aber ich würde mir wünschen, dass du es zumindest versuchst. Denn die Bar ist mehr als bloß ein Gebäude, dessen Besitzurkunde du von mir erbst. Sie ist ein Zuhause, ein hoffentlich sicherer Hafen für dich, um nach allem, was du durchstehen musstest, wieder auf die Füße zu kommen. Denk immer daran!
Tja, das war’s. Wenn mein Herz durchhält, lebst du bald bei mir, und ich kann dir alles, was hier drin steht, nach und nach schonend beibringen. Doch sollte meine Pumpe früher aufgeben, dann bleibt mir nur das, um dir zu sagen, dass ich dich sehr liebe und hoffe, dass du im Leben glücklich wirst. Das wünschen Lauren und ich dir am meisten. Kämpfe dafür und mach nicht dieselben Fehler wie wir. Ja, ich weiß, es ist abgedroschen, aber ich muss das sagen: Leb wohl und achte gut auf dich!“
James blickt auf und sieht mich an, während ich die Trockenheit im Mund runterschlucke, um etwas zu sagen.
„Ich … ich besitze jetzt eine Bar?“
„Das tust du.“
Je näher der Zug den Hamptons kommt und je weiter ich New York hinter mir lasse, desto unwirklicher fühlt es sich an, auf dem Weg nach Long Island zu sein, um Onkel Bills Bar Bill’s Blaze zu meinem neuen Zuhause zu machen. Der Anblick dieser hübschen Küstenstädtchen erinnert mich an die Sommer, die wir in den Hamptons verbracht haben, als es Mom gut ging und ich noch einen Vater hatte, von dem ich dachte, wir würden ihm wirklich etwas bedeuten. Doch bereits damals, als ich klein war, fühlte ich mich am wohlsten, wenn Mom aus dem teuren Strandhaus ausbüxte, um mit mir Onkel Bill zu besuchen. Dad hasste Bill und nannte ihn einen Versager, aber Mom liebte ihren Bruder und brachte mich so oft zu ihm, wie sie nur konnte. Ich erinnere mich kaum an die Bar, dafür aber an den Strand und an den Spaß, den ich mit Mom und Bill dort hatte. Dad hat nie Sandburgen mit mir gebaut oder sich für mich zum Affen gemacht. Onkel Bill tat das ständig. Während Dad wieder einmal massig Geld verdiente, setzte Bill sich Eimer auf den Kopf und spielte Seemonster mit mir oder er grillte für Mom und mich, ehe wir in unser eigentliches Leben zurückkehrten. Ich war immer traurig, wenn wir nicht zu Onkel Bill durften.
Dennoch, trotz all der guten Erinnerungen bekomme ich einen flauen Magen, wenn ich daran denke, dass ich bald aussteigen muss. Als die automatische Ansage „Westhampton“ monoton durchgibt, schlucke ich. Nur mit einer unförmigen Tragetasche und einer Handtasche als Begleitung stehe ich auf und verlasse den Zug. Zum ersten Mal seit langer Zeit rieche ich statt der abgestandenen, warmen Luft Manhattans würzig klare Landluft mit einer leichten Meeresbrise. Ich muss zugeben, dass ich froh bin, die Enge der Stadt nicht mehr zu spüren, auch wenn es schwer war, unser Zuhause an der Upper Eastside zu verlieren. Zumindest fühle ich mich erleichtert, nicht mehr in einer halb leeren Wohnung zu sein, in der mich alles an Mom erinnert und an den Kampf, den wir beide verloren haben.
Ich denke an Mom, als ich die Tasche zurechtrücke, um den Bahnsteig zu verlassen und nach dem richtigen Bus zu suchen, der mich nach Sea Creek bringt, und daran, was sie zu mir gesagt hat, als wir uns das letzte Mal sahen, bevor es ihr richtig schlecht ging: „Liebling, mach nicht die gleichen Fehler, die ich gemacht habe. Mach dir nichts im Leben vor! Such etwas Echtes, und hab den Mut, etwas Falsches sein zu lassen, auch wenn es dir vielleicht richtig vorkommt oder leichter ist, als an etwas Echtem festzuhalten. Du musst herausfinden, wer du bist, und jemanden finden, der das gut findet und der mit dir zusammen echt ist. Würdest du das für mich tun?“
Natürlich habe ich gesagt, dass ich das tun werde, obwohl ich nicht mal genau weiß, was das ist. Ich hätte zu absolut allem ja gesagt, was sie von mir verlangt hätte. Mein Magen presst sich zu einem harten Klumpen zusammen. Ich darf nicht an Mom denken, sonst heule ich am Ende nur. Dabei füllte ich die letzten Tage mit Ablenkungen und Vorbereitungen, sodass ich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit nicht zum Heulen gekommen bin. Deswegen setze ich eine entschlossene Miene auf und konzentriere mich auf das, was zu tun ist. Finde den richtigen Bus, steig ein und eröffne diese Bar!
Wie?
Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das alles ist, was ich zu tun habe. Alles, was im Augenblick zählt.
In dem gut herausgeputzten Ort scheint am späten Nachmittag kaum etwas los zu sein. Denn immerhin stehe ich allein auf der Bushaltestelle und steige auch als Einzige in den spärlich besetzten Bus ein.
„Sie fahren doch nach Sea Creek?“
„Ja.“ Der Fahrer mustert mich kurz, während ich ihm das Fahrgeld hinstrecke. „Sie sind aus der Stadt.“
Es ist keine Frage. Ich sehe an mir hinab und habe keine Ahnung, woran er das erkannt hat. Ich trage Loafers, eine Leinenhose, weil es für April bereits recht warm ist, ein rosa Sweatshirt und darüber einen leichten Seidenblouson.
„Ja, aus New York“, antworte ich dennoch und fühle mich ein wenig unwohl dabei. Seine Stirn legt sich in Falten.
„Was wollen Sie dann in Sea Creek? Um diese Jahreszeit? Haben Sie Familie dort?“
Irritiert, weil ich es nicht gewohnt bin, ausgefragt zu werden, und er immer noch die Tür des Buses offen hält, halte ich mich am Riemen meiner Tasche fest.
„Nicht direkt. Ich muss aber dringend dorthin.“ Ich werfe ihm einen leicht drängenden Blick zu und versuche dabei zu lächeln. Mach doch endlich die Tür zu und fahr ab! Die Leute im Bus sehen neugierig nach vorn und fragen sich, warum wir nicht endlich abfahren.
„Tja dann!“ Er schließt die Tür und sieht auf die Straße. Ich beeile mich, um auf einem der Sitze Platz zu nehmen.
Eine kurze Fahrt und eine mäßig peinliche Verabschiedung später stehe ich vor dem Straßenschild von Sea Creek, im Suffolk County – mit 955 Einwohnern. Ab heute dann wohl 956. Anders als die umliegenden Städte ist dieses Dorf noch nicht völlig dem Sommertourismus der Hamptons-süchtigen New Yorker zum Opfer gefallen. Das kleine Küstenstädtchen besteht aus einer gepflegten, beinahe idyllischen Hauptstraße und einer Strandpromenade mit echtem Meerblick, der mich auf der Stelle umhaut. So etwas Schönes und Friedliches habe ich lange nicht mehr gesehen. Ich wünschte, ich hätte hier von Mom oder Bill Abschied nehmen können und nicht auf einem scheußlichen Friedhof, der nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Als ich den Sonnenuntergang bemerke, krame ich nach dem Zettel mit der Adresse. Die Bar liegt direkt auf der Strandpromenade. Ich gehe verwitterte Holzplanken entlang, meine Augen bleiben dabei am Meer und an den Booten hängen, als mir klar wird, dass ich sie beinahe verpasst hätte.
Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich das Neonschild mit dem Namen Bill’s Blaze entdecke. Es leuchtet, genauso wie die Bar darunter, aus der Gemurmel und Musik dringen. Ich habe eine geschlossene Bar erwartet, still und leise, und nicht ein volles Haus an einem frühen Donnerstagabend.
Auf wackligen Beinen öffne ich die verzogene Tür, auf der deutlich „Geöffnet“ steht. Als ich den Raum betrete, drehen sich Köpfe nach mir um und starren mich an. Ich fühle mich sofort unwohl in meiner Haut. So gut es geht, ignoriere ich die neugierigen Blicke der Barbesucher und gehe stattdessen auf die große Bartheke zu, die mir gegenübersteht und dicht bedrängt von Menschen ist, die etwas trinken wollen. Ich bin nicht besonders groß, daher fällt es mir schwer, über die Leute, die die Bar regelrecht bevölkern, drüber zu sehen, um denjenigen zu finden, der hier das Sagen hat. Schließlich muss irgendjemand den Laden schmeißen, so voll wie es hier drinnen ist.
„Entschuldigung!“ Ich zwänge mich an einem Typen mit Footballspieler-Figur vorbei und stemme meine Zehen auf die Fuß-Reling, um hinter die Theke zu blicken.
„Hey, Kleine! Wenn du echt so dringend was zu trinken brauchst, gebe ich dir gerne einen aus.“ Der Kerl mit den breiten Schultern und dem Lockenkopf grinst mich dreist an.
„Nein, danke. Ich will nichts trinken. Ich muss dringend mit dem Barkeeper sprechen.“ Er lacht, aber es klingt ein wenig, als würde er mich auslachen.
„Hey, Cole! Hier ist eine, die will ganz dringend zu dir, aber ich kann dir nicht versprechen, dass die Braut schon volljährig ist, so klein wie die mir grad vorkommt.“ Der breitschultrige Kerl sieht auf mich herab, während er mit irgendeinem Typen hinter der Bar redet.
„Du redest wieder Bullshit, Marty. Soll ich dich echt noch mal auf die Kein-Alk-Liste setzen, hm?“ Eine tiefe Männerstimme bietet dem Kerl neben mir Paroli. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Stimme gehört zu haben, die weich, heiser, bedrohlich und amüsiert zugleich klingt.
Als hinter diesem Marty der Mann, dem diese Stimme gehört, auftaucht und mich entdeckt, bleibt mir beinahe das Herz stehen.
Meine Erfahrungen mit Männern sind bestenfalls bescheiden, aber selbst ich erkenne, wenn ein äußerst gelungenes Exemplar der Gattung Heiß-und-Sexy vor mir steht und mich irritiert angrinst. Meine Augen wissen nicht, wo sie bei ihm zuerst hinsehen sollen. Der Kerl hat sonnengebräunte Haut, einen südländischen Touch, ist mittelgroß und ziemlich durchtrainiert. Er trägt das Haar kurz geschoren, als würden ihn die Marines jeden Augenblick zum Dienst einziehen, und es verführt einen, herauszufinden, ob man diese kurzen Stoppeln tatsächlich auf seinen Fingerspitzen spürt, wenn man ihm sanft über den Kopf streicht. Seine Nase ist markant, aber stimmig, und die Kieferpartie ausgeprägt und männlich. Seine Augen sind so dunkel und tief, dass man Angst hat, wenn man hineinsieht, könnte man verschluckt werden.
Als mir dämmert, dass ich ihn anstarre, räuspere ich mich.
„Hi“, ist alles, was aus meinem Mund kommt. Der Kerl sieht mich an, als hätte ich einen Hirnschaden, und ich kann es ihm nicht mal verdenken. Eingeschüchtert versuche ich, ihn offen anzulächeln. Er fixiert mich mit gerunzelter Stirn.
„Soll das irgendein Witz sein?“ Anklagend sieht er zu diesem Marty, dann wieder zu mir. Ich möchte im Erdboden versinken.
„Kleine, bist du überhaupt alt genug, um hier zu sein?“
Nachsichtig sieht er mich an und schnaubt kopfschüttelnd.
„Ich bin einundzwanzig.“ Und ich klinge gerade wie eine beleidigte Vierzehnjährige. Super! Belustigt sieht er mir in die Augen. Herrgott, ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Wilde Schmetterlinge flattern in meinem Bauch herum, wenn ich es tue.
„Hast du auch einen Ausweis, der das beweisen kann? Und ich will jetzt keine von Trudy Gertruds miesen Fälschungen auf meinem Tresen sehen. Ist das klar, Kleine?“ Streng sieht er mich an. Ich nicke automatisch, obwohl ich keine Ahnung habe, wer diese Trudy überhaupt ist.
Während ich in meiner Tasche nach einem Ausweis krame, strecke ich mich etwas, um größer zu erscheinen, obwohl ich mir reichlich blöd dabei vorkomme. Endlich finde ich das verdammte Ding und halte es ihm mit zitternden Fingern vor die Nase. Er schnappt ihn sich und beäugt ihn kritisch.
„Lilly Blaze aus Manhattan, New York. Du bist tatsächlich einundzwanzig. Hätte dich höchstens auf achtzehn geschätzt … Moment mal … Blaze? Bist du mit Bill verwandt?“ Er gibt mir den Ausweis zurück und sieht mich an, als suche er nach Ähnlichkeiten zwischen mir und meinem Onkel, doch er wird keine finden. Ich bin Moms Ebenbild und sie und Bill sahen sich nicht besonders ähnlich.
„Ja, ich bin seine Nichte.“ Dann fällt es mir wieder ein. „Nein, eigentlich … war ich das.“ Ein betroffener Ausdruck huscht über das Gesicht des jungen Mannes, den er schnell wieder in den Griff bekommt. Ich beschließe, noch mal von vorn anzufangen.
„Hi. Ich bin Lilly Blaze, Bills Nichte aus New York. Und du bist … Cole, richtig?“ Lächelnd strecke ich ihm die Hand hin. Er nimmt sie in seine, und ich bemühe mich, zu ignorieren, wie warm und stark sie sich anfühlt, ehe er sie wieder wegzieht.
„Cole Cortez. Ich bin der Barmann und …“
„Hey, Cole, was ist mit unseren Drinks!“ Cole sieht zur Seite, wo eine Meute junger Typen in meinem Alter ungeduldig werden.
„Gleich! Ich muss hier kurz noch was klären. Okay?“ Es klingt wie eine höfliche Frage, aber wenn man seinen Blick dabei sieht, weiß man, dass der Kerl nicht noch mal nach seinem Drink fragen wird, bis Cole so weit ist, ihm einen zu geben. Der Mann weiß, wie man Leute einschüchtert. Inklusive meiner Wenigkeit.
„Seine Nichte …. Ich kann’s kaum glauben, dass der alte Bill so hübsche Verwandtschaft vor uns versteckt gehalten hat. Er ruhe in Frieden.“ So schnell, dass ich es mit den Augen fast nicht erfasse, holt er einen Kreuzanhänger aus seinem schwarzen T-Shirt hervor, küsst ihn kurz und steckt ihn wieder zurück. Das muss eine katholische Sitte sein oder eine, die bei Mexikanern oder Puerto-Ricanern gebräuchlich ist. Dieser Cole könnte von dort abstammen, obwohl er recht groß gewachsen ist. Als mir dämmert, dass Cole mir ein Kompliment gemacht hat, werde ich rot. Das Brennen in meinen Wangen ist nicht zu ignorieren. Eindeutig schief grinsend nimmt Cole es zur Kenntnis.
„Und was bringt dich nun her, Chicka?“
Keine Ahnung, wieso, aber als er mich so nennt, brennen meine Wangen sogar noch mehr. Außerdem ist mir heiß, und ich habe diese riesige Reisetasche an mir hängen, die in meine Schulter schneidet.
„Die Bar. Aber ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet, sie in Betrieb vorzufinden. Der Anwalt hat gesagt …“
„Welcher Anwalt?“, unterbricht er mich und wirkt streng. Kein freundliches Grinsen mehr.
„Onkel Bills Anwalt. Er hat sein Testament verlesen, und da hat sich herausgestellt, dass Bill mir seine Bar vermacht hat.“
„Das ist doch ein Witz, oder?“
Auf der Hut lehne ich mich zurück, denn seine Augen versprühen ein dunkles Feuer, das mir Respekt einflößt. Vorsichtig schüttle ich den Kopf. Er schnauft daraufhin, als hätte ich ihm gerade in die Eier getreten.
„Willst du mich verarschen?“ Cole brüllt so laut, dass die ganze Bar plötzlich mucksmäuschenstill wird, bis auf den Song „Stand by Your Man“, der leise aus der Jukebox dringt.
„Ich … Nein!“, wehre ich ihn leise ab.
„Dir … dir gehört also ab heute die Bar und du willst sie wohl auch führen, was?“
Anklagend deutet er auf mich, als hätte er noch nie etwas so Lächerliches gehört. Alle Blicke richten sich auf mich. Ich habe das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Wie ich es hasse, im Mittelpunkt zu stehen.
„Ich weiß, es mag k-komisch klingen, aber …!“ O Gott, jetzt stottere ich auch noch. Bitte, Gott, lass mich auf der Stelle in Ohnmacht fallen! „… i-ich habe die Besitzurkunde.“ Mit zitternder Hand krame ich sie aus der Tasche hervor und halte ihm das Dokument hin. Er reißt es an sich und überfliegt die Seiten.
„Dieser Wisch interessiert mich nicht, Lilly Blaze, Prinzessin der Upper Eastside, die ich hier noch nie gesehen habe und die Bill kein einziges Mal in den letzten Jahren erwähnt hat, denn Bill hat mir … mir …“ Er zeigt mit beiden Händen auf seine breite Brust. Sein Blick durchbohrt mich. „… den Laden anvertraut, wenn er weg ist, und er hat mich in seiner Abwesenheit zum Geschäftsführer gemacht. Von dir, Missy, höre ich heute zum allerersten Mal. Aber okay, wenn du tatsächlich glaubst, du kannst den Laden hier schmeißen … Bitte schön!“
Er macht eine ausladende, wütende Geste und springt über den Bartresen. Ich keuche auf, als er direkt hinter mir landet, und starre ihn verängstigt an.
„Ihr reichen Typen aus New York kriegt doch immer alles geregelt. Dann regle das mal schön alleine, Kleine! Denn ich bin raus!“
Cole zieht ein nasses Geschirrtuch aus seiner Gesäßtasche, kommt beängstigend nahe auf mich zu und blickt mit wilden Augen in meine. Mein Herz schlägt dabei so laut, dass ich sogar vergesse zu atmen.
„Viel Glück! Ich werde hier offensichtlich nicht mehr gebraucht, jetzt, wo du da bist, Prinzessin.“ Mit einem fiesen, schiefen Lächeln legt er mir das Geschirrtuch auf die Schulter, dreht sich um und verschwindet.
Noch ehe ich ihn fragen kann, was ich nun tun soll, ist er weg. Obwohl ich richtig Schiss vor ihm hatte, fühle ich mich jetzt, wo er weg ist, keinen Deut weniger verängstigt, als ich mich umsehe. Lautes Gemurmel und neugierige Blicke heften sich auf mich. Hilfe suchend blicke ich mich um, aber ich sehe nichts, woran ich mich festhalten kann. Tief durchatmend nehme ich das nasse Tuch von meiner Schulter und gehe zum Tresen.
„Und wer gibt mir jetzt mein verdammtes Bier?“, will der Kerl von vorhin von mir wissen. Ich starre ihn an und weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Der Schock von gerade eben sitzt noch zu tief. Gott, war dieser Cole wütend.
„Jetzt halt schon die Luft an!“ Eine rothaarige Kellnerin sprintet zur Bar und reicht ihm drei braune Flaschen. „Als hättest du bei uns je verdursten müssen.“ Er lächelt sie an, nimmt die Bierflaschen und wirft ein paar Scheine auf den Tresen, der plötzlich völlig verwaist ist. Was für ein Omen für mich und mein neues Leben als Barbesitzerin. Als wäre ich ein Boxer, der gerade k. o. gegangen ist, setze ich mich auf einen der Hocker und starre die rothaarige Frau vor mir an, um nicht in Tränen auszubrechen.
„Schätzchen, na, komm schon!“ Sie tätschelt mir die Hand. „Cole ist nur sauer, weil er dachte, er könne die Bar nach Bills Tod selbst führen. Er beruhigt sich schon. Glaub mir! Er braucht den Job … und jetzt trink das hier.“ Sie schiebt mir ein Schnapsglas hin. Ich leere es in einem Zug, ohne zu fragen, was sie mir eingeschenkt hat.
Als das Brennen in meiner Kehle nachlässt, huste ich immer noch. Ein perfekter Start in mein neues Leben.
„Scheiße! Das darf doch nicht wahr sein!“
Ein Fischer schüttelt genervt den Kopf, als er hört, wie ich fluche, und verlässt die Strandpromenade, weil er seine Ruhe haben möchte. Ruhe ist so ziemlich das Letzte, was ich empfinde. Ich könnte im Moment die Wände hochgehen oder auf etwas einschlagen. Gerade lief es endlich mal gut für mich. Als Geschäftsführer verdiente ich mehr als bisher und musste nicht länger jeden Dollar zweimal umdrehen. Dann kommt ausgerechnet diese Kleine aus New York an und muss alles vermasseln. Diese Upper-Eastside-Prinzessin ist doch gerade erst aus dem College raus und möchte schon alles an sich reißen, aber nicht mit mir! Nicht nach all der Arbeit.
Ich werde dieser stupsnasigen Göre schon zeigen, wer den Laden schmeißen kann und wer nicht, so wie Bill es wirklich gewollt hätte. Jetzt mal ehrlich, wenn Bill seine Nichte so wichtig war, warum habe ich sie dann noch nie gesehen?
Ja, Bill war ein maulfauler Kerl, der vieles für sich behalten hat, aber das alles stinkt zum Himmel. Vermutlich möchte diese Möchtegern-Barbesitzerin aus dem Blaze eine Touristenabzocke für die Bonzen aus New York machen, aber das werde ich nicht zulassen. Bill würde sich im Grab umdrehen, würde das geschehen. So gut kannte ich den alten Kerl immerhin.
„Ich glaube das alles nicht.“
Mit Wut im Bauch und Angst vor der Zukunft im Kopf setze ich mich auf eine Bank an der Promenade. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Wellen, um das wütende Chaos in meinem Kopf zu entwirren. Normalerweise klappt das, aber heute scheint es irgendwie nicht zu helfen. Kurz denke ich darüber nach, eine der Notfallnummern aus meinem Handy anzurufen. Eine schnelle Nummer mit einer meiner willigen Notfallkontakten würde mir helfen, den ganzen Mist für eine Weile zu vergessen, aber ich bin viel zu wütend, um jetzt einen auf Lover zu machen. Es hilf nichts. Ich muss damit klarkommen. Typisch. Kaum glaubt man, das Leben kann auch mal gut sein, ja, selbst der Verlust eines echten Freundes kann am Ende doch noch etwas Gutes haben, da muss das ganze Universum daherkommen, um dir mächtig eine in die Fresse zu hauen. So zeigt es mir immer wieder meinen Platz auf dieser Welt und dafür hasse ich das verfluchte Universum.
Lilly Blaze, Bills Nichte, will echt die Bar leiten. Ich fasse es nicht. Sie sieht ihm kein Stück ähnlich, aber der Ausweis war echt. Ich erkenne eine Fälschung, wenn ich eine sehe. Sie muss die Tochter seiner Schwester sein, doch der alte Hund hat nie erwähnt, dass seine Schwester eine reiche New Yorkerin ist. Das ist so typisch für ihn.
Eigentlich habe ich keine Wahl. Ich brauche den Job, aber ich will dort verdammt noch mal nicht hin und ihr beim Chefspielen zusehen. Jede Faser in mir wehrt sich dagegen.
Mein tiefes Seufzen verwandelt sich in finster belustigtes Schnauben, wenn ich an die Szene vorhin in der Bar denke, die mir den Arschtritt des Jahres verpasst hat. Als Marty auf die Kleine am Tresen hingewiesen hat, dachte ich echt, das wäre eine Verarsche. Als hätte dieser Hüne sich einen Scherz mit mir erlaubt und eine reiche Streberin der Highschool angeschleppt, um mir eine Szene zu machen, weil ich mit beinahe jeder seiner Eroberungen im Bett war. Immerhin hatte sie eine Leinenhose an in einer Bar und sah aus, als wäre sie zu spät zum Treffen der Evangelikalen gekommen. Ich gebe zu, dass Lilly ganz hübsch ist, das Produkt einer guten Genkombination, aber sie ist alles andere als heiß. Auch wenn ihr Sweater und die komische Jacke nicht verbergen konnten, dass sie eine beachtliche Oberweite besitzt, die bei ihrer Größe von gerade mal einen Meter fünfundfünfzig ins Auge springt. Aber das alles spielt keine Rolle, und ich falle nicht auf diese veilchenblauen Unschuldsaugen rein oder auf die schüchterne Tour, die sie in der Bar abgezogen hat. Schließlich war sie ganz schnell bei der Sache, als es um die Besitzurkunde ging. Vielleicht ist diese Graue-Maus-Aufmachung nur ein Trick, um zu bekommen, was sie will? Wer weiß. Aber da ist sie bei mir an der falschen Adresse. Auf gespielte Unschuld falle ich nicht rein und an echte glaube ich nicht.
Was immer diese Lilly Blaze auch ist, sie hat keine Ahnung, mit wem sie sich eingelassen hat, als sie geglaubt hat, es wäre eine gute Idee, Bills Bar zu führen. Wenn sie bei mir angekrochen kommt – und das wird sie, denn die Kleine hat nie und nimmer Ahnung, wie man so einen Laden schmeißt –, werde ich jede Sekunde davon auskosten und wieder den Platz, der mir zusteht, den ich mir hart erarbeitet habe, einnehmen. Und dann werde ich der Kleinen zeigen, dass es gut für sie ist, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen ist. Sie kann von mir aus die Besitzerin auf dem Papier bleiben, aber ich allein werde die Bar führen, so wie es sein sollte.
Ich drehe mich auf die Seite. Gleißendes Licht blendet mich. Mein Nacken fühlt sich steif an und schmerzt. Langsam richte ich mich auf, um mich umzusehen. Doch auch bei Tageslicht ist die kleine Wohnung deprimierend. Man merkt ihr an, dass ein alleinstehender Mann sie bewohnt hat. Mein Blick wandert in das Schlafzimmer mit dem großen Holzbett. Gestern Nacht konnte ich mich nicht dazu überwinden, in seinem Bett zu schlafen. Selbst nach dem miesen Tag, der hinter mir lag, fühlte es sich falsch an. So bin ich auf der Couch gelandet, nachdem ich in meinen Lieblingspyjama mit den Kuchenstücken geschlüpft war, und habe wie ein Stein geschlafen. Ich hätte mir zumindest ein Kissen holen sollen, dann wäre mein Nacken jetzt nicht ganz so steif.
Während ich in die kleine, offene Küchenzeile schlendere, versuche ich die Geschehnisse von gestern auf die Reihe zu bekommen. Dabei mache ich zwei Feststellungen: 1. Cole, der Barmann, hasst mich. 2. Gina, die rothaarige Kellnerin, ist meine Heldin. Sie hat mir gestern Abend wirklich den Hintern gerettet. Wie ein flinkes Heinzelmännchen mit flotter Zunge und umwerfendem Äußeren hat sie den Laden auf Kurs gehalten. Sie hat Bar und Service in einem erledigt und um Mitternacht verkündet, dass die Sperrstunde aufgrund besonderer Umstände früher gilt. Ich konnte bloß dasitzen und mit offenem Mund zusehen, wie sie eine Fischerglocke mit Schwung läutete und „Last Call for Drink“ ausrief. Das daraufhinfolgende Murren hat sie ohne mit der Wimper zu zucken weggesteckt. Diese Frau ist eine Naturgewalt. Als alle aus der Bar weg waren, hat sie sich zu mir gesetzt, den Kopf geschüttelt und mir und sich selbst einen weiteren Tequila eingeschenkt, den sie in einem geschluckt hat, während ich ewig daran herumgenippt habe.
„Los! Leg dich ins Bett! Ich komme morgen früher. So gegen drei. Das ist eine Stunde bevor die Bar aufmacht. Dann reden wir. Jetzt bin ich echt zu erledigt dazu. Okay?“ Sie öffnete ihren hohen Pferdeschwanz und schüttelte ihr lockiges, rotes Haar aus. Selbst nach dieser Monsterschicht sah sie aus wie ein Kellnerinnen-Model auf einem Hooters-Kalender.
„Okay“, antwortete ich. Irgendwie war ich immer noch wie weggetreten seit dieser Sache mit dem Barmann, diesem Cole.
Nach ewigem Herumkramen in den Schränken finde ich eine Packung Schwarztee. Bill hat nur Kaffee da, den ich leider nicht trinke. Mom und ich waren immer Teetrinker. Als ich den Beutel in das heiße Wasser tauche, vermisse ich sie und unser morgendliches Teeritual wie verrückt. Ich wünschte, sie könnte bei mir sein und mir einen Rat geben, mir sagen, was ich tun soll.
Beim Blick auf die Uhr verschlucke ich mich. Es ist zwei Uhr nachmittags. Ich habe tatsächlich über zwölf Stunden geschlafen. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich so etwas das letzte Mal gemacht habe. Seit ich nicht mehr aufs College ging und mich um Mom und alles andere kümmern musste, begann mein Tag um halb sieben. Jeder Tag hatte eine strikte Routine. Daran konnte ich mich festhalten, es gab mir Sicherheit und mit meiner Organisationsfähigkeit etwas, was mir lag. Aber nun habe ich keine Konstante mehr. Das macht mir Angst, und zugleich fühle ich eine nervöse Aufregung, so wie damals, als ich zum ersten Mal aufs College ging. Wenn ich doch nur ein wenig Ahnung von den Dingen hätte, die von mir erwartet werden. Ich weiß über Bars und Gastronomiebetriebe so gut wie nichts. Ich kann mit Unterstützung eine Steuererklärung machen und auch eine Buchführung dank meiner Kurse, aber von der täglichen Arbeit einer Bar oder gar vom Kellnern habe ich keinen blassen Dunst. Als mein Magen knurrt, suche ich erfolglos etwas zu essen. Bills Kühlschrank ist leer, abgesehen von einem Stück Käse, das beinahe von selbst auf mich zugekommen wäre, wenn ich nicht schnell wieder die Tür geschlossen hätte. Igitt!
Die Bar bietet Snacks und eine kleine Auswahl an Gerichten an, daher müssten in der dazugehörigen Küche Lebensmittel zu finden sein. Ein Käsetoast würde mir reichen. Ich schleiche die Treppe zur Bar hinab und staune. Gina und die anderen haben alles sauber hinterlassen. Die Holzstühle stehen umgedreht auf den runden Tischen und die Oberflächen sind geputzt. Selbst der Boden ist nicht mehr klebrig. Kein Krümel mehr zu sehen. In diesem Licht und dank ihres guten Zustands sieht die Bar mit den klassisch dunklen Holzvertäfelungen gar nicht mal schlecht aus. Wie eines der Irish-Pubs in Manhattan. Nur mit einem maritimen Touch. Schließlich befinden wir uns auf einer Strandpromenade und Sea Creek ist eine Fischerei-Kleinstadt.
Auf einem reichlich verdreckten Gasofen brate ich mir ein Käsesandwich und beiße genüsslich rein. Kauend schlendere ich durch den Barbereich und sehe mir Fotos an den Wänden an. Das Bild von Bill mit dem riesigen Fisch auf dem Arm bringt mich zum Lachen. Er sieht aus, als hätte er im Lotto gewonnen, dabei ist der Fisch gar nicht mal so riesig. Als jemand gegen die Eingangstür klopft, bekomme ich fast einen Herzinfarkt. Ich lege das Sandwich zur Seite und laufe zum Eingang, um nachzusehen, wer das ist.
Ein schniefender, dünner Mann mit Basecap steht vor mir und sieht mich stirnrunzelnd an.
„Ein bisschen spät für das Outfit.“
Meine Wangen brennen heiß, als mir dämmert, dass ich noch immer meinen peinlichen Pyjama anhabe. Ich zwinge mich, nicht an mir hinabzusehen, und blicke stattdessen in das amüsierte Gesicht des Fremden.
„Hallo. Ich bin Lilly.“ Ich strecke ihm meine Hand hin. Er schnaubt und deutet auf das Klemmbrett, das er in der einen Hand hält, während die andere eine Sackkarre festhält.
„Oh. Verstehe. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Wer sind Sie? Und wo zum Teufel ist Cole?“
Mies gelaunt starrt er mich an. Sein Kiefermuskel zuckt.
„Cole ist nicht da. Kann ich Ihnen helfen? Ich bin die neue Besitzerin der Bar: Lilly Blaze.“ Ich strecke mich, um größer zu wirken und um den Anblick des mädchenhaften Pyjamas auszugleichen, der nicht gerade nach einer seriösen Barbesitzerin aussieht.
Der Kerl lacht gurgelnd. „Ja, klar! Und mir gehört ganz Montauk. Bist wohl eine seiner kleinen Eroberungen. Ist er wirklich nicht da?“
Ich soll was sein? Eingeschnappt reiße ich die Augen auf.
„Jetzt hören Sie mal. Ich bin nicht der One-Night-Stand dieses Typen. Ich bin die Besitzerin der Bar und kann das auch beweisen, also sagen Sie mir, was Sie hier wollen … Bitte!“, füge ich gepresst hinzu. Mein Kopf dröhnt. Warum müssen sich alle hier mir gegenüber blöd verhalten?
„Ich bin Getränkelieferant. Mein Name ist Joe und ich habe eine Lieferung für Cole Cortez, den Geschäftsführer des Blaze,