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Wolf Ritscher

Systemische Modelle für die Soziale Arbeit

Ein integratives Lehrbuch für Theorie und Praxis

Unter Mitarbeit von Jürgen Armbruster, Klaus Döhner-Rotter, Karlheinz Menzler-Fröhlich, Werner Müller und Gabriele Rein

Sechste Auflage, 2020

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Sechste Auflage, 2020

ISBN 978-3-89670-881-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8225-2 (ePub)

© 2002, 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

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Inhalt

Vorwort

Einleitung: Zur Einfädelung systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit

1Zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit I: Ein Fallbeispiel aus der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes

1.1Die Beschreibung der familiären Situation

1.2Der Verlauf des Unterstützungsprozesses

2Exkurse zur systemischen Metatheorie

2.1Der Systembegriff: Das Muster, das verbindet, seine Vordenkerinnen und Vordenker

2.2Systemdenken, Ökologie und Sozialarbeit

2.3Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Systembeobachtung, -beschreibung und -erkenntnis

2.3.1Die Einheit von Beobachterin und Beobachtetem und ihre Folge für die Soziale Arbeit

2.4Systemische Perspektiven der Beschreibung sozialer Wirklichkeiten oder: Das System im Kopf der Beobachterin

2.4.1Übergeordnete Definitionen

2.4.2Perspektiven für die systemische Beschreibung sozialer Wirklichkeiten im Überblick

2.4.3Die drei zentralen Perspektiven der Systembeschreibung und Systemanalyse

2.4.4Die drei Kontextperspektiven

3Soziale Kontexte der systemischen Arbeit mit Familien

3.1Das ökosoziale Modell der Systemebenen von Uri Bronfenbrenner im Überblick

3.2Die einzelnen Systemebenen

3.2.1Das Subjekt als psychosomatisches soziales System

3.2.2Das Mikrosystem

3.2.3Das Mesosystem

3.2.4Das Exosystem

3.2.5Das Makrosystem

3.3Die Erweiterung des Makrosystems: Ein Modell der Gesellschaft in Verbindung mit der „Gender“-Thematik

3.3.1Das Modell im Überblick

3.3.2Die Gender-Thematik im Kontext der Gesellschaftstheorie

3.3.3Die Ökonomie

3.3.4Die Politik

3.3.5Kultur, Alltag und soziale Kommunikation

3.3.6Wissenschaft und Technologie

4Familie, familiärer Lebenszyklus und Familiendynamik

4.1Die Familie als besonderes soziales System aus der Sicht der Familiensoziologie und Familiendynamik

4.1.1Die Funktionen der Familie: Sozialisation und Enkulturation, Haushaltsorganisation und soziale Platzierung der Kinder

4.1.2Familienbezogene demographische Daten

4.1.3Sozialisation und Enkulturation aus der Sicht der Familiendynamik

4.2Der Lebenszyklus von Paaren und Familien

4.2.1Grundannahmen des Lebenszyklusmodells

4.2.2Die einzelnen Phasen

4.3Familiendynamik

4.3.1Die Mehrgenerationenperspektive

4.3.2Delegation und Aufträge

4.3.3Die Gerechtigkeitsbilanz für das System und die darauf basierenden Loyalitätsbindungen als existenzielle Ressourcen des Systems

4.3.4Zentrale Ideen, Mythen und Geschichten als Traditionsübermittler

4.3.5Tabus und Geheimnisse, Scham- und Schuldgefühle in der Familie

5Schritte zu einer systemisch begründeten Sozialen Arbeit

5.1Die Beschreibung des Gegenstands der Sozialen Arbeit

5.2Die aus der Gegenstandsbeschreibung abgeleiteten Theoriebereiche der Sozialen Arbeit

5.2.1Lebenslagen und Handlungsspielräume

5.2.2Alltag und Lebenswelt

5.2.3Soziale Netzwerke

5.2.4Integration statt Ausgrenzung

5.2.5Soziale Probleme, Problemlagen und auf sie bezogene Interventionsstrategien

5.2.6Ressourcen, Coping-Strategien, Partizipation und Empowerment

5.3Das Belastungs-Bewältigungs-Paradigma

5.4Arbeitsfeldbezug, Auftragsorientierung und die Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit

5.4.1Der Arbeitsfeldbezug

5.4.2Auftragsorientierung und ihre Realisierung durch Auftragsklärung und Hilfeplan

5.4.3Die primären Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit

5.5Der allgemeine Rahmen für die methodisch gesicherte systemische Soziale Arbeit: Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit, Arbeit in sozialen Organisationen und die Qualitätssicherung

5.5.1Die Basiskompetenzen der Sozialarbeiterin

5.5.2Die Einzelfallhilfe/Einzelfallarbeit (Casework)

5.5.3Soziale Gruppenarbeit

5.5.4Gemeinwesenarbeit (von Werner Müller)

5.5.5Arbeit in sozialen Organisationen (von Werner Müller)

5.5.6Die Qualitätssicherung in der Sozialen Arbeit

5.6Therapie, Beratung, Pädagogik und Sozialarbeit im Rahmen der systemischen Sozialen Arbeit

5.7Systemische Soziale Arbeit konkret: Die Vernetzung verschiedener Teilsysteme des Unterstützungssystems

5.8Die vier Imperative der systemischen Sozialen Arbeit

6Systemische Handlungsrichtlinien und Methoden für die Soziale Arbeit

6.1Methodisches Handeln in der systemischen Arbeit

6.2Systemische Handlungsrichtlinien

6.2.1Hypothetisieren

6.2.2Zirkularität

6.2.3Allparteilichkeit, Neutralität, Respekt und Interesse

6.2.4Kontextualisierung

6.2.5Ressourcenorientierung

6.2.6Auftrags- und Lösungsorientierung

6.2.7Gender-Sensitivität

6.2.8Die Frage nach der „Opfer-Täterin-Beziehung“ bei Akten der Gewalt

6.3Handlungsformen der systemischen Sozialen Arbeit

6.4Ein Orientierungsschema für das Handeln in Familien und anderen sozialen Systemen

6.5Ein Überblick über die Methoden der systemischen Arbeit

6.6Beschreibung der Bereiche und einzelnen Methoden

6.6.1Verbale Methoden

6.6.2Darstellende Methoden

6.6.3Methoden zur Strukturierung des Settings

6.6.4Methoden der Qualitätssicherung

7Zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit II: Beispiele aus Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe

7.1Systemische Soziale Arbeit in der außerstationären Sozialpsychiatrie (von Jürgen Armbruster und Gabriele Rein)

7.1.1Grundannahmen, Grundhaltungen und Handlungsrichtlinien des systemischen Denkens und die praktischen Konsequenzen

7.1.2Systemische Grundhaltungen – Illustriert an einer „Fall“geschichte

7.1.3Systemische (Paar-)Beratung im Sozialpsychiatrischen Dienst

7.2Systemische Praxisreflexion und Qualitätsentwicklung in der Sozialpsychiatrie: Nutzerorientierung und Zielplanung durch gemeinsame Prozessgestaltung im Rahmen von „Kursgesprächen“ (von Karlheinz Menzler-Fröhlich)

7.2.1Strömungen

7.2.2„Kursgespräche“

7.3Systemische Soziale Arbeit in der gemeinwesenorientierten Jugendhilfe: Ein Fallbericht (von Klaus Döhner-Rotter)

7.3.1Ein Fallbericht aus der Praxis des Projektes: Familie K.

Literatur

Sachregister

Namensregister

Über den Autor

Vorwort

Seit mehr als 50 Jahren leben wir Deutschen (West) in einer Demokratie, der bisher längsten in unserer Geschichte. Sie brachte den meisten Menschen einen bislang unbekannten Wohlstand, brachte Rechtssicherheit und eine freie Presse. Aber sie brachte auch neue Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, brachte einen sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel und brachte Informationsüberflutung und Orientierungslosigkeit, was sich nicht zuletzt in immer häufiger zerbrechenden Familien und sich immer ratloser zeigenden Eltern und Erziehern zum Ausdruck bringt.

Und damit ergeben sich gerade für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter neue Auftragslagen, neue Problemsichten und neue Herausforderungen und zeigen sich damit auch nicht wenige (scheinbare oder wirkliche) Widersprüche. So sollen sie etwa ihren Klienten beratend und unterstützend zur Seite stehen, aber auch mit dafür sorgen, dass die Rechte und die Würde einzelner Menschen und Gruppen nicht verletzt werden. Die Schwierigkeiten, die aus einem solchen doppelten Mandat erwachsen können, zeigen sich beispielhaft an einem Geschehen wie dem des sexuellen Missbrauchs.

Denn hier haben sich die in der Sozialarbeit Tätigen etwa zu fragen: Ist der Auftraggeber das missbrauchte Kind, obwohl es diesen Auftrag selbst nicht formulieren kann? Bringen hier einzelne oder alle Familienmitglieder (sei dies offen, sei dies verdeckt) den Auftrag, etwas in ihren Beziehungen zu verändern? Sind gesellschaftliche Institutionen der oder die Auftraggeber? Solche Uneindeutigkeit der Auftragslage spiegelt sich bereits in den unterschiedlichen hier verwendeten Begriffen wie Patient, Klient, Kunde oder auch Auftraggeber wider. Wobei solch unterschiedlicher Wortgebrauch auch eine jeweils unterschiedliche professionelle Beziehung nahe legt. Das spiegelt sich weiter in den unterschiedlichen Begriffen wider, die Tätigkeit und den Aufgabenbereich der Sozialarbeiterinnen und der Sozialarbeiter beschreiben, Begriffe wie Therapie, Beratung, Unterstützung, Hilfe zur Selbsthilfe, Hilfe bei der Mobilisierung von Ressourcen und andere mehr.

Angesichts dieser oft so widersprüchlichen, ja verwirrenden Sach- und Auftragslage vermag gerade der systemisch-therapeutische Ansatz wichtige Orientierungshilfen zu leisten. Diesen Ansatz hat Wolf Ritscher in dem vorliegenden Buch mit großer Sachkenntnis unter Berücksichtigung der Herausforderungen dargestellt, die sich heutigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stellen. Er hat sich diese Arbeit nicht leicht gemacht. Denn auch auf dem Feld der systemischen Therapie lässt sich heute von einer Informationsexplosion sprechen, die den Autor immer wieder vor die Frage stellte: Was ist für die Sozialarbeit wesentlich und wegweisend, und wie lässt sich das möglichst klar vermitteln?

Ich selbst habe bei der Lektüre des Buches einen neuen Respekt nicht nur vor dem Autor gewonnen, der im deutschen Sprachbereich in vorderster Linie vieles zur Entwicklung und Akzeptanz des systemisch-therapeutischen Ansatzes beigetragen hat. Mein gewachsener Respekt gilt auch einem Berufsstand, der wie kaum ein anderer mit den Problemen einer offenen und sich immer schneller wandelnden Gesellschaft konfrontiert ist. Verständlich daher, dass ich dem Buch viele Leser und Leserinnen wünsche.

Heidelberg, im Januar 2002
Helm Stierlin

Einleitung: Zur Einfädelung systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit

Das Welt- und Menschenbild des systemischen Ansatzes weist in vieler Hinsicht eine Überschneidung mit den Grundideen der Sozialen Arbeit auf, und in ihrer Praxis gewinnen die Methoden der systemischen Arbeit eine immer größere Wichtigkeit.

Mit dem vorliegenden Buch soll diese Entwicklung gefördert werden, indem ich in mehreren Schritten die „Einfädelung“ der System- und Familientherapie in die Soziale Arbeit und deren Ausweitung zur systemischen Sozialen Arbeit nachzeichne. Damit möchte ich die bisher oft pragmatisch vollzogene Integration systemischer Denk- und Handlungskonzepte in die Soziale Arbeit der Reflexion und Kritik zugänglich machen.

Die Soziale Arbeit gewinnt durch diese Integration einen einheitlichen theoretischen Rahmen und mithilfe der vielen systemischen Methoden neue Spielräume für ihre Praxis.

Sie lässt sich in fünf Schritten vollziehen.

In einem ersten Schritt (im zweiten Kapitel) werden Soziale Arbeit und System- bzw. Familientherapie unter dem gemeinsamen Dach der systemischen Metatheorie angesiedelt. Damit finden deren Begriffe und Konzepte Eingang in die theoretischen Überlegungen und Praxiskonzepte der Sozialen Arbeit.

Systemtherapie und Soziale Arbeit können sich erkenntnistheoretisch auf eine systemische Sicht der lebendigen Welt verständigen. Die Welt und jede Form sozialer Realität zeigt sich als Beziehungsnetz, Ereignisse als Beziehungsereignisse und Informationen als Beziehungsinformationen. Ich entwerfe deshalb ein allgemeines Modell für die Beschreibung sozialer Systeme. Dessen sechs Perspektiven ermöglichen eine zirkuläre und ganzheitliche Sicht auf soziale Wirklichkeiten und deren Beschreibung.

Mit einem zweiten Schritt (im dritten Kapitel) wechseln wir die Ebene des Zugangs zu sozialen Wirklichkeiten. Von der Beschreibung allgemeiner Prinzipien eines die Wahrnehmung und Beschreibung leitenden systemischen Denkmodells kommen wir zu Modellen, welche die sozialen Kontexte darstellen, in denen Menschen ihr Beziehungsleben gestalten. Dabei orientiere ich mich an dem ökosystemischen Modell von Uri Bronfenbrenner (1978), das um eine spezifische Sicht auf die „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) erweitert wird.

Im dritten Schritt (im vierten Kapitel) wende ich mich der Familie als einem besonderen sozialen System zu. Sie ist das wichtigste Sozialisationssystem und die immer noch bedeutsamste private Lebensform in unserer Gesellschaft. Deshalb bleibt trotz der Entwicklung einer auf viele soziale Systeme anwendbaren Systemtherapie die systemische Familientherapie und Familiensozialarbeit ein eigenständiger Bereich. Innerhalb der Sozialen Arbeit ist der Bezug auf die Familie in der Jugendhilfe zentral, aber auch in anderen Arbeitsfeldern ist sie ein bedeutungsvoller Kontext und muss bei den Interventionen berücksichtigt werden. Dafür ist es notwendig, den Blick auf die Dynamik, die Beziehungsmuster und die Entwicklungsphasen von Familiensystemen zu lenken. Diese Muster bilden das theoretische „Netz“, mit dessen Hilfe die Wirklichkeiten einer Familie hypothetisch „eingefangen“ und aus der Perspektive der Beobachterin rekonstruiert werden können. Die dadurch entstehenden Informationen können für die Auftragsklärung, Zielfindung und Interventionen genutzt werden und sind Teil des Veränderungsprozesses. Gerade an diesem Punkt ist auf den Anfang der Achtzigerjahre vollzogenen Sprung von der Familien- zur Systemtherapie zu verweisen. Entscheidend ist nun nicht mehr das Setting („Therapie findet nur statt, wenn die ganze Familie im Raum versammelt ist“), sondern entscheidend sind die systemischen Modelle im Kopf der Therapeutin bzw. Sozialarbeiterin. Sie ermöglichen den systemischen Blick auf das Problem- und Unterstützungssystem und die „maßgeschneiderte“ Verwendung systemischer Methoden an den entsprechenden Punkten des Unterstützungsprozesses. Das kann in den unterschiedlichsten Settings und Subsystemen geschehen. Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig in der Arbeit mit diskontinuierlichen, chaotischen und unstrukturierten Problemsystemen, die wichtige Adressaten der Sozialen Arbeit sind.

In einem vierten Schritt (im fünften Kapitel) verbinde ich theoretische Konzepte der Sozialen Arbeit, die mit der systemischen Metatheorie vereinbar sind oder – wie bei den Konzepten der Gemeinwesenarbeit – direkt als systemisch bezeichnet werden.

Als Rahmen der dadurch entstehenden systemischen Sozialen Arbeit wähle ich fünf primäre Handlungsbereiche der Sozialen Arbeit: Einzelfallarbeit, Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit, Arbeit in sozialen Organisationen und Qualitätssicherung.

Den Ausgangspunkt meiner zusammenführenden Darstellung bildet eine dem Ausbildungscurriculum für Sozialarbeiterinnen an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen zugrunde gelegte Gegenstandsbeschreibung der Sozialen Arbeit. Dadurch wird die von vielen Kolleginnen befürchtete „Kolonialisierung der Sozialen Arbeit“ durch eine von außen an sie herangetragene „Modetheorie“ verhindert. Die originären Grundlagen der Sozialen Arbeit, d. h. ihre gesellschaftliche Funktion, ihre Adressatinnen, Arbeitsfelder, Ziele, Handlungsbereiche und Handlungsformen bleiben erhalten. Dass sie nun in eine systemische Sicht der Wirklichkeit integriert werden, ist kein Akt der Willkür, denn ich behaupte, dass die Sozialarbeit in ihrem Kern immer schon eine systemische Orientierung hatte, um ihrem zentralen Auftrag – der Lösung bzw. Milderung von materiellen und kommunikativen Problemen im Feld des Sozialen – gerecht zu werden. Mein ehemaliger Hochschulkollege Werner Müller hat für dieses Kapitel die Teile über Gemeinwesenarbeit und Arbeit in sozialen Organisationen verfasst und das gesamte Kapitel kritisch gegengelesen. Dafür danke ich ihm sehr herzlich.

Mit einem fünften Schritt (im sechsten Kapitel) kommt diese Entdeckungsreise zu ihrem vorläufigen Ende. Hier werden die in der systemischen Sozialen Arbeit verwendbaren Methoden und Handlungsrichtlinien vorgestellt. Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht von Therapie oder Sozialarbeit, sondern nur allgemein von Systemischer Arbeit; in ihr sind Sozialpädagogik, Therapie, Beratung und materielle Unterstützung als Teilbereiche enthalten. Zusammen mit den im selben Kapitel dargestellten originären Methoden der sozialen Arbeit ermöglichen sie eine theoretisch reflektierte und methodisch gesicherte Praxis der systemischen Sozialen Arbeit. Ihre Ziele heißen Empowerment, Hilfe zur Selbsthilfe und die Erschließung der dafür notwendigen Ressourcen.

Die Falldarstellung im ersten Kapitel sowie die Praxisbeschreibungen des siebten Kapitels zeigen, wie systemische Metatheorie und Methoden mit der klassischen Sozialen Arbeit zu einer einheitlichen praxisrelevanten Konzeption zusammenwachsen.

Für die Beiträge des siebten Kapitels danke ich Jürgen Armbruster und Gabriele Rein vom Sozialpsychiatrischen Dienst Stuttgart-Freiberg, Karlheinz Menzler-Fröhlich vom Wohnverbund Stuttgart-Nord und Klaus Döhner-Rotter vom Projekt Jugendhilfe im Lebensfeld (ProJuLe) in Bad Rappenau sehr herzlich. Die Falldarstellung des ersten Kapitels entstammt einem Video, das im Rahmen eines von mir geleiteten Projektes an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen entstanden ist. Dieses Werkstattvideo zeigt die praktische Umsetzung der in diesem Buch entfalteten Modelle für die Soziale Arbeit (zur Bezugsquelle siehe Kap. 1, Anm. 1).

Von der systemischen „Einrahmung“ der Sozialen Arbeit profitieren beide Seiten. Die Einführung der systemischen Metatheorie schärft den Blick der Sozialarbeiterinnen für Netzwerke, kommunikative Rückkoppelungseffekte (Zirkularität), den Beziehungssinn von Symptomen und Ressourcen, die das System selbst für die Lösung seiner Probleme aktivieren kann. Die Erschließung des Methodenspektrums der Systemtherapie vermittelt den Sozialarbeiterinnen Kompetenzen, sich an das Problemsystem anzukoppeln und gemeinsam Lösungen zu finden, die neue Entwicklungschancen und Handlungsspielräume eröffnen.

Die Integration systemischer Theorie und Praxis in die Soziale Arbeit hat auch einen rückbezüglichen Effekt. Die System- und Familientherapie wird im ursprünglichen Sinn des Wortes politisch und schärft den Blick für die Lebenswelt ihrer Auftraggeberinnen. Überschaubare Mikrosysteme wie die Familie werden nun als Teil des Gemeinwesens (griechisch polis) wahrgenommen. Der Zugang zu seinen infrastrukturellen Angeboten (Schule, Kindergarten, soziale Dienste, aber auch Verkehrsmittel, Müllabfuhr, Krankenhäuser usw.), informellen (z. B. Nachbarschaft, Freunde) und formalen Netzwerken (z. B. Vereine, Kirchengemeinden, Parteien) ist ein wesentlicher Faktor für den „gelingenden Alltag“. Ist der Zugang zu ihnen blockiert oder erschwert, geraten die betreffenden Mikrosysteme in die soziale Isolation: Sie werden zu „geschlossenen Systemen“, deren Krisen nicht mehr im Austausch mit der Umwelt bewältigt werden können. So erweitert sich der Rahmen von Problemdefinitionen: Neben kommunikativen Problemen werden nun auch „Ausstattungsprobleme“ und damit soziale Disparitäten ein Teil des therapeutischen Diskurses.

Ansätze zur Beschreibung und Erklärung lebender Systeme fördern den theoretischen Narzissmus. Sie suggerieren die Möglichkeit, den systemischen Ansatz als Universaltheorie zu verstehen und alle Phänomene des Lebens unter ihren begrifflichen Hut zu bringen. Ich halte das für ein Missverständnis, denn eine solche Perspektive ist zentralistisch und ausgrenzend gegenüber anderen Theorieansätzen. Systemisches Denken hingegen favorisiert Pluralismus, Selbstorganisation kleiner Einheiten, innere Differenzierung durch Inklusion (Einbeziehung) statt Exklusion (Ausgrenzung). Deshalb halte ich es für wenig förderlich, mit der systemischen Keule nach anderen Theorie-Praxis-Ansätzen, z. B. der Psychoanalyse, zu werfen – die Keule könnte sich als Bumerang erweisen. Zu wünschen ist vielmehr, dass der systemische Ansatz seine eigenen weißen Flecke auf der Landkarte benennt und bereit ist, diese durch andere Theorieansätze erforschen und beschreiben zu lassen. Ich denke hier an den ganzen Bereich der intrapsychischen Prozesse, des individuellen und des persönlichen Unbewussten. Warum muss eine systemische Traumtheorie erfunden werden, wenn es hierfür schon ausdifferenzierte und plausible Ansätze bei Freud und Jung gibt?

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass ich in dieser Arbeit Systeme beschreibe, in denen Menschen des christlich-abendländischen Kulturkreises ihren Alltag leben. Über die sozialen Systeme anderer Kulturkreise stehen mir aufgrund meiner Informationsdefizite keine Aussagen zu.

Es gibt einen weiteren weißen Fleck auf der systemischen Landkarte, den ich in den Begriff der menschlichen Existenzialien fassen möchte. Hier denke ich u. a. an:

das Leben als ein „Leben zum Tod“ (Heidegger 1967);

die menschliche Sehnsucht nach dem Paradies, der Erlösung und der Transzendenz, die sich in allen Kulturen dieser Welt als spirituelle Kraft findet;

die soziale Trias von „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ (Habermas 1971);

das auf eine humanistische Selbstverwirklichung des Menschen gerichtete „Prinzip Hoffnung“ (Bloch 1973);

und den existenziellen Glauben an die einsam machende, Enttäuschungen notwendig hervorrufende und dennoch lebensnotwendige Freiheit der Wahl in der persönlichen Existenz. Gäbe es diese nicht, dann gäbe es auch keine persönliche Verantwortung für das eigene Handeln, es gäbe weder Schuld noch Scheitern. Dann aber hätte sich der Mensch als Gott gesetzt, als vollkommenes Wesen, dessen Worte die Welt erschaffen können. Zwölf Jahre Führerkult in Deutschland haben gezeigt, dass ein solcher Weg in Auschwitz endet.

Systemische Theorie sollte also in ihrem Weltbild Platz lassen für tiefenpsychologische, philosophische, spirituelle, gesellschaftskritische Diskurse und sie als eigensinnige Partner bei der Beschreibung der Welt und dem Handeln in ihr willkommen heißen.

Ich habe die Ergebnisse dieser nicht systemischen Theorien als Kontextperspektiven im zweiten Kapitel, bei meinen gesellschaftstheoretischen Überlegungen im dritten Kapitel und den Überlegungen zum familiären Lebenszyklus im vierten Kapitel mit einbezogen.

Zum Schluss noch zwei Anmerkungen:

Ich verwende im folgenden Text die Begriffe Systemtherapie und systemische Therapie gleichbedeutend.

Wenn es um Personen geht, verwende ich überwiegend die weibliche Schreibweise. Ich möchte damit die vielen Bemühungen in unserem Feld und der Gesellschaft für eine Gleichstellung der Geschlechter unterstützen. Bislang findet sich in fast allen Fachtexten die männliche Schreibweise für beide Geschlechter, und es fehlt inzwischen fast nirgends mehr die Anmerkung, dass die Frauen dabei als eigenständige Personen mitzudenken seien. Aus Gründen der Gerechtigkeit, die in der Sozialen Arbeit und Familientherapie doch eine große Rolle spielt, drehe ich den Spieß einmal um; denn die Frauen befinden sich sowohl bei den Profis als auch bei den Auftraggeberinnen der Sozialen Arbeit und Systemtherapie in der Mehrzahl. Wenn man im Text darüber stolpert, weil es so ungewohnt ist, wird man merken, wie tief die männliche Dominanz noch in unseren Köpfen verankert ist und durch die Sprache verfestigt wird. Da tut ein „Gegen-den-Strich-Bürsten“ gut. Die männliche Form wähle ich nur dort, wo es um konkrete Personen männlichen Geschlechts geht, zum Beispiel mich selbst.

Ich danke allen, die mich bei der Erstellung dieses Buches unterstützt haben: dem Team des Carl-Auer-Systeme Verlags und hier vor allem den Lektoren Ralf Holtzmann und Uli Wetz –, Satu und Helm Stierlin für ihr motivierendes Interesse auch in kritischen Phasen des Schreibens, und last, but not least, meiner Familie. Der Titel des Buches entstand als Gemeinschaftswerk bei einer Fahrt in die Sommerferien – mitten in die schöne Schweiz.

1Zur Praxis der systemischen Sozialen Arbeit I: Ein Fallbeispiel aus der Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes

Das folgende Beispiel entnehme ich einem Lehrvideo, das eine studentische Projektgruppe zusammen mit mir erstellt hat. Die anonymisierte und inhaltlich auch veränderte „Fall“geschichte stammt aus der Praktikumserfahrung eines Studenten.1

1.1Die Beschreibung der familiären Situation

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Abb. 1: Das Genogramm der Familie Beierle

Ein 50-jähriger Vater, von Beruf Lehrer, der aufgrund von immer noch bestehenden psychosomatischen Beschwerden vor zwölf Jahren frühpensioniert wurde, lebt mit seinem 15-jährigen Sohn Manuel zusammen in einem Haushalt. Die finanziellen Mittel sind knapp, sichern aber eine Lebensführung oberhalb der Sozialhilfegrenze. Der Vater versucht, durch englisch-deutsche Übersetzungen zusätzlich Geld zu verdienen. Hilfreich wäre dafür ein besserer Computer, den er sich aber nicht leisten kann. Die Mutter hat sich vor ca. zehn Jahren von ihrem Mann getrennt, lebt heute mit einer neuen Familie in einer 400 km entfernten Großstadt und hat nur sporadische Kontakte zu ihrem Sohn aus der ersten Ehe. Auf Unterhaltszahlungen hat der Mann wegen massiver Konflikte mit seiner Ex-Frau verzichtet. Manuel, der von seinem Vater als sehr intelligent und intellektuell interessiert beschrieben wird, verweigert seit fast einem Jahr den Schulbesuch und hat auch sonst kaum soziale Kontakte. Er liest viel, auch anspruchsvolle Literatur, und verbringt viel Zeit mit seinem Computer. Auch er wünscht sich einen leistungsfähigeren Rechner. Sein Berufswunsch ist es, als Erfinder von Computerspielen Geld zu verdienen und gleichzeitig Spaß zu haben. Dafür, so meint er, brauche er keine formale Schulausbildung. Die Schule mag er auch deshalb nicht besuchen, weil er das Opfer von Hänseleien und Gewalttätigkeiten der Mitschüler war. (Manuels Mutter stammt aus Südostasien, und er eignet sich allein schon wegen seines Aussehens als Zielscheibe für Gewalt und Ausgrenzung durch die Mitschüler.) Er geht nur selten aus dem Haus. Die Schule hat bisher noch keine Zwangsmittel angewendet, sondern suchte in Zusammenarbeit mit dem Vater nach einer Lösung ohne Zeitdruck und juristische Pression. Der Vater selbst hält ständig nach Möglichkeiten für einen geeigneten und offiziell anerkannten Lernkontext für Manuel Ausschau. Aber Manuel hat alle bisherigen Angebote ausgeschlagen. Die neuste Idee heißt Hausunterricht; dem würde er sich nicht widersetzen. Manuel wurde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Diese schlug eine längerfristige stationäre Therapie vor, weil sie die Diagnose „Schulphobie“, „soziale Ängste“, „neurotische Depression“ in den Kontext einer intensiven Symbiose zwischen Vater und Sohn stellte, die durch den stationären Aufenthalt gelockert werden sollte. Der Sohn verweigerte sich auch dieser Therapieperspektive, der Vater zeigte sich ebenfalls abwehrend. Im Grunde hatten sich beide im „trauten Unglück zu zweit“ eingerichtet und agierten unter der unausgesprochenen Annahme: „Wenn es das Problem mit der Schule nicht gäbe, könnte doch alles so bleiben, wie es ist.“ Der Vater hat sich jetzt mit der Bitte um Unterstützung bei der Schulproblematik an das Jugendamt gewandt.

1.2Der Verlauf des Unterstützungsprozesses2

Das erste Gespräch mit der zuständigen Bezirkssozialarbeiterin und einer ihr zugeordneten Praktikantin findet im Amt statt. Hier handelt es sich um die settingstrukturierende Methode der Teamarbeit.

Manuel ist nicht mitgekommen. Der Vater ist sichtlich zufrieden, eine Gesprächspartnerin für seine Sorgen gefunden zu haben. Ein weiteres Gespräch soll in der Wohnung stattfinden, damit die Hemmschwelle für Manuels Teilnahme verringert würde. Die systemischen Methoden des „verlängerten Erstgespräches“ und des „Settingwechsels“ werden eingeführt.

Als dieses geplante Gespräch stattfindet, kommt Manuel tatsächlich nach einiger Zeit dazu. Das Gespräch dient aus der Sicht der Sozialarbeiterin einerseits der Beziehungsfindung (Joining), andererseits der Informationsgewinnung zur Hypothesenbildung. Es wird von Anfang an versucht, die Richtlinie „Hypothesenbildung“ zu realisieren. Bei der Erkundung der mikro- und mesosystemischen Beziehungen wird deutlich, dass es einen kontinuierlichen, wenn auch zeitlich nicht sehr dichten Kontakt zur Oma (Mutter des Vaters) gibt und zu einer „Bekannten“ des Vaters. Über diese Beziehung spricht er aber nur sehr widerwillig. Die große Nähe zwischen Vater und Sohn (von der Psychiatrie als pathogene Symbiose eingeschätzt) wird erkennbar und von der Sozialarbeiterin als Ressource für künftige Veränderungen positiv konnotiert. Gegenüber der Aussage des psychiatrischen Gutachtens wird ein Reframing vorgenommen, das der Ressourcenorientierung der systemischen Arbeit entspringt. Um diese Nähe auch für Erkundungen des sozialen Umfeldes zu nutzen – denn gemeinsam gehen Vater und Sohn fast nie aus dem Haus –, schlägt die Sozialarbeiterin eine halbstündige Pause vor. In diesem Fall wird die Pause als settingstrukturierende Methode genutzt. Vater und Sohn sollen während dieser Zeit zusammen spazieren gehen und miteinander über eine zuvor im gemeinsamen Gespräch formulierte Frage, „Wenn Manuel öfters die Großmutter besuchen möchte, auf welche Weise kann das geschehen?“, reden. Die Sozialarbeiterinnen führen eine Hausaufgabe für die Pause ein. Über das Ergebnis ihres Gesprächs soll dann nach der Pause gesprochen werden. An dieser Stelle wird die systemische Doppelperspektive von „Diagnose“ und „Intervention“ genutzt: Schon während der „diagnostischen“ Hypothesenbildung entsteht eine Intervention – Pause und Hausaufgabe, die dann wieder „diagnostisch“ unter der Frage „Welche innerfamiliären Ressourcen sind auffindbar und ausbaubar?“ genutzt wird.

Es wird ein weiter Hausbesuch verabredet. Vor diesem beraten sich Sozialarbeiterin und Praktikantin mit einem erfahrenen Kollegen (Methode der kollegialen Supervision) und bilden Hypothesen für das nächste Gespräch. Das Fünfphasenmodell des systemischen Interviews wird an die Realität der Sozialen Arbeit angepasst: Die erste Phase der gemeinsamen Hypothesenbildung im Team findet nicht direkt vor dem Familiengespräch statt.

Das nächste Gespräch dient der Informationsgewinnung bezüglich der Dreiecksbeziehung Vater – Sohn – entfremdete Mutter; hier kommt das familiendynamische Triangulationsmodell von Bowen (1972) und Minuchin (1977) ins Spiel. Auch die Schulproblematik wird nun thematisiert. Erst jetzt, nachdem schon ein Joining (Minuchin) der Sozialarbeiterinnen stattgefunden hat, wird das aktuelle Problem genauer besprochen. Denn Manuel hat eine erste Ahnung davon entwickelt, dass ein Ansprechen der Schulproblematik – die Inhaltsseite der Kommunikation – durch die Sozialarbeiterin keine Disqualifikation auf der Beziehungsebene – z. B.: „Was bist du für ein Schlappschwanz, dass du dich so vor dem rauen Umgangston in der Schule fürchtest?“ – mit sich bringt. Hier wir die systemische Doppelperspektive von Inhalts- und Beziehungsaspekt jeder Kommunikation ernst genommen.

In der auf diese Sitzung folgenden kollegialen Supervision wird eine zentrale familiendynamische Hypothese gebildet: Vater und Mutter hatten ihre Beziehung mithilfe eines komplementären Beziehungsmusters organisiert, innerhalb dessen der Vater in der (scheinbar) inferioren Position des „placating“ (Satir 1989), die Mutter in der (scheinbar) dominanten Position des „blaming“ (ebd.) agierte („scheinbar“ bezieht sich auf die unauftrennbare Dialektik von Dominanz und Inferiorität in komplementären Beziehungsmustern). Aus Enttäuschung über ihren „lebensuntüchtigen“ und jeder Konfrontation aus dem Wege gehenden „schwachen“ Mann hatte sie sich von ihm getrennt und das ca. siebenjährige Kind als Ausgleich zurückgelassen. Dank dieser zusätzlichen Übernahme der Mutterfunktion konnte der Vater die Trennung einigermaßen überstehen. Der Kontakt zwischen Mutter und Sohn dünnte aus, weil er immer vom Konflikt Mutter – Vater überschattet war. Der Vater wiederum interpretiert den nur sporadischen Kontakt der Mutter zum Sohn als Desinteresse. Der Sohn kann aus Loyalität zum Vater dem nicht widersprechen und auch von sich aus keine weit reichenden Kontaktversuche bezüglich der Mutter starten. Seine Schulverweigerung ergibt Sinn, wenn sie als Loyalität gegenüber dem Vater verstanden wird. Ginge er in die Schule, würde der Vater noch weiter vereinsamen (eventuell würden auch Suizidgedanken entstehen); möglicherweise würde durch die Leistungen des Sohnes und seine sozialen Kontakte dann auch das Versagerimage des Vaters verstärkt. Hier findet eine Hypothesenbildung auf der Grundlage der familiendynamischen Konzepte „unsichtbaren Bindungen“ (Boszormenyi-Nagy u. Spark 1981) und der „Delegation“ (Stierlin 1982) statt. Als Folge dieser Hypothese wurden erste Interventionen besprochen. Die Achse Vater – Sohn sollte erhalten bleiben, dem Sohn sollte über andere familiäre (Oma, Mutter) und außerfamiliäre Kontakte (einen Jugendlichen im gleichen Alter, regelmäßige Kontakte mit der Praktikantin auch außerhalb der Wohnung) „der Schritt ins Leben“ erleichtert werden. Dem Vater sollte gleichzeitig eine Kompensation für die bei erhöhter Mobilität des Sohnes zeitweilig geringer werdende Nähe angeboten werden. Diese sollte durch den Ausbau seiner ihn interessierenden Übersetzungstätigkeiten angepeilt werden. Um einen neuen Computer kaufen zu können, sollten innerfamiliäre Ressourcen (z. B. bisher verschmähte finanzielle Unterstützungsangebote der Oma) und vorhandene Zeitkapazitäten des Vaters für mehr Übersetzungsarbeit genutzt werden; ein Teilbetrag sollte durch den Antrag bei einer Familienförderungsstiftung beigebracht werden. Die Schulfrage sollte u. a. Teil des jetzt anstehenden ersten Hilfeplangesprächs sein, zu dem die Rektorin der Schule eingeladen werden sollte. Das Hilfeplangespräch sollte im Amt stattfinden, damit sein formaler Charakter hervorgehoben würde. Der Hilfeplan rückt nun ins Zentrum; in ihm sollen weitere Maßnahmen festgelegt werden. Zum Beispiel die Erweiterung des Unterstützungssystems durch den punktuellen Einbezug von Großmutter, Mutter und Rektorin; die Etablierung eines formalen aus Manuel und Praktikantin gebildeten Settings – Subsystems des Unterstützungssystems – als Vorform einer ISE-Maßnahme nach § 35 Kinder- und Jugendhilfegesetz (ISE = intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung); materielle und kommunikative Unterstützung bei der Beschaffung eines neuen Computers als dinglicher Metapher für die Hoffnung auf eine erwünschte und dennoch ängstigende Veränderung; die Einführung der den Schulbesuch enthaltenden Metapher „Sprung ins Leben“.

Manuel muss nun zum ersten Mal ins Amt, also die schützende Familienhöhle zusammen mit dem Vater verlassen.

Im Hilfeplangespräch wird mit der Rektorin eine Verlängerung der bisherigen Schonfrist bis zu den Sommerferien vereinbart. Bis dahin soll statt des „geraden Weges“ in die Schule der „Umweg“ über die oben skizzierten sozial aktivierende Maßnahmen versucht werden. In drei Monaten sollte ein zweites Hilfeplangespräch zur Bilanzierung des bis dahin begangenen Umweges stattfinden. Der Hilfeplan wurde dann festgelegt und von allen Beteiligten unterschrieben. Der Hilfeplan wird stets festgelegt; seine Erstellung mit allen relevanten Personen und seine Fortschreibung ist eine zentrale Methode der Jugendhilfe. Eine neue Metapher – „der Umweg“ – wird eingeführt, um den Veränderungsdruck abzumildern.

Im Folgenden fand dann ein Treffen zwischen Manuel und der Praktikantin statt, bei dem mithilfe des Familienbretts mögliche Zukünfte mit ihren Konsequenzen für die Gegenwart vorweggenommen wurden. Das Familienbrett als darstellende Methode, hypothetische Fragen als verbale Methode und Zeit als soziales Konstrukt werden eingeführt.

In einem Gespräch mit Großmutter, Vater und Manuel wurde ein etwas häufigerer Kontakt zwischen allen drei Familienmitgliedern besprochen – Stichwort „Keller ausmisten“ – und gemeinsam das Familiengenogramm erstellt. Die Beziehung innerhalb des Dreigenerationensystems wird durch Hausaufgaben und den gemeinsamen Blick auf die Familiengeschichte aktiviert. Das Genogramm ist in diesem Sinne eine Interventionsmethode; es erbrachte aber zugleich als „diagnostische“ Methode Informationen über bisher nicht genannte Familienmitglieder.

Zu einem weiteren Gespräch wurde die Mutter eingeladen. Trotz der verständlichen Widerstände des Vaters und einer offenkundigen Wut der Mutter auf ihren Ex-Mann konnte die Beziehung Mutter – Sohn ein wenig von den Beziehungen Vater – Sohn und Mutter – Vater abgekoppelt werden. Es wurde ein neuer Besuch von Manuel bei seiner Mutter und ihrer neuen Familie vereinbart. Dieses Gespräch war durch eine emotionale Intensität gekennzeichnet, die in manchen „offiziellen“ Therapien kein einziges Mal erreicht wird.

Die Verhakung des Sohnes in der konflikthaften Beziehung von Vater und Mutter – die so genannte Triangulierung – und seine Funktionalisierung für den immer noch bestehenden gegenseitigen Ablösungskampf der Eltern konnte gelockert werden. Die therapeutische Arbeit richtet sich nicht auf die Verbesserung der Elternbeziehung oder das persönliche Wachstum der Eltern, sondern auf die Unterstützung des Sohnes durch seine Mutter – ganz im Sinne der Förderung des Kindeswohles.

In einem weiteren Hilfeplangespräch wurden zwar erhebliche Veränderungen festgestellt, aber Manuel war immer noch nicht bereit, die reguläre Schule zu besuchen. Um den positiven Veränderungsprozess nicht zu stoppen, kam man überein, nach einer anderen Beschulungsform zu suchen, bis Manuel über weitere Schleifen des Umweges die Schule wird betreten können.

Anmerkungen

1 Der nachfolgend beschriebene Hilfe- bzw. Unterstützungsprozess, den die Familie Beierle und der Allgemeine Soziale Dienst gemeinsam gestalteten, ist in einem Lehrvideo dargestellt, das eine Projektgruppe an der Hochschule für Sozialwesen zusammen mit mir als Projektdozent erstellt hat. Wir haben für die Darstellung des Hilfeprozesses das Medium der Rollenspiele genutzt. Das Video kann zusammen mit einer Broschüre unter folgendem Titel bezogen werden: Wolf Ritscher (Hrsg.) et al. (2000): Die Beierle-Saga oder: Der Sprung ins Leben. Ein Lehrvideo zur Praxis der Systemischen Sozialen Arbeit mit Familien. Erstellt von der Projektgruppe „Systemische Soziale Arbeit“ an der Hochschule für Sozialwesen Esslingen. Esslingen (Verlag der Hochschule für Sozialwesen). Bezugsadresse: Verlag der Hochschule für Sozialwesen Esslingen, z. Hd. Frau S. Hultenlocher, Flandernstr. 101, 73732 Esslingen (E-Mail: hulo@vw.hfs-esslingen.de).

2 Die kursiv gedruckten Ausdrücke verweisen auf theoretische und praktische Konzepte, die im weiteren Verlauf des Buches, vor allem im zweiten, fünften und sechsten Kapitel, dargestellt werden.

2Exkurse zur systemischen Metatheorie

2.1Der Systembegriff: Das Muster, das verbindet, seine Vordenkerinnen und Vordenker

Das Ziel meiner Arbeit ist es, die systemische Familientherapie theoretisch und praktisch in die Soziale Arbeit „einzufädeln“ und beide unter dem Dach des Systemkonzeptes zu verbinden. Das System als ein hypothetisches Konstrukt1 und das darauf basierende Modell sozialer Systeme ist das beide verbindende Muster (siehe Bateson 1982, S. 15). Es eignet sich hierfür schon deshalb besonders gut, weil die Systemtheorie sich von Anfang an quer zur klassischen Einteilung der Wissenschaften in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelte und statt deren Unterschiedlichkeit den gemeinsamen erkenntnistheoretischen Rahmen betonte.

Es waren Vertreterinnen aus allen drei klassischen Wissenschaftsbereichen, die teilweise parallel, teilweise in einem gemeinsamen Diskurs an diesem die Einzelwissenschaften übergreifenden Modell gearbeitet haben (vgl. Capra 1996):

Der Biologe Ludwig von Bertalanffy – er schuf das Konzept des „Fließgleichgewichtes“.

Der Mathematiker Norbert Wiener; er prägte den Begriff „Kybernetik“, der in den legendären Sitzungen der Macy-Gruppe zu einem hoch differenzierten Modell systemischer Kommunikation weiterentwickelt wurde.

Gregory Bateson, der als Biologe und Anthropologe zusammen mit seiner damaligen Frau, der Anthropologin und Psychologin Margret Mead, Feldforschungen bei Südseestämmen durchführte und das Konzept der „symmetrischen, komplementären und reziproken Beziehungsmuster“ begründete. Als einer der Pioniere der Familientherapie erarbeitete er maßgeblich das Konzept des „Double-bind“ und formulierte grundlegende Überlegungen zur Überwindung der cartesianischen Geist-Körper-Spaltung.

Margret Mead, die u. a. durch ihre die Beziehung der Geschlechter thematisierenden ethnologischen Feldforschungen im Südseegebiet und ihre sozialpsychologischen Studien berühmt geworden ist.

Walter Cannon, ein Hirnphysiologe, der den Begriff der „Homöostase“ schuf. Damit ist der Prozess der Selbstregulierung gemeint, „der es Organismen erlaubt, einen Zustand des dynamischen Gleichgewichtes zu erhalten, wobei ihre Variablen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen schwanken“ (Capra 1996, S. 58).

Ilya Prigogine, ein Chemiker, der mit dem Konzept der „dissipativen Strukturen“ die Entwicklung von Systemen beschrieb, die aus stabilen Zuständen heraustreten, in einem instabilen Zustand ihre bisherige Ordnung auflösen und eine neue schaffen, durch die sie wieder in einen neuen stabilen Zustand zurückkehren. Mit diesem Konzept wurde eine neue Sicht der Beziehung von Ordnung und Chaos möglich.

Die Gestaltpsychologie der Zwanzigerjahre (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka); sie erarbeitete, ausgehend von dem Satz des Philosophen Christian von Ehrenfels, „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“, das Konzept einer ganzheitlichen Wahrnehmung.