Horror der Philosophie
Vorwort
Wolken des Nichtwissens
I. Drei quaestiones zur Dämonologie
Quaestio I – Über die Bedeutung des Wortes »Black« in Black Metal
Quaestio II – Über die Frage, ob es Dämonen gibt und wie man sie erkennt
Quaestio III – Über Dämonologie und die Frage, ob sie ein seriöses Studiengebiet ist
II. Sechs lectiones über okkulte Philosophie
Präambel: Über Agrippas De occulta philosophia
1. Marlowes Doctor Faustus ~ Goethes Faust I
2. Wheatleys Diener der Finsternis ~ Blishs Der Hexenmeister
3. Hodgsons Carnacki, der Geisterdetektiv ~ »The Borderlands« (Outer Limits)
4. Lovecrafts »Vom Jenseits« ~ Itōs Uzumaki
Exkurs über Dünste und Absonderungen
5. Shiels Die purpurne Wolke ~ Hoyles Die schwarze Wolke ~ Ballards Der Sturm aus dem Nichts
6. Caltiki – Rätsel des Grauens ~ XX unbekannt ~ Leibers »Der Schwarze Gondoliere«
Addendum: Über Carl Schmitts Politische Theologie
III. Neun disputationes über den Horror der Theologie
»Das subharmonische Raunen schwarzer tentakeliger Leeren«
Anmerkungen
Literatur
Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es
im Ganzen und Allgemeinen übersieht
und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt,
eigentlich immer ein Trauerspiel;
aber im Einzelnen durchgegangen,
hat es den Charakter des Lustspiels.
~ Arthur Schopenhauer
… leiblich Nirgendwo ist geistig überall.
… Nimm keine Rücksicht darauf, daß deine Sinne
nichts mit diesem Nichts anfangen können,
denn ich liebe es um so mehr.
~ Die Wolke des Nichtwissens
Die Welt wird zunehmend undenkbarer – eine Welt der planetaren Katastrophen, aufkommenden Pandemien, tektonischen Verschiebungen, seltsamen Wetterphänomene, ölgetränkten Meereslandschaften und der stets im Hintergrund lauernden Gefahr des Aussterbens. Ungeachtet unserer täglichen Sorgen, Wünsche und Begehren wird es immer schwieriger, die Welt, in der wir leben und deren Teil wir sind, zu begreifen. Sich mit dieser Idee auseinanderzusetzen bedeutet, an eine absolute Grenze dessen zu stoßen, was wir überhaupt über die Welt verstehen können – eine Idee, die seit Langem ein zentrales Motiv des Horrorgenres ist.
Das Ziel des vorliegenden Buches ist die Erkundung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Horror mit Hilfe dieses Motivs der »undenkbaren Welt«. Genauer gesagt, werden wir die Beziehung zwischen der Philosophie, die Überschneidungen mit einer Reihe von angrenzenden Feldern (Dämonologie, Okkultismus und Mystik) hat, und dem Genre des übernatürlichen Horrors erforschen, wie es sich in der Literatur, im Film, in Comics, in der Musik und in anderen Medien zeigt. Unter dieser Beziehung zwischen Philosophie und Horror ist nun freilich keine »Philosophie des Horrors« zu verstehen, welche das literarische oder filmische Horrorgenre als ein strenges formales System vorführen würde. Wenn überhaupt, so ist eher das Gegenteil gemeint, nämlich der Horror der Philosophie: die Isolierung jener Momente, in denen die Philosophie ihre eigenen Beschränkungen und Grenzen offenbart, in denen das Denken auf rätselhafte Weise dem Horizont seiner eigenen Möglichkeit begegnet – dem Gedanken des Undenkbaren, den die Philosophie nicht anders als durch eine nichtphilosophische Sprache aussprechen kann. Das Genre des übernatürlichen Horrors ist ein privilegierter Ort, an dem dieser Gedanke des Undenkbaren auftritt. Was wir heute als übernatürlichen Horror betrachten, wäre in früheren Zeiten durch die Sprache der Dunkelheitsmystik oder der negativen Theologie beschrieben worden. Um Philosophie und Horror miteinander in Beziehung zu setzen, bediene ich mich in diesem Buch der Idee der »Welt«. Doch die Welt kann vieles bedeuten: von der subjektiven Erfahrung des Lebens in der Welt bis zur objektiven, wissenschaftlichen Untersuchung geologischer Bedingungen. Die Welt ist menschlich und nichtmenschlich, anthropozentrisch und menschenunähnlich und manchmal sogar menschenfeindlich. Eine der größten Herausforderungen, vor denen die Philosophie heute steht, liegt wohl darin, die Welt, in der wir leben, als eine menschliche und nichtmenschliche Welt zu begreifen – und dies politisch zu erfassen.
Einerseits wird uns mehr und mehr bewusst, dass die Welt, in der wir leben, eine nichtmenschliche, eine äußere Welt ist, die in den Folgen des globalen Klimawandels, in Naturkatastrophen, in der Energiekrise und im fortschreitenden weltweiten Artensterben zutage tritt. Auf der anderen Seite hängen alle diese Folgen direkt und indirekt damit zusammen, dass wir nun einmal in dieser nichtmenschlichen Welt leben und ein Teil von ihr sind. In die Herausforderung ist somit ein Widerspruch eingebaut – wir können nicht umhin, uns die Welt als eine menschliche vorzustellen, weil wir Menschen es sind, die sie sich vorstellen.
Dieses Dilemma ist freilich nicht neu. Die Philosophie ist immer wieder auf dieses Problem der nichtmenschlichen Welt zurückgekommen. Was in heutigen philosophischen Zirkeln vielleicht »Korrelationismus«, »Akzelerationismus« oder »atmosphärische Politik« genannt wird, ist dasselbe Dilemma, das auch schon von früheren Philosophen zum Ausdruck gebracht wurde, wenngleich in einer anderen Terminologie: als Problem des »In-der-Welt-seins«, als Dichotomie zwischen »aktivem« und »passivem« Nihilismus oder als Grenzen des menschlichen Denkens in den »Antinomien der Vernunft«.
Wenn die Welt als solche sich kataklystisch in Form einer Katastrophe manifestiert, wie können wir sie dann interpretieren oder ihr einen Sinn verleihen? Es gibt in der abendländischen Kultur Vorläufer für diese Art des Denkens. In der griechischen Antike erfolgte die Interpretation vor allem mythologisch – die antike Tragödie behandelt beispielsweise nicht nur die Frage des Schicksals und der Bestimmung, sondern evoziert dadurch auch eine Welt, die zugleich vertraut und unvertraut ist, eine Welt entweder unter unserer Kontrolle oder eine Welt als Spielzeug der Götter. Die Antwort des mittelalterlichen und frühmodernen Christentums war dagegen vorwiegend theologisch – die lange Tradition der apokalyptischen Literatur ebenso wie die scholastischen Kommentare über die Natur des Bösen spannen die nichtmenschliche Welt in einen moralischen Heilsrahmen ein. In der Moderne, dem Schnittpunkt aus naturwissenschaftlicher Hegemonie, Industriekapitalismus und dem, was Nietzsche bekanntermaßen als den Tod Gottes prophezeite, gewinnt die nichtmenschliche Welt einen anderen Wert. Die Antwort der Moderne ist in erster Linie existenziell – die Rolle menschlicher Individuen und Gruppen wird im Lichte der modernen Wissenschaft, der Hochtechnologie, des industriellen und postindustriellen Kapitalismus und der Weltkriege infrage gestellt.
Der zeitgenössische Zyniker – eine Beschreibung, die an vielen Tagen auf mich selbst zutrifft – könnte antworten, dass wir immer noch nach all diesen Interpretationsrahmen leben und sich lediglich deren äußere Hülle geändert hat: Das Mythologische ist zum Stoff der Kulturindustrie geworden, die mit großem Budget computergenerierte Filme und Waren ersinnt; das Theologische ist in die politische Ideologie und den Fanatismus religiöser Konflikte diffundiert; und das Existenzielle wurde zu Selbsthilfe und Konsumtherapie umfunktioniert. Da mag zwar etwas Wahres dran sein, wichtiger ist jedoch, dass all diese Interpretationslinsen – die mythologischen, die theologischen und die existenziellen – als wesentliche Grundvoraussetzung ein humanzentriertes Weltbild gemein haben, also die Vorstellung einer Welt »für uns« als Menschen, die in menschlichen Kulturen und nach menschlichen Werten leben. Natürlich erkannten die alten Griechen an, dass die Welt nicht vollständig unter der Kontrolle des Menschen stand, allerdings personifizierten sie die nichtmenschliche Welt tendenziell in ihrem Pantheon humanoider Geschöpfe und nur allzu menschlicher Götter, die selbst von Eifersucht, Gier und Lust beherrscht wurden. Gleiches lässt sich über den christlichen Rahmen sagen, der ebenfalls das Übernatürliche personifiziert (Engel und Dämonen, ein väterlicher, mal liebender und mal ausfälliger Gott), dabei aber die Weltordnung an ein moralökonomisches Gefüge aus Sünde, Schuld und Erlösung in einem Leben nach dem Leben anpasst. Der moderne existenzielle Erklärungsrahmen schließlich mit seinem ethischen Imperativ der Wahl, der Freiheit und des Willens angesichts des wissenschaftlichen wie des religiösen Determinismus verengt letztlich die ganze Welt zu einem solipsistischen, angstgetriebenen Strudel des individuellen menschlichen Subjekts. Kurzum: Wenn die nichtmenschliche Welt sich uns in dieser ambivalenten Weise offenbart, besteht unsere Antwort meist darin, diese nichtmenschliche Welt in die zur jeweiligen Zeit gerade vorherrschende menschzentrierte Weltsicht einzupassen. Wie sollten wir, die wir nun einmal Menschen sind, die Welt auch anders verstehen?
Eine der größten Lehren, die sich aus der laufenden Diskussion über den globalen Klimawandel ziehen lässt, ist jedoch, dass diese Ansätze nicht mehr angemessen sind. Wir können stattdessen eine neue Terminologie für das Nachdenken über das Problem der nichtmenschlichen Welt anbieten. Nennen wir die Welt, in der wir leben, die Welt-für-uns. Dies ist die Welt, die wir als Menschen interpretieren und der wir einen Sinn geben, die Welt, zu der wir in Beziehung stehen oder von der wir uns entfremdet fühlen, die Welt, von der wir ein Teil sind und die zugleich vom Menschlichen getrennt ist. Diese Welt-für-uns liegt natürlich nicht vollkommen im Einflussbereich menschlicher Wünsche und Begehren; die Welt kann »zurückbeißen«, sie widersetzt sich oder ignoriert unsere Versuche, sie zur Welt-für-uns zu formen. Dies wollen wir die Welt-an-sich nennen. Das ist die Welt in einem unzugänglichen, bereits gegebenen Zustand, die wir dann in die Welt-für-uns verwandeln. Die Welt-an-sich ist ein paradoxer Begriff; sobald wir sie denken und versuchen, auf sie einzuwirken, hört sie auf, die Welt-an-sich zu sein, und wird zur Welt-für-uns. Ein bedeutender Teil dieser paradoxen Welt-an-sich fußt auf wissenschaftlicher Forschung – sowohl die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Welt als auch die technischen Mittel unseres Einwirkens auf und Eingreifens in die Welt.
Auch wenn es da draußen etwas gibt, das nicht die Welt-für-uns ist, und auch wenn wir dies als Welt-an-sich bezeichnen können, so bildet diese einen Horizont für das Denken, der stets hinter die Grenze der Verstehbarkeit zurückweicht. Tragischerweise werden wir am stärksten an die Welt-an-sich erinnert, wenn sie sich in Form von Naturkatastrophen manifestiert. Auch die Diskussionen über die langfristigen Auswirkungen des Klimawandels, über denen heimlich das Gespenst des Aussterbens schwebt, rufen diese Erinnerung an die Welt-an-sich hervor. Dank hoch entwickelter Prognosemodelle können wir uns sogar schon vorstellen, was mit der Welt geschehen wird, wenn wir Menschen aussterben. Obwohl wir also diese Welt-an-sich nie erfahren können, scheinen wir fast fatalistisch zu ihr hingezogen zu werden, und sie stellt möglicherweise eine Grenze dar, die definiert, wer wir als Menschen sind.
Diese gespenstische und spekulative Welt wollen wir die Welt-ohne-uns nennen. In gewissem Sinne erlaubt uns die Welt-ohne-uns, die Welt-an-sich zu denken, ohne in den Teufelskreis eines logischen Paradoxons zu geraten. Die Welt-an-sich kann mit der Welt-für-uns koexistieren – tatsächlich definiert sich der Mensch durch seine eindrucksvolle Fähigkeit, diesen Unterschied nicht zu erkennen. Die Welt-ohne-uns dagegen kann nicht mit der menschlichen Welt-für-uns koexistieren; die Welt-ohne-uns ist die Subtraktion des Menschen von der Welt. Zu sagen, die Welt-ohne-uns stehe dem Menschen antagonistisch gegenüber, ist ein Versuch, die Dinge in menschliche Begriffe zu fassen, in die Begriffe der Welt-für-uns. Und zu sagen, die Welt-ohne-uns sei in Bezug auf den Menschen neutral, ist ein Versuch, die Dinge in die Begriffe der Welt-an-sich zu fassen. Die Welt-ohne-uns liegt irgendwo dazwischen, in einer nebulösen Zone, die zugleich unpersönlich und entsetzlich ist. Die Welt-ohne-uns ist ebenso sehr ein kulturelles wie ein wissenschaftliches Konzept und es sind, wie dieses Buch zu zeigen versucht, die Genres des übernatürlichen Horrors und der Science-Fiction, in denen wir die häufigsten Versuche finden, den schwierigen Gedanken der Welt-ohne-uns zu denken und sich ihm zu stellen.
Die wahre Herausforderung besteht heute gewissermaßen weder darin, eine neue oder verbesserte Version der Welt-ohne-uns zu finden, noch darin, unaufhaltsam der Phantom-objektivität der Welt-an-sich nachzujagen. Die wahre Herausforderung liegt darin, sich mit jenem rätselhaften Begriff der Welt-ohne-uns auseinanderzusetzen und zu verstehen, warum die Welt-ohne-uns in den Schatten der Welt-für-uns und der Welt-an-sich hartnäckig fortbesteht. Wir können die drei Begriffe sogar noch weiter verkürzen: Die Welt-für-uns ist einfach die Welt, die Welt-an-sich ist die Erde und die Welt-ohne-uns ist der Planet. Die Begriffe der »Welt« und des »Weltens«1 werden in der Phänomenologie häufig verwendet, um zu beschreiben, wie wir als menschliche Subjekte in der Welt existieren, während die Welt sich uns gleichzeitig offenbart. Im Gegensatz dazu umfasst die »Erde« für uns alles Wissen über die Welt als Objekt – durch Geologie, Archäologie, Paläontologie, die Biowissenschaften, die atmosphärischen Wissenschaften (Meteorologie, Klimatologie) und so weiter.
Was ist nun aber der »Planet«? Die Welt (die Welt-für-uns) beinhaltet nicht nur eine humanzentrierte Seinsweise, sondern deutet auch auf jenen unscharfen Bereich des Nichtmenschlichen hin, auf dasjenige, was nicht für-uns ist. Wir können darunter ganz allgemein das verstehen, was wir nicht kontrollieren oder vorhersagen können, oder wir können es in einem konkreteren Sinne als Ozon- oder CO2-Fußabdrücke und so weiter verstehen. Die Welt öffnet sich also implizit zur Erde. Doch selbst »die Erde« ist einfach eine Bezeichnung, die wir für etwas vergeben haben, das sich dem Sammeln von Proben, dem Generieren von Daten, der Herstellung von Modellen und den Streitigkeiten über Politik offenbart oder zugänglich gemacht hat. Notwendigerweise gibt es darüber hinaus noch weitere Charakteristika, die nicht belegt sind, die nicht gemessen werden und die im Dunkeln und Verborgenen bleiben. Was sich offenbart, offenbart sich nicht vollständig. Dieser Rest ist vielleicht der »Planet«. Der Planet geht buchstäblich über die subjektive Welt hinaus, aber er tritt auch hinter der objektiven Erde zurück. Der Planet ist ein Planet, er ist einer von vielen anderen Planeten, er verschiebt den Rahmen vom irdischen auf einen kosmologischen Zusammenhang. Ob der Planet ein weiteres subjektives, idealistisches Konstrukt ist oder ob er Objektivität besitzen und somit erklärt werden kann, ist ein unauflösliches Dilemma. Wichtig ist, dass der Begriff des Planeten ein negativer Begriff bleibt – er ist einfach das, was »nach« dem Menschen übrig bleibt. Der Planet kann also als etwas Unpersönliches und Anonymes beschrieben werden.
Im Kontext der Philosophie lautet die zentrale Frage heute, ob das Denken immer auf den Rahmen des menschlichen Standpunktes festgelegt ist. Welche Alternativen stehen uns offen? Ein Ansatz besteht darin, die Suche nach einem imaginären Ort des Nichtmenschlichen in der Welt »da draußen« einzustellen und die abgedroschene Dichotomie von Ich und Welt, Subjekt und Objekt abzulehnen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wäre es möglich, zusätzlich zum mythologischen (klassisch griechischen), theologischen (mittelalterlich christlichen) und existenziellen (modernen europäischen) Deutungsrahmen eine weitere Position einzunehmen, die wir nur als kosmologisch bezeichnen können? Könnte eine solche kosmologische Sicht statt einfach nur als Blick aus dem interstellaren Raum als die Sicht der Welt-ohne-uns, die Sicht des Planeten verstanden werden?
Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge gehören ungefähr neunzig Prozent der Zellen des menschlichen Körpers zu nichtmenschlichen Organismen (Bakterien, Pilze sowie ein ganzes Bestiarium weiterer Lebewesen). Warum sollte dies nicht auch in Bezug auf das menschliche Denken der Fall sein? Das vorliegende Buch ist in gewissem Sinne die Erforschung dieser Idee – dass das Denken nicht menschlich ist. Die Welt-ohne-uns ist gewissermaßen nicht in einem »Jenseits« zu finden, welches der Welt (der Welt-für-uns) oder der Erde (der Welt-an-sich) äußerlich wäre; sie steckt vielmehr genau in den Rissen, Aussetzern und Lücken der Welt und der Erde. Der Planet (die Welt-ohne-uns) ist, in den Worten der Dunkelheitsmystik, der »dunkle intelligible Abgrund«, der paradoxerweise als Welt und als Erde manifest ist.
Ein zentraler Fokus dieses Buches liegt daher auf dem Problem, wie die Welt-ohne-uns gedacht werden kann; meine These lautet, dass dieses Problem ein ebenso philosophisches wie politisches und kulturelles Problem ist. Daher rührt der Untertitel der Reihe, zu der dieses Buch gehört: »Horror der Philosophie«. Hier ist eine terminologische Klarstellung angebracht. Der Begriff »Horror« bedeutet nicht ausschließlich kulturelle Horrorproduktionen (oder »Kunsthorror«), ob in der Literatur, im Film, in Comics oder in Videospielen. Das Horrorgenre ist zwar ein wichtiger Teil der Kultur und wissenschaftliche Untersuchungen des Horrorgenres helfen uns zu verstehen, wie ein Buch oder ein Film seine jeweilige Wirkung erzielt, der Genrehorror verdient es jedoch, dass wir mehr darin sehen als nur die Summe seiner formalen Eigenschaften. Des Weiteren meine ich mit »Horror« nicht das menschliche Gefühl der Angst, ob es sich nun in einem Spielfilm, einem Zeitungsbericht oder einem persönlichen Erlebnis äußert. Diese Art des Horrors gehört gewiss zu den Grundbedingungen des Menschseins und sie lässt sich auf verschiedene Weise – ethisch, politisch, religiös – und zur Erreichung verschiedener Zwecke ausnutzen. Auch dies verdient eine eingehende Untersuchung, besonders im Hinblick auf die zunehmende Überschneidung von Realität und Fiktion in unserer Reality-TV-Kultur. Dieser Horrorbegriff bleibt jedoch fest in den Bereich menschlicher Interessen und der Welt-für-uns eingeschrieben.
Gegenüber diesen beiden gängigen Vorstellungen möchte ich vorschlagen, Horror nicht unter dem Aspekt der Beschäftigung mit der menschlichen Furcht in einer menschlichen Welt (der Welt-für-uns) zu verstehen, sondern als eine Art der Auseinandersetzung mit den Grenzen des Menschlichen angesichts einer Welt, die nicht nur eine Welt (für-uns) und nicht nur eine Erde (Welt-an-sich), sondern auch ein Planet (Welt-ohne-uns) ist. Das bedeutet auch, dass es beim Horror nicht einfach um die Angst geht, sondern vielmehr um die rätselhafte Idee des Unbekannten. H. P. Lovecraft notierte bekanntlich: »Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.«2 Beim Horror geht es um den paradoxen Gedanken des Undenkbaren. Insofern er sich mit dieser Grenze des Denkens auseinandersetzt, die mit dem Ausdruck der Welt-ohne-uns eingefangen wird, ist der Horror »philosophisch«. Insofern er die Welt-ohne-uns jedoch als Grenze heraufbeschwört, ist er eine »negative Philosophie« (ähnlich der negativen Theologie, aber in Abwesenheit Gottes).
Kurz zusammengefasst lautet die These dieses Buches, dass »Horror« einen nichtphilosophischen Versuch darstellt, philosophisch über die Welt-ohne-uns nachzudenken. Die Kultur ist hier das Terrain, auf dem wir Versuche finden, einer unpersönlichen und indifferenten Welt-ohne-uns gegenüberzutreten, einer unauflöslichen Kluft zwischen der Welt-für-uns und der Welt-an-sich, mit einer Planet genannten Leere, die zwischen der Welt und der Erde schwebt. Aus diesem Grund behandelt das Buch den Genrehorror als eine Art der Philosophie (vielleicht könnte man auch sagen: als »Nichtphilosophie«3). Eine Kurzgeschichte über eine amorphe, quasi-empfindungsfähige Rohölmasse, die den Planeten erobert, weist sicherlich nicht die Art von logischer Strenge auf, die man in der Philosophie eines Aristoteles oder Kant findet. Was der Genrehorror jedoch, wenn auch auf andere Weise, zu tun vermag, ist, die Voraussetzungen der philosophischen Untersuchung – dass die Welt immer die Welt-für-uns ist – ins Visier zu nehmen und jene blinden Flecken zu seinem Hauptanliegen zu machen, indem er sie nicht in abstrakten Begriffen, sondern in einem ganzen Bestiarium unmöglicher Lebensformen zum Ausdruck bringt – Dünste, Absonderungen, Klumpen, Schleim, Wolken und Dreck. Oder, wie es Platon einmal ausdrückte: »Haar, Kot und Schmutz«.
Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert wurde ein Großteil der abendländischen Philosophie an den damals entstehenden Universitäten entwickelt, von denen viele institutionell an die Kirche gebunden waren – wenn auch nicht ohne erhebliche Kontroversen. In dieser Zeit des »scholastischen« Denkens wurde eine Reihe von Diskursformen eingeführt, die zur Grundlage der modernen Philosophie und ihrer dürftigen Verbindung zur modernen Universität geworden sind. So ist zum Beispiel die lectio die Vorläuferin unserer modernen »Vorlesung«, während die disputatio, das gelehrte Streitgespräch, für unsere heutige Form der Diskussion Pate stand. Ausgehend von den mittelalterlichen Rechtsschulen entwickelte sich die quaestio (»Frage«) als eine systematische Möglichkeit, kanonische Gesetzestexte mitsamt den dazugehörigen Kommentaren zu vergleichen. Wenn Unstimmigkeiten gefunden wurden, etwa weil ein Gesetz in einer anderen Region oder zu einer anderen Zeit unterschiedlich abgefasst worden war, nahm man dies zum Anlass, eine Untersuchung oder »Befragung« einzuberufen, um eine Synthese oder eine Versöhnung der Diskrepanzen herbeizuführen.
Im 12. Jahrhundert bauten Philosophen und Theologen die quaestio in ihre Lehren ein, weil sie darin die Möglichkeit erkannten, ein Thema systematisch zu erforschen – üblicherweise eines, das mit theologischen Fragen zu tun hatte oder aus diesen hervorging. In Verbindung mit der damaligen Renaissance der aristotelischen Logik führte dies zu der Art von methodischer, beinahe schon detektivischer Erforschung einer Idee, wie wir sie beispielsweise in den Werken von Thomas von Aquin finden. Die Verwendung der quaestio folgte jedoch keinen strengen Regeln. Thomas fügt die quaestio manchmal in den größeren Rahmen der summa (Summe, Zusammenfassung, Kompendium) mit ein, zu anderen Zeiten bilden die quaestiones dagegen selbst den Rahmen (wie in seinem Werk De malo oder auf Deutsch: Vom Übel).
Hier folgen nun drei quaestiones, die im weitesten Sinne die Dämonologie behandeln, worunter das Studium der Dämonen und des Dämonischen verstanden wird. Aus historischer Sicht sind Dämonen alles andere als gehörnte, ziegenbärtige Mephistos, die uns zum Bösen verführen. Der Dämon ist vielmehr ein ebenso philosophisches wie theologisches und politisches Konzept. Tatsächlich dient der »Dämon« häufig als Platzhalter für irgendeine nichtmenschliche, bösartige Instanz, die gegen den Menschen (will heißen: gegen die Welt-für-uns) handelt.
In Anlehnung an Denker wie Thomas von Aquin folgt jede quaestio einem einfachen Muster: Zunächst wird ein Thema vorgestellt und es werden Annahmen über dieses Thema diskutiert (articulus), dann folgt eine Erörterung von Gegenargumenten (sed contra) und schließlich wird versucht, einen Mittelweg oder eine Lösung zu finden (responsio) – was natürlich häufig in Unschlüssigkeit endet und noch mehr Fragen aufwirft.
In der Populärkultur wimmelt es von Dämonen, und dennoch glauben wir nicht mehr an sie – das ist jedenfalls die Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir mögen vielleicht in einem aufgeklärten, technologischen Zeitalter leben, gleichzeitig leben wir aber auch in einer »postsäkularen« Ära, in der die Themen Religion, Theologie und Mystik in oft stumpfsinniger Weise in unsere Welt zurücksickern. Ein typisches Beispiel dafür ist Black Metal. Dabei handelt es sich nicht nur um ein musikalisches Genre, sondern auch um eine Subkultur und eine bestimmte Auffassung von Dämonen und vom Dämonischen in einer Welt religiöser Extreme. Von Black-Metal-Bands ist zwar keine systematische Philosophie des Horrors zu erwarten, doch ihre Musik, ihre Texte und ihre Ikonografie sind relevant wegen der Art und Weise, wie sie auf frühere Vorstellungen des Dämonischen und der Dämonen zurückgreifen – und das in all ihrer Ambiguität. In gewisser Hinsicht gibt es sogar keinen besseren Ausgangspunkt für den »Horror der Philosophie« als Black Metal.
Musikalische Genre-Diskussionen drehen sich häufig darum, was genau das Wesen eines bestimmten Genres ausmacht und was nicht. Kommt es darüber zu Meinungsverschiedenheiten, besteht eine beliebte Lösung darin, das Genre in Subgenres aufzuteilen. Metal bildet hier keine Ausnahme und es kommen fast täglich neue Metal-Subgenres hinzu. So gibt es längst nicht mehr nur den Heavy Metal, sondern auch Death, Speed, Grind, Doom, Funeral und natürlich Black Metal. An Diskussionen über Metal als Musikgenre herrscht also kein Mangel, anders sieht es allerdings mit Diskussionen über die vielen Adjektive aus, mit denen die einzelnen Subgenres unterschieden werden, täuschen diese Adjektive doch über eine Reihe von Ideen und Orientierungen hinweg. Was bedeutet beispielsweise das »Black« (»schwarz«) in Black Metal? Gemeinhin wird Black Metal aus einer Vielzahl von Gründen mit der Farbe Schwarz assoziiert – wegen seiner Bezüge zu schwarzer Magie, Dämonen, Hexerei, Geisterbeschwörungen, dem Glauben an Werwölfe, wegen der Natur des Bösen und allem, was düster und trübselig ist. Black Metal ist schwarz, weil er – so lautet zumindest ein Argument – sowohl seiner Haltung als auch seiner musikalischen Form nach die extremste Form des Metal ist.
Aus all den genannten Assoziationen sticht eine ganz besonders hervor, und das ist die Verknüpfung von Black Metal mit dem Satanismus und der Figur des Teufels. Tatsächlich scheint die Gleichung Schwarz = Satanismus das bestimmende Definitionsmerkmal des Black Metal zu sein. Das ist ganz offensichtlich eine Verkürzung, die wir an späterer Stelle noch korrigieren werden. Zunächst jedoch müssen wir uns die komplizierte Geschichte der Übersetzung und der Terminologie vergegenwärtigen, die der Begriff »Satan« oder »Ha-Satan« auf seinem Weg von der hebräischen Bibel (wo er eine engelhafte Gottheit bezeichnet, die den Glauben der Menschen auf die Probe stellt) über das Koine-Griechisch der Septuaginta und die lateinische Vulgata des Alten Testaments durchlaufen hat, bis er in den Evangelien auftauchte, wo Satan oft als eine bösartige Figur beschrieben wird, die sich eher gegen den monotheistischen Gott als gegen die Menschheit als solche richtet. In der langen Geschichte des Christentums bekam die Figur des Teufels als universeller Gegenspieler Gottes zu verschiedenen Zeiten verschiedene Namen, von denen Satan nur einer ist; und diese Figur ist es wohl, mit der das »Schwarz« in Black Metal identifiziert wird. Black Metal ist natürlich weder das einzige Subgenre im Metal-Bereich noch das einzige Musikgenre im Allgemeinen, in dem es diese Verbindung gibt. Sie lässt sich auch leicht in der Musik von Robert Johnson, in der Carmina Burana oder bei Bands wie Black Sabbath ausmachen. Das Ausmaß jedoch, in dem der Satanismus einen konzeptuellen Bezugspunkt für Black Metal darstellt, ist in der Tat auffallend.
Gehen wir also vorläufig davon aus, dass black/schwarz hier »satanisch« bedeutet. Was folgt daraus konzeptuell? Zum einen wird, wenn wir den Satansbegriff des Mittelalters und der Frührenaissance zum Ausgangspunkt nehmen, die Gleichung schwarz = Satanismus von einer Struktur der Opposition und der Inversion beherrscht. Gegensätze bestimmen das Dämonische ebenso wie das Göttliche; sie prallen im »Krieg im Himmel« aufeinander, der so lebendig in der Offenbarung geschildert und von Milton in Paradise Lost dramatisiert wird. Die Struktur des Gegensatzes definiert auch die mittelalterliche Kirche gegenüber ihren Feinden; diese Rolle weisen die Kirchenräte verschiedenen Aktivitäten zu, von der Hexerei bis zur Geisterbeschwörung, die sowohl das religiöse Recht als auch die religiöse politische Autorität bedrohen. Der Gegensatz ist folglich ebenso politisch wie theologisch und er führt zu den berüchtigten Hexenjagden, Verfolgungen und Inquisitionen der Frührenaissance. In ihrer oppositionellen Form hat die Gleichung schwarz = satanisch die Bedeutung »gegen Gott«, »gegen den Souverän« oder gar »gegen das Göttliche«.
Vom 19. Jahrhundert an ändert sich jedoch das Bild des Satanismus. Vor dieser Zeit kann man eigentlich gar nicht von Satanismus sprechen, jedenfalls nicht im Sinne einer organisierten Gegenreligion samt eigener Rituale, Schriften und Symbole. Rechtlich gesehen wurde bis dahin alles, was wir als Satanismus bezeichnen würden, von der Kirche für Ketzerei erklärt, und der Ketzerei wohnt eine ganz besondere Art der Bedrohung inne – nicht die Bedrohung des völligen Unglaubens, sondern die, auf die »falsche« Weise zu glauben. Als Folge der religiösen Herausforderungen durch die Romantik, die Revolution sowie die Ästhetik der Schauerliteratur und der dekadenten Bewegungen entwickelte Europa im 19. Jahrhundert hingegen etwas, das viel eher dem modernen Satanismus ähnelt. Es unterscheidet sich deutlich von dessen Versionen im Mittelalter und in der Frührenaissance und ebenso von seinen Inkarnationen zum Ende des 20. Jahrhunderts (wie etwa Anton LaVeys Church of Satan). Dieser formalisiertere, »poetische« Satanismus operierte nicht nur durch Opposition, sondern auch durch Inversion, wie sich in Charles Baudelaires damals skandalösem Gedicht »Les Litanies de Satan« (1857) zeigt. Der Satanismus jener Zeit steht rituell und ideologisch in Opposition zur Kirche. Er weist im Kontext des 19. Jahrhunderts große Überschneidungen mit dem Okkultismus, der Magie und selbst mit Ausläufern des Spiritismus auf. Ein entscheidender Aspekt dieses poetischen Satanismus ist die berüchtigte Schwarze Messe, wie sie Joris-Karl Huysmans in seinem Roman Là-bas (1891, dt. Tief unten) rauschhaft schildert – angeblich inspiriert von einer echten Schwarzen Messe, die der Autor besucht haben soll. Jedes Element der Schwarzen Messe, vom blasphemischen Anti-Gebet bis zur erotischen Hostienschändung, zielt auf eine exakte Umkehrung des katholischen Hochamtes.
Wenn wir unter dem »black« in Black Metal »satanisch« verstehen, sehen wir darin das Sinnbild einer konzeptuellen Struktur der Opposition (in der mittelalterlichen, »ketzerischen« Variante) und der Inversion (in der »poetischen« Variante des 19. Jahrhunderts). In dieser Assoziation erkennen wir auch einen Bezug zur natürlichen Welt und zu übernatürlichen Kräften als Mittel, durch die Opposition und Inversion bewirkt werden. Das »Schwarze« gleicht in diesem Fall fast einer Technologie oder einer dunklen Technik. Besonders die schwarze Magie beruht auf der Fähigkeit des Hexenmeisters, die Mächte der Finsternis gegen die des Lichts und eine Reihe von Glaubensüberzeugungen gegen eine andere einzusetzen.
Auf der anderen Seite ist jedem Hörer von Black Metal jedoch bewusst, dass sich die Gleichung schwarz = satanisch nicht auf alle Bands dieser Musikrichtung anwenden lässt. Es gibt viele Black-Metal-Bands, die von einem nichtchristlichen Rahmen ausgehen und sich auf alles Mögliche beziehen, von der nordischen Mythologie bis zu den Geheimnissen des alten Ägyptens. Wählen wir also einen neuen Ansatz und schlagen eine andere Gleichung in Bezug auf die Bedeutung des Wortes »black« in Black Metal vor, die dieses Mal lauten soll: schwarz = heidnisch. Auch dies werden wir später wieder zurücknehmen, aber lassen Sie uns zunächst über den Gegensatz zur Gleichung schwarz = Satanismus nachdenken.
Beim Heidentum geht es zunächst einmal weniger um einen negativen oder reaktiven Modus als vielmehr um eine vollkommen andere und letztlich vorchristliche Auffassung. Historisch gesehen überschneiden sich die verschiedenen Formen des Heidentums mit dem Aufstieg des Christentums als einer beherrschenden religiösen, juristischen und politischen Macht. Als polytheistische – und manchmal pantheistische – Sichtweise stand das Heidentum in krassem Gegensatz zur kirchlichen Lehrhoheit. Aus diesem Grund fielen verschiedene heidnische Formen oft unter das, was die Kirche vieldeutig als Ketzerei bezeichnete. In der Hochrenaissance wurde eine Vielzahl von Praktiken, von der Alchimie bis zum Schamanismus, allgemein mit dem Heidentum in Verbindung gebracht. Die Ideen des Rosenkreuzertums, der Freimaurerei, der Hermetik sowie im 19. Jahrhundert die der Theosophie und des Spiritismus beriefen sich alle auf Verbindungen zu heidnischem Gedankengut. Der Einfluss- und Wirkungsbereich einiger dieser Bewegungen ist sogar noch größer als der des Christentums selbst; die Schriften Madame Blavatskys oder Rudolph Steiners stehen beispielhaft für diese transkulturelle und transhistorische Breitenwirkung. In Büchern wie Isis Unveiled (1877, dt. Isis entschleiert) oder The Secret Doctrine (1888, dt. Die Geheimlehre) behandelt Blavatsky alles von archaischen Mysterienkulten bis zur modernen paranormalen Forschung und liefert damit jene Art von globaler Perspektive, wie man sie aus anthropologischen Klassikern wie James Frazers The Golden Bough (1890, dt. Der goldene Zweig) kennt.
An manchen Stellen überschnitten sich diese verschiedenen heidnischen Formen mit der traditionellen jüdisch-christlichen Anschauung, meist wurden sie jedoch marginalisiert und in manchen Fällen in den Untergrund gedrängt, wo sie Geheimgesellschaften bildeten. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zu der vorherigen Assoziation von »schwarz« mit dem Satanismus. Während diese auf der Grundlage von Opposition und Inversion basierte, sind es bei der Gleichung schwarz = heidnisch Exklusion und Alterität, die das Verhältnis zum herrschenden Rahmen des Christentums bestimmen. Ketzerei wurde von der Kirche vorwiegend als eine interne Bedrohung angesehen, das Heidentum wurde dagegen in manchen Fällen ganz anders beurteilt – als äußere Bedrohung. Auch die Ikonografie ist eine andere. Statt der Anrufung von Dämonen und der Schwarzen Messe findet man eher Bilder der Elementar- und Erdkräfte, von Astrallichtern und -leibern, von Metamorphosen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Pflanze oder Mensch und der Natur selbst. Im Heidentum steht man immer »auf der Seite« der Natur und ihrer animistischen Kräfte. Hier ist der Magier nicht so sehr jemand, der die Natur als Werkzeug benutzt, sondern eher eine Art Durchleitung für die Naturkräfte. Während man im Satanismus den Versuch findet, dunkle Mächte gegen das Licht zu instrumentalisieren, ist Magie im Heidentum Technik und umgekehrt. Werke wie Éliphas Lévis Dogme et Rituel de la Haute Magie (1855, dt. Dogma und Ritual der Hohen Magie) lesen sich geradezu wie Ratgeberbücher über okkultes Wissen in Theorie und Praxis. Den dunklen Techniken des Satanismus steht also die dunkle Magie des Heidentums gegenüber.
Bislang haben wir zwei mögliche Bedeutungen der Farbe Schwarz in der Kultur des Black Metal erörtert. Sie entsprechen den Gleichungen schwarz = Satanismus und schwarz = Heidentum. Die eine folgt der Struktur von Opposition und Inversion, die andere der von Exklusion und Alterität. Was die beiden vereint, ist ihr letztlich auf den Menschen ausgerichtetes Verhältnis zur Natur und den Naturkräften – im Satanismus konnten wir eine dunkle Technik der Mächte der Finsternis gegen die des Lichts feststellen, im Heidentum eine dunkle Magie, die sich auf der Seite der Natur sieht. Trotz ihrer Unterschiede deuten beide Bedeutungen des Wortes »schwarz« auf ihre eine Gemeinsamkeit hin: den anthropozentrischen Blick auf die Welt. Die Welt ist entweder für uns da, um als Werkzeug benutzt zu werden, oder sie existiert als eine nutzbare Kraft in uns. Auch wenn verschiedene heidnische Formen eine animistische oder pantheistische Weltsicht übernehmen, so betonen sie doch stets die Möglichkeit, die Kräfte dieser Welt zu erkennen und zu nutzen; das Ich ist mit der Welt vereint und doch zugleich auch von ihr getrennt. In beiden Bedeutungen von »schwarz« (Satanismus und Heidentum) scheint der menschliche Standpunkt eine Grenze für das Denken darzustellen.
schwarz = kosmischer Pessimismus