Geschichten von Frauen und Gewalt
Verlag Antje Kunstmann
In Gedenken an alle Frauen, die Hass und Gewalt
nicht überlebt haben.
VORBEMERKUNG
Nach den Zahlen des Bundeskriminalamts werden jedes Jahr in Deutschland mehr als 100.000 Frauen* Opfer sogenannter Partnerschaftsgewalt. Circa 15.000 Kinder und Jugendliche werden sexuell missbraucht, circa 75 Prozent sind weiblich. Nahezu 9000 Frauen werden jährlich Opfer von Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen, mehr als 400 Frauen Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Hinzu kommen täglich mehrere Angriffe aus rassistischer, antimuslimischer, antifeministischer oder ansonsten menschenverachtender Motivation auf Frauen. Und dies sind nur die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistiken, also den Verfahren, die angezeigt wurden. Die Dunkelziffer bei diesen Delikten wird erheblich höher eingeschätzt.
Hinter diesen Zahlen stehen Schicksale.
Schicksale von Frauen, die selten Gehör finden.
Seit vielen Jahren arbeite ich als Rechtsanwältin, die unter anderem auf die juristische Bearbeitung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und rassistisch, homophob oder ansonsten menschenverachtender Gewalt spezialisiert ist.
Ich kenne viele Schicksale und unterstütze meine Mandant*innen in häufig äußerst schwierigen Situationen rechtlich. Dabei ist Vertrauen ein wichtiger Bestandteil und Sicherheit.
Deshalb erzähle ich hier Geschichten, die tatsächlichen Ereignissen nachempfunden sind, aber in dieser Form nicht stattgefunden haben. Es geht mir im Kern nicht um den konkreten Einzelfall. Es geht mir darum, strukturelle Probleme dieser Gesellschaft anhand von Geschichten aufzuzeigen, die ähnlich andauernd passieren. Und darum, die tatsächlichen und juristischen Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung aufzuzeigen.
Dieses Buch soll den Blick auf die betroffenen Frauen lenken, ihre Schicksale und ihren Kampf.
Es soll Anstoß geben, endlich gesamtgesellschaftlich das Massenphänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.
Aber auch Zuversicht, dass es sich lohnt.
* Wenn ich von Gewalt gegen Frauen schreibe, verstehe ich (die Bezeichnung) Frauen nicht im zweigeschlechtlichen Sinn, sondern schließe hier Cis-Frauen, Trans-Frauen und sich selbst als nicht binär verstehende Personen ein. Denn genderspezifische Gewalt richtet sich gegen alle, die als Frauen wahrgenommen werden beziehungsweise die die zweigeschlechtliche Ordnung stören.
AktenEinsicht
CLAUDIA S.
Wie verirrt sitzt Claudia S. mit ihrem kleinen weißen Pelzjäckchen und dem gleichfarbigen Pudel in dem Wartezimmer der Anwältin. Als sie ins Besprechungszimmer gerufen wird, wirkt sie unschlüssig, sieht die Anwältin nicht an und sagt: »Cheri heißt sie, und ohne sie kann ich nicht leben. Glauben Sie mir, sie ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Komm meine Süße, wir sprechen jetzt mit der Anwältin.«
Sie betritt das Besprechungszimmer, setzt sich, hebt den Pudel auf ihren Schoß und fängt an zu weinen.
Zunächst sagt Claudia S. nicht viel. Sie hat Angst. Immer wieder vergräbt sie ihr tränennasses Gesicht in ihrem Pelzjäckchen. Dann fängt sie an, ihre Geschichte zu erzählen, anfangs unzusammenhängend und nur in Bruchstücken. Dass Kevin ihr Cheri geschenkt habe, dass sie vor Kevin geflohen sei, weil er sehr gewalttätig war. Dass sie ihn aber nie habe anzeigen wollen, weil es viel zu gefährlich sei. Und dass sie es jetzt aber leider doch getan habe, eigentlich aus Versehen, als er sie gefunden und ihr Cheri weggenommen habe. Lange dauert es, bis sie sich etwas sammelt und mehr erzählt.
Claudia S. ist die Tochter eines Oberstudienrates und einer Theologin. Sie ist als Einzelkind im gutbürgerlichen Berlin aufgewachsen, hat gerade das Abitur absolviert und ist auf dem besten Weg, ihr Psychologiestudium zu beginnen. Sie hat ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und viele Freund*innen, die meisten kennt sie aus der Schule. Es gibt und gab auch die ein oder andere Liebelei, aber der Richtige war noch nicht dabei. Bis sie in ihrem Fitnessstudio Kevin trifft und sich unsterblich in ihn verliebt. Er hilft ihr, die Gewichte an einem Gerät auszuwechseln, und lädt sie später zu einem Drink ein.
Weshalb sie darauf eingeht, weiß sie nicht, darüber wird sie später oft nachdenken. Womöglich, weil er so anders ist als alle in ihrer Umgebung. Womöglich, weil er ein so unglaublich freundliches Lächeln hat, vielleicht auch, weil er so stark ist. Kevin ist ganz anders als alle, mit denen sie bisher befreundet war. Er ist durchtrainiert, höflich, unverhohlen begeistert himmelt er sie an. Sie lachen viel an ihrem ersten Abend, und sie weiß, dass er sie auf Händen tragen wird. Er hat Geld, das er mit vollen Händen ausgibt. Kumpels, die ihm mit Respekt begegnen, auf den Partys in den angesagtesten Clubs der Stadt sind immer Plätze für sie reserviert.
Kevin überhäuft Claudia S. mit Geschenken, geht mit ihr in die teuersten Restaurants, in die besten Clubs, zu Partys auf den großen Yachten im Wannsee. Er nimmt sie mit zu illegalen Boxkämpfen, stellt sie all seinen Freunden vor. Alle gehen respektvoll mit ihr um.
Claudia S. ist fasziniert, fühlt sich wie in einem Film. Sie genießt das neue, das wilde, unangepasste Leben. Hier zählt nicht, wer welchen Abschluss hat, welchen Doktortitel, welches Buch man gelesen hat. Sie genießt die neue Gesellschaft, auch die Gesetzlosigkeit, die eigenen Regeln, die neue Gemeinschaft, das Berlin, von dem sie nicht einmal ahnte, dass es existiert.
Kevin ist jemand im Drogengeschäft, arbeitet für die wirklich Großen. Den Verkauf für halb Ostberlin hat er unter sich. Er ist ein gut strukturierter Organisator, sitzt zu Hause lange am Rechner, führt Listen, die er stets im Tresor aufbewahrt.
Seinen Führerschein hat er schon lange verloren, deshalb hat er einen Fahrer. Der bringt auch Pizza, wenn sie nicht mehr rausgehen wollen, kauft ein, macht alles, was Kevin ihm sagt. Freunde, Brüder nennen sie sich.
Der Name Claudia befindet sich bald in seiner persönlichen Galerie. Auf seinem Bauch – als Tattoo. Ihren hat er größer tätowieren lassen als den von Leyla, mit der er immerhin zwei Jahre zusammen war. Es ist ihm sehr ernst mit ihr.
Seine Wohnung ist groß, bald zieht sie bei ihm ein. Jede Nacht sind sie lang unterwegs, tagsüber geht Kevin seinen Geschäften nach. Die sollen sie nicht kümmern, sagt er, davon soll sie besser nichts wissen.
Den Kontakt zu ihren Eltern bricht Claudia S. ab, nachdem diese in ihrer freundlich besorgten Art deutlich gezeigt haben, was sie von Kevin halten. Ihr waren sie schon lange zu spießig, zu brav, zu angepasst mit ihrer bildungsbürgerlichen Liberalität.
Claudia S. lebt mit Kevin, führt seinen Haushalt, bestellt Fastfood, manchmal kocht sie für ihn die Rezepte von Koch-Internetseiten nach und freut sich, wenn es ihm gefällt. Geputzt wird die Wohnung selbstverständlich von jemand anderem. Sie ist nur noch »Süße«, »Schätzchen«, »Zuckerschnäuzchen«, »geile Prinzessin«.
Wenn er weggeht, möchte er, dass sie zu Hause bleibt. Wenn sie doch weggeht, will er, dass der Fahrer nicht von ihrer Seite weicht. »Ich habe einfach Angst um dich, Schätzchen, die Welt ist viel schlechter, als du sie dir vorstellst. Und gerade in meinem Beruf. Da gibt es leider ein paar schlechte Menschen, die mir gerne schaden würden. Und das ginge am besten über dich. Vertraue mir. Ich beschütze dich.«
Kontakte mit den Freundinnen von seinen Freunden sind okay, die gehen auch nicht allein aus. Andere Kontakte sieht Kevin nicht gern, »die kann ich einfach nicht einschätzen, Püppchen«.
Claudia S. macht das nichts aus, es freut sie, dass Kevin sich Sorgen um sie macht. Sie will auch gar nichts mehr mit ihren alten Freund*innen zu tun haben, die langweilen nur.
Spricht ein anderer Mann, ein fremder Mann sie an, kriegt er eine Warnung, dann auf die Fresse. Kevins Kumpel wissen, wie man ihr und ihm gegenüber Respekt zeigt und was es heißt, zu ihm zu gehören.
Claudia S. liebt dieses Leben.
Mit der Zeit weiß sie doch von seinen Geschäften und kennt seine Partner. Einmal geht etwas schief, und sie müssen sehr schnell sehr viele Pakete in die Wohnung schaffen und am nächsten Tag wieder wegbringen. Sie reden nicht darüber. Besser, wenn sie es vergisst, besser, wenn sie wegsieht.
Alles ist wunderbar, wenn es läuft. Wenn es mal nicht so läuft, wie Kevin es will, ist es schwer. Kevin ist ruhelos, leicht kränkbar, prinzipientreu. Für ihn persönlich sind Drogen, Alkohol, Fremdgehen tabu, Diskussionen gibt es nicht. Ordnung ist wichtig, Treue und Vertrauen unabdingbar. Streit in der Beziehung ist abwegig. Ebenso Widerspruch. Er liebt es, mit ihr einzukaufen, Ketten, Ohrringe, Klamotten, Pelze.
Abends in den Clubs ist er der große Held.
Zu Hause mag er es, wenn sie ihn auspeitscht, ihn fesselt. Dann weint er, wimmert, jammert. Ganz klein ist er dann. Mit der Potenz ist es nicht weit her, die vielen Anabolika haben ihre Spuren hinterlassen. Claudia S. ist das nicht wichtig.
Als Kevin eines Tages mit Pudel Cheri im Körbchen zu ihr kommt, verliebt sie sich sofort in sie.
Fünfzehn Monate geht das so. Sie sprechen davon, eine Familie zu gründen. Ein kleiner Prinz, eine süße Prinzessin. Als es mit der Schwangerschaft nicht sofort klappt, meldet Kevin sie in einer Kinderwunschklinik an. Sie warten noch auf die Spermaanalyse, suchen schon eine größere, eine kindgerechte Wohnung. Alles läuft gut.
Aber dann trifft Claudia S., als sie in Begleitung des Fahrers mit Cheri Gassi geht, Tobias auf der Straße. Tobias kennt sie seit der Grundschule, er hat in der gleichen Straße gewohnt. Sie haben zusammen schwimmen gelernt und das Einmaleins. Als Tobias’ Familie in einen anderen Stadtteil gezogen ist, haben sie sich aus den Augen verloren.
Es ist der Tag ihres 22. Geburtstags. Kevin hat eine große Party für sein Schätzchen organisiert, der ganze Club über den Dächern Berlins ist nur für sie reserviert. Alle seine Freunde, all ihre gemeinsamen Bekannten werden kommen. Claudia S. erzählt Tobias von dem Fest und lädt ihn spontan ein.
Tobias kommt.
Auf der Party spricht sie fast zwei Stunden mit ihm über alte Zeiten, über die Grundschullehrerin mit der fiesen Stimme, über den Hausmeister, der die Kinder immer geschlagen hat, über ihre und seine Eltern. Über harmloses Zeug. Es freut sie, den alten Freund wiederzusehen, jemand aus ihrer alten Welt. Als er geht, folgt ihm der Fahrer.
Kaum ist Tobias weg, bestellt Kevin eine Magnumflasche Champagner. Er trinkt Alkohol. Das hat sie noch nie bei ihm erlebt. Er ist lustig, küsst sie vor aller Augen, lässt sie hochleben. Ausgelassen feiern sie bis in die Morgenstunden.
Als sie nach Hause kommen und Claudia S. gerade glücklich und etwas angetrunken die Tür hinter sich schließt, schlägt Kevin ihr ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht. Sie stürzt zu Boden, er tritt zu. Dann fesselt er sie, peitscht sie. Er penetriert sie, schlägt sie wieder, schleppt sie ins Badezimmer und uriniert auf sie. Dann penetriert er sie erneut. Er hat seinen ersten Orgasmus seit Langem. Sie schreit, sie weint. Sie fleht und wimmert. Irgendwann gibt sie auf. Er würgt sie, bis sie in Ohnmacht fällt.
Als sie erwacht, liegt sie auf ihrem Sofa. Kevin ist weg. Alles schmerzt. Ihr ganzer Körper ist zerschunden. Sie zieht sich ihren Jogginganzug an, zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Zieht sich wieder aus, wäscht sich, zieht sich wieder an. Mit der Gemüsebürste schrubbt sie ihren Körper blutig.
Als Kevin ihr schreibt, dass der Fahrer sie gleich abholen wird, nimmt sie in Panik Cheri und rennt aus der Wohnung, zieht noch schnell das Pelzjäckchen über. Rennt kopflos und ohne Gefühl durch die halbe Stadt. Ohne es zu planen, landet sie bei ihrer alten Freundin Anke. Die kennt er nicht. Von der hat sie ihm nie erzählt. Ihr kann sie vertrauen, bei ihr ist sie sicher. Anke versteht die Not sofort, als sie Claudia S. sieht.
Eine Anzeige erstattet Claudia S. nicht. Die Polizei gibt keine Sicherheit, nicht gegen Kevin und seine Freunde. Zu oft hat sie mitbekommen, wie wenig Angst sie vor der Polizei haben, und der eine oder andere Beamte wurde ihr hin und wieder überschwänglich vorgestellt.
Anke fotografiert sie, fragt nicht, lässt sie erzählen, kocht Tee, deckt sie zu, lässt ihr immer und immer wieder ein Bad ein. Zwei Tage später überredet Anke sie, zum Arzt zu gehen. Sie gehen gemeinsam zu Ankes Ärztin, die ihre Praxis um die Ecke hat. Sie sieht die eingerissene Scheide, die Hämatome am ganzen Körper, das dunkle Würgemal am Hals. Sie dokumentiert alles und rät ihr dringend, die Polizei einzuschalten. Sie verschreibt ihr etwas gegen die Schmerzen. Noch Tage später hat Claudia S. Schwierigkeiten beim Sprechen, beim Schlucken, Gehen, Sitzen.
Claudia S. versteckt sich in Ankes Wohnung, sie hat große Angst.
Ihr Handy hat sie noch während ihrer Flucht weggeschmissen, nachdem sie eine letzte Nachricht an Kevin gesandt hatte: »Wenn du mir folgst, zeige ich dich an. Lass mich in Ruhe, dann wird nichts geschehen.«
Sie sucht keinen Kontakt zu ihren Eltern.
Nach ein paar Wochen bringt Anke sie nach Rostock. Dort hat sie Bekannte, bei denen Claudia S. erst einmal im Gartenhaus leben kann. Sie wissen nur, dass Claudia S. ein Problem mit ihren Eltern hat und nicht gefunden werden möchte. Sie spricht kaum, liegt tagelang im Bett. Langsam, ganz langsam wagt sie es, mit Cheri den Garten zu verlassen und mit ihr spazieren zu gehen.
Anke hat ihr etwas Geld geliehen. Aber bald geht es zur Neige. Claudia S. weiß nicht, wovon sie leben soll. Polizeilich anmelden kann sie sich unter keinen Umständen, das würde Kevin herausfinden. In einem Supermarkt arbeiten wäre auch viel zu öffentlich, dann würde sie immer nur angstvoll alle Käufer beäugen. Wochenlang denkt sie darüber nach und stöbert im Internet.
Dann findet sie die Anzeige eines Studios, das Dominas sucht. Von Diskretion ist dort die Rede und »ausgewählter Kundschaft«. Spontan meldet sie sich dort und erhält einen Vorstellungstermin. Es ist anders, als sie erwartet hatte. Eine große, kräftige, dunkelhaarige Mittfünfzigerin öffnet ihr. Nie hätte sie sie für eine Prostituierte gehalten, eher Typ Unternehmensberaterin.
Sie ist eine verantwortungsvolle Chefin, der gute Arbeitsbedingungen für die Frauen wichtig sind. Nur ausgewählte Kunden – »oberes Segment«. Es gibt sogar Supervision für die Frauen und gute Bezahlung.
Genau der richtige Ort für Claudia S. Es dauert nicht lang, bis sie ihrer Chefin von Kevin erzählt. Die ist nicht verwundert. Sie freunden sich an und verbringen viel Zeit miteinander. Langsam gewinnt Claudia S. ihr Selbstbewusstsein zurück, beginnt wieder zu fühlen und sich wieder zu mögen. Die Wunden heilen nach und nach.
Eines Tages, als sie sich schon nicht mehr ständig umsieht, passiert es. Kevin steht vor ihr, mitten im Supermarkt.
Nie wird sie erfahren, wie er sie gefunden hat. Kevin lächelt sie an, kommt auf sie zu. Dann droht er ihr, zischt ihr üble Beschimpfungen zu. Sie schreit – so laut sie kann. Kevin geht langsam, sehr langsam, erst lächelnd, dann lachend hinaus. Er nimmt Cheri mit, die draußen angeleint ist. Claudia S. wagt es nicht, den sicheren Supermarkt zu verlassen, muss tatenlos zusehen, wie er ihr Liebstes nimmt.
Im Supermarkt hat jemand die Polizei angerufen. Als sie kommen, zeigt sie ihn an. Spontan. Monate nach der Tat. Zunächst wegen Diebstahl des Hundes. Aber die Polizeibeamtin merkt, dass es mehr gibt als den gestohlenen Hund, und Claudia S. ist nicht in der Lage, es zu verschweigen. So erzählt sie von der Vergewaltigung.
Später wird die Anzeigesituation Anlass zu großem Misstrauen geben. Immer wieder wird im Verfahren behauptet werden, dass sie die Vergewaltigung nur erfunden habe, um den Hund zurückzubekommen. Ihre Glaubhaftigkeit sei schon deshalb eingeschränkt, da sie nicht unmittelbar nach der Tat zur Polizei gegangen sei, denn ein echtes Vergewaltigungsopfer zeige sofort nach der Tat an.
In Deutschland gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 114.393 weibliche Opfer von vollendeten und versuchten Delikten sogenannter Partnerschaftsgewalt.1 Mehr als 3100 Personen wurden Opfer sexueller Übergriffe und sexueller Nötigungen im Rahmen von Beziehungen im sozialen Nahbereich, wovon 92 Prozent weiblich waren.2
Das hohe Maß an Gewalt belegt auch eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2014, nach der 33 Prozent der befragten Frauen in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben.3
Die Dunkelfeldforschung geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, also von zahlreichen Taten, die nicht angezeigt werden. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2003 – leider gibt es keine aktuellere Studie – zeigen gerade einmal acht Prozent aller Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, diese bei der Polizei an.4 Dieses Schweigen ist nicht zuletzt der alltäglichen Kultur geschuldet, in der Betroffenen von Vergewaltigung die Schuld zugewiesen wird.
95 Prozent der Täter*innen sind männlich, 95 Prozent der Opfer weiblich. Nur bei sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen sind die Opfer zu 20 Prozent männlich. Trans- oder Interpersonen werden von der Statistik nicht erfasst. Es ist aber davon auszugehen, dass diese ein noch erheblich höheres Risiko haben, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden.5
Claudia S. sagt viele Stunden bei der Kriminalpolizei aus. Äußerst kritisch werden ihre Aussagen beleuchtet, immer wieder erlebt sie die Befragung so, als glaube man ihr nicht, als sei sie schuldig und habe das gesamte Geschehen nur erfunden. Jedes Detail der Vergewaltigung berichtet sie, so gut es geht, einiges hatte sie schon verdrängt.
Sie berichtet nichts über Kevins Geschäfte. Voller Angst und Ekel verlässt sie die Polizeidienststelle und nimmt die abschließend freundlichen Worte des Vernehmungsbeamten kaum noch wahr, der ihr mitteilt, dass man sie einfach so hart habe drannehmen müssen, um die Wahrheit herauszufinden und zu prüfen, ob sie eine spätere Hauptverhandlung durchhalten werde. »Wenn Sie wüssten, was da noch alles auf Sie zukommt – dagegen ist unsere Befragung ein Zuckerschlecken!«
Ihr wird auch gesagt, dass das Verfahren in Berlin geführt werden wird und sie gut beraten sei, sich möglichst rasch eine Anwältin in Berlin zu suchen.
Offenbar hatte man ihrer Aussage Glauben geschenkt, die Akte aus Rostock sofort an die Staatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet, die einen Haftbefehl beantragt und erhalten hat. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass Kevin für die Ermittlungsbehörden kein unbeschriebenes Blatt ist.
Als Kevin zwei Tage nach der ersten Aussage von Claudia S. festgenommen wurde, haben die Polizisten Cheri mitgenommen und ihr mitgeteilt, dass sie sie abholen könne.
Claudia S. beschließt deshalb, sofort nach Berlin zurückzukehren, und schlüpft wieder bei Anke unter. In Rostock fühlt sie sich sowieso nicht mehr sicher. Die Angst ist wieder da, fast wie am ersten Tag.
Als sie zehn Tage später bei der Anwältin am Besprechungstisch sitzt, will sie eigentlich nur eins: ihre Anzeige zurücknehmen.
Sie sitzt da in ihrem kleinen Pelzjäckchen, hat Cheri auf dem Schoß, spricht leise, viel zu schnell, nervös. Wenn es bei der Anwältin klingelt, zuckt sie zusammen. »Die werden mich finden und fertigmachen. Ich werde nichts sagen über die Drogen, nichts über die ganzen Verbindungen. Aber das wissen die ja nicht. Es ist ein absolutes Tabu, man wendet sich einfach nicht an die Bullen, nie, unter keinen Umständen. Wie konnte ich nur so blöd sein!«
Aber sie kann die Anzeige nicht einfach zurücknehmen.
Eine Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Wenn eine sexuelle Nötigung mit Gewalt oder besonders erniedrigend erfolgt, was etwa bei dem Eindringen in eine Körperöffnung der Fall ist, ist sie mit einer Mindeststrafe von ein bis zwei Jahren belegt, wenn sie sogar konkret lebensbedrohlich war, mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren. Bei solch schweren Straftaten liegt es nicht in der Hand der Betroffenen, zu entscheiden, ob das Verfahren durchgeführt wird oder nicht. Sobald die Ermittlungsbehörden von einer solchen Straftat hören, müssen sie ermitteln, unabhängig von dem Wunsch der Betroffenen. Diese sind verpflichtet auszusagen, selbst wenn sie dies aus welchen Gründen auch immer nicht möchten. Es gilt den staatlichen Strafanspruch zu erfüllen, nicht das Interesse der Einzelnen. Dabei wissen viele Betroffene, dass gerade bei Sexualdelikten oder bei Delikten im häuslichen oder sonstigen Nahbereich die Verfahren äußerst belastend sind, ihnen massives Misstrauen begegnet und sie retraumatisiert werden können. Viele Opferhilfeorganisationen und Anwält*innen, die in diesem Bereich tätig sind, diskutieren seit Jahren, ob der Strafprozess der richtige Weg für die Betroffenen ist oder man ihnen von der Erstattung von Strafanzeigen abraten sollte.6 Aber was käme stattdessen? Sollte man ganz auf Strafverfahren verzichten und für die Betroffenen allein auf Entschädigungsverfahren setzen, wie es liberale Strafverteidiger*innen fordern?7 Sinn, Zweck und Wirkung von Strafen ist durchaus umstritten, aber eine gute und schlüssige Antwort darauf, wie man mit dem Massenphänomen der sexualisierten und physischen und psychischen Gewalt gegen Frauen umgeht, gibt es aus progressiver Sicht bisher nicht. Besorgniserregend ist, dass konservative und extrem rechte Organisationen in diese Lücken drängen und sich als überwachende und/oder ausführende Macht anbieten. Dabei fordern sie wahlweise mehr Polizei und einen starken Staat oder auch die Bildung von Bürgerwehren.8
Kevin sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft will das Verfahren schnell durchführen, sie schreibt schon an der Anklageschrift. Ein erster Haftprüfungsantrag von ihm wurde bereits zurückgewiesen, erst einmal bleibt er in Haft.
Die Anwältin weiß, über wen sie Kontakt zu denen aufnehmen kann, vor denen Claudia S. Angst haben muss. Sie kennt die Anwälte, die für Kevins Bosse arbeiten. Es ist ein unverbindliches, wie zufälliges Gespräch, das sie ein paar Tage später im Anwaltszimmer führt. Sie trifft einen »bestimmten« Kollegen wie beiläufig am Kaffeeautomaten und erzählt ebenso beiläufig, dass sie von Claudia S. mandatiert sei. »Ich weiß ja nicht, ob du Herrn O. in dem Vergewaltigungsverfahren vertrittst, aber möglich wäre es ja. Mir und meiner Mandantin ist wichtig zu betonen, dass es nur um die Vergewaltigung gehen wird, ansonsten gibt es nichts zu erzählen für sie, gar nichts.« Der Kollege sieht sie an, anscheinend irritiert, und sagt, dass er von diesem Verfahren gar nichts wisse und mit dieser Information erst recht nichts anfangen könne, und verabschiedet sich.
Ein paar Tage später begegnen sie sich wieder, ganz »zufällig«, und der Kollege sagt, dass er sich umgehört habe. »Er wird nicht von einem von uns verteidigt, da muss deine Mandantin etwas falsch verstanden haben. So wichtig ist er nicht. Wenn du meine Meinung wissen willst: Für die Vergewaltigung, wenn er sie denn begangen hat, kann er verfolgt werden, da muss er selbst durch. So was macht man einfach nicht. Wenn deine Mandantin nur dazu etwas sagt und ihm nicht noch andere Sachen anhängen will, dann stellt das sicher kein Problem dar.« Dann spricht er unvermittelt weiter von seiner Haftbeschwerde, die er gerade in anderer Sache gewonnen hat.
Das reicht zunächst für die Sicherheit von Claudia S.
Schon zwei Monate nach der Anzeige hat die Staatsanwaltschaft die Anklage fertig. Kevin wird bei einer Schöffengerichtabteilung des Amtsgerichts wegen Vergewaltigung angeklagt.
Eigentlich wurde mit dem StORMG (Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs) im Jahr 2013 eingeführt, dass bei Verfahren, bei denen die mehrfache Befragung der Opfer zu erheblichen Belastungen führt, nicht beim Amtsgericht, sondern erstinstanzlich bei einem Landgericht angeklagt werden soll. Damit soll den Betroffenen, insbesondere von Sexualstraftaten, erspart werden, in einer möglichen zweiten Instanz erneut befragt zu werden. In der Realität wird dies aber in zahlreichen Gerichtsbezirken nicht so gehandhabt, im Gegenteil werden dort fast alle Vergewaltigungsverfahren vor den Amtsgerichten angeklagt, da die Landgerichte kaum Ressourcen haben.9 Dies führt im Endeffekt dazu, dass die erstinstanzlichen Verfahren zwar oft innerhalb von ein bis zwei Jahren abgeschlossen sind, es aber bei Verurteilungen meist zu einer weiteren Verhandlung in der Berufung kommt, was letztlich dazu führt, dass Vergewaltigungsverfahren oft erst nach drei bis vier Jahren abgeschlossen werden und zahlreiche, häufig sehr belastende Befragungen in den Instanzen erfolgen. Anders ist dies nur bei Haftsachen, also wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet. Dann gilt ein besonderes Beschleunigungsgebot, und die Verfahren werden sehr viel schneller und vorrangig bearbeitet.
Die Hauptverhandlung beginnt fünf Monate nach Kevins Inhaftierung und dauert lediglich zwei Verhandlungstage. Kevin bestreitet die Tat, sagt nicht aus. Sein Verteidiger ist wenig engagiert, rechnet von vornherein mit einer Verurteilung und der zweiten Instanz und stellt weder Fragen noch einen einzigen Antrag. Claudia S. sagt sicher aus, berichtet von der Tat ausführlich. Es kommt zu keinen Widersprüchen mit ihrer polizeilichen Aussage und anderen Zeugenaussagen. Die Fotos, die ärztliche Untersuchung, die Aussage von Anke ergänzen sie. Das Gericht hat es eilig und ist offenkundig erfreut, so wenig Schwierigkeiten in dem Verfahren zu haben.
Am Ende wird Kevin zu dreieinhalb Jahren verurteilt und tobt bei der Urteilsverkündung. Er bleibt in Untersuchungshaft und kündigt seinem Verteidiger.
Da Kevin weiterhin in Haft bleibt, muss sich das Landgericht, bei dem die Berufungssache eingeht, beeilen. Schon vier Monate nach dem erstinstanzlichen Urteil beginnt die zweite Instanz vor der Berufungskammer.
Er hat nun doch zwei der »richtigen« Anwälte, einer von ihnen ist der vom Kaffeeautomaten. Vor allem aber hat er jetzt mehrere neue Zeug*innen, die bereit sind, für ihn falsch auszusagen und Kübel mit Dreck über Claudia S. auszugießen. Auch die Anwälte sind dazu bereit.
Claudia S. sagt aus, erklärt sich. Sieben lange Verhandlungstage wird sie als Zeugin vor der Berufungskammer befragt. Sie beantwortet alle Fragen, erläutert ihr Verhältnis zu ihren Eltern, zu ihren ehemaligen Freund*innen, zu Kevin. Sie stockt, als sie gefragt wird, ob ihr ihr damaliger Freund ebenbürtig gewesen sei. Sofort hakt der Verteidiger nach: »Frau S., ich will es mal so fragen: Stehen Sie darauf, sich überlegen zu fühlen? Genießen Sie das?«
»Nein«, sagt sie. »Ich fühlte mich nie überlegen. Ich war in einer für mich vollkommen neuen Welt, in der er sich sehr viel besser auskannte und bewegte als ich.«
Sie soll erklären, weshalb sie sich so verändert habe, von der gutbürgerlichen Lehrerstochter zur schicken Szenemieze im Pelzjäckchen, und wie schnell es ging, sich wieder zurückzuverwandeln. Wann und wie oft sie gelogen habe, will der Verteidiger wissen, im Allgemeinen, aber auch im Speziellen. »Haben Sie Schule geschwänzt, Ihre Eltern angelogen, Ihre Freunde gegeneinander ausgespielt? Was haben Sie Ihren Eltern erzählt am Anfang Ihrer Beziehung mit Kevin? Haben Sie sie angelogen? Weshalb haben Sie sich aller alten Freundinnen entledigt? Bedeuten Ihnen Beziehungen zu anderen Menschen nichts? Haben Sie auch schon andere Freunde von einem Tag auf den anderen verlassen, und wenn nein, nennen Sie uns doch bitte die Namen und Adressen der Freundinnen, die Sie nicht im Stich gelassen haben.«
Selbstverständlich kommen auch Fragen zu Tobias – darauf ist sie vorbereitet: »Wann haben Sie Ihre alte Liebe mit Tobias wieder aufgenommen? War Tobias eifersüchtig? Wollte er, dass Sie Kevin verlassen? Wann merkten Sie, dass er besser zu Ihnen passte als Kevin?« und: »Wann wurden Sie eigentlich Kevins überdrüssig?«
Je nach Delikt, sozialem Status, Herkunft und Geschlecht wird Zeug*innen eher geglaubt oder misstraut. So gilt bei Gericht etwa die Grundannahme, dass Polizeibeamt*innen vor Gericht nicht zu Lügen tendieren und ihnen grundsätzlich geglaubt werden könne.10 Denn man geht davon aus, dass Polizeizeug*innen kein Interesse daran hätten, die Unwahrheit zu sagen, und als quasi Berufszeug*innen einen besonders geschulten Blick für das Richtige hätten und der Wahrheit verpflichtet seien. Gleiches gilt für Angehörige von Justiz oder anderen Behörden, denen man grundsätzlich vertraut. Hingegen besteht grundsätzliches Misstrauen, wenn Frauen über Taten wie häusliche Gewalt oder Partnerschaftsgewalt, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch oder auch schweren Menschenhandel aussagen.
Der Mythos der stets falsch bezichtigenden rachesuchenden Frau, die, etwa um sich einen Vorteil zu verschaffen oder um vielleicht auch nur der verflossenen Liebe zu schaden, Ermittlungsbehörden dreist belügt und Straftaten erfindet, ist hartnäckig und wirkmächtig. Es gibt unendlich viele Vorurteile, wie eine »echte Vergewaltigung« aussehen soll und wie sich ein »echtes Vergewaltigungsopfer« verhalte. Man spricht deshalb von Vergewaltigungsmythen.11 Tatsächlich gibt es keine wissenschaftlich fundierten Zahlen, die beweisen, dass Frauen überproportional Sexualdelikte oder Partnerschaftsgewalt falsch anzeigen.12
Immer noch werden in Gerichtsverhandlungen intimste Fragen zu allen Lebensbereichen gestellt, etwa zum gesamten Vorleben, zu sämtlichen Sexualpartner*innen und -praktiken, zu Freund*innen, Verwandten und Bekannten, einfach allem Erdenklichen, was irgendwie geeignet sein könnte, Zweifel zu säen. Immer wieder kommt es vor, dass Zeug*innen als Lügner*innen beschimpft, verlacht und verunsichert werden, sie werden verächtlich und herablassend befragt, oder es werden einfach Behauptungen in den Raum gestellt, die vor allem dazu geeignet sind, die Zeug*innen aus der Fassung zu bringen, wie etwa: »Könnte es auch daran liegen, dass Sie häufig sexuelle Erlebnisse später bereuen?«, oder: »Wenn Sie schon lange keinen Sex mehr hatten, dann waren Sie womöglich einfach von der Situation überfordert, dass endlich mal einer ernst machte, oder?«
Gern werden auch Fragen gestellt wie: »Trinken Sie häufig zu viel?« »Haben Sie sich oft nicht unter Kontrolle?« »Bereuen Sie häufig etwas, was Sie noch kurz vorher wollten?« Frauen wird unterstellt, sich durch das Verfahren das alleinige Sorgerecht erschleichen zu wollen oder endlich keinen Umgang mehr gewähren zu müssen, oder dass sie einfach mal ihren Vorgesetzten fertigmachen wollten, der sie nicht befördert habe. Auch welch unglaublichen finanziellen Vorteil die Verletzten aus der Falschbezichtigung zögen, wird behauptet.
Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird. Häufig ist die strafrechtliche Verfolgung ökonomisch eine Katastrophe für die Betroffenen, etwa wenn der Vergewaltiger oder Misshandler der Ehemann und Alleinverdiener war und ins Gefängnis kommt. Oder wenn der Täter etwa ein Arbeitgeber ist und besonderes Ansehen genießt. Dann wird, selbst wenn er verurteilt wird, die anzeigende Frau in dieser Branche kaum noch eine Anstellung finden, gilt sie doch als schwierig, belastet oder eben als die, die den anderen angezeigt hat. Auch die Schmerzensgeldsummen sind in Deutschland so gering, dass sie, wenn das Geld überhaupt eintreibbar ist, nicht annähernd für das Ausmaß der Folgen angemessen sind.
Claudia S. macht ihre Sache gut. Sie ist bestens auf den Termin vorbereitet, weiß, dass es darum geht, sie zu verunsichern, dass versucht werden würde, sie an einen Punkt zu bringen, sei er noch so abseitig, an dem sie sich in Widersprüche verwickeln, an dem sie lügen würde. Eine altbewährte und beliebte Fragetechnik. Aber Claudia S. lügt nicht, antwortet konzentriert und offen. Sie weiß auf alles eine Antwort, manchmal überlegt sie etwas länger, manche Details erinnert sie nicht mehr genau und kann dies darstellen. Es gibt keine Widersprüche, keine Unsicherheiten. Das Thema Drogen umschiffen alle gemeinsam.
Irgendwann verstehen die Verteidiger, dass sie mit dieser Taktik nicht weiterkommen und Claudia S. mit jeder Frage nur noch glaubwürdiger wird. Sie beantragen eine Pause zur Beratung, stellen danach die Strategie um und keine einzige Frage mehr. Jetzt will man sie nicht mehr in Widersprüche verwickeln, sondern ihr zu gutes Aussageverhalten problematisieren. Ihre Vernehmung wird abgeschlossen, und unmittelbar danach gibt einer der Verteidiger eine kurze Stellungnahme ab, wie sie jeder Verfahrensbeteiligte nach jeder Beweisaufnahme abgeben darf, und erklärt: