Die Autorin

Kathrin Weßling – Foto © Melanie Hauke

KATHRIN WESSLING, 1985 in Ahaus geboren, arbeitet als Journalistin, Social-Media-Beraterin und Senior Editor in Berlin. Sie liebt Dinge mit WLAN und Liebe. Ihr letztes Buch, »Super, und dir?«, wurde von Presse und Lesern als »der Roman ihrer Generation« gefeiert.

Das Buch

Alex ist verlassen worden. Und ohne Jenny ist Berlin einfach nichts. Kurzentschlossen nimmt Alex sich eine Auszeit im Kaff seiner Kindheit. Doch statt Erholung sieht er sich mit einer Idylle konfrontiert, die keine ist, nie wirklich eine war – auf jeden Fall nicht für ihn. Statt Unterstützung gibt es Familienstreit, offene Rechnungen mit alten Freunden und vor allem Langeweile. Und Alex fragt sich, ob er die Kleinstadt eigentlich jemals hinter sich gelassen hat. Und was überhaupt Zuhause bedeutet.

Intensiv und unerschrocken, klar und kompromisslos erzählt Kathrin Weßling die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht nur alle anderen, sondern vor allem sich selbst belogen und betrogen hat – das Abbild einer Generation auf der Suche nach allem und nichts, nach Heimat zwischen Provinz und Großstadt, vor allem aber nach sich selbst.

Kathrin Weßling

Nix passiert

Roman

Ullstein

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Alle Rechte vorbehalten
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Titelabbildung: ©plainpicture/Jérome Gerull
Autorenfoto: Melanie Hauke
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ISBN 978-3-8437-2174-5

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Widmung

Für mich.

Juli

#1

Du hast mir das Herz nicht gebrochen, nein, das wäre dir ja zu wenig, das ist ja nicht doll genug, nicht krass genug, da muss die Faust her, mit der Faust hast du reingeschlagen, mitten rein, denn nur, was zertrümmert wird, zerschlagen und vernichtet, ist erledigt für dich, da gibt es kein Pardon, kein »Entschuldigung, war nicht so gemeint«, nicht mal die immer nicht ganz so ernstgemeinte Variante von »Entschuldigung«: »Sorry, echt.« Nein, hier gibt es kein Pardon, keine Rücksicht, keinen Zweifel. Deine Worte sind eine Herzvernichtungswaffe, alles verseucht und tot danach, kontaminiertes Gebiet, das keiner je wieder betreten kann. Du hast alles versaut, du hast alles vergiftet, du dummes Stück Scheiße, ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich, ich vermisse dich so sehr.

#2

Ich schau ständig, ob ich irgendwo ihre Beine sehe. Die mochte ich am meisten, diese Beine. Die waren so elegant und sehnig, seltene Beine waren das. Sind es noch. Die sind ja noch an Jenny dran. Nur ich kriege die eben nicht mehr zu sehen. Ich kriege den ganzen Jenny-Körper nicht mehr zu sehen. Denn der Jenny-Mensch hat beschlossen, dass unsere Beziehung vorbei ist, dieses Arschloch einfach, Jenny, du dummes Arschloch. Entschuldigung. Ich befinde mich in Phase zwei des Liebeskummers: »Aufbrechende Gefühle«.

Da schwankt man ständig zwischen Wut, Trauer, Enttäuschung und so anderem Wahnsinn, weil man aus Phase eins raus ist, in der man einfach leugnet, dass man verlassen wurde. Zur Belohnung kriegt man alle schlechten Gefühle, die es gibt, in die Fresse geschleudert. Toll, danke, supernice. Leugnen ist natürlich auch keine Option, denn das ist ja leider ein wenig geisteskrank, so zu tun, als sei man noch in einer Beziehung mit jemandem, der aber nicht mehr in einer Beziehung mit einem ist. Das kann man schon bringen, aber dann ist man halt verrückt. Weil ich das nicht sein will, nicht DAS auch noch, habe ich mich vor den Spiegel gestellt und gesagt:

»Okee, also Alex, Jenny hat dich verlassen. Du bist verlassen worden. Das ist jetzt so. Okay, das wollte ich dir nur kurz sagen, nicht, dass du nachher so tust, als wüsstest du das nicht, ne? Also ciao dann.«

Dann habe ich mich sehr lange angestarrt, so direkt in die Augen, in mein Innerstes sozusagen, damit ich mir das einpräge: Ich bin verlassen worden. Dann habe ich versucht, zu weinen, aber das ging einfach nicht, egal, wie fest ich gepresst habe, egal, wie oft ich geblinzelt habe, da kam einfach keine einzige Träne und dabei löst Heulen doch die Anspannung, glaube ich, und dann würde sich meine Brust nicht mehr so anfühlen, so, als würde Jennys Faust noch da drinstecken, weil sie so doll zugeschlagen hat, dass sie stecken geblieben ist und ihren Arm aus meiner Brust gar nicht mehr herauskriegt. So fühlt sich das an, ich laufe mit Jennys Arm in der Brust durch Berlin und keiner sieht’s außer ich.


Jetzt gerade habe ich eine Menge Gefühle, die sich anfühlen wie Risotto. Alles eine einzige Matsche, alles auf einmal und am Ende noch Parmesan drüber. Mein Parmesan ist Angst. Angst verleiht dem Gefühlsmatsch einen ganz besonderen Geschmack, das ist quasi dann ein ganz besonderes Drei-Gänge-Menü. Erster Gang: Trauer. Zweiter Gang: Alle anderen miesen Gefühle, die es gibt. Zum Nachtisch gibt es Panikattacken. Und Angst oben drüber gestreut. Einfach geil, so ein Leben, oder, da hat man gleich so richtig Bock auf die Liebe, oder? Ich würde am liebsten alle Gefühle auskotzen, deshalb muss ich auch ständig würgen. Weil ich die eigentlich alle nicht haben will, aber Jennys Faust hält die fest in mir und lässt die nicht los, deshalb habe ich diesen Scheißarm in der Brust und dieses Risotto aus Gefühlen. Ekelhaft.


Ich schaue ständig auf mein Smartphone, ob sie geschrieben hat. Keine Ahnung, warum ich das mache. Also doch, natürlich weiß ich, wieso: Ich will, dass sie schreibt, dass sie mich vermisst und zurück zu mir will. Keine Ahnung, warum Leute Hoffnung so geil finden. Hoffnung ist einfach das Letzte. Hoffnung macht, dass man glaubt, dass die Person, die einem in ungefähr dreizehntausend Wörtern gesagt hat, dass sie einen nicht mehr liebt, es sich anders überlegt und dann vor der Tür steht und in dreizehntausendunddrei Wörtern sagt, dass das doch alles nicht so stimmt und dass sie einen doch liebt, sorry, Kommando zurück.

Es gibt bestimmt Statistiken darüber, wie oft so was passiert, ich bin mir aber sicher, ohne je eine gelesen zu haben, dass die Wahrscheinlichkeit so bei unter einem Prozent liegt. Trotzdem verbringt man Stunden damit, darauf zu warten, dass das Unwahrscheinlichste eintritt, Tage verbringt man so, Wochen, Nächte, Arbeitsmeetings, immer schnell aufs Handy schielen, selbst, wenn man doch Vibration eingestellt hat und es spüren würde, wenn eine neue Nachricht kommt, aber nein, hat man ja vielleicht ausnahmsweise nicht gemerkt und das Display leuchtet auf, leer und hell oder, noch schlimmer: da, oh, eine Nachricht – bloß leider nicht von ihr. Man verschwendet sich also an diese dumme Hoffnung, diese Ein-Prozent-Hoffnung, und wird ganz irre dabei, weil einfach nix passiert, es passiert einfach nichts, außer dass Zeit vergeht und genau das dann am Ende das ist, was hilft, auch wenn man es nicht glaubt, auch wenn man es schon tausendmal erlebt hat. Hoffnung stört da wirklich nur, Hoffnung ist wie eine Wand aus Frischhaltefolie, mit der man eine Lawine aufhalten will. Hoffnung ist wirklich so ein Dreck.

Am schlimmsten an der Hoffnung ist, dass sie den Arm in der Brust fixiert, da kann man so fest dran ziehen, so richtig heftig dran rütteln, wenn da noch Hoffnung ist, bewegt sich die Faust keinen Millimeter, ganz im Gegenteil: Die versteinert und bleibt.

Ich will die Scheißhoffnung nicht, aber die ist leider einfach irgendwie da, hat sich reingeschlichen wie resistente Keime in eine Wunde, die ich ja nun mal mit mir herumtrage. Plötzlich war die Hoffnung da. Überall: Jenny meldet sich bestimmt wieder, die kommt zurück. Die merkt, dass sie einen Fehler gemacht hat, und dann kommt sie angekrochen, aber dann bleibe ich erst mal hart und sage so was wie: »Das fällt dir jetzt ein? Dafür ist es zu spät!« – wobei ich ganz genau weiß, dass es dafür natürlich nicht zu spät ist, klar nehme ich sie zurück, sie müsste sich noch nicht mal entschuldigen, ich bin so bedürftig und verletzt, so jämmerlich und voller Sehnsucht, dass ich nur noch Linderung will und sie ist die Medizin, sie soll mich heilen, sie soll kommen und die Bepanthensalbe für diese monströse Wunde sein. Und obwohl ich weiß, dass das wahrscheinlich nicht passiert, checke ich manisch ständig mein Telefon, ob sie jetzt endlich zurückkommt, 17:01 Uhr: nee, noch nicht. 17:08 Uhr: nein. 17:10 Uhr: immer noch nicht. 17:14 Uhr: nope. 17:17 Uhr: leider nein, leider nicht.

So was kann sich ja innerhalb von Millisekunden ändern, so stelle ich mir das jedenfalls vor, so hab ich das in meinem Kopf inszeniert: Jenny auf Station, sie läuft über den stinkigen Krankenhausflur, bleibt plötzlich stehen, runzelt die Stirn, sagt tonlos »Fuck« oder »Oh mein Gott, ich bin so eine Idiotin«, und dann dreht sie auf dem Absatz um, rennt los, eine Kollegin ruft ihr hinterher: »Jenny, was ist denn los?«, und Jenny ruft, ohne auch nur ein minibisschen langsamer zu laufen: »Ich muss einen schrecklichen Fehler wieder gutmachen!«, und dann ist sie auch schon im Fahrstuhl verschwunden. Klar, man könnte jetzt sagen: Alex, das klingt wie eine Szene, die man so immer im Film sieht oder im ZDF. Aber ich sag nur: ein Prozent. Ein Prozent ist immer noch mehr als nichts.


Manchmal wünsche ich mir nur deshalb, dass sie zurückkommt, damit ich sagen kann: Nee, sorry, ich bin über dich hinweg. Einfach für den Effekt, einfach für das geile Machtgefühl, wenn ICH nein sage und ihren Arm aus meiner Brust ziehe und ihr damit ins Gesicht schlage, ha ha, wie gut wäre das? Passiert natürlich nicht, aber ich hoffe es trotzdem, weil ich ja auch einfach sehr viel Zeit hab, die muss man ja mit etwas verbringen, wieso dann nicht damit. Ich meine, zwischen den Daily Tasks wie Selbsthass, Panikattacken und das Smartphone checken hab ich noch einen Time-Slot frei für irre Hoffnung auf Dinge, die niemals passieren werden. Keine Ahnung, wann ich endlich ein Gefühlsburnout habe und mein Gehirn keinen Bock mehr auf diese Qual hat, aber erfahrungsgemäß kommt irgendwann immer der Tag, an dem man begreift, dass kein Gedanke Liebeskummer heilt. Weil ein gebrochenes Herz keine komplizierte Aufgabe ist, die man lösen kann, denkt man nur lange und ehrgeizig genug darüber nach. Kein einzelner Gedanke wird es je sein, der heilt. Es gibt keine richtige Lösung, weil Liebeskummer ein Problem ist, das sich selber löst, eine Gleichung, die man einfach in Ruhe lässt und eines Tages schaut man wieder hin und sieht, dass die Aufgabe verschwunden ist und das Ergebnis ist man selber, so einfach ist das, so banal, so schwer zu ertragen, dass man da wirklich nicht viel machen kann.

Denn man will ja was tun, damit man das Gefühl hat, wenigstens zu irgendwas nützlich zu sein – und nicht einfach nur so ein erbärmliches Opfer, so ein Verwundeter, so ein bemitleidenswerter Idiot. Deshalb macht man Sport, weil Bewegung helfen soll, und man macht Yoga vielleicht oder meditiert, man beginnt eine Therapie, man beschäftigt sich mit sich selbst, man MACHT unheimlich viele Sachen, einfach, um nicht fühlen zu müssen, dass all das nicht die Fäden sind, mit denen man das verwundete Herz zusammenflickt, weil es von alleine heilen muss, einfach nur durch Zeit. Im Grunde sind all diese manischen Aktivitäten nichts anderes, als diese Zeit mit IRGENDWAS zu füllen, weil den ganzen Tag im Bett liegen und die Decke anstarren irgendwann auch körperlich unangenehm wird, also muss man raus, raus, raus, Hauptsache, man verlässt den Kopfknast, in dem man in Endlosschleifen immer wieder das Gleiche denkt, das eigentlich in wenigen Sätzen zusammengefasst wär:

Ich wurde verlassen, aua, es tut weh, ich werde aber nie erfahren, was genau die andere Person fühlt, weil wir hier ja nicht in einem magischen Hexenzirkel sind, zum Glück kommt aber ja fast jeder fast immer über Liebeskummer hinweg, aber natürlich sind das ganz eklige Gefühle, die ich jetzt aushalten muss, aua, aua, aua, es war einfach alles so schön, ach, ach, ach, ich vermisse die Person so sehr, sie ist so ein Arschloch, wie kann sie mir das antun, ach, aua, ach, hier noch mal alle wunderschönen Momente eurer ganz, ganz großen Liebe im Schnelldurchlauf, tut’s weh, na da haben wir doch gleich auch noch den Film mit den Best-Of-Situationen, in denen du dich wie der letzte Idiot verhalten hast, deshalb hat dich die andere Person auch verlassen, logisch, wer will schon mit so einem Menschen zusammensein, aua aua aua, ach ach ach.

Viel mehr geht da ja nicht ab im Kopf, den man sich langsam und nach und nach, Tag für Tag, Stunde um Stunde so wund wie das Herz denkt, denn warum nicht immer und immer wieder die gleiche Scheiße erinnern und leiden wie ein Hund dabei, ist doch Fun, an den guten Sex zu denken, an ihre Augen, an ihre Achseln, ihren Bauchnabel, ihre Muschi und diese Beine, die ich nie wieder anfassen darf und die gleichzeitig Tausende Kilometer im Kreis durch meinen Kopf laufen.

#3

Es muss was passieren. Es muss unbedingt irgendwas passieren, weil es so nicht weitergeht. Es ist Hochsommer und ich liege seit Tagen schwitzend und heulend auf meinem Bett und stehe nur auf, um mir neuen Whiskey Sour zu mixen. Den trinke ich meistens in zwei Zügen aus und dann fühl ich wieder einskommafünf Stunden nicht so viel. So kann man auch seine Tage verbringen, ich hab damit jedenfalls die letzten fünf ganz gut rumgekriegt. Mir ist schon klar, dass das nicht ideal ist, dass es zum Beispiel gesundheitlich ein bisschen problematisch ist, dass ich diese grotesk großen Maxi-Packs Zigaretten an einem Tag aufrauche, das sind ungefähr vierunddreißig Zigaretten in den siebzehn Stunden, in denen ich leider wach bin. Dazwischen trinke ich vor sechzehn Uhr bedenkliche Mengen Kaffee, von dem ich massives Herzrasen bekomme, was wiederum Panikattacken auslöst, wogegen ich dann so ab nachmittags mit dem Saufen anfange. Ich hab mehrfach versucht, mir einen runterzuholen, aber es geht einfach nicht. Also es geht schon, aber danach bin ich noch trauriger als vorher, also lass ich das lieber. Ich dusche nur im Dunkeln, weil ich meinen eigenen Körper gerade nicht mehr mag. Ich will gar nicht sehen, wie der aussieht, weil ich ja im Grunde nicht mal Ich sein will. Ich wär gern so ein Kopf in einem Tank, so ein bisschen wie bei Futurama, einfach kein Körper mehr und damit auch kein Herz. Oder eine Lobotomie. Na ja: Zumindest in den ganz schlimmen Momenten denke ich so was.

Davon gibt es gerade einige. Manchmal tut es so weh, dass ich mich auf meinem Bett winde und hin- und herwerfe, weil der Schmerz in der Brust vernichtend ist. Es brennt. Ich kriege keine Luft. Ich brülle in mein Kopfkissen, dass sie zurückkommen soll, obwohl ich weiß, dass das das Schlimmste wäre, weil sie mir nun mal das verdammte Herz gebrochen – und es nicht verdient hat, mit mir zusammenzusein. Das versuche ich mir einzureden, weil so was ja Menschen mit Würde und Selbstliebe sagen würden, oder? Dass es das Pech der anderen Person ist. Nicht das eigene. Ich glaube das nullkommanull, weil die Wahrheit ist, dass ich sehr sicher nie wieder glücklich werde, weil ich nie wieder einen so tollen Menschen wie sie treffe und deshalb für immer alleine bleiben muss und sie ist nur mich los, aber ich bin quasi die Liebe meines Lebens los. Wer hat da jetzt wohl mehr verloren? Alles ist sehr extrem gerade, das sehe ich ein. Aber das sind eben momentan die Maßstäbe, das habe ich mir ja nicht ausgedacht, da kann ich ja nun wirklich nix für, ich war schließlich nicht derjenige, der mir das Herz zu Staub zerschlagen hat.

Schlimm sind auch die Momente, in denen ich kurz wegnicke und dann wieder aufwache und für eine Sekunde nicht weiß, was passiert ist und nichts fühle – und dann bummmm, der Kopf wird geflutet, Vorhang auf für die Horrorshow. Das sind so Minuten, in denen ich meinen Kopf in meine Hände lege, mich zusammenrolle und so sehr heule, dass ich manchmal Angst habe, damit nicht mehr aufhören zu können. Das Schluchzen tut weh, ich huste, ich kriege Kopfschmerzen und wehre mich dagegen wie gegen einen externen Schmerz, den ich verhindern könnte. Es geht nicht. Ich kämpfe gegen mich selbst, gegen mein Gehirn, das auf Jenny-Entzug ist und einfach nur wild um sich schlägt.

Einige meiner Freunde, der Sascha zum Beispiel, sagen, dass es doch gut ist, dass ich so krasse Gefühle habe, also so leide, weil das ja zeigen würde, dass ich Jenny auch wirklich geliebt habe. Ja, witzig, denke ich dann, echt super interessant, aber das Ding ist: Das wusste ich auch schon vor dem Schmerz. Miri schreibt in unserer WhatsApp-Gruppe, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, zu wachsen und neue Dinge über mich zu lernen. Ich möchte ihr gerne schreiben, dass ich schon echt ganz schön viel über mich weiß und dass das alles kein Jochen-Schweizer-Event ist, bei dem ich mich ganz neu spüre, weil das so eine geile Experience ist. Es ist leider einfach eher wie in einem Escape Room, in dem ich so lange eingesperrt bin mit all meinen Ängsten und all meiner Trauer und einfach allem, was so richtig schlimm ist, bis die Zeit die Tür von selber aufmacht und ich raus kann. Das Einzige, was ich dabei lerne, ist, wie wahnsinnig man jemanden vermissen kann. Klar bin ich da eines Tages drüber hinweg. Dann habe ich gelernt, dass ich auch so was schaffen kann. Aber wozu brauche ich diese Erkenntnis? Damit ich die in meinen Grabstein meißeln lassen kann? »Er überlebte Jenny – aber den Krebs nicht. Tja schade lol«.

Daniel sagt, dass ich wieder daten soll. Miri findet das gar keine gute Idee, weil ich mich nicht ablenken, sondern auf mich konzentrieren soll. Sascha sagt, dass ich genau das ja wohl in Vollzeit in den letzten Tagen getan habe und man ja sieht, was das gebracht hat. Sport, sagt er, mach Sport, Junge, das hilft und macht, dass du geil aussiehst. Aha. Ich finde es ein bisschen niedlich, dass sie sich um den bestmöglichen Behandlungsplan für mich streiten. Das ist natürlich sehr lieb. Trotzdem haben am Ende alle Unrecht. Ich will zwar dringend Ablenkung, aber ein Date ist wirklich einfach nur eine grauenhafte Idee. Ich glaube, Sascha sieht das alles so, weil er noch nie richtig geliebt hat. Der ist immer nur ein Jahr mit den Frauen zusammen und die sind immer mindestens fünf Jahre jünger und himmeln ihn an. Weil er ein Narzisst ist und es nicht erträgt, wenn seine Freundin ihn kritisiert, verlässt er sie dann immer irgendwann. Logisch, dass Dating in Saschas Welt eine wirklich gute Idee ist, weil der Wechsel ja fliegend sein muss, da kann man auf keinen Fall länger als zwei Wochen wegen einer traurig sein.

Ich aber weiß leider, wie es laufen würde, ich sehe es sehr deutlich vor mir. Schon beim Installieren von Tinder bekäme ich einen Heulkrampf, weil ich Jenny genau dort vor einem Jahr kennengelernt habe. Und da ist dann auch bestimmt noch der Chat von uns. Und dann müsste ich den öffnen, um den zu löschen. Und dann wäre die ganze Erinnerung wieder da und das wäre schon eigentlich der Punkt, an dem ich nicht mehr kann, aber ich muss mir ja ein Date organisieren, also halte ich es irgendwie aus und dann matche ich irgendeine, die nicht ist wie Jenny und alles tut weh.

Ich weiß nicht, wie andere Menschen das schaffen, einfach weiterzumachen, back to Tinder, back in the game. Ich bin einfach nur wie gelähmt und will die ganze Scheiße nicht fühlen, ich will einfach taub sein und mich an nichts erinnern, ich will mein Leben zurück, dieses Leben, in dem es keine Jenny gab und kein »wir« und in dem ich glücklich war.

Denn es ging mir sehr, sehr gut, bevor ich sie getroffen habe. Daran erinnere ich mich genau.

Ich war dreißig, der Sommer fiel über Berlin her, wie er es immer tut: plötzlich und heftig, die Straßen heiß, die ganze Stadt vibrierte, war wach, so was von wach, so angespannt, dass man es fühlen konnte. Ein einziger Blick konnte eine Schlägerei oder eine große Liebe auslösen, alles war in diesen Juninächten möglich. Im Winter davor hatte mich eine Lethargie erfasst, wie ich sie bereits kannte, aber wie das so ist mit diesen Dingen, hatte ich erfolgreich vergessen, dass ich das überleben würde. Ich hatte mich krankgemeldet, lag wochenlang im Bett, dachte darüber nach, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, und betrank mich jeden zweiten Tag. Irgendwann aber ist auch die größte Schwere langweilig, die sich immer selbst wiederholt, das fällt einem dann irgendwann auch wieder ein und dann muss man etwas beschließen, denn mit Beschlüssen fängt ja alles immer an. Also hatte ich mir einen Plan gemacht und der bestand eigentlich nur darin, mindestens viermal die Woche Sport zu machen, keinen Alkohol mehr zu trinken und allgemein ein sehr gesunder, sehr erwachsener Mensch zu sein. Zumindest war das meine Vorstellung davon. Ich ging wieder zur Arbeit und hatte kontinuierlich an Gewicht verloren, ich sah blendend aus im Frühling und fühlte mich großartig. Die Panikattacken, die ich seit Dezember regelmäßig gehabt hatte, verschwanden und auch die Schlafstörungen waren weg. Sport ist scheiße, aber leider macht er wirklich exakt all die Dinge, die man ihm zuschreibt und so dachte ich, wie jeder sehr faule Mensch, der es plötzlich schafft, regelmäßig in so ein Fitnessstudio zu gehen, dass das der Turning Point sei, weil ich nun, mit dreißig, endlich begriffen hatte, wie geil Crosstraining war und von nun an nie wieder keinen Sport machen würde und deshalb permanent davon redete, als sei das einfach mal die krasseste Offenbarung, die es so noch nie gegeben hatte, höret meine Worte, ihr Jünger. Wie Leute, die mit Yoga anfangen, musste ich einfach ständig sehr ausschweifende Monologe darüber halten, wie toll Sport sei und dabei meine Sätze so formulieren, dass sie implizierten, dass es echt arm und ziemlich bemitleidenswert war, nicht viermal die Woche gegen irgendeine dämliche Maschine zu kämpfen, die in einem voll klimatisierten, aber trotzdem immer eklig riechenden Fitnessstudio herumstand. Dabei kämpfte ich natürlich gegen meinen Körper, aber der war ja am Ende auch bloß eine Maschine aus Fleisch.

Durch den unablässigen Wechsel zwischen Trainingseinheiten und Muskelkater hatte mein Gehirn Urlaub. Ich musste quasi niemals so richtig nachdenken, denn irgendwas tat immer so weh, dass es mich davon ablenkte, mir zu viele Gedanken zu machen. Also meldete ich mich bei Tinder an, hatte einige gute und einige schlimme One-Night-Stands und dann traf ich Jenny und war so verliebt wie seit Jahren nicht. Und wäre das hier ein Artikel in einem Online-Medium, würde sich nun der Kreis schließen und Alexander lebte glücklich, entgegen aller Tinder-Unwahrscheinlichkeit, bis ans Ende seines Lebens mit Jenny in einer Drei-Zimmer-Altbauwohnung. Die Geschichte würde sich sehr gut machen, weil sie beweisen würde, dass es das doch gibt, diese große Liebe, diesen Wahn, aber auf die gute Art, versteht sich, bei der sich zwei Menschen treffen und sich heillos verlieben und ein Team bilden, eine Bande sozusagen und dadurch ist der ganze abgefuckte Online-Dating-Shit legitimiert, ein Prozent eben, ein Prozent reicht doch, weil alle immer glauben, dass sie so unfassbar besonders sind, und weil sie das glauben, sind sie auch dumm genug anzunehmen, dass sie eben diese ein Prozent sind, Milliarden Schneeflocken, Milliarden ganz besonders gesegnete Individuen. Genau das glaubte ich natürlich auch, als ich sie kennenlernte, denn ich war nicht nur Software-Engineer, sondern halt auch einfach einer der besten Menschen der Welt. Die wiederum drehte sich um mich, wie das bei uns Menschen so üblich ist und also glaubte ich, dass Jenny und ich uns finden mussten, konnte gar nicht anders sein, denn zwei so außergewöhnliche Personen mussten natürlich zueinanderfinden, ganz logisch, weil vorherbestimmt.

So was lieben die Leute, das macht Hoffnung und wie gesagt: Keine Ahnung, warum, aber etwas, das nur theoretisch und mit großer Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlich möglich ist, scheint für die meisten besser zu ertragen zu sein als die Realität, die aus Müll runterbringen und Rechnungen bezahlen und irgendwann sterben besteht.

Aber weil das kein Artikel ist, liege ich auf meinem Bett und heule die Kissen voll, na herzlichen Glückwunsch.

Es ist nicht so, dass ich nicht gerne hätte, dass es so weitergeht, denn ich habe eigentlich wirklich absolut keine Kraft für etwas anderes. Weil alles andere ja jetzt ohne sie ist und ich keine Ahnung habe, wie sich das jemals wieder gut anfühlen sollte. Ich bin ehrlich: Ich wäre sogar mit »okay« zufrieden, meine Ansprüche sind gerade wirklich sehr, sehr niedrig. Aber nichts fühlt sich okay an, weil dieser Arm mit der Faust dran in der Brust ständig im Weg ist. Der erinnert mich unablässig daran, dass ich nicht mehr heil bin, nicht mehr ich selber, sondern so ein Typ Anfang dreißig mit einem gigantischen Krater im Brustkorb.

Eine der wenigen Beschäftigungen, die noch gehen, ist der extreme Konsum von Trash-TV. Am liebsten schaue ich Sendungen, in denen Menschen die Liebe finden sollen. Je schlimmer das alles ist, desto lieber ist es mir. »Die Bachelorette« ist okay, aber diese eine Show, bei der Singles zusammen in einem Hotel sind und die einzige Aufgabe ist, dass sie am Ende des Tages mit jemandem in einem Bett zusammen schlafen, ist wirklich besonders gut. Ich mag den Gedanken, dass selbst solche Obertrottel wie die jemanden finden können. Dann ist es für mich vielleicht auch möglich. Na ja. Außer, ich bin einfach zu schlau. Das kann ja sein, dass mich deshalb niemand will, weil ich einfach zu klug bin. Damit können die meisten Menschen ja nicht gut umgehen. Ich kann mich aber leider nicht dümmer machen. Deshalb habe ich versucht, mich schöner zu machen, und das hat ja offensichtlich funktioniert, wie man an Jenny sieht. Bloß halt nicht lang. Also muss ich mich offenbar doch dümmer machen und mit Trash-TV fange ich an.

Mein Telefon liegt neben dem Bett, es bleibt stumm. Ich habe Instagram und Facebook deinstalliert, damit ich mir nicht anschauen muss, was Jenny jetzt so macht. Natürlich habe ich sie gleich nach der Trennung überall entfreundet, aber ihr Instagram-Account ist öffentlich und ich weiß genau, wie das laufen würde, nämlich so, dass ich, wenn sie nichts postet, unablässig denken würde »Aha, die ist bestimmt gerade bei jemand anderem«, und wenn sie was posten würde, würde ich denken »Aha, die ist bestimmt gerade mit jemand anderem unterwegs«. So oder so wäre in meinem Kopf großes Drama und es ist ja nicht so, als hätte ich davon nicht schon genug in mir drin, da brauche ich diesen Social-Media-Mindfuck nicht auch noch.

Ich habe hin- und herüberlegt, ob ich nicht einfach ganz viele Bilder und Stories posten soll, die alle so ein bisschen andeuten, dass es mir extrem gut geht und da eventuell, hier, siehst du, Jenny, guck, guck, auch schon eine andere ist, ha, so schnell geht das nämlich! Aber auch dafür bin ich zu erschöpft und was hätte ich auch davon? Sie kommt ja nicht zurück, nur weil sie denkt, dass sie ersetzt wurde. Ganz im Gegenteil. Leider kennt sie mich auch so gut, dass sie weiß, dass das eh nicht so wäre. Ich will keine andere und das ist das ganze Problem. Ist es und war es. Ich wollte sie zu sehr und sie wollte nur eine Version von mir, die ihr gut gepasst hat. Das hat sie mich immer spüren lassen, damit ich das ja nicht vergesse. Da war immer dieses Damoklesschwert über mir, das hin- und herschwang und mir mitteilen sollte: ein Fehler und Herz ab, Junge.

Ich hätte es wissen müssen und das sage ich nur, weil ich es natürlich wusste, aber nicht wissen wollte und es einfacher ist, wenn man so tun kann, als hätte man einfach keine Ahnung gehabt. Aber es ist nicht so, dass wir glücklich gewesen wären. Obwohl ich glaube, dass Jenny meistens ganz okay glücklich war und ich panisch versucht habe, sie glücklich zu machen und aus dem Okay wieder das »wahnsinnig verliebt« vom Anfang herauszuholen. Denn das war ziemlich schnell weg. Zumindest bei ihr. Ich wurde eigentlich nur immer verliebter und sie immer distanzierter. Wenn man will, dass jemand ganz verrückt nach einem ist, dann muss man es wie Jenny machen: erst all in und dann langsamer Rückzug.

Ich hätte es wissen müssen, als sie mich nicht sehen wollte, weil sie mal »ihre Ruhe« bräuchte.

Ich hätte es wissen müssen, als ich nicht mehr neben ihr schlafen konnte, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Anwesenheit wie eine zu warme Decke mitten im Sommer war – sie wühlte sich förmlich von mir weg, ich lag neben ihr und fror fürchterlich, obwohl es warm war. Es war, als würde ihr Körper plötzlich meinen abstoßen, als störte sie meine bloße Existenz, dass ich atmete und da war. Kurz bevor sie mich verließ, bin ich einmal mitten in der Nacht aufgestanden und stand eine halbe Stunde in ihrem Badezimmer und redete leise mit mir selber. Ich versuchte mich zu beruhigen, mir zu sagen, dass alles in Ordnung sei, dass ich Gespenster sah, dass ich mir das nur einbildete, diese Abstoßungsreaktion auf mich. Dass das Herzrasen, das ich neuerdings neben ihr spürte, einfach nur Stress war. Dass ich es überdramatisierte. Dass doch eigentlich alles wie immer war. Aber da war dieser stille Alarm in mir, der unablässig klingelte, wenn ich in ihrer Nähe war. Der dazu führte, dass ich neben ihr plötzlich schwitzte oder fror, dass ich stiller wurde, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, dass ich Angst hatte, Angst. Als wäre da eine Bedrohung, etwas, das ich nicht sehen und begreifen konnte, aber ich spürte es, ich hatte diesen Geruch in der Nase, diese Ahnung. Ich stand vorm Spiegel und redete lautlos auf mich ein. Ich sagte mir, dass ich ein verdammter Lappen war, ein Angsthase, ein Verrückter. Dass ich Geister sah und diese Geister schwebten um meine Freundin und das muss man sich mal vorstellen, dass einer so was denkt, ha ha, du verrückter Freak. Irgendwann hatte ich mich beruhigt, aber die Anspannung ging nicht weg, ich legte uns beide zusammen neben sie. Vor Anspannung war mein Atmen unruhig, je mehr ich versuchte, normal zu atmen, desto schlimmer wurde es, ich kriegte kaum noch Luft und lag steif wie ein Brett da und betete, dass sie einfach schläft, dass sie nichts merkt, aber sie sagte: »Warum bist du so unruhig, das nervt«, und ich sprang aus dem Bett und sagte: »Ja, du hast recht, ich nerve mich schon selber, ich zieh mich an und fahr nach Hause, du musst ja morgen früh raus und ich ja auch, schlaf weiter, einfach, schlaf«, und dabei meinte ich eigentlich: »Wieso ist alles plötzlich so beschissen zwischen uns, wieso fühlt es sich nicht mehr an wie vor zwei Wochen, vor zwei Monaten, was ist passiert, was habe ich nicht mitbekommen, was ist hier schiefgelaufen, Jenny, sag mal, oder sag einfach, dass ich nicht gehen muss, dass ich bei dir bleiben kann, sag es jetzt, bitte sag es einfach, dann ist alles gut«, aber Jenny sagte nichts, sie murmelte nur »Okay«, drehte sich um und war weg.