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Yukio Mishima wurde 1925 in Tokyo geboren und war Autor zahlreicher Romane, Dramen, Kurzgeschichten, Essays und Gedichte. Nobelpreisträger Yasunari Kawabata war sein Mentor. Sein Werk überschreitet bis heute inhaltliche und stilistische Grenzen und macht ihn zu einem der wichtigsten japanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Als politisch umstrittene Persönlichkeit beging Mishima 1970, nach einem gescheiterten Aufruf zur Wiedereinsetzung des japanischen Kaisers, rituellen Selbstmord. Bei Kein & Aber erschienen bereits Neuübersetzungen seiner Romane Bekenntnisse einer Maske und Der Goldene Pavillon.
Enttäuscht und desillusioniert schaltet Hanio eine ungewöhnliche Anzeige, in der er sein Leben zum Verkauf anbietet. Sein Ziel: zum Abschluss etwas Abwechslung. Tatsächlich melden sich verschiedene Menschen bei Hanio, doch nie endet der Auftrag mit dem von ihm herbeigesehnten Tod. Stattdessen sterben die Menschen um ihn herum. Über mangelnde Abwechslung kann er sich allerdings nicht beklagen, und als er dann noch die attraktive Reiko kennenlernt, ändern sich für ihn die Vorzeichen. Könnte das Leben in seinen Augen endlich einen Wert haben, und wäre er endlich bereit, den Preis dafür zu zahlen? Leben zu verkaufen ist Yukio Mishimas rasantester Roman: spannend, unterhaltsam und bis zum Ende überraschend.
Als Hanio erwachte, war es so hell, dass er glaubte, er sei im Paradies. Doch er spürte noch immer diesen durchdringenden Schmerz im Hinterkopf. Im Paradies aber gab es keine Schmerzen.
Das Erste, was er sah, war das große schmucklose Fenster mit der mattierten Glasscheibe. Neben dem Fenster wirkte alles ungeheuer weiß.
»Ich glaube, er ist aufgewacht«, sagte jemand.
»Wie gut. Ich werde mich den ganzen Tag über an dem Gedanken freuen, dass ich einem Menschen das Leben gerettet habe.«
Hanio blickte hoch. Er sah eine Krankenschwester und einen untersetzten Mann in Feuerwehruniform.
»Ganz ruhig. Bleiben Sie ganz ruhig. Sie sollten sich nicht bewegen.« Die Krankenschwester drückte seine Schultern aufs Bett.
In dem Moment wusste Hanio, dass sein Selbstmord gescheitert war.
................ .
Er hatte in der letzten Bahn gesessen und einen Haufen Schlaftabletten geschluckt. Genauer gesagt, hatte er sie an einem Trinkbrunnen in der Station eingenommen und sich dann auf die Sitze des leeren Waggons gelegt. Was danach geschehen war, wusste er nicht mehr.
Sein Selbstmordversuch war nicht die Folge langer Überlegungen gewesen, er hatte in der Snackbar, in der er für gewöhnlich zu Abend aß, die Spätausgabe der Zeitung gelesen und plötzlich den Wunsch verspürt, seinem Leben ein Ende zu setzen.
»Mitarbeiter im Außenministerium als Spion enttarnt. Razzia bei der Gesellschaft für Japanisch-Chinesische Freundschaft sowie zwei weitere Einsätze. Minister McNamara versetzt. Erste Smogwarnung für Tokyo in diesem Winter. Staatsanwalt fordert lebenslange Haft für Aono, den Bombenleger vom Flughafen Haneda, wegen ›großer Heimtücke‹. Lastwagen auf Bahngleise gestürzt: Kollision mit Güterzug. Aortenklappe eines Toten erfolgreich in Mädchenherz transplantiert. Bei Raubüberfall auf Bankfiliale in Kagoshima 900000 Yen erbeutet.« Das waren die Nachrichten vom 29. November 1968.
Keine der Tagesnotizen war besonders außergewöhnlich.
Keiner der Artikel hatte Hanio berührt.
Aber plötzlich war ihm der Gedanke an Selbstmord gekommen, so wie man auf die Idee kommt, ein Picknick zu machen, doch als er jetzt angestrengt nach einem Grund dafür suchte, fiel ihm nicht der geringste ein. Wahrscheinlich hatte er genau deswegen versucht, sich umzubringen.
Es gab keine unglückliche Liebe, und selbst wenn es eine gäbe, wäre das kein Grund, sich das Leben zu nehmen. Er hatte auch keine größeren finanziellen Probleme. Hanio arbeitete als Werbetexter, und der im Fernsehen ausgestrahlte Werbeslogan für das Magenmittel Sukkiri der Pharmafirma Goshiki war sein Werk: Sukkiri – Frisch – klar – wunderbar!
Er könnte sich selbstständig machen, denn er besaß zweifellos Talent, aber er hatte keine Lust dazu. Als Angestellter der Firma Tokyo Ad bezog er ein recht ordentliches Monatsgehalt und war damit zufrieden. Bis gestern war er ein fleißiger, gewissenhafter Mitarbeiter gewesen.
Genau. So besehen, war das der Grund für seinen Selbstmord.
Dann, als er so kraftlos dasaß und die Zeitung las, waren ihm die inneren Seiten unter den Tisch gerutscht.
Im Rückblick hatte er das Gefühl, als hätte er all das beobachtet wie eine träg daliegende Schlange, die ihre gehäutete Haut zu Boden gleiten sieht. Kurz darauf war er unter den Tisch gekrochen, um die Zeitung aufzuheben. Er hätte sie auch einfach dort liegen lassen können, und es ist unklar, warum er das nicht tat, vielleicht, weil es gesellschaftlich geboten war, Dinge aufzuheben, oder weil, was vielleicht noch wichtiger war, er eine wesentliche Entscheidung getroffen hatte: die Ordnung der Welt wiederherzustellen.
Er kroch also unter den kleinen, wackligen Tisch, streckte seine Hand nach der Zeitung aus und machte eine entsetzliche Entdeckung.
Auf der zu Boden gefallenen Zeitung saß regungslos eine Kakerlake. Als er seine Hand ausstreckte, rannte das schillernde mahagonifarbene Insekt mit einem Affenzahn davon und mischte sich unter die gedruckten Zeichen.
Dennoch hob er die Zeitung mühsam auf, breitete die angelesenen Seiten auf dem Tisch aus und ließ seinen Blick darüber gleiten. Doch kaum machte er sich daran zu lesen, als sich nun sämtliche Schriftzeichen in Kakerlaken verwandelten. Sie wandten ihm ihre eklig glänzenden, rotschwarzen Rücken zu und rannten davon.
Das ist der Gang der Welt, durchfuhr ihn eine plötzliche Erkenntnis. Und mit dieser Erkenntnis überkam ihn der unweigerliche Wunsch zu sterben.
Aber artete das jetzt nicht in eine Erklärung um der Erklärung willen aus?
So einfach war das nicht. Doch bei dem Gedanken, dass es sinnlos sei, weiterzuleben, wenn die Schriftzeichen der Zeitung zu Kakerlaken mutierten, setzte sich die Idee des Sterbens endgültig in ihm fest und schlug ihn in seinen Bann. So wie der rote Briefkasten an jenem verschneiten Tag mit einer Schneekappe bedeckt gewesen war, stülpte sich jetzt der Tod über ihn.
Aus irgendeinem Grund freute er sich, kaufte sich in der Apotheke Schlaftabletten, doch da er es schade fand, sie sofort einzunehmen, ging er erst noch ins Kino und sah sich drei Filme an. Danach schaute er in einer Bar vorbei, in die er hin und wieder ging, um Mädchen anzumachen.
Er setzte sich neben eine korpulente, völlig phlegmatisch wirkende junge Frau, und obwohl er nicht den leisesten Appetit auf sie hatte, bekam er Lust, ihr zu gestehen, dass er bald sterben würde.
Er drückte seinen Ellenbogen sachte gegen ihren dicklichen Ellenbogen. Sie sah flüchtig zu ihm herüber, drehte sich, als würde es sie enorme Mühe kosten, träge auf ihrem Stuhl zu ihm herum und gab ein Lachen von sich, das an eine lachende Kartoffel erinnerte.
»Guten Abend«, sprach Hanio sie an.
»Guten Abend.«
»Du bist hübsch.«
»Hihihi …«
»Weißt du, was ich dir gleich sagen werde?«
»Hihihi …«
»Weißt du nicht, oder?«
»Ich kann mir was vorstellen.«
»Ich werde heute Abend Selbstmord begehen.«
Das Mädchen schien keineswegs erstaunt, sie sperrte nur ihren großen Mund auf und lachte. Dann schob sie sich ein Stück getrockneten Tintenfisch tief in ihren Mund und kaute lachend darauf herum. Der Geruch nach Tintenfisch stieg Hanio in die Nase.
Kurz darauf betrat ein Mann die Bar, es war offensichtlich ihr Freund, und nachdem sie diesen überschwänglich begrüßt hatte, stand sie auf und ging fort, ohne sich von Hanio zu verabschieden.
– Auch er verließ das Lokal, seltsam verärgert darüber, dass sie ihm seinen angekündigten Tod nicht abgenommen hatte.
Hanio hatte sich für die letzte Bahn entschieden und musste nun noch einige Zeit totschlagen. Er betrat eine Pachinko-Halle und begann zu spielen. Die Kugeln kullerten ihm entgegen. Jetzt, wo sein Leben zu Ende ging, purzelten sie nur so heraus. Irgendwie fühlte er sich verschaukelt.
Schließlich wurde es Zeit.
Hanio ging zum Bahnhof, passierte die Fahrkartensperre, schluckte die Tabletten an dem Trinkbrunnen mit etwas Wasser hinunter und setzte sich in den Waggon.
Nach seinem misslungenen Selbstmord eröffnete sich Hanio eine leere und zugleich großartige, freie Welt.
Es war, als sei in diesem Moment sein tägliches Leben, das ewig anzudauern schien, zerrissen, und als sei nun alles möglich. Kein Tag würde wie der andere sein, er würde jeden einzelnen bis zum Ende ausschöpfen, die Tage lagen klar vor ihm, aufgereiht wie tote Frösche, die weißen Bäuche zum Himmel gestreckt.
Hanio kündigte bei Tokyo Ad, und da die Firma gut im Geschäft war, bekam er eine hohe Abfindung. Jetzt musste er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen.
Er stellte bei einer drittklassigen Zeitung in der Rubrik Stellengesuche folgende Anzeige ein:
»Leben zu verkaufen. Verfügen Sie frei über mich. Ich bin männlich, 27 Jahre alt und kann Geheimnisse wahren. Keinerlei Unannehmlichkeiten.«
Er fügte noch seine Adresse hinzu und befestigte an seiner Wohnungstür ein Schild, auf dem in schöner Schrift geschrieben stand: Life for Sale. Hanio Yamada.
An dem Tag, als die Anzeige erschien, meldete sich niemand. Seit Hanio nicht mehr zur Arbeit ging, hatte er zwar nichts zu tun, aber ihm war nie langweilig. Er lag in seinem Zimmer, sah fern oder träumte einfach nur vor sich hin.
Als man ihn mit dem Krankenwagen ins Spital gebracht hatte, war er nicht bei Bewusstsein gewesen, sodass er sich eigentlich an nichts erinnern dürfte. Merkwürdigerweise aber sah er immer, wenn er die Sirene eines Krankenwagens hörte, deutlich vor sich, wie er dort auf der Liege gelegen und laut geschnarcht hatte, während neben ihm ein Feuerwehrmann in einem weißen Kittel saß und die Überdecke festhielt, damit er bei dem Gerüttel des Wagens nicht von der Liege fiel. Seitlich an der Nase des Feuerwehrmanns war ein großes Muttermal gewesen …
Dennoch war sein neues Leben leer wie eine unmöblierte Wohnung.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür.
Hanio öffnete. Vor ihm stand ein kleiner älterer Mann in tadelloser Kleidung, der eilig hereintrat, sich noch einmal umschaute und dann die Tür hinter sich schloss.
»Sind Sie Herr Hanio Yamada?«
»Ja, der bin ich.«
»Ich habe Ihre Anzeige in der Zeitung gelesen.«
»Kommen Sie doch bitte herein.«
Hanio führte den Mann in das Zimmer, das, wie es sich für jemanden aus der Designerszene ziemte, mit einem schwarzen Tisch, schwarzen Stühlen und einem roten Teppich ausgestattet war.
Der Alte verbeugte sich höflich, setzte sich auf einen der Stühle und sagte zischend wie eine Kobra:
»Sie sind es also, der sein Leben verkauft.«
»Das stimmt.«
»Wie kommt es, Sie sind jung und scheinen ein schönes Leben zu führen?«
»Stellen Sie keine unnötigen Fragen.«
»Nun dann … Wie viel verlangen Sie für Ihr Leben?«
»Das kommt ganz darauf an, wie viel Sie bieten.«
»Stehlen Sie sich nicht aus der Verantwortung. Den Preis müssen Sie schon selbst bestimmen. Was, wenn ich Ihnen nur 100 Yen biete?«
»Wenn das Ihre Entscheidung ist, geht das in Ordnung.«
»Reden Sie kein dummes Zeug.«
Der Alte holte aus seiner Brusttasche ein Portemonnaie hervor, zog fünf nagelneue, scharfkantige 10000-Yen-Scheine heraus und fächerte sie wie die Karten eines Kartenspiels vor sich auf.
Hanio nahm die fünf Scheine ohne jede Gefühlsregung entgegen.
»Also, erzählen Sie, was Sie von mir wollen. Ich werde nicht Nein sagen.«
»Nun«, begann der Alte und zog eine Packung Filterzigaretten hervor. »Hier, nehmen Sie eine. Man bekommt ja nicht gleich Lungenkrebs davon. Und wennschon, jemand, der sein Leben verkauft, muss sich wegen Krebs keine Sorgen machen.
Mein Anliegen ist einfach«, fuhr er fort. »Ich habe eine Frau, das heißt, es ist meine dritte Frau, sie ist 23 Jahre alt, genau ein halbes Jahrhundert jünger als ich.
Meine Frau ist wunderbar. Ihre Brüste stehen weit auseinander, wie zwei Tauben, die sich nicht riechen können. Ihre Lippen genauso. Ober- und Unterlippe zeigen süß und träge in entgegengesetzte Richtungen. Ihr Körper ist von unbeschreiblicher Schönheit. Und erst die Beine. Mädchen haben ja heutzutage oft so schmale Beine, dünn und kränklich, aber meine Frau hat dralle Oberschenkel, doch zu den Knöcheln hin verjüngen sich ihre Beine, dort sind sie ganz zart, ich kann es kaum in Worte fassen. Und ihr Hintern ist weich und voll wie ein Maulwurfshaufen im Frühling.
Doch nun hat mich meine Frau verlassen, sie treibt sich herum und lebt als Mätresse eines Asiaten. Ein regelrechter Halunke ist das, der vier Restaurants besitzt und wegen eines Streits um irgendwelche Grundstücke zwei oder drei Typen auf dem Gewissen hat.
Ich möchte, dass Sie meiner Frau Avancen machen, eine Affäre mit ihr anfangen und dafür sorgen, dass der Asiate Ihrem Verhältnis auf die Schliche kommt. Dann wird er Sie sicher umbringen, vielleicht auch meine Frau. Was wohl? Und ich werde mich daran ergötzen. … Das ist alles. Meinen Sie, Sie können Ihren Tod so raffiniert einfädeln?«
»Ja«, antwortete Hanio, er war eher gelangweilt. »Aber ob das so romantisch wird? Sie träumen davon, sich an Ihrer Frau zu rächen, aber was, wenn sie freudig und voller Glück mit mir in den Tod geht?«
»Sie ist keine Frau, die am Tod Freude hat. Ganz im Unterschied zu Ihnen. Meine Frau will leben, um alles in der Welt. Es ist wie eine Zauberformel, die jeder Faser ihres Körpers eingeschrieben ist.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das werden Sie bald selbst erfahren. Auf jeden Fall möchte ich, dass Sie sich geschickt anstellen beim Sterben. Einen Vertrag brauchen Sie nicht, oder?«
»Kein Bedarf.«
Der Alte gab ein erneutes Zischen von sich, er schien noch etwas sagen zu wollen.
»Kann ich nach Ihrem Tod irgendetwas für Sie tun?«
»Nein, nichts. Ich brauche weder ein Begräbnis noch ein Grab. Eine Sache wäre da allerdings: Ich wollte schon immer eine Siamkatze haben, konnte mich aber nie dazu durchringen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nach meinem Tod an meiner Stelle eine Siamkatze halten könnten. Sie sollen ihr aber die Milch nicht auf einem normalen Teller, sondern in einer großen Schaufel geben. Und wenn sie die ersten ein, zwei Schlucke geschlappert hat, müssen Sie ihr die Schaufel gegen das Kinn stoßen. Dann wird ihr Katzengesicht über und über mit Milch bekleckert. Das müssen Sie einmal täglich tun, unbedingt. Das ist wichtig, Sie dürfen es nie vergessen!«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wozu das gut sein soll.«
»Das liegt daran, dass Ihre Welt so vernünftig ist. Auch Ihr heutiges Anliegen entbehrt jeder Fantasie. Eine Frage habe ich übrigens noch: Sollte ich das Ganze heil überleben, muss ich Ihnen dann die 50000 Yen zurückgeben?«
»Nein, das müssen Sie nicht. Ich möchte dann nur, dass Sie meine Frau töten.«
»Es handelt sich also um einen Auftragsmord?«
»Stimmt. Sie müssen dafür sorgen, dass diese Frau aus dieser Welt verschwindet und nie mehr wiederkehrt, und ich will mich deswegen nicht schuldig fühlen. Ich habe Schreckliches durchgemacht wegen ihr, und es wäre unangemessen, wenn ich mich schuldig fühlte. … Ich möchte, dass Sie gleich heute Abend loslegen. Etwaige Unkosten können Sie mir in Rechnung stellen, ich werde dafür aufkommen.«
»Wo muss ich denn hin, um loszulegen?«
»Nehmen Sie diesen Stadtplan. Auf dem Hügel hier steht ein luxuriöses Apartmentgebäude, es heißt Villa Borghese. Die Wohnung hat die Nummer 865, ist wohl sehr schick und liegt im obersten Stockwerk. Ich weiß aber nicht, wann sich meine Frau dort aufhält. Alles Weitere müssen Sie selbst herausfinden.«
»Wie heißt Ihre Frau?«
»Ruriko Kishi. Ruriko schreibt man mit Hiragana, Kishi mit demselben Zeichen wie beim Premierminister Kishi«, erklärte der Alte. Er hatte ein seltsames Strahlen im Gesicht.
Der Alte verabschiedete sich, ging zur Tür hinaus, zog sie hinter sich zu, doch dann kam er noch einmal zurück, und machte eine – angesichts dessen, dass er gerade ein Leben gekauft hatte – zugegebenermaßen plausible Bemerkung.
»Ich habe noch etwas vergessen. Sie dürfen niemandem gegenüber erwähnen, wer Ihr Auftraggeber ist, geschweige denn, dass Sie beauftragt wurden. So viel Geschäftsmoral muss ja wohl sein, wenn man sein Leben verkauft.«
»Machen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen.«
»Können Sie mir das schriftlich geben?«
»Was für ein Unsinn. Mit einer schriftlichen Verpflichtung würden Sie ja zu erkennen geben, dass Sie mich beauftragt haben.«
»Da haben Sie recht«, antwortete der Alte besorgt und zischte erneut durch sein schlecht gemachtes Gebiss. Er schlüpfte wieder in Hanios Wohnung.
»Aber wie kann ich Ihnen vertrauen?«
»Vertrauen gibt es nur absolut, so, wie einem auch der Zweifel keine Wahl lässt. Auf jeden Fall sind Sie hergekommen und haben mir Geld gegeben, was mich zu dem Glauben veranlasst, dass es in dieser Welt so etwas wie Vertrauen gibt. Aber Sie können beruhigt sein, selbst wenn ich jemandem erzählen wollte, dass Sie mich beauftragt haben, wüsste ich ja gar nicht, wer Sie sind, oder?«
»Unsinn. Das wird Ihnen Ruriko schon sagen, so viel ist sicher.«
»Verstehe. Aber das interessiert mich überhaupt nicht.«
»Kann sein. Ich kenne die Menschen lang genug. Ihr Gesicht sagt mir, dass Sie in Ordnung sind. Sollten Sie wieder Geld brauchen, schreiben Sie mir eine Nachricht auf die Anschlagtafel, die im Zentralausgang am Bahnhof Shinjuku steht. So was in der Art wie:
Warte auf Geld, morgen früh 8 Uhr, Life.
Ich bin tagsüber immer in den Kaufhäusern unterwegs, aber bevor sie öffnen, habe ich nichts zu tun, deswegen ist es morgens in der Früh am besten.«
Der Alte verabschiedete sich ein weiteres Mal und ging aus der Tür, doch Hanio folgte ihm.
»Wohin wollen Sie?«
»In die Villa Borghese natürlich, Apartment Nr. 865.«
»Sie haben es aber sehr eilig.«
Hanio hielt inne, wandte sich zur Tür und drehte das Schild um. Jetzt stand dort:
Momentan ausverkauft.
Die Villa Borghese war ein weißes, im italienischen Stil errichtetes Gebäude, das sich über den am Hügel gelegenen, schmutzigen Häuserreihen erhob, und auch ohne den Stadtplan zu Hilfe zu nehmen, schon von Weitem zu erkennen.
Hanio lugte in die Pförtnerloge, aber da stand nur ein leerer Stuhl, und so ging er nach hinten zum Fahrstuhl. Er bewegte sich wie willenlos, als zöge ihn jemand an einer Schnur, und er musste daran denken, wie sehr sich seine jetzige verantwortungslose Heiterkeit von seinem Zustand vor dem Selbstmordversuch unterschied. Das Leben besaß eine überbordende Leichtigkeit.
Er fuhr in die siebte Etage, lief über den in der morgendlichen Stille daliegenden Korridor und fand das Apartment mit der Nummer 865 sofort. Er drückte auf die Türklingel und vernahm innen ein helles Läuten.
Konnte es sein, dass Ruriko an diesem Morgen nicht zu Hause war?
Doch Hanio spürte intuitiv, dass sie allein in der Wohnung war. Um diese Zeit hatte eine Mätresse ihren Mann bereits verabschiedet und sich noch einmal schlafen gelegt.
Selbstsicher drückte Hanio stur auf den Klingelknopf.
Schließlich hörte er, wie sich jemand näherte. Die Tür öffnete sich, allerdings nur so weit, wie es das Kettenschloss erlaubte, und er sah das überraschte Gesicht einer Frau. Sie trug einen Morgenrock, machte aber nicht den Eindruck, als sei sie gerade erst aufgewacht, auch ihr Make-up war nicht verschmiert. Ihre Lippen stülpten sich in der Tat nach oben und nach unten.
»Wer sind Sie?«
»Ich komme von der Firma Life for Sale. Haben Sie schon einmal daran gedacht, eine Lebensversicherung abzuschließen?«
»Du meine Güte, auf keinen Fall. Eine Lebensversicherung brauche ich nicht. Ich komme klar mit meinem Leben, vielen Dank.«
Ihr Ton war barsch, aber da sie die Tür nicht schloss, schien sie ein gewisses Interesse zu zeigen. Mit der List des Handelsvertreters hatte Hanio bereits seinen Fuß in den Türspalt geschoben.
»Ich verlange ja nicht, dass Sie eine Versicherung abschließen. Aber hören Sie mir wenigstens zu. Es dauert auch nicht lang.«
»Das geht nicht, mein Mann wird böse. Außerdem, in diesem Aufzug.«
»Dann komme ich in zwanzig Minuten wieder.«
»Nun …«, die Frau überlegte einen Moment. »Sie können ja in der Zwischenzeit woanders Werbung machen. Klingeln Sie in zwanzig Minuten einfach noch mal.«
»Ganz wie Sie wünschen.«
Hanio zog seinen Fuß zurück, und die Tür fiel zu.
Er setzte sich auf das Sofa, das am Ende des Korridors unter einem Fenster stand, und wartete zwanzig Minuten. Er sah auf die in der hellen Wintersonne daliegende Stadt. Er wusste genau, dass die Stadt so zerfressen war wie ein Termitennest, dennoch kommunizierten die Menschen miteinander.
»Guten Morgen«, begrüßten sie sich, oder sie fragten:
»Was macht die Arbeit?«
»Wie geht es Ihrer Frau und den Kindern?«
»Die internationale Lage ist angespannt, meinen Sie nicht?«
Aber niemand war sich bewusst, dass solche Worte keinerlei Bedeutung mehr hatten.
Hanio rauchte zwei oder drei Zigaretten, dann klingelte er erneut an der Tür.
Diesmal öffnete die Frau, ohne zu zögern, sie trug einen grüngelben Hosenanzug mit weit geöffnetem Kragen.
»Kommen Sie herein«, sagte sie.
»Möchten Sie einen Tee? Oder lieber etwas Alkoholisches?«
»Ein ziemlich ungewöhnlicher Empfang für einen Außendienstmitarbeiter.«
»Ist doch klar, dass Sie nicht bei einer Lebensversicherung arbeiten. Das wusste ich gleich, als ich Sie gesehen habe. Wenn Sie mir was vormachen wollen, müssen Sie sich schon geschickter anstellen.«
»Zu Befehl. Dann nehme ich ein Bier.«
Ruriko zwinkerte ihm zu und lachte. Sie durchquerte gemächlich das Zimmer und verschwand in der Küche, wobei ihr beachtlicher Hintern, der so gar nicht zu dem schlanken Körper passte, großen Eindruck hinterließ.
Kurz darauf prosteten sie sich zu.
»Also, wer sind Sie eigentlich?«
»Wollen wir sagen, ich bin der Milchmann?«
»Sie machen sich lustig. Aber Sie wissen bestimmt, dass es hier gefährlich ist.«
»Nein.«
»Wer hat Sie gebeten, herzukommen?«
»Niemand.«
»Komisch. Sie haben aufs Geratewohl an einer Tür geklingelt, und wie auf Bestellung kam diese hübsche attraktive Frau heraus?«
»Genau, so ungefähr war es.«
»Sie sind ja ein Glückspilz. Aber ich habe gar nichts zum Knabbern da. Und Chips morgens zum Bier passen nicht, oder? Ah, ich glaube, ich hab noch etwas Käse …«
Sie lief wieder eifrig zum Kühlschrank und schaute hinein.
»Oh, das ist schön kalt«, hörte er sie sagen.
Sie drapierte ein paar Salatblätter auf einen Teller und legte etwas Schwarzes darauf.
»Hier, bitte«, sagte sie und näherte sich ihm seltsamerweise von hinten.
Er spürte, wie sich etwas Kaltes an seine Wange drückte. Er blinzelte seitlich nach unten und sah, dass es eine Pistole war. Hanio war nicht sonderlich überrascht.
»Ziemlich kalt, oder?«
»Stimmt. Haben Sie die immer im Kühlschrank?«
»Ja, ich hasse warme Waffen.«
»Das ist ja raffiniert.«
»Haben Sie keine Angst?«
»Nicht wirklich.«
»Sie glauben wohl, eine Frau bräuchten Sie nicht ernst zu nehmen. Aber ich werde Sie noch zum Sprechen bringen. Trinken Sie Ihr Bier und beten Sie schon mal zu Buddha.«
Ruriko nahm vorsichtig die Pistole herunter, ging in einem großen Kreis um ihn herum und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber. Die Pistole war immer noch auf ihn gerichtet. Hanio hielt sein Bierglas in der Hand und blieb ganz ruhig, stellte aber mit Interesse fest, dass Rurikos Hand zitterte.
»Sie können sich gut verstellen. Sie sind bestimmt ein Asiat. Wie lange leben Sie schon in Japan?«
»Sie machen Witze. Ich bin ein waschechter Japaner.«
»Reden Sie keinen Unsinn. Sie sind doch ein Spitzel meines Mannes. Bestimmt heißen Sie Kim oder Lee oder so was.«
»Darf ich erfahren, woher Sie diese Wahnvorstellung haben?«
»So lässig, wie Sie sind, sind Sie ein Profi. … Nun, dann muss ich Ihnen noch einmal erklären, was Sie sicherlich schon wissen. Mein Mann ist schrecklich eifersüchtig, auch gestern Abend hat er mir wieder völlig haltlose Vorwürfe gemacht, es war mir sehr unangenehm, und sicher hat er einen seiner Männer geschickt, um mich zu beschatten. Aber jetzt will er mich nicht nur aus der Ferne überwachen, sondern ist sogar so dreist, mir jemanden in die Wohnung zu schicken, der mich verführen und auf die Probe stellen soll. So geht das nicht. Wenn Sie sich mir auch nur einen Schritt nähern, drücke ich ab. Immerhin hat er mir die Pistole zu meiner Verteidigung geschenkt und will auch, dass ich damit umgehen kann. … Na ja, vielleicht haben Sie von alldem auch keine Ahnung und sind einfach nur so hier reingeplatzt. Und jetzt sind Sie es, der in der Falle sitzt. … Sie wissen nicht, dass Sie auserwählt wurden, um von mir getötet zu werden und damit meine Treue zu beweisen.«
»Hm«, sagte Hanio gelangweilt, zog mit den Fingern seine Augenlider hoch und betrachtete die Frau. »Aber wenn ich schon sterben muss, würde ich vorher gern noch mit Ihnen vögeln. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich mich danach ganz brav umbringen lasse.«
Er beobachtete genau, wie Ruriko langsam nervöser wurde, es war, als studiere er eine Gebirgskarte, auf der verschlungene Höhenlinien eingezeichnet waren.
»Sie kann auch gar nichts schrecken, was? Sind Sie vielleicht vom ACS?«
»Ist das nicht ein Fernsehsender?«
»Tun Sie nicht so! Sie sind vom Geheimdienst, vom Asia Confidential Service.«
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«
»Na klar. Wie dumm von mir. Um ein Haar hätte ich Sie umgebracht und den Rest meines Lebens als seine Gefangene gefristet. Was für einen romantischen Plan er da ausgeheckt hat, um mich zu seiner süßen Frau zu machen. Erst soll ich ihm die Treue beweisen und einen Kerl töten, und dann hält er mich lebenslang fest, denn immerhin gehört er zu den fünf Ganoven in diesem Land, die in der Lage sind, einen Mörder zu decken. Oh, das macht mir alles Angst. Geben Sie endlich zu, dass Sie vom ACS sind!«
Ruriko warf die Pistole neben sich auf ein Kissen, sie hatte sich entschieden.
»Wenn Sie vom ACS sind, sollten Sie es schleunigst zugeben«, sagte sie noch einmal. Hanio schien das alles so mühsam, dass er beschloss, vom ACS zu sein.
»Dann wollten Sie also was von ihm. Ich wusste nicht, dass ›Lebensversicherung‹ das Codewort ist. Das hätte er mir ruhig vorher sagen können. Aber Sie haben Ihre Rolle eh schlecht gespielt. Sie sind bestimmt ein Neuling beim ACS. Wie viele Monate Drill haben Sie denn hinter sich?«
»Sechs.«
»Oje, das ist viel zu wenig. Und in der Zeit haben Sie südostasiatische Sprachen und ein paar chinesische Dialekte gelernt?«
»Na ja«, antwortete Hanio notgedrungen vage.
»Sie haben wirklich Courage. Ich bin beeindruckt.«
Nach diesem Kompliment, das Ruriko ganz offenherzig ausgesprochen hatte, stand sie auf und schaute zum Balkon hinaus. Dort stand ein weißer Gartenstuhl, dessen Farbe etwas abblätterte, und dazu ein passender Gartentisch mit Glasplatte, an deren Rand noch Tropfen vom gestrigen Regen hingen.
»Was hat er denn verlangt? Wie viel Kilo sollen Sie befördern?«
»Das darf ich nicht sagen«, gab Hanio zur Antwort und gähnte. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, von was für Kilos sie sprach.
»Das Gold in Laos ist billig, oder? Bei dem Marktpreis in Vientiane bringt es in Tokyo mindestens das Doppelte. Der letzte Typ vom ACS war ganz schön raffiniert. Er hat das Gold in Königswasser aufgelöst, das Ganze in zwölf Whiskeyflaschen abgefüllt, nach Japan gebracht und später wieder in den eigentlichen Zustand zurückversetzt. Geht so was überhaupt?«
»Das sind doch alles Aufschneider, die mit Fantasiegeschichten prahlen. Ich hatte mal ein Paar Schuhe aus Gold, die waren mit Krokodilleder überzogen, aber da habe ich ganz schön kalte Füße bekommen.«
»Sind das die Schuhe hier?«
Ruriko sah voller Neugier auf Hanios Schuhe, aber sie konnte weder schweres Gold noch sonst irgendeinen Glanz entdecken, während Hanio im Gegenzug einen Blick in das tiefe Tal zwischen ihren Brüsten erhaschte. Es war, wie der Alte es beschrieben hatte, die beiden Brüste, die sich nicht riechen konnten, wurden gegen ihren Willen von den Seiten aneinandergedrückt, und dazwischen lag ein tiefes Tal aus pulvrigem Weiß. Ruriko puderte anscheinend ihr Dekolleté. Hanio malte sich aus, wie er sie dorthin küssen und seine Nase im Siccarol-Babypuder versenken würde.
»Wie schmuggeln Sie eigentlich die amerikanischen Waffen von Laos nach Japan? Geht das über Hongkong? Das ist doch viel zu kompliziert. Ihr könntet auch zur Militärbasis in Tachikawa fahren, das ist ganz in der Nähe, es gibt jede Menge amerikanische Waffen dort.«
Hanio nahm keine Notiz von dem, was Ruriko sagte, und fragte stattdessen:
»Wann kommt Ihr Mann eigentlich zurück?«
»Er kommt immer mittags kurz vorbei. Das hat er Ihnen doch bestimmt gesagt.«
»Ich bin ein bisschen früher dran. Da können wir ja noch zusammen ins Bett.« Hanio gähnte erneut und zog sich das Jackett aus.
»Sie haben wohl ein paar Nächte durchgemacht. Sie können im Bett meines Mannes schlafen.«
»Ihr Bett ist mir lieber«, Hanio fasste Ruriko plötzlich an den Armen. Sie wehrte sich heftig und griff nach der Pistole.
»Sie Idiot, wollen Sie, dass ich Sie umbringe?«
»Ich werde eh umgebracht, ob Ihr Mann kommt oder nicht. Läuft das nicht aufs selbe hinaus?«
»Für mich ist da schon ein Unterschied. Jetzt kann ich Sie abknallen und weiterleben, aber wenn mein Mann kommt und uns im Bett entdeckt, bringt er uns beide um.«
»Klare Rechnung. Aber eine Frage: Was für eine Strafe erwartet einen, wenn man einen Mitarbeiter des ACS grundlos umlegt?«
Ruriko wurde leichenblass und schüttelte den Kopf.
»So machen die das«, sagte Hanio, ging zu dem Regal, nahm eine Schweizer Trachtenpuppe, tat so, als würde er ihr mit einem Schlag das Rückgrat brechen, und bog ihren Rücken dann so weit nach hinten, dass sie in zwei Teile brach.