Marjorie Perloff · Ironie am Abgrund
Die Moderne im Schatten des Habsburgerreichs: Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein
Edition Konturen
Wien · Hamburg
In Memoriam Joseph K. Perloff (1924–2014)
Aus dem amerikanischen Englisch von
Matthias Kroß und Georg Hauptfeld
Licensed by The University of Chicago Press, Chicago, Illinois, U.S.A.
© 2016 by The University of Chicago. All rights reserved.
Originaltitel: Edge of Irony. Modernism in the Shadow of the Habsburg Empire
Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden manche Begriffe in der maskulinen oder femininen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.
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Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc
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Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber
Umschlagbild: Egon Schiele Selbstbildnis mit Physalis, 1912
ISBN 978-3-902968-39-5
Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn
Printed in Austria
Vorwort
Einleitung: Die Entstehung der Austromoderne
1.Der medial vermittelte Krieg:
Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“
2.Der verlorene Bindestrich:
Joseph Roths „Radetzkymarsch“
3.Die Möglichkeitsform:
Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“
4.Aufwachsen in Kakanien:
Muttersprache und Identitätsverlust in Elias Canettis Autobiografie
5.Der letzte habsburgische Dichter:
Paul Celans Liebesdichtung und die Grenzen der Sprache
Coda: Eine „anderer“ Mensch werden:
Wittgensteins „Evangelien“
Anmerkungen
Für jedes kleine Kind, auch für ein jüdisches wie mich, das zwischen den beiden Weltkriegen in der unruhigen kleinen Republik Österreich aufwuchs, gab es nichts Aufregenderes als Geschichten über die Habsburger Kaiser, von Rudolf I. (1218–1291) bis zum wackeren Kaiser Max (1459–1519) – unsterblich durch Dürers großartige Porträts –, der den Habsburgern die Niederlande, Ungarn, Böhmen und Spanien bescherte, und insbesondere die Kaiserin Maria Theresia (1717–1780), jene mächtige Regentin, die ein weitläufiges Reich regierte, den Österreichischen Erbfolgekrieg und den Siebenjährigen Krieg führte (beide gegen Preußen) und dabei ihrem Gemahl Franz I. noch sechzehn Kinder gebar, zu welchen auch Marie Antoinette zählte. Die Geschichten über Maria Theresia boten Stoff für Legenden und Märchen. So hieß es, dass Mozart als Kind nach dem Vorspielen vor Ihrer Majestät auf ihren Schoß sprang und ihr einen Kuss gab. Zur Belohnung schenkte sie ihm einen kleinen, mit goldenen Biesen verzierten Anzug. Als tiefgläubige Katholikin war sie eine erbitterte Antiprotestantin und mehr noch eine glühende Antisemitin, doch wir österreichischen Kinder kannten nur die stimmungsvollen Lieder und freundlichen Anekdoten über die Kaiserin.
Das Jahr 1867 war das offizielle Gründungsdatum des österreichisch-ungarischen Reiches, auch Doppelmonarchie genannt. Es war zugleich das Jahr, in dem der so lange regierende Kaiser Franz Josef (1830–1916) per Dekret die Emanzipation der Juden verkündete. Das Reich, eine Mischung aus den verschiedensten Völkern und Kulturen, war stets zerbrechlich, aber irgendwie gelang es ihm, seinen Zusammenhalt zu bewahren und sogar die weithin als golden in Erinnerung gebliebenen Jahre vor Ausbruch des großen Krieges zu ermöglichen – goldene Jahre wenigstens für die oberen Schichten und die aufstrebende Bourgeoisie, kaum für die Massen. Im Juni 1914 wurden der unbeliebte österreichische Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau auf ihrer Reise durch die unruhige Provinz Serbien von einem serbischen Terroristen namens Gavrilo Princip ermordet. Nur wenig mehr als einen Monat später lagen Österreich-Ungarn und Deutschland im Osten mit Serbien und Russland und im Westen mit England und Frankreich im Krieg. Mit dem endgültigen Sieg der Westmächte (zu denen auch die Vereinigten Staaten zählten) im November 1918 brach das Habsburgerreich schlichtweg in sich zusammen. Es geschah wie über Nacht: Millionen Untertanen des Reiches erwachten – falls sie den Krieg überlebt hatten – als Bürger von neugegründeten Nationalstaaten.
Diese grauenhafte und sehr schmerzliche Wendung der europäischen Geschichte hat mich schon immer interessiert, einerseits, weil sie meine eigene Herkunft betrifft, andererseits, weil die letzten Tage des Reiches so brillante Komponisten wie Gustav Mahler (der einer armen Großfamilie in Böhmen entstammte) und Dichter vom Format eines Paul Celan (Bukowina) hervorgebracht haben. Sigmund Freud und Ludwig Wittgenstein waren Kinder des Reiches, ebenso Franz Kafka. Obgleich in den Studien zur deutschen Moderne die Weimarer Republik einen Ehrenplatz einnimmt, gewinnt auch das nachkaiserliche Österreich zunehmende Bedeutung für das Verständnis unserer eigenen künstlerischen und kulturellen Werte.
Die Austromoderne blieb allerdings bis heute fast gänzlich unbeachtet – insbesondere auch in der englischsprachigen Welt. Zugegeben, der Name Freud ist allgemein bekannt, vor allem in seiner adjektivischen Variante (freudianisch). Zugegeben, Mahlers Sinfonien stehen auf dem Programm aller größeren Orchester, und führende Museen besitzen und zeigen Gemälde von Gustav Klimt oder Egon Schiele. Doch die Schriftsteller? Außerhalb der germanistischen Institute ist eine literarisch so bedeutende Gestalt wie Karl Kraus jungen Menschen praktisch unbekannt. Wenn ich gegenüber Freunden und Kollegen auf Roth zu sprechen komme, gehen sie davon aus, dass ich Philip Roth meine. Aber Joseph Roth, der Autor des „Radetzkymarsch“? Man weiß natürlich, dass Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ein langer und schwieriger Roman ist, aber nur wenige – denen James Joyce oder Marcel Proust oder Thomas Mann durchaus geläufig sind – haben Musil wirklich gelesen. Wittgenstein, für viele der wohl bedeutendste Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, ist den meisten nur sehr oberflächlich vertraut. Und was Elias Canetti angeht, der 1981 vor allem für seine berühmte soziologische Arbeit „Masse und Macht“ sowie „Die gerettete Zunge“ und die weiteren Memoirenbände den Literaturnobelpreis erhielt: Alle diese Bücher sind heute immer weniger Menschen bekannt.
Eine Ausnahme von dieser Regel der Vernachlässigung ist Kafka, der uns das Adjektiv kafkaesk beschert hat und der häufig gelesen und regelmäßig zitiert – oder falsch zitiert – wird. Angesichts der vielen Studien zu Kafka, der zweifellos einzigartig ist, werde ich ihn hier nicht weiter behandeln, sondern mich lieber auf die Diskussion der anderen Österreicher beschränken, die eine größere Verbreitung verdienen. Zu ihnen zählt Paul Celan, der als der Dichter des Holocaust und Verfasser der „Todesfuge“ und von „Schibboleth“ Berühmtheit erlangt hat und der auch von seinen Verehrern doch nur recht eingeschränkt wahrgenommen wird. Ich werde ihn hier gegen den Strich lesen, vornehmlich als einen Dichter der Liebe, dessen Gedichte, von denen viele seiner österreichischen Dichterkollegin Ingeborg Bachmann gewidmet sind, am besten vor dem Hintergrund des verlorenen Kaiserreiches verstanden werden.
Dieses Buch handelt von der österreichischen Moderne. „Ironie am Abgrund“ unternimmt allerdings gar nicht erst den Versuch, dieses weite und vielschichtige Feld zu vermessen. Das Buch ist keine Übersicht, und es ist auch nicht umfassend. Stattdessen beschränke ich mich auf die genaue Lektüre einer begrenzten Anzahl von Texten verschiedener Genres – das Drama (Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“), den „realistischen“ Roman („Radetzkymarsch“), den Essay (Kern von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“), das lyrische Gedicht (Celan) und das philosophische Notizbuch (Wittgenstein), um damit interessierten Leserinnen einen Eindruck von der Komplexität, Brillanz und tief reichenden Skepsis der literarischen Kreise in der Kriegszeit zu geben, die an den Rändern der verlorenen Monarchie entstanden waren.
Die erörterten Autoren standen nicht nur historisch am Abgrund (dem Untergang des Habsburgerreiches in der Folge des Ersten Weltkriegs), sondern auch geografisch am Rand: die abgelegene Provinz Galizien (Roth), die Bukowina (Celan), das heutige Bulgarien (Canetti) und so fort. Kraus entstammte einer großen jüdischen Familie in Böhmen; Musil wuchs im tschechischen Brno (Brünn) auf, Bachmann im südösterreichischen Kärnten. Ränder: Der einzige in Wien geborene Autor war Wittgenstein, und er, wie die meisten anderen Autoren, war Jude und daher niemals ein wirklicher Insider im Wien des Fin de Siècle und der Zeit danach.
Die Austromoderne ist in der Tat ein vorwiegend österreichisch-jüdisches Phänomen: Die besprochenen Autoren, in der Mehrzahl mit jüdischen Wurzeln sowie Herkunft aus der Provinz, wuchsen während einer der antisemitischsten Zeiten in der modernen Geschichte Europas auf, und es ist paradox, dass sie aufgrund ihrer beflissenen Anstrengungen, an einer größeren kulturellen und literarischen Szene teilzuhaben, selbst anfällig waren für Antisemitismus. Der Trieb „zu bestehen“, sich zum Beispiel dem in den 1920er-Jahren weit verbreiteten Ritual der „Karrieretaufe“ zu unterziehen, erstarb schlagartig mit der Annexion Österreichs im Jahr 1938, gerade einmal zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Wer Jude war und wer nicht, entschieden fortan die Nazis.
Um jene Moderne, die nach übereinstimmender Meinung der meisten Kritiker im Europa der Jahrhundertwende geboren wurde, wirklich zu verstehen, müssen wir die zutiefst ironische Kriegsliteratur der untergehenden, multikulturellen und polyglotten österreichisch-ungarischen Monarchie mit weit größerer Aufmerksamkeit lesen als bisher. Und heute, da Wien wieder eine wohlhabende und elegante Hauptstadt ist, die ihre große Musiktradition, ihre wundervollen barocken Palais’ und Jugendstilbauten und ihr einzigartiges literarisches Erbe nutzt, um Menschen aus aller Welt in ihre kulturelle Sphäre zu ziehen, scheint es höchste Zeit, jenes austromoderne Lebensgefühl der post-kakanischen Periode erneut zu untersuchen, in dem auf merkwürdige Art und Weise viel von der Dunkelheit und dem Zynismus – aber auch dem abgründigen Humor – unserer eigenen, desillusionierten Kultur des 21. Jahrhunderts vorweggenommen wurde.
Ich möchte den vielen Freunden und Kollegen ebenso wie den Herausgebern von Zeitschriften und Konferenzteilnehmern danken, die mir in den unterschiedlichen Phasen dieses Projektes mit ihrem Rat zur Seite gestanden sind: Charles Altieri, Mary Jo Bang, John Benfield, Charles Bernstein, Clare Cavanagh, MaryAnn Caws, James Campbell, Gordana Crnkovic, Craig Dworkin, Thomas Eder, Al Filreis, Eva Forgacs, Rubén Gallo, Kenneth Goldsmith, Robert Harrison, Giles Havergal, Daniel Heller-Roazen, Susan Howe, Judd Hubert, Doris Ingrisch, Roland Innerhofer, Pierre Joris, Mario Klarer, Uli Knoepflmacher, Herbert Lindenberger, Susan McCabe, Tyrus Miller, W. T. J. Mitchell, Albert Mobilio, Jann Pasler, Carrie Paterson, Vanessa Place, Herman Rapaport, Claude Rawson, Brian Reed, Radmila Schweitzer, Vincent Sherry, Robert von Hallberg, Sabine Zelger.
Besonderen Dank schulde ich Patrick Greaney und Thomas Harrison, die das Manuskript Wort für Wort gelesen und hervorragende Vorschläge gemacht haben. Mein alter Freund und verehrter Kollege Gerald Bruns hat Vorfassungen der Kapitel gelesen und sich als unschätzbare Hilfe erwiesen.
Wie immer waren meine Töchter Nancy Perloff und Carey Perloff, die sich mit ähnlich gelagerten Themen beschäftigen, eine wunderbare Hilfe, ebenso meine Enkelkinder Alexander Perloff-Giles, Nicholas Perloff-Giles und vor allem Benjamin Lempert, der einen Abschluss in osteuropäischer Geschichte in Yale hat und einen großartigen Resonanzboden abgab, indem er die Sichtweise der Jungen einbrachte.
Mit meinem Lektor der University of Chicago Press, Alan Thomas, arbeite ich seit 1986 zusammen. Er kennt alle meine Marotten und Schwächen, und er tut alles, mich bei der Stange zu halten und meine Bücher besser zu machen. Sein Kollege Randolph Petilos hat mich vorbildlich in technischen Fragen unterstützt.
Einige Monate vor Abschluss der Arbeit an diesem Buch habe ich nach 61 Jahren Ehe meinen Mann, besten Freund und vorzüglichsten Ratgeber aufgrund seiner angeborenen Herzkrankheit verloren. Joseph K. Perloff, selbst ein anerkannter Autor auf seinem Gebiet, war an den hier diskutierten Schriftstellern und Themen zutiefst interessiert, und ich habe Roth, Canetti und Wittgenstein in Ausgaben gelesen, die er mit Kommentaren übersät hatte. Dieses Buch ist seinem Andenken gewidmet. An dunklen Tagen – und deren gab es viele nach seinem Tod – habe ich immer wieder an einen Aphorismus Wittgensteins zu denken versucht, den wir beide sehr schätzten: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.“ (Tractatus logico-philosophicus 6.43)
„In den Jahren des Exils zwischen den Kriegen ist Wien auch jenes Welttheater gewesen, auf dessen Bühne – wie in den barocken Allegorien – viele ideologische Gewißheiten und große revolutionäre Hoffnungen zusammengebrochen sind.“[1] Claudio Magris
Vor 1914 was das österreichisch-ungarische Reich ein multiethnisches und vielsprachiges Gebilde, das sich über mehr als 675.000 Quadratkilometer erstreckte. Seine fünfzig Millionen Einwohner wären heute Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Serben, Kroaten, Bosnier und Kroaten sowie Polen in Galizien, Russen in der Westukraine und Italiener in Südtirol und Triest. Vier Jahre später, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Auflösung der Doppelmonarchie, wurde Wien zur Hauptstadt einer kleinen und fragilen Republik, die nur sechs Millionen Einwohner und eine Ausdehnung von knapp 84.000 Quadratkilometern besaß – eine Nation geformt wie eine Kaulquappe, deren östlicher Kopf (Wien) unschön auf einem Körper saß, dessen Schwanz in den Vorarlberger Alpen lag.
In der Tat wurde die Erste Republik, geboren 1918, aus dem Gebiet geformt, das nach der Aufteilung eines Hauptteils des Reiches in neu geschaffene Nationen oder zur Erweiterung bereits bestehender Nationen übriggeblieben war. Der französische Premierminister George Clemenceau bemerkte einmal: „L’Autriche, c’est ce qui reste“ („Österreich, das ist der Rest“).
In der Rückschau nach mehr als einem Jahrhundert war die Annexion von Österreich – in den Worten von Stefan Zweig ein „ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie“[2] – durch Hitler 1938 wahrscheinlich unausweichlich, so wie der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten. Immer öfter bezeichnen Historiker die Ereignisse zwischen 1914 und 1945 als den „langen Krieg“ oder als einen zweiten „Dreißigjährigen Krieg“. Im Jahre 1918 wollten die meisten Österreicher, einschließlich der Juden, Teil von Großdeutschland werden, doch Woodrow Wilson und seine Alliierten waren der Überzeugung, dass dieser Anschluss Deutschland zu mächtig gemacht hätte; daher wurde die Vereinigung im Vertrag von Saint Germain (September 1919) untersagt. Als der Anschluss zwanzig Jahre später dennoch vollzogen wurde, geschah dies nicht durch einen Vertrag, sondern aufgrund eines Gewaltaktes der Nazis.
In der angelsächsischen Diskussion wird Österreich mehr oder weniger mit Wien gleichgesetzt. Von Alan Janiks und Stephen Toulmins „Wittgensteins Wien“ (englisch 1973) und Carl Schorskes „Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle“ (englisch 1979) bis zur prominenten Würdigung der Kunst Gustav Klimts und der Musik Gustav Mahlers in den letzten Jahren ist die herausragende Bedeutung Wiens als große Kunst- und Kulturmetropole niemals ernsthaft umstritten gewesen. Dabei blieb allerdings die erstaunliche Wirkung dessen, was ich die Austromoderne nennen möchte, in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend unverstanden, als Künstler und Schriftsteller aus den weitläufigen Grenzgebieten des zerteilten Reiches – zum größten Teil jüdische Schriftsteller, die eine klassische deutsche Ausbildung gemäß den Regeln der k.u.k. (kaiserlichen und königlichen) Zentralbehörden durchlaufen hatten – in Erscheinung traten.
Joseph Roth (1894–1939), der Autor des mittlerweile klassischen Romans „Radetzkymarsch“ (1933), stammte aus dem galizischen Brody (das nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen, später zur Ukraine kam) und verdiente sein Brot als Journalist, zunächst in Frankfurt und Berlin, dann in Paris. Elias Canetti (1905–1994) kam aus Ruse an der Donau (heute Bulgarien) und ging in Manchester zur Schule. Er verbrachte seine Jugend, seine Studienzeit und begann seine berufliche Karriere in Wien, musste dann aber 1938 nach London ins Asyl fliehen. Paul Celan (1920–1970) wurde als Paul Antschel in Czernowitz, der Hauptstadt der Provinz Bukowina, geboren; die Provinz fiel 1918 an Rumänien, wurde von den Russen 1944 besetzt und ist heute Teil der Ukraine. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er kurze Zeit in Bukarest und Wien, bevor er die französische Zeichnerin und Grafikerin Gisèle de Lestrange heiratete und nach Paris zog.
Brody, Ruse, Czernowitz: Diese multiethnischen Städte lagen hunderte Kilometer von Wien entfernt und ihre Bewohner sprachen notgedrungen zahlreiche Sprachen, aber die Habsburger Hochkultur bildete doch ihren kulturellen Horizont. Unsere heutigen Bezeichnungen sind daher ziemlich irreführend: Kafka (1883–1924) wird einmal als tschechischer, ein andermal als deutscher, aber auch als jüdischer Autor bezeichnet, er gehörte natürlich zum Habsburgerreich. Celan gilt im Allgemeinen als Dichter des Holocaust aus Rumänien, Canetti als sephardischer Jude, der in Bulgarien aufgewachsen und dann zu einem Kosmopoliten geworden ist. Oder diese Autoren werden schlicht und einfach nach der deutschen Sprache klassifiziert, in der sie schrieben. Darüber hinaus hat die Verbindung zum Judentum das Ausmaß verschleiert, in dem Aufstieg und Fall der Doppelmonarchie das Leben auch ihrer nichtjüdischen Autoren beeinflusst hat.
Robert Musil (1880–1942), dessen „Mann ohne Eigenschaften“ (erschienen 1930) lange Zeit als der Klassiker der „deutschen“ Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Zusammenbruch „Kakaniens“ – wie Musil die Habsburgermonarchie nannte – gilt, wurde in Kärnten geboren, durchlief eine klassische österreichische Ausbildung in Brünn, machte an der dortigen Technischen Universität, an der sein Vater ein bedeutender Gelehrter war, Examen und setzte seine wissenschaftlichen Studien in Berlin fort, bevor er mit seiner jüdischen Frau Martha nach Wien übersiedelte. Die Liste dieser „provinziellen“ österreichischen Schriftsteller lässt sich beliebig verlängern und findet ihren Höhepunkt nach dem Krieg in den Werken eines Thomas Bernhard oder einer Ingeborg Bachmann, die ja beide aus der österreichischen Provinz kommen: Er vom Wallersee in der Nähe von Salzburg, sie aus Klagenfurt, ungefähr vierzig Kilometer von der slowenischen (damals jugoslawischen) Grenze entfernt.
Was ich hier austromoderne Literatur nenne, definiert sich also vor allem in Bezug auf ihre besondere Stellung zum Ersten Weltkrieg. Keine andere Nationalkultur hat das Trauma des unerwarteten Bruchs so intensiv durchlebt wie die Österreicher. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Deutschland bereits seit fast fünfzig Jahren eine vereinigte Nation, ebenso Italien. Und wie verheerend der Krieg auch für die Engländer und Franzosen gewesen sein mag, so stellte das Jahr 1918 für ihre nationale Identität doch keine ernsthafte Belastungsprobe dar. Das geschah erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verlust ihrer überseeischen Kolonien.
Das literarische Selbstverständnis der österreichischen Autoren der Nachkriegszeit, die alle von einer Hassliebe zu Wien geprägt sind und sich für verschiedene Formen des Exils entschieden, ist auf eine bemerkenswerte Weise anders als das ihrer deutschen Kollegen. In der „Versuchsstation des Weltuntergangs“, wie der in der tschechischen Kleinstadt Jičín nahe der polnischen Grenze geborene Karl Kraus (1874–1936) Österreich in seinem monumentalen Antikriegsstück „Die letzten Tage der Menschheit“ bezeichnet hat, folgte auf das Trauma des Krieges die plötzliche und vollständige Auflösung des geografischen Gebildes, in das diese Schriftsteller hineingeboren worden waren, was eine zutiefst skeptische und strikt individualistische Moderne hervorbrachte – weit weniger ideologisch aufgeladen als ihr Gegenstück in Deutschland. Weder strahlte der rigorose und revolutionäre Marxismus eines Bertolt Brecht noch die rechtsgerichtete posttranszendentale Philosophie eines Heidegger, der es um die Enthüllung des „In-der-Welt-Seins“ zu tun ist, eine nennenswerte Anziehungskraft auf die ironische, satirische, erotische – und häufig ein klein wenig mystische – Welt des posthabsburgischen Österreich aus. Musil hat dies im vierten Kapitel seines „Mann ohne Eigenschaften“ mit seiner Definition des von ihm sogenannten „Möglichkeitssinns“ zum Ausdruck gebracht:
„Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig. Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.“[3]
Träumer, Krittler – wir könnten noch hinzufügen: fantasievolle Schriftsteller und Künstler.
Musils Analyse liest sich wie ein Echo der Sätze Wittgensteins im „Tractatus“: „Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein“ (5.634) oder auch „Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht“ (6.41). Unter solchen Vorzeichen bedeutete Veränderung nicht politische Revolution, nicht Veränderung der sozialen oder politischen Verhältnisse, sondern Veränderung des Bewusstseins. Man muss sich bemühen, sagte Wittgenstein wiederholt und hartnäckig, ein anderer Mensch zu werden.[4] Ironischerweise verhinderte die Ablehnung eines direkten politischen Engagements nicht, dass die Autoren der österreichischen Moderne ein außerordentliches Gespür für die kommenden Ereignisse entwickelten. Kraus und Canetti sind zwei bekannte Beispiele, aber auch Joseph Roth, der schon früh begriffen hatte, wie gefährlich die Idee eines Anschlusses werden würde. Im August 1925 schrieb Roth, damals Paris-Korrespondent der Frankfurter Zeitung, an seinen Verleger Benno Reifenberg:
„Ich bin sehr verzweifelt. Ich kann nicht einmal mehr nach Wien fahren, seit die sozialistischen Juden einen solchen Anschlußlärm machen. Was wollen sie? Sie wollen Hindenburg? Als der Kaiser Franz Joseph starb, war ich zwar schon ein ‚Revolutionär‘, aber ich weinte. Ich war Einjähriger in einem Wiener Regiment, einer ‚Elite-Truppe‘, die als Ehrenwache vor der Kapuzinergruft stand und ich weinte wirklich. Eine Zeit wurde begraben. Mit dem Anschluß wird noch einmal eine Kultur begraben. Alle Europäer müßten gegen den Anschluß sein. … Soll es eine Art Bayern werden?“[5]
Roth reagierte in vielem jähzornig und irrational: Er hasste die Deutschen, schwankte zwischen projüdischem Sentiment und Antisemitismus und liebte, wie sein eigener „Held von Solferino“ im Radetzkymarsch, den Kaiser, die Habsburgerdynastie und sogar, wenn er in einer bestimmten Stimmung war, die katholische Kirche. Doch verfügte er über ein untrügliches Gespür für die Geschehnisse im Europa der Zwischenkriegsjahre, und das Gefühl, dass er selbst immer und notwendigerweise ein Außenseiter sein, nirgendwo dazugehören würde, verfolgte ihn noch in seinem geliebten Paris. Doch dank dieser Außenseiterstellung war er imstande, seine brillanten Reportagen über das Alltagsleben nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und Paris zu schreiben.
Eric Hobsbawm hat diese Widersprüche – von denen es in der österreichischen Moderne viele gab – folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Von allen großen multilingualen und multiterritorialen Imperien, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts untergingen, hat der Verfall und das Ende der k.u.k. Monarchie unter Franz Joseph, seit langem von gebildeten Köpfen erwartet und aufmerksam verfolgt, uns die bei weitem gehaltvollste literarische oder narrative Chronik der Ereignisse hinterlassen. Österreichs Denker hatten Zeit genug, Betrachtungen über den Tod und den Zerfall ihres Reiches anzustellen, während dieser alle anderen Reiche ganz plötzlich traf – zumindest gemessen in den Zeiteinheiten der historischen Uhr –, sogar die, mit deren Gesundheit es schon seit längerem bergab ging, wie die Sowjetunion. Doch vielleicht waren die wahrgenommene und akzeptierte Vielsprachigkeit, die Multikonfessionalität und Multikulturalität der Monarchie einer komplexeren historischen Perspektive förderlich. Ihre Untertanen lebten gleichzeitig in verschiedenen sozialen Welten und unterschiedlichen historischen Epochen.“[6]
Es ist interessant, dass Hobsbawm, dessen eigene Kindheit im Wien der 1920er-Jahre von Elend und Entbehrungen geprägt war und der bald ein entschiedener kommunistischer Revolutionär werden sollte, feststellt, es seien in der Literatur Österreicher gewesen, die die umfassendste und tiefschürfendste Analyse des Reiches vorgenommen haben.
Wie sollen wir diese spezifische Sicht auf die Welt charakterisieren? Die austromoderne Literatur ist keine „Avantgarde“ im üblichen Sinne: Sie zeichnet sich nicht durch Collage und Fragmentierung oder durch gezielte Überschreitung von Genres oder Verwendung eines Medienmix aus. An ihrer Oberfläche ist sie recht konventionell: Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ sind weitgehend in einer auf den ersten Blick dokumentarischen Sprache geschrieben: sei es bei der Nachahmung des Dialekts der Arbeitercafés oder wenn er staatliche Verlautbarungen zitiert. Roths „Radetzkymarsch“ erscheint wie ein traditioneller Roman, mit einem allwissenden Erzähler und einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Der Essayismus von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ lässt anscheinend durchaus moralische Bewertungen zu, aber nur, um solche Urteile an jeder Weggabelung des erzählerischen Spiegelkabinetts infrage zu stellen. Canettis „Gerettete Zunge“ ist eine episodische Arbeit der Erinnerung, scheinbar nachlässig strukturiert und abschweifend. Selbst die Dichtung Celans, so minimalistisch sie in ihrer Spätphase war, ist auf dem Papier in der Form traditioneller Lyrik angeordnet, häufig recht geschlossen unter Verwendung von einheitlicher Linierung und in Strophen.
Aber obgleich das austromoderne Schreiben eine formale Experimentalstruktur, wie wir sie in einer Avantgarde erwarten würden, vermeidet, dürfte doch die Aufnahme anderer Sprachregister in das Deutsch der Autoren, die Überzeugung – am einprägsamsten von Wittgenstein zum Ausdruck gebracht –, dass das Argumentieren nicht nach einem linearen Diskurs, sondern nach einer Folge von Aphorismen verlangt, die Umwertung der moralischen Werte, die Freude an Paradox und Widersprüchlichkeit als Wege zum Verständnis und insbesondere die scharfe Spitze seiner unbändigen und bis ins Groteske komischen Ironie ein vielleicht nachhaltigeres Erbe der Moderne sein als der Einsatz von Collage, Zeitverschiebung oder Bewusstseinsstrom.
Zudem nimmt die Austromoderne – dies gilt insbesondere für Musil und Kraus – das Verfahren des Dokumentierens/Aneignens vorweg, das ich mit Bezug auf die Gegenwartslyrik in meinem Buch „Unoriginal Genius“[7] erörtert habe. „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden“, schreibt Kraus in der Einleitung zu den „letzten Tagen der Menschheit“, „sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. … Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel“.[8] „Einen Menschen ganz aus Zitaten zusammensetzen!“, schreibt Musil 1920 in sein Tagebuch.[9]
Die Verwandlung der Monarchie in eine Republik war im neuen Österreich vielleicht besonders schwierig. Die erste Republik, deren überwiegend bäuerliche, provinzielle und katholische Bevölkerung von der Hauptstadt aus regiert wurde – einer kultivierten Metropole, deren Einwohner zu zehn Prozent Juden waren –, war mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. So stimmte das westliche Bundesland Vorarlberg 1919 in einem später für nichtig erklärten Referendum 1919 für den Anschluss an die Schweiz als bessere Alternative zum Verbleib im „Wiener Judenstaat“.[10] Zugleich schauten Innsbruck und das umliegende Tirol mehr nach Berlin als nach Wien, um die Annexion durch Italien abzuwenden.
Mein Großvater Richard Schüller, der in der Vorkriegszeit in der Regierung als Sektionschef für Handel gedient hatte, erinnert sich in seinen Memoiren an seine Rückkehr ins Ministerium am Ballhausplatz an einem Oktobertag 1918, als schon in Paris über ein Waffenstillstandsabkommen verhandelt wurde:
„Ich fand meine Kollegen still in ihren Büros sitzen, ohne zu wissen, was zu tun sei, sie vermieden jedes Gespräch über die Katastrophe. … Ich hatte 20 Jahre lang mit Menschen aller Nationalitäten zusammengearbeitet. Vor dem Krieg hatte ich unter zwei Handelsministern gearbeitet, Fort und Fiedler, die Tschechen waren, und [der] Staatssekretär, Dr. Müller, war Tscheche, ein stellvertretender Sekretär war Pole, und in meiner eigenen Abteilung waren 2 von 5 Beamten Tschechen. Sie fragten mich, ob sie das Amt verlassen sollten, und ich riet ihnen, nach Prag zu gehen, wo sie vielleicht von der neuen Regierung gebraucht würden. … Sie gehörten jetzt zur siegreichen Tschechoslowakei, und ich zum besiegten Österreich. Meine eigene Mutter war Staatsbürgerin der Tschechoslowakei, wo ich [in Brünn, heute Brno] geboren wurde.
Der Außenminister Victor Adler bat mich, das Handelsministerium zu verlassen und ins Außenministerium zu kommen.“[11]
Für die anschließende Krise gab es keine Entsprechung in Deutschland. Der neu entstandene Staat Tschechoslowakei stoppte alle Kohlelieferungen; die ungarischen und slawischen Provinzen kürzten die früheren Lebensmittellieferungen um drei Viertel, und im folgenden, besonders harten Winter verweigerten England und Frankreich alle Kredite und die Lieferung von Getreide, Mehl oder Öl.
Stefan Zweig schildert in seinem Buch „Die Welt von Gestern“ mit Entsetzen seine Zugreise im November 1918 vom schweizerisch-österreichischen Grenzbahnhof Feldkirch in Vorarlberg nach Salzburg, wo er ein Anwesen besaß:
„Die Schaffner, die einem die Plätze anwiesen, schlichen hager, verhungert und halb zerlumpt herum; zerrissen und abgetragen schlotterten ihnen die Uniformen um die eingesunkenen Schultern. An den Fensterscheiben waren die Lederriemen zum Aufziehen und Niederziehen abgeschnitten, denn jedes Stück Leder bedeutete eine Kostbarkeit. … Die elektrischen Birnen waren zerschlagen oder gestohlen, wer etwas suchte, mußte mit Zündhölzern sich vorwärtstasten … Jeder hielt … noch sein Gepäck und sein Lebensmittelpaket ängstlich an sich gepreßt; keiner wagte im Dunkel auch nur für eine Minute etwas aus der Hand zu geben.“ [12]
Seine Reise, die gewöhnlich sieben Stunden brauchte, dauerte siebzehn. Bei seiner Ankunft fanden sich weder Träger für das Gepäck noch Droschken – und später kein Brennholz und kaum etwas zu essen: „In unserem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren Spaziergängen zurück.“
Vor diesem Hintergrund fanden im Februar 1919 die ersten österreichischen Parlamentswahlen statt. Es gab im Grunde nur zwei politische Gruppierungen: die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten. Diese „sozialistische“ Partei stützte sich vorwiegend auf das jüdische Wien. Sie errang bei den ersten Wahlen eine Mehrheit von sechs Sitzen (69 zu 63), während die rechtsgerichtete Nationalpartei 26 Abgeordnete stellte. Victor Adler, der ehrwürdige Führer der Sozialisten, war kurze Zeit nach dem Waffenstillstand gestorben. Karl Renner, ein deutschsprachiger Tscheche und ehemaliger Bibliothekar des Reichsrats, wurde zum ersten Kanzler der neuen Republik ernannt und der führende Wiener Austromarxist Otto Bauer zum Außenminister.
Knapp zwei Jahre später hatte sich die Lage ins Gegenteil verkehrt: Im Jahr 1920 gewannen die Christlichsozialen 79 Sitze gegenüber 63 für die Sozialisten. Während der folgenden 18 Jahre gewannen die Sozialisten keine Nationalratswahl mehr, obwohl es ihnen gelungen war, im „Roten Wien“ ein bemerkenswertes Wohlfahrtssystem zu errichten. So war Wien, wie Lisa Silverman schreibt,
„eine einsame ‚rote‘ Stadt, umgeben von den ‚schwarzen‘ Provinzen und föderalen Landesregierungen. Die antisemitische Rhetorik hatte die Juden schon lange vor der Zwischenkriegszeit mit dem Sozialismus verbunden, aber diese Bindungen verstärkten sich noch, als sich die Juden nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt in dieser Bewegung engagierten und daher noch sichtbarer wurden.“[13]
Im Jahr 1922 wurde Ignaz Seipel, ein katholischer Priester, zum Kanzler gewählt. Und Engelbert Dollfuß, der umstrittene Kanzler zu Beginn der 1930er-Jahre, der autokratisch am Parlament vorbeiregierte, hatte ebenfalls einen priesterlichen Hintergrund. Nach nur zwei Jahren Kanzlerschaft wurde Dollfuß, der sich in seiner autoritären Manier Hitler widersetzt hatte, bei einem Putschversuch in seinem Büro von Nationalsozialisten ermordet.
Seit dem Herbst 1914 waren zehntausende Juden vor dem Krieg in Galizien und der Bukowina wie auch aus Polen und Westrussland geflüchtet und nach Wien geströmt, und der bereits seit Langem im katholischen Österreich latente Antisemitismus brach angesichts des Zustroms so vieler hungriger Mäuler offen aus. Dazu einige hilfreiche statische Daten, wobei ich mich vor allem auf Brigitte Hamann stütze.[14] Seit der Gleichstellung der Juden durch den Kaiser 1867 hatten sich die österreichischen Juden – zum größten Teil in Wien ansässig – beträchtlich vermehrt und es zu Wohlstand gebracht. 1870 lebten rund 40.000 Juden in Wien, 1880 waren es 72.000 und 1890 mehr als 118.000 (fast zehn Prozent der Einwohnerschaft). Die neu gebauten Eisenbahnstrecken trugen zur Beschleunigung der Migration aus dem Osten bei.
Bis 1885 waren mehr als sechzig Prozent aller Ärzte und mehr als die Hälfte der zugelassenen Anwälte der Hauptstadt Juden. Von großer Bedeutung ist der Umstand, dass fast alle größeren Tageszeitungen Wiens und deren Redaktionen in der Hand von Juden waren – wodurch sie einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben konnten. Der Herausgeber der führenden Zeitung „Die Neue Freie Presse“, Moritz Benedikt, ein überzeugter Anhänger des Pangermanismus, avancierte zum Lieblingsgegner von Karl Kraus. Kraus, selbst Jude, der 1899 zum Katholizismus übergetreten war, sich aber später von der Kirche aufgrund ihrer Unterstützung des Krieges losgesagt hatte, war für seine verstörenden, durchaus antisemitisch wirkenden Äußerungen bekannt, seine Anschuldigungen der Korruption und Verlogenheit erwiesen sich allerdings in Falle Benedikts als korrekt.
Das Übergewicht der Juden in den sozialdemokratischen Bewegungen der Zeit führte zu offenen Forderungen nach einer ethnischen Säuberung. Die russische Revolution des Jahres 1905 hatte eine eigene Welle des Antisemitismus ausgelöst. Leo Trotzki, der von 1907 bis 1914 in Wien lebte, wurde zur Symbolfigur des jüdischen Strebens nach einer sozialistischen Revolution. Wiens antisemitischer Bürgermeister Karl Lueger (der „schöne Karl“) warnte die Juden, es ihren russischen Pendants gleichzutun und sich mit den sozialdemokratischen Revolutionären zu verbünden: „Wenn aber die Juden unser Vaterland bedrohen sollten, dann werden auch wir keine Gnade kennen.“ Denn die Juden „wollen keine Gleichheit, sondern die volle Herrschaft.“ Man sagte, sie planten „… die Bildung einer Internationalen Bankenallianz mit dem Sitze in Washington“ und würden bald „öffentlich ihre Gesetze der Welt diktieren“.[15]
Mit dem Zustrom armer galizischer Juden mit ihren schwarzen Kaftanen, Hüten, langen Bärten und ihrer „befremdlichen“ Sprache (Jiddisch) – Juden, die als Hausierer („Handeleh“) die einheimische Konkurrenz unterboten und es dabei zu beträchtlichem Reichtum brachten – erhitzte sich die antisemitische Stimmung noch weiter.
Das Ungleichgewicht der Berufszugehörigkeit verstärkte sich nach dem Krieg. Wie Bernard Wasserstein in seiner grundlegenden Untersuchung „On the Eve“ gezeigt hat, arbeiteten nur wenige Juden in den von der Mehrheit ausgeübten Berufen: Landwirtschaft, haushaltsbezogene Dienstleistungen, Bergbau und öffentliche Arbeiten. Am anderen Ende der Skala waren die Juden ebenfalls unterrepräsentiert: im öffentlichen Dienst, in der Armee und natürlich in der Kirche, die in Österreich sehr einflussreich war. Stark überrepräsentiert waren die Juden hingegen im Finanzwesen, im Handwerk und in den Künsten, im Kleinhandel sowie in der Großindustrie. Die wachsende Rolle von Juden in der politischen Linken machte die Sache nicht besser. „Gefürchtet und zugleich geschmäht … als subversiver Revolutionär und kapitalistischer Ausbeuter“, schreibt Wasserstein, „betrachtete man den Juden als ein fremdartiges Wesen.“[16]
Dadurch gerieten assimilierte Juden, von denen viele wie Wittgenstein oder Victor Adler aus Familien kamen, die schon vor langer Zeit konvertiert waren und sich von ihrem jüdischen Ursprung distanziert hatten, in eine verzwickte Lage.[17] Die Generation davor – beispielsweise Arthur Schnitzler und Gustav Mahler – hatte gewiss ebenfalls Antisemitismus erfahren, aber für sie war das Exil noch kein zwingendes Erfordernis. Im Gegenteil, diese Künstler betrachteten Wien vielmehr als ihre Heimat, ihre Stadt. „Österreich-Ungarn ist nicht mehr“, erklärte Freud 1918. „Anderswo möchte ich nicht leben. Emigration kommt für mich nicht in Frage. Ich werde mit dem Torso weiterleben und mir einbilden, daß er das Ganze ist.“[18] Selbst zwanzig Jahre später, mit der Besetzung Wiens durch die Nazis, sträubte sich der 82-jährige Freud so sehr gegen das Exil, dass seine Freunde ihn aus dem Haus zerren und fortschaffen mussten.
In der Folgegeneration war diese vorbehaltslose Hingabe an „unser“ Wien einer komplexeren und widersprüchlicheren Stimmung gewichen. Edward Timms macht deutlich, dass das Nachkriegswien zur Bühne eines antisemitischen Kreuzzugs geworden war. Eine Parlamentsinitiative zur Begrenzung weiterer Immigration wurde beherrscht von Anspielungen, die christlich-deutsche Zivilisation sei in Gefahr durch ein Bündnis von Marxisten und Juden. Die bolschewistische Gefahr, erklärte der zukünftige Kanzler Ignaz Seipel 1918, sei eine jüdische Gefahr. Dass sich österreichische Juden deshalb nach der verlorenen Welt der Monarchie zurücksehnten, entbehrt nicht einiger Ironie:
„Die Mehrheit der Juden des Habsburgerreiches hatte sich mit der Vorstellung wohlgefühlt ‚österreichisch‘ zu sein, im Sinne der Zeit vor 1918, also im ‚kosmopolitischen‘ Sinn des Wortes: Sie konnten Österreicher sein in Krakau und polnisch sprechen, sie konnten tschechischsprachige Österreicher in Prag sein, oder italienischsprachige in Triest, und das, ohne ihre jüdische Identität verleugnen zu müssen. Im Jahr 1918 kollabierte dieses Modell des Multikulturellen … Ein deutschsprachiger österreichischer Jude in einem stark antisemitischen Umfeld zu sein bedeutete, eine brüchige Identität zu haben …“[19]
Das Exil gab es nun häufiger, sei es das selbstgewählte eines Ludwig Wittgenstein, der 1929 nach Cambridge übersiedelte, oder eines Joseph Roth, dem Paris zur journalistischen Heimat wurde, sei es die erzwungene Ausreise Canettis und Musils im Jahr 1938. Der erheblich jüngere Paul Celan, der in dem bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Rumänien gehörenden Czernowitz studiert hatte, überlebte den Holocaust (in dem seine Eltern ermordet wurden), geriet in die Gefangenschaft zuerst der Deutschen, danach der Kommunisten, bevor er sich 1948 dauerhaft in Frankreich niederließ.
Alle diese austromodernen Autoren verband die deutsche Sprache – genauer gesagt: die austrodeutsche Sprache –, in die sie hineingeboren worden waren. Als Kinder eines polyglotten Reiches sprachen und schrieben sie mehr als eine Sprache. Canettis Umgangssprache war zum Beispiel Bulgarisch, Englisch lernte er in Manchester. Musil sprach Tschechisch und Roth Jiddisch (von dem er sich später lossagen würde). Aber die ihnen allen gemeinsame Schriftsprache war ausdrücklich das Deutsche. Man denke etwa an Wittgenstein, dessen philosophische Karriere bei Bertrand Russell und G. E. Moore im Cambridge der Vorkriegszeit begonnen hatte. Wie aus seinen Briefen und den Mitschriften seiner Vorlesungen hervorgeht, blieb sein Englisch bis zum Schluss etwas unbeholfen und geschraubt: Zu keiner Zeit beherrschte er die „Umgangssprache“ in dem Maße, wie sie ihm im Deutschen vertraut war. Joseph Roth verfasste am Ende seines Lebens zahlreiche Aufsätze auf Französisch, aber für seine literarischen Arbeiten kam ausschließlich Deutsch in Frage. So auch Paul Celan. In einer häufig zitierten Vorlesung betonte er, dass der Dichter keine Wahl habe, als in seiner Muttersprache zu schreiben, und dass mit der Übernahme einer Fremdsprache die dichterische Wahrheit „vor die Hunde“ gehe.[20]
Als Mutter- oder Wahlsprache war das Deutsche für die Autoren der Austromoderne in hohem Maße selbstreflexiv – mehr ein Gegenstand der Betrachtung als ein Kommunikationsmittel. „Die Sprache“, schrieb Karl Kraus einmal in der „Fackel“, „ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt.“[21]
Der große Kraus-Bewunderer Walter Benjamin hatte nur einen Vorbehalt gegen seinen österreichischen Zeitgenossen: Kraus, so Benjamin, glaubte an die Tatkraft des Individuums:
„Höchst folgerecht, wenn der verarmte, reduzierte Mensch dieser Tage, der Zeitgenosse, nur noch in jener verkümmertsten Form: als Privatmann, im Tempel der Kreatur eine Freistatt verlangen darf. Wieviel Verzicht und wieviel Ironie liegt in dem sonderbaren Kampfe für die ‚Nerven‘, die letzten Wurzelfäserchen des Wieners, an denen Kraus noch Muttererde entdecken konnte. … Wenn irgendwo, tritt hier das seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie und revolutionärer Praxis zutage, dem man bei Kraus allerorten begegnet.“[22]
[23][24]