Jérôme Segal · Wie ein roter Faden

Europa neu erzählen

Jérôme Segal

Wie ein roter Faden

Eine Familie in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts

Edition Konturen

Wien · Hamburg

„Die Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist.“ Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985, S. 55.

Für Caroline,

für meine Familie

und für all jene, die auf ihre Art und ganz eigene Weise entdecken, was sie aus der familiären Vergangenheit geerbt haben.

Ich möchte mich besonders bei Georg Hauptfeld für die Aufnahme in seine Reihe „Europa neu erzählen“ bedanken, auch bei Susanne Petersen für die Übersetzung, Christa Hanten, Hannes Gellner, Joachim Wartenberg, Arn Aske und Jürgen Vogler für deren wertvolle Hilfe.

Aus dem Französischen von Susanne Petersen

Wir legen Wert auf Diversität und Gleichbehandlung. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte werden manche Begriffe in der maskulinen oder femininen Schreibweise verwendet. Grundsätzlich beziehen sich diese Begriffe auf beide Geschlechter.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright © 2019 Edition Konturen

Mediendesign Dr. Georg Hauptfeld GmbH – www.konturen.cc

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Georg Hauptfeld, dressed by Gerlinde Gruber

Umschlagbild: „Ex-Österreicher“ im Lager von Meslay-du-Maine,

Quelle: Archives départementales de la Mayenne, Laval.

ISBN 978-3-902968-42-5

Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn

Printed in Austria

Inhalt

1.Eine neue Stadt für ein neues Leben (1974–1989)

Jacques und Marie-Laure

2.Die Erde bebt (1925–1938)

Heinrich, Stanislaus und Erna

3.Schwarzes Gold ohne gelben Stern (1877–1913)

Aron und Abraham werden zu Arnold und Adolf

4.Undiszipliniert (1990–2008)

Jérôme

5.Eine „insgesamt negative“ Bilanz? (1990–2018)

Marie-Laure und Jacques

6.Aus Heinrich wird Henri (1939–1945)

7.Innere Migration (1914–1925)

Arnold

8.Wien – Zwischen Anziehung und Abscheu (2008–2018)

Jérôme

Anmerkungen

Bildquellen

Chronologie

Die Familie Segal

1.Eine neue Stadt für ein neues Leben (1974–1989)

Jacques und Marie-Laure

Es ist dunkel auf der Autobahn Richtung Bretagne. Das bringt uns näher zusammen. Draußen gibt es nichts zu sehen. Auf dem hinteren Mittelsitz unserer Pampelmuse, wie wir den strohgelben Renault 12 nannten, sehe ich manchmal im Schatten der Scheinwerfer entgegenkommender Autos das Profil meiner Eltern. Das Innere des Autos als Kokon. Es mag schon fast 22 Uhr sein, meine Augen brennen ein wenig, aber ich möchte diesen besonderen Moment für mich so lange wie möglich bewahren. Meine Eltern ganz für mich, nur für mich allein und so nah, das ist wahrlich nicht alltäglich. Zeichen körperlicher Zuneigung sind selten und gerade das lässt diesen Augenblick so wertvoll erscheinen. Nach mehr als 30 Jahren vertraute mir meine Mutter an, dass sie sich bemühte, damit den Empfehlungen des berühmten Psychologen Bruno Bettelheim zu folgen: eine Distanz zu den Kindern zu bewahren und diese nicht in einem Schwall von Streicheln und Küssen zu ersticken.

Ich bin zur Linken und zur Rechten von meinem Bruder Sylvain und meiner Schwester Mathilde eingezwängt, meinen jüngeren Geschwistern. Sobald es hell wird, sitzt mein zweiter Bruder Martin, der noch ganz klein ist, erst zwei Jahre alt, normalerweise zwischen meinen Beinen. Jetzt schläft er gerade, mit offenem Mund, halb auf meine Schwester zur Rechten gelehnt. Ich bin stolz, ich fühle mich als der Älteste, der nicht schläft. Hinzu kommt, dass ich zwischen die Vordersitze passe, wenn ich meine Knie ein wenig zusammenpresse. Dann bin ich beinahe in der Erwachsenenwelt, obwohl ich erst elf Jahre alt bin. Und vor allem bin ich nur noch einen halben Meter von meinen Eltern entfernt. Ich höre alles, was sie sagen. Ich spreche mit ihnen, aber manchmal, wenn sie miteinander sprechen, bin ich auch dabei.

Meistens fährt mein Vater, manchmal tauschen sie die Plätze, wenn wir einen Stopp machen, um zu tanken oder auf die Toilette zu gehen. Es wird nicht unbedingt über wichtige Dinge geredet: die Straße, die Fahrt, die voraussichtliche Ankunftszeit, den Ablauf des ersten Ferientages, der bald beginnt. Darum kreisen wohl die meisten Gespräche, aber auch andere Themen werden angeschnitten. Keine Grenzen, nur mein Widerstand gegen das Einschlafen ist begrenzt. Das Asphaltband scheint unendlich, aber ich weiß, dass wir am Ende ankommen werden. Es kann schon passieren, dass ich kurz einschlafe, um beim Aufwachen gleich wieder meinen kleinen Wachtposten in einem ruhigen Meer zu übernehmen. Das ist der Moment, in dem ich von der Beziehung zu meinen Freunden in der Schule sprechen kann, auch über die Lehrer, wo ich Fragen stellen kann zum Weltgeschehen oder dazu, was die Freunde erzählt haben. Denn vor Kurzem habe ich die Schule gewechselt und damit auch die Freunde.

Zu Hause sind solche ruhigen Momente für eine längere Diskussion an den Fingern abzuzählen. Sie sind so selten, dass meine Eltern einige Jahre später alle Trimester oder mindestens zweimal im Jahr mit jeweils einem Kind einen Abend im Restaurant verbrachten. Meine Erinnerungen daran sind gemischt: Manchmal entstand ein angenehmer Austausch, aber es konnte auch in einem Verhör enden. – „Sag mal, hast du eine Freundin?“ – Das war der Zeitpunkt, um auszupacken … Meine Mutter, die sehr herzlich und wahrhaft aufmerksam ist, ja liebevoll, ist alles andere als eine feine Diplomatin. Ihr Leitmotiv ist vielmehr: „Ich glaube, dass man sich im Leben alles sagen muss.“

Im Alltag waren meine Eltern sehr beschäftigt. Meine Mutter, Marie-Laure, war von 1977 bis 1983 stellvertretende Bürgermeisterin von Elancourt, einer Stadt, die zu einem der fünf neu gegründeten Ballungszentren im Pariser Großraum gehörte, Saint-Quentin-en-Yvelines. Darüber hinaus übte sie noch andere Funktionen in ihrem Beruf als Philosophielehrerin am Gymnasium von Trappes aus, einer Stadt, die schon früh von Arbeitslosigkeit und Armut gebeutelt wurde.

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1.1 Meine Mutter als Stadträtin

In ihrer politischen Stellung war sie insbesondere für Kulturfragen zuständig. Ich wusste nicht wirklich, worin diese Aktivitäten bestanden, aber ich bemerkte, dass sie deshalb häufig abends abwesend war. Sicherlich wegen verschiedener Sitzungen und anderer Treffen …

Ein Foto, das ich bei meinen Eltern gefunden habe, zeigt meine Mutter mit der Trikolore, zweifellos anlässlich einer Hochzeit, die sie stellvertretend für den Bürgermeister zelebrieren musste, was auch vorkam. Die Kette, die ich gerne mochte, trug sie häufig. Ich fand es damals schon genial, wie Steine in Metall eingefasst werden, das faszinierte mich. Jeder Stein war anders und es war angenehm, sie zu berühren; die Steine glitten fast durch die Finger.

Das eher runde, hübsche Gesicht meiner Mutter, mit den durchdringenden schwarzen Augen, offenbart einen ziemlich ausgeprägten Charakter, was aus dem in die Ferne schweifenden Blick nicht unbedingt hervorgeht.

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1.2 Meine Mutter mit dem Bürgermeister von Elancourt

Vielleicht sind es auch die republikanischen Ideale, die sie immer bewegt haben, die hier ihre dunklen Augen unter der Haarpracht zum Strahlen bringen. Ihre Weiblichkeit wird häufig durch große Ohrringe betont, wie auf diesem Foto, wo sie an der Seite des Bürgermeisters von Elancourt ihren Körper leicht nach vorne beugt, was ihr Engagement und die Ehrenhaftigkeit unterstreicht, die ihre Persönlichkeit prägt.

Ihr Vorname, Marie-Laure, ist ein ganzes Programm oder mehr noch eine Vorwegnahme, wie ein Amalgam, aus dem sich eine komplexe Familiengeschichte speist: Meine Mutter kommt aus einer elsässisch-lothringischen jüdischen Familie, die weitgehend assimiliert war. Ihre Eltern, Gilbert und Marie-Rose, sind in den 1930er-Jahren, genauer 1937, zum Katholizismus konvertiert. Dennoch haben sie niemals ihre jüdische Herkunft verleugnet – weder ihr Vater, der fünf Jahre lang im Oflag (Offizierslager) interniert war, noch ihre Mutter, die im Sommer 1942 in ihren Personalausweis brav das infame Prädikat „JUIF“ in Großbuchstaben einstempeln ließ. Sie lebte damals in Annecy, wo ihr Ehemann einen Posten als Philosophielehrer am Gymnasium innehatte; eine Stelle, die er allerdings wie alle Abgänger der École normale nicht antreten konnte, weil er als Offizier den Einsatzbefehl erhielt und schon 1940 von den Deutschen verhaftet wurde. Die lange Korrespondenz, die meine Großeltern während der fünf Kriegsjahre unterhielten, die von meiner Großmutter aufbewahrt und kurz vor ihrem Tod meiner Mutter übergeben wurde, offenbart, wie sehr sie die biblische Gestalt der Maria verehrten. Sie versprachen einander, dass ihre Tochter diesen Namen tragen sollte. In einem Brief vom 25. Juli 1944 schrieb Gilbert, der von seiner Frau Marie-Rose und dem 1939 geborenen Sohn getrennt war: „Es ist wunderbar, dass du auch Marie in deinem Namen trägst! Das trifft sich wirklich gut für dich! Und ich würde mir wünschen, dass unsere Töchter auch Marie in ihrem Namen haben.“

Marie-Laure, die 1949 geboren wurde, wuchs also in einem katholischen Milieu auf und blieb bis zu ihrem 25. Lebensjahr gläubig. Meinen Vater Jacques hatte sie lange vorher kennengelernt, sie haben sehr jung geheiratet. Meine Mutter musste sogar für mündig erklärt werden, weil sie erst 19 war und damals die Volljährigkeit mit 21 Jahren begann. Gemeinsam haben sie künftige Ehepaare auf deren religiöse Hochzeit vorbereitet. Was für eine Entwicklung folgte darauf! Zu Beginn der 1970er-Jahre waren sie noch katholisch, wenn auch mein Vater davon wenig begeistert war. Später karikierte er es als eine Art „Doppelpack“, das er auf sich genommen habe, da er „das Mädchen nicht von ihrer Religion“ loslösen konnte. Sie waren zugleich auch Mitglieder der Sozialistischen Partei, zweifellos angetan, zumindest meine Mutter, von der Botschaft der vorbehaltlosen Nächstenliebe.

Die Nelkenrevolution in Portugal im Jahre 1974 ließ sie zwei wichtige Entscheidungen treffen, die ihren Lebensweg nachhaltig veränderten. Damals unterstützte die Sozialistische Partei nicht wirklich das portugiesische Volk oder doch zu zögerlich, während die Kommunistische Partei klar Position gegen die Diktatur von António de Oliveira Salazar bezog. Und zur gleichen Zeit unterstützte die Kommunistische Partei während der Präsidentschaftswahlen im Mai 1974 die Kandidatur von François Mitterand von Beginn an. Insofern war für sie die Überlegung stimmig und auch für ihr bürgerliches Milieu fast akzeptabel, der Kommunistischen Partei beizutreten. Jacques und Marie-Laure wurden also aktive Kommunisten, sie wurden ganz offen atheistisch und blieben jüdisch, was für sie aber niemals eine religiöse Dimension hatte.

Die Autobahn, die in die Bretagne führt, soll uns nach Saint-Quay-Portrieux bringen, eine kleine Stadt am Meer in der Nähe von Saint-Brieuc, berühmt für ihre Jakobsmuscheln. Meine Tante Joëlle hat dort ein Haus aus Familienbesitz, das sie mit ihrer Schwester teilt. Ich freue mich besonders darauf, hier zu Silvester meinen Onkel Jean-Pierre zu treffen. Er ist der Jüngste der vier Geschwister und ich bin der Älteste von vier Kindern in der folgenden Generation, wir sind nur 18 Jahre auseinander. Der Gedanke, mit ihm Fußball zu spielen, reizt mich. Er ist sportlich, liebt es zu spielen und kennt alle Fußballmannschaften aus dem Fernsehen. Und er ist besonders herzlich und voller Humor. Einmal haben wir – daran erinnere ich mich genau – gemeinsam für die ganze Familie gekocht. Ich war stolz, dieses Essen zu kochen. Und er bestand darauf, dass wir gemeinsam den Abwasch erledigten, weil es einfach dazugehörte, auch wenn es weniger angesehen war. Als geschickter Rhetoriker konnte er sogar Stolz auf den Abwasch vermitteln. Erst 15 Jahre später erinnerte ich mich wieder an diese Szene, als ich in Berlin den großartigen Film von Jean Eustache sah, Die Mama und die Hure (1973). Jean-Pierre Léaud, als ebenso verletzbarer wie zynischer Dandy, erklärte: „Man empfindet eine Art Befriedigung, den Abwasch zu machen. Dieses Gefühl, nützlich zu sein. Diese Befriedigung hat etwas Obzönes an sich. Das ist abstoßend, nicht wahr? Zufrieden zu sein, weil man das Geschirr spült.“

Im Auto sprechen meine Eltern über meinen Onkel und meine Tante, die uns erwarten. Er ist Forscher beim CNRS, dem nationalen Institut für wissenschaftliche Forschung. Sie unterrichtet an einem Pariser Lycée Ökonomie und Soziologie – SES, wie es immer abgekürzt wurde. Beide sind auch links, aber nur Sozialisten und nicht besonders engagiert, das habe ich sofort verstanden. Und dann sind sie nicht Pioniere wie meine Eltern, sondern Pariser. Das hat immer für eine gewisse Distanz zwischen diesen beiden Paaren gesorgt.

Meine Eltern entschieden sich 1974, sich in einer neuen Stadt (Ville Nouvelle) niederzulassen. „Neue Städte“ waren Cergy-Pontoise, Evry, Melun-Sénart, Marne-la-Vallée und auch Saint-Quentin-en-Yvelines (Maurepas gehörte zu Saint-Quentin-en-Yvelines). Zunächst wohnten sie in Maurepas, etwa 30 Kilometer von Paris entfernt, in der Nähe von Versailles. Sie bezogen eines dieser kleinen, fast identischen Reihenhäuser, die aneinanderkleben, mit einem Stück Garten für jeden.

In einer 1973 ausgestrahlten Fernsehsendung hieß es: „Die Bevölkerung wächst und zieht zusammen. Staus verlängern auf unermessliche Weise die Wege. Die Abgase verschmutzen die Luft. Die Vororte breiten sich wie ein Ölteppich aus. Die Unterkünfte selbst wachsen und bilden Betonmauern mit Dächern. Es gibt nur eine Lösung, es müssen neue Städte gebaut werden.“ Und der Journalist verkündet stolz: „Es gibt sie wirklich, wir haben sie gefilmt.“

Diese utopische Vision findet sich auch in den Äußerungen ihrer Bewohner, wenn eine Frau in dieser Reportage erklärt: „Ich glaube, dass die Idee der Architekten aktuell nicht von den Immobilienfirmen, sondern von den Menschen beeinflusst wird. Sogar die Vordenker im öffentlichen Ressort, die diese neue Stadt konzipiert haben, wollten, dass die Bewohner ihnen sagen, was nicht wiederholt werden soll. (…) Letztlich wird die Seele der Stadt durch das entwickelt, was wir, die Bewohner, daraus machen.“

Der quaderförmige Turm von Maurepas erhob sich als höchstes Gebäude der Stadt hinter dem Rathaus. Meine Eltern wohnten weniger als 500 Meter davon entfernt. Als Allgemeinmediziner hatte mein Vater seine Praxis im Haus und das Wartezimmer lag neben dem Badezimmer. Patienten, die ich 20 Jahre später getroffen habe, konnten sich daran erinnern, dass mein Bruder Sylvain oder ich, damals etwa fünf und zwei Jahre alt, im Bademantel an ihnen vorbeigingen.

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1.3 Ansicht von Maurepas

Während dieser ersten Jahre in Maurepas profitierten meine Eltern von der Nähe des Umlandes. Mittwochs nahm uns meine Mutter mit zu einem nur wenige Kilometer entfernten Bauernhof, um Milch zu kaufen, die zur Herstellung von Joghurt in Plastikbechern diente. Natürlich auch Gemüse und vielleicht auch Früchte, das weiß ich nicht mehr so genau. Auf der Rückfahrt im Auto aßen wir dann ganz frische Karotten, ohne sie zu schälen.

Maurepas war für meine Eltern eine Stadt auf dem Lande. Bevor sie in der neu gegründeten Stadt ankamen, lebten sie in Douai, im Norden, wo mein erster Bruder Sylvain geboren wurde. Dank einiger Cousins seiner Mutter, der Familie Stein, konnte mein Vater Vertretungen im Département Yvelines übernehmen, in der Praxis der Gebrüder Cohen. Der Vorschlag, bei ihnen einzusteigen, bewog meine Eltern, den Norden zu verlassen, wo es ihnen ohnehin nicht sonderlich gefiel. Meine Mutter ließ sich für ein Jahr ohne Bezüge beurlauben, was so viel bedeutete, dass sie Lehrerin blieb, aber eine Pause einlegte. Zwei Tage vor dem Umzug in das bereits gemietete kleine Haus in der Ville Nouvelle zogen die Gebrüder Cohen ihr Angebot aus obskuren Gründen zurück, was ich nie verstanden habe. So sah sich mein Vater in letzter Minute gezwungen, einen Platz in einer Praxis in Maurepas zu finden. Angesichts der wachsenden Bevölkerung war eine ausreichende Anzahl von Patienten zu erwarten, weshalb sich mein Vater bald schon selbstständig machte und seine Praxis in unserem neuen Zuhause einrichtete.

Das Viertel hieß Agiot, und dort ging ich auch zur „Grundschule Agiot“. Schulische Einrichtungen erhielten nicht Namen von berühmten Personen oder entfernten Orten, vielmehr sollte sich die Bevölkerung rasch die Namen dieser gerade entstandenen Viertel einprägen. Wenige 100 Meter entfernt lag Neu-Amsterdam, das zur Gemeinde Elancourt gehörte, der Nachbarstadt von Maurepas. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, wo es New York, New Hampshire und New Jersey gibt, gab es in Elancourt nicht nur Neu-Amsterdam, sondern auch die „Neuen Horizonte“, ein 1972 gebautes Viertel mit mehrstöckigen Wohnanlagen. Dorthin zogen meine Eltern 1975 in ein Haus desselben Typs, nur etwas größer, anlässlich der Geburt meiner Schwester. Im Rahmen unseres Umzugs richtete mein Vater seine Praxis ein und fand dabei andere Ärzte, mit denen eine Gemeinschaftspraxis entstand. Nebenbei bemerkt: Die utopische Bedeutung des Namens „Neue Horizonte“ verschwand für uns bald, weil mein Vater dieses Viertel in „Nouvozo“ umtaufte.

An diese Zeit im „Nouvozo“ habe ich die wirklich seltene Erinnerung, Fußball im Fernsehen geschaut zu haben. Zu Beginn des Sommers 1982 verfolgte ich mit meinem Bruder und meinem Vater bei Freunden unserer Eltern das WM-Halbfinale. Ich war elf Jahre alt und sehe noch die Reaktionen vor mir, die die Attacke des deutschen Torwarts Harald Schumacher gegen den französischen Spieler Patrick Battiston ausgelöst hat. Letzterer musste auf einer Trage bewusstlos vom Feld transportiert werden, ohne dass der Schiedsrichter ein Foul gepfiffen hätte. Auf dem Rückweg erlebten wir die Stadt noch leiser, nur unsere Schritte waren zu hören, und kurze Kommentare zu dem Spiel hallten im kurzen Fußgängertunnel wider, der die „Neuen Horizonte“ mit den „7 Teichen“ verband.

Zu Schulzeiten war der Tagesablauf stark gegliedert. Jeden Morgen rief die Sprechstundenhilfe gegen acht Uhr an, um die Liste der Besuche durchzugeben. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, notierte mein Vater auf einem karierten Block, den normalerweise eine Werbung für Arzneimittel zierte, die Adressen der Patienten, die angerufen hatten. Er kannte Elancourt und Maurepas wie seine Westentasche und machte fast immer bis zu 20 Hausbesuche am Vormittag, manchmal sogar mehr. Bevor er damit begann, setzte er uns bei der Grundschule ab. Es war nicht weit, nur fünf Minuten zu Fuß über unbebautes Terrain, aber was für ein Vergnügen, mit dem Auto hingebracht zu werden! Dieser Stolz basierte nicht auf dem Autotyp, denn er fuhr immer bescheidene Wagen französischer Herkunft, doch ich war froh, dass mein Vater sich auch als Mediziner Zeit für diesen rein logistisch überflüssigen Dienst nahm. Ich erinnere mich an einen rubinroten Renault 4 mit einer schwarzen Lenkradschaltung aus Bakelit, die man zu sich ziehen oder wegschieben musste. Daran hing mit einer Büroklammer befestigt die wichtige Liste der täglichen Hausbesuche aus dem Notizblock. Mein Vater rauchte im Auto Pfeife, was damals völlig normal war. Ich konnte den Geruch des Pfeifentabaks ganz gut vertragen, während Zigarettenqualm bei mir Übelkeit hervorrief. War es das Luxusmodell R4 L, das am meisten produziert wurde? Ich weiß es nicht mehr. Wohl aber erinnere ich mich, dass mein Vater ziemlich gestresst war bei dem Gedanken, in alle Richtungen durch die Stadt fahren zu müssen, immer mit der Angst, nicht rechtzeitig zu Beginn seiner Sprechstunde um 14 Uhr in der Praxis zurück zu sein. Es kam vor, dass er überhaupt keine Zeit fand, zu Mittag zu essen, oder nur für fünf bis zehn Minuten zu Hause Station machte. Ich sehe ihn noch, wie er dasteht, Tupperdosen aus dem Kühlschrank nimmt und im Stehen schnell eine Kleinigkeit isst.

Mein Vater war als Arzt bekannt, aber auch als aktiver Kommunist. Einige Jahre lang war er Sekretär der Parteizelle, wobei jede Zelle Teil einer Föderation auf Departementebene war. Sonntags machte er eine andere Runde als jene bei den Patientenbesuchen – er verteilte L’Humanité Dimanche, die Wochenzeitung der Partei (PCF, Parti communiste français). Abonnenten mit Kindern erhielten nach Bestellung auch das Comicmagazin Pif Gadget. Die Katapulte, Armbrüste und andere Plastikflitter zum Bauen, die „Pifises“, klitzekleine getrocknete Krustentiere, die nach und nach wieder zum Leben erwachten, sofern man sie in ein Wasserglas steckte, und natürlich die Geschichten von Rahan, dem „Sohn der wilden Zeiten“ – das alles prägte eine ganze Epoche! Ich habe sehr viel später erfahren, dass von der schwarz unterlegten Ausgabe vom September 1977, die in vollem Ernst den Tod von Rahan verkündete, mehr als eine Million Exemplare verkauft wurde.

Oft wollte ich mit meinem Vater Flugblätter verteilen, doch er erklärte mir mit viel Weisheit und nicht frei von politischen Bedenken, dass ich die Ziele meines Engagements später und nach eigenem Gutdünken wählen sollte. Außerdem wäre es für das Image der Partei desaströs, wenn mich die Nachbarn im Viertel, wo er stets seine Runden begann, dabei sehen würden – nach dem Motto: „Guck dir das an, die Kommunisten heuern ihre eigenen Kinder an!“ Ich habe diese Entscheidung immer als sehr klug angesehen und tatsächlich begann ich mich erst mit 15 Jahren zu engagieren. Meine erste „Demo“ war jene, die sich im Jahre 1986 den Plänen des Ministers Alain Devaquet widersetzte: „Devaquet … wenn du wüßtest, deine Reform, deine Reform! Devaquet, wenn du wüßtest, wo deine Reform landet!“ Natürlich gefolgt von: „Gleich am Arsch, am Arsch! – Nein! Nein! Nein zu deiner beknackten Reform!“

Von den Aktivitäten meines Vaters habe ich eine in besonderer Erinnerung. Ganz allein realisierte er eine kleine Ausstellung über die Lebensbedingungen im Heim Sonacotra, nur 500 Meter von uns entfernt, in dem ausländische Arbeiter untergebracht waren. Er fotografierte den Dreck und die Überalterung der Zimmer, der Wasserinstallationen, der Flure und zog die Fotos auf zwei große Sperrholzplatten auf, die mit Scharnieren auf Holzstelzen befestigt wurden. Mit seinen roten Cordhosen und den Mephisto-Mokassins stand er vor dem kleinen Supermarkt im Einkaufsviertel, in der Hoffnung, die Kunden würden seine Fotos beachten. Ich weiß nicht, ob die Passanten sich wirklich die Zeit nahmen, innezuhalten, doch ich war sehr stolz auf ihn.

Erst viel später hat man begriffen, dass eines der Dramen dieser neuen Städte darin bestand, dass es keine wirklichen Stadtzentren gab. Mochte die Anlage der Häuser zunächst wie eine Phalanx ausgesehen haben, aus der der „Neue Mensch“ entspringen sollte, so muss man doch feststellen, dass mit der Zeit das Bild eines utopischen Arkadien nach und nach verblasste. Auch die angestrebte Harmonie mit der Natur, wie sie in der 1973 ausgestrahlten Sendung versprochen wurde, hat sich als illusorisch erwiesen: „Vielleicht ist es diese Beziehung mit der Natur, durch die die neuen Städte, die gerade zu leben beginnen, ihre wirkliche Bestimmung finden …“ Es gab keine Chance, die Lage zu ändern, weil die Pavillonbebauung laufend ausgeweitet wurde und sich die Gewerbegebiete mit sogenannten konzentrierten Besiedlungszonen abwechselten.

Mit etwas Abstand sage ich mir, wie amüsant es ist, dass dieses Pionierleben meiner Eltern in Wirklichkeit eher den amerikanischen Traum erfüllte – was ihnen nicht bewusst war –, und dies in einer Zeit, wo sie sich selbst gegen den Imperialismus von „Uncle Sam“ engagierten. Diese kleinen Reihenhäuser der neuen Stadt, die übrigens häufig den Namen ihrer Immobilienhaie trugen – so hatten meine Eltern auf Kredit ein Haus Riboud gekauft, ein Hinweis auf den Unternehmer Jacques Riboud –, waren nichts anderes als eine blasse Kopie der „Suburbs“ jenseits des Atlantiks. Es war übrigens in der Nachbarstadt von Elancourt und Maurepas, in Le Mesnil-Saint-Denis, wo der Urheber dieses Bautyps, William Jaird Levitt (1907–1994), zum ersten Mal in Frankreich 510 fast identische Häuser hingesetzt hat, die sich sehr schnell verkauften. Der Name „Schlossresidenz“ trug sicherlich zu dieser großen Attraktivität bei, auch wenn sich das Angebot insbesondere an mittlere und höhere Angestellte wandte. Denn das Projekt „Ville Nouvelle“ war mehr, als ein Grundstück zu erwerben: Es galt, eine Stadt zu gründen! Mit solchen Siedlungszonen, die über Betonwege verbunden und von vierspurigen Straßen eingefasst waren, um die kleinen Einkaufszentren zu erreichen, schien es allerdings schwer, der Stadt eine Seele zu geben.

Meinen Eltern stellten sich solche Fragen nicht. Ihre beruflichen, gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten gaben ihrem Leben einen Sinn. Durch ihre Funktion im Rathaus hatte meine Mutter Kontakt zu Künstlern, Organisationen und Gemeinschaftseinrichtungen, die einander auf ihre Art ergänzten und dazu beitrugen, die neuen Bürger in ihrer persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Die Ville Nouvelle wurde 1984 von einem großen Demonstrationszug durchquert, in Fortsetzung des 1983 von der linken Zeitung Libération propagierten „Marche pour l’égalité et contre le racisme“, der als „Marche des Beurs“ populär wurde. Das Kollektiv „Convergence 1984“, das den Aufmarsch organisierte, war mit Motorrollern unterwegs und hielt eine Zusammenkunft in Trappes ab, in der Nähe von Elancourt.

Ein guter Freund meiner Familie, der Fotograf Patrice Leterrier, hat vor Kurzem ein Foto von einer Kundgebung wiedergefunden und mir geschenkt. Man sieht darauf meinen Vater mit seiner Pfeife im Mundwinkel, der ziemlich zufrieden wirkt. Auf seinen Schultern sitzt Martin, mein jüngster Bruder. Mit ihrem weißen Kragen ist daneben meine Mutter zu sehen – spürbare Verbundenheit der Familie im Rahmen einer Szene, in der wahrscheinlich gerade eine Rede gehalten wurde. Meine Schwester und ich sind nicht auf dem Foto, wohl aber mein Bruder Sylvain, der Zweitälteste, damals etwa elf Jahre alt. Mit seiner ziemlich auffallenden Brille beugt er sich ein wenig nach vorne, um besser sehen zu können. Die soziale Mischung, die angestrebt wurde, scheint hier zu existieren … zumindest für den Moment dieser Aufnahme.

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1.4 Meine Familie beim Aufmarsch des Kollektivs „Convergence 1984“

Das Leben meiner Eltern wurde von den politischen und kulturellen Ereignissen der Ville Nouvelle von Saint-Quentin-en-Yvelines bestimmt, die sich aus sieben Gemeinden zusammensetzte, darunter Trappes und Elancourt. Dort etablierte sich beispielsweise das Theater der Einheit, eine kulturelle Folge des Mai 1968. Kostenlose Spektakel in den Straßen sollten ein Publikum erreichen, dem diese Kulturform oft fremd blieb. Ich erinnere mich noch an das Stück „La 2 CV Théâtre“, das der Gründer Jacques Livchine und seine Freundin Hervée de Lafond mit einem 2 CV, einer „Ente“ aufführten, dem damals klassischen Billigauto, aber auch an „Die Zirkusfrau“ („La femme chapiteau“): Mit zehn anderen Zuschauern betrat ich im wahrsten Sinne des Wortes die Unterröcke von Hervée, um dort eine neue Version von Romeo und Julia zu erleben, denn das Kleid der Schauspielerin, die auf Stelzen ging, war so groß, dass es wie ein Zelt wirkte und viele Leute darunter Platz hatten. Ein anderes Mal war es ein ziemlich rockiges Spektakel in einer riesigen aufgegebenen Lagerhalle oder der „Karneval der Finsternis“ („Le carnaval des ténèbres“), der um vier Uhr morgens mit einem Fanfarenweckruf für die Bewohner begann und spät in der Nacht zu Ende ging. Dieser Typus kultureller Auftritte illustriert am allerbesten die großen Ambitionen von Jean Vilar für eine „Elitekultur für alle“. 1985 verließ die Truppe diesen Ort wohl vor allem aus politischen Gründen.

Marie-Laure befand sich im Herzen dieser kulturellen Arbeit. Zu ihrem 40. Geburtstag im Jahre 1989 kamen um die 100 Personen zusammen, um ihr ein Fahrrad zu überreichen. Es gab viel Musik und Wortgefechte, der Buchhändler der Stadt war anwesend, eine Tänzerin … eine sehr lebendige Versammlung. Zu gleicher Zeit war das Familienleben im Vergleich zu diesem sprühenden Kulturleben eher auf ein Minimum beschränkt. Als ich jünger war, kamen regelmäßig Babysitter ins Haus, um auf uns aufzupassen, vor allem deshalb, weil mein Vater montags bis donnerstags bis spät abends Sprechstunde hatte und erst zwischen 22 Uhr und Mitternacht nach Hause kam.

Wie schön war es, als wir in Saint-Quay-Portrieux bei meinem Onkel und meiner Tante zwischen den Festtagen von unseren Eltern hörten, dass die Sprechstunde am Donnerstag eingestellt und mein Vater schon gegen 18 oder 19 Uhr heimkehren würde. Das war für mich ein echtes Weihnachtsgeschenk. Sicherlich war er für einen Arzt untypisch: Nicht nur, dass er Kommunist war, was in diesem Beruf selten vorkam, er arbeitete auch so viel, um während der Schulferien frei zu haben. Im Sommer fuhren wir alle sechs zu abenteuerlichen Zielen, weil wir Camping machten. Irgendwann wurde unsere „Pampelmuse“ durch einen hellgrünen Renault 18 ersetzt, der – glaube ich – keinen Spitznamen erhielt.

Wie dieses Foto zeigt, war der Kofferraum prall gefüllt, im Dachgepäck wurde die Campingausrüstung untergebracht. Hier pumpt mein jüngster Bruder Martin die Luftmatratzen für unsere Eltern auf; jene für die vier Kinder sind bereits fertig. Ich sehe uns beispielsweise noch in Algerien mit einem Wasserkanister auf dem Dach, als wir zu Beginn der 1980er-Jahre einen kleinen Teil der Sahara durchquerten. Einmal habe ich meiner kleinen Schwester das Leben gerettet, als eine Sandviper sich in ihre Richtung bewegte. Ich erklärte ihr ganz ruhig, sie solle zur Seite gehen. Und ich bewahrte die Geistesgegenwart, die Schlange nicht zu erwähnen, damit sie keine abrupte Bewegung machte.

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1.5 Familiencamping im Süden

Ein anderes Mal waren wir in der Kabylei bei der Familie von Saïd, einem Arbeiter, dem mein Vater geholfen hatte. Ich erinnere mich noch, dass die Unterkunft kaum unseren europäischen Standards entsprach, vor allem, da eine Ratte von Zeit zu Zeit durch den Hof lief. Meine Eltern erzählten mir, dass während früherer Ferien im kommunistischen Rumänien mein etwa zwei Jahre alter Bruder Sylvain krank wurde und deshalb nichts von dem essen konnte, was es gab. Resigniert kommentierte er das mit den in die Familiengeschichte eingegangenen Worten: „Es gibt kein Ham, Ham …“

Solche ziemlich gewagten Reisen und mehr noch die Entscheidung zu einem ganz anderen Leben beruhten auch auf der Vorstellung, auf diese Art mit der bürgerlichen Herkunft zu brechen. Meine Mutter ist am Fuße des Eiffelturms in den edlen Vierteln aufgewachsen, mit einer Köchin, die bei ihnen wohnte. Ich habe immer gedacht, dass sie es als Reaktion darauf genoss, mit den Fingern zu essen, sobald sich die Gelegenheit bot. Vonseiten meines Vaters war es ähnlich: Seine Mutter stammte von Familien leitender Funktionäre ab, ihr Vater absolvierte die École polytechnique und war Ingenieur bei der SNCF, der staatlichen Eisenbahngesellschaft, er selbst Enkel des renommierten Hellenisten Henri Weil (1818–1909).

Der Vater meines Vaters kam als Staatenloser aus Wien und war in der Papierindustrie erfolgreich gewesen. Enttäuscht vom damaligen Ministerpräsidenten Charles de Gaulle, der Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wollte, unterstützte er die rechtsextreme OAS.[1] Meine Großmutter hat immer gesagt, er hätte eigentlich bei dem Attentat auf de Gaulle in Petit-Clamart am 22. August 1962 schießen sollen. Sie habe ihn moralisch erpresst, damit er nicht als Attentäter auftrat – und mit dem Schalk, der ihr eigen war, fügte sie oft hinzu: „Er war ein exzellenter Schütze. Er hätte ihn nicht verfehlt.“

Mein Großvater ist gestorben, als ich noch keine zwölf Jahre alt war. Meine Erinnerungen vermischen sich mit den Fotos, die ich lange nach seinem Tod zu Gesicht bekam. Anlässlich der Wahl von François Mitterand zum Präsidenten erklärte er: Sollte er herausfinden, dass sich eines seiner Kinder als Kommunist betätigte, würde er es niemals wiedersehen. Auch erinnere ich mich an einige Monate vor seinem Tod im Jahre 1982, als meine Eltern eine große Jagd nach herumliegenden kommunistischen Zeitungen unternahmen, die vor der Ankunft meiner Großeltern aus dem Wohnzimmer verschwinden mussten. Für uns Kinder war diese hektische Schatzsuche einfach lustig. Die Reproduktionen von Picasso mit der Friedenstaube vom Pressefest zugunsten der kommunistischen Zeitung L’Humanité, die an den Wänden hängenden Referenzen der Helden meiner Eltern wie die des chilenischen Revolutionärs Víctor Jara, der nur wenige Tage nach dem Staatsstreich vom 11. September 1973 ermordet wurde – all das muss ihm einen Floh ins Ohr gesetzt haben und wir mussten alle mitspielen. Mag es sich nun um die Großeltern Segal oder die Mutter meiner Mutter gehandelt haben – für alle muss die Exkursion von Paris nach Elancourt etwas Exotisches an sich gehabt haben.

Mein Großvater mütterlicherseits starb an einem plötzlichen Herzstillstand, als ich vier war. Meine Großmutter, bereits mit 55 Jahren und über 30 Jahre lang Witwe, wurde zunächst „Mamé“ genannt. Eines Tages, als sie mit uns in der Küche zusammen aß wie an fast jedem Mittwoch, bedauerte sie, nicht „Granny“ genannt zu werden. Sofort entschloss ich mich dazu und meine drei kleineren Geschwister machten es mir nach.

Ich sehe sie noch, wie sie den Arm auf den Sitz neben sich stützte und nicht ohne eine gewisse Abscheu die großen Blumen in Ocker und Orange auf der schwarzgründigen Tapete betrachtete. Bei Granny, zwischen der Avenue de Suffren und dem Eiffelturm, war es wie in einem Empire-Museum mit originalen Kunstwerken, etwa einem echten Vlaminck, einer wertvollen Tapisserie, die das Esszimmer schmückte, Porzellaneiern von Fabergé und vielen anderen Schätzen. Unvergesslich, wie sie ihrem Auto auf dem kleinen Parkplatz vor unserem Haus entstieg und zu mir sagte: „Schau, mein Liebling, was ich mitgebracht habe …“ Es war eine Apfeltarte aus der berühmten Bäckerei Poilâne bei ihr in der Nähe mit einem besonders hohen Teig, auf dem die Früchte oder der Flan lagen. Ich erinnere mich auch daran, wie ich – mitten in der Pubertät – das besondere Brot verschlungen habe, das sie mitbrachte. Die Folge war, dass ich schon am frühen Nachmittag unbedingt ein Schläfchen einlegen musste, ein „Koma“, das der Überdosis an Kohlenhydraten geschuldet war.

Am Mittwochnachmittag musste man sich ein wenig an den Haushaltsarbeiten beteiligen, denn meine Eltern hatten einen Arbeitsplan entwickelt, der einer kleinen Kolchose Ehre gemacht hätte. Meine Mutter und Granny bereiteten die Speisen für den Rest der Woche vor, häufig unterstützt von meinem Vater, der am frühen Abend heimkam. Am Sonntagnachmittag waren die Essensvorräte bis Dienstag dran, meist zumindest ein Gratin.

Diese Arbeiten betrafen vor allem das Kochen, denn solange ich denken kann, hatten meine Eltern eine Reinigungskraft. Als Erste fällt mir Madame Bordas ein, die bereits etwas älter war. Sie liebte es, beim Bügeln die „Unglaublichen Geschichten“ („Les Dossiers extraordinaires“) von Pierre Bellemare zu hören, zu Beginn der 1980er-Jahre eine Sendung auf Europe 1. Das muss am frühen Nachmittag gewesen sein und wenn ich im 400 Meter entfernten Collège de l’Agiot ein Loch in meinem Stundenplan hatte, hörte ich es mit ihr gemeinsam. Die Geschichten waren häufig traurig, sie basierten auf abscheulichen Verbrechen und wurden mit viel Leidenschaft vorgetragen. Ich stellte ihr Fragen, um besser zu verstehen. Das Wissen, dass es sich um wahre Geschichten handelte, erzeugte bei mir ein wohliges Gruseln.

Nach Madame Bordas, deren Alter diese Anrede zweifellos rechtfertigte, gab es Céleste, eine Portugiesin, ebenso reizend, im Alter meiner Mutter. Als sie sich vorstellte, kam sie mit ihrem Mann Arlindo, der in Mosambik gekämpft hatte und meine Eltern sehr bewunderte, insbesondere meinen Vater, glaube ich. Das Geschäftliche wurde im Garten geregelt, bei einem Glas Portwein – die vier Erwachsenen hatten im hinteren Teil in der Nähe des Kirschbaums Platz genommen. So merkwürdig es angesichts dieser anfänglichen Klassenunterschiede erscheinen mag, sind Céleste und Arlindo mit der Zeit doch so etwas wie Freunde der Familie geworden. Sie luden uns nach Portugal in ihr großzügiges Anwesen ein, an dem Arlindo selbst Sommer für Sommer baute und das sogar mit einem marmornen Badezimmer ausgestattet war. Dort bin ich einmal mit einem ihrer beiden Kinder abends losgezogen – Arthur, der ungefähr gleich alt war. Von ihm habe ich das Wichtigste, was ich bis heute behalten habe, auf Portugiesisch gelernt (angefangen mit „frango assado“, gegrilltes Hühnchen).