Alfred J. Noll · „Alles, was geschieht, geschieht mit Recht.“

Alfred J. Noll

„Alles, was geschieht, geschieht mit Recht.“

Staat, Eigentum und moderner Sicherheitsfetischismus

Edition Konturen

Wien · Hamburg

„Man soll nicht bloß bourgeois, sondern auch citoyen sein.“

G. F. W. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift.

Hrsg. v. D. Henrich, Frankfurt 1983, S. 107.

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ISBN 978-3-902968-43-2

Druck: Druckerei Berger, 3580 Horn

Printed in Austria

Inhalt

Vorbemerkungen

1. Eigentum: Seit jeher und für immer?

Das Eigentumsrecht ist eigentlich eine ganz junge Erfindung.

2. Staat und Gesetz

Brauchen wir den Staat und seine Gesetze?

Exkurs I: Verfassungsgebung

Exkurs II: Die Gesetzesflut

3. Volkssouveränität: Das Beispiel Österreich

Die großen Worte werden von den kleinen Verhältnissen zerrieben.

4. Demokratie als Perspektivenvielfalt

Wenn wir Demokratie wollen, müssen wir neu denken.

5. Parlamentarismus

Die Volksvertretung ist zu einem hohlen Betrieb verkommen.

6. Höchstgerichtsbarkeit und Justiz

Die Justiz ist immer politisch und muss es bleiben.

7. Menschenrechtspolitik und Völkerrecht

Wer das Völkerrecht nicht ernst nimmt, soll nicht von den Menschenrechten sprechen.

8. Europa braucht eine Verfassung

Wenn es so weitergeht, geht es nicht weiter.

9. Migration und Multikulturalismus

Das multikulturalistische Paradigma schafft mehr Probleme, als es löst.

10. Sicherheit vor allem

Ohne grundlegende Orientierung geht es nicht.

Postskriptum: Recht und Revolution

Vorbemerkungen

„Alles, was geschieht, geschieht mit Recht“, heißt es in Marc Aurels Selbstbetrachtungen (IV 10). Und er setzt fort: „Ich meine damit nicht nur: ‚nach der natürlichen Ordnung‘, sondern: ‚nach dem Prinzip der Gerechtigkeit‘, und wie von einem Wesen herrührend, das alles nach Würdigkeit verteilt“. – Ist je etwas geschrieben worden, das unseren Erfahrungen mehr widerspricht?

Den Menschen ist das Recht gewiss keine Zuflucht und nicht Ausdruck überzeitlicher Gerechtigkeit. Wenn es etwas gibt, das uns als Zeitgenossen verbindet, dann ist es die fast feindlich gesonnene Abstinenz von allem, was nach Recht und Gesetz aussieht. Die Reste der res publica leiden unter einer ubiquitären Rechtsphobie. Je mehr der Gesetze, desto weniger wollen wir davon wissen – und damit meinen wir nicht die augenzwinkernde Umgehung einzelner Vorschriften, die mal dümmlichen, mal geschickten Betrügereien, die bis in höchste Ämter unseres Staates zum allgemeinen Habitus geworden zu sein scheinen. Schon bei Tacitus heißt es: corruptissima res publica, plurimae leges – je korrupter der Staat, desto mehr Gesetze. Nicht umgekehrt.

Gelernt haben wir: Niemand kann ans Recht und an die Rechtswissenschaft herangehen, ohne die Ursprünge und die Anfänge zu kennen. Aber wurde nicht ohnedies schon alles beantwortet? Wissen wir denn nicht, worüber das Recht handelt? Der römische Jurist Ulpian (gest. ca. 223 n. Chr.) hat es uns doch gesagt:

Alles Recht befasst sich mit dem Erwerb, dem Schutz oder der Veräußerung. Denn es geht entweder darum, wie jemand etwas erwirbt, oder darum, wie jemand eine Sache oder sein Recht schützt, oder darum, auf welche Weise er sie veräußert oder verliert. (Digesten 1, 3, 41)

Das stimmt. Aber was ist das für eine Antwort! Liegt denn nicht in dieser Bestimmung schon ein Wissen, das uns durch die spröden Worte gerade nicht verraten wird? Versteckt sich nicht hinter der Beschreibung eine Unterstellung, dass nämlich der Verkehr zwischen den Menschen selbst und der Verkehr der von ihnen erzeugten Waren überhaupt nach vorgegebenen Regeln vonstatten gehen soll? Woher die Gewissheit, dass Recht überhaupt geschaffen werden soll, dass ein Recht allgemein für alle geschaffen werden soll? Und was sind die Bedingungen einer derartigen Rechtserzeugung?

Der grundlegende Band („Wie das Recht in die Welt kommt. Von den Anfängen bis zur Entstehung der Städte“, Wien–Hamburg 2018) folgte einer chronologischen Darstellung. In diesem neuen Band werden einige wesentliche Themen schwerpunktmäßig verhandelt. Von der Übung strenger Rechtswissenschaft unterscheidet sich das weitgehend nur einen Überblick gebende Verfahren durch eine größere Ermessensfreiheit gegenüber juristischer Analyse; auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wird indes umso mehr Bedacht genommen.

Ziel dieses Buches ist nicht die Forschung, und es wird auch nichts „bewiesen“ (auch wenn ich glaube, dass die aufgestellten Behauptungen durchgängig belegt werden können). Die Darstellung versucht auch für einen breiteren Kreis an Interessierten lesbar zu bleiben.

Ein solcher Versuch eines kompakten Panoptikums zu Fragen wie Eigentum, Demokratie, Justiz, Sicherheit oder Revolution hat mit enormen Beschränkungen zu leben: Nicht nur bedarf es einer konsequenten Reduktion bei der Ausbreitung des historisch-empirischen Materials; es müssen vor allem Seitenwege vermieden werden und die allenthalben vorrätigen Theorieangebote und die Auseinandersetzung mit ihnen ausgespart bleiben.

Der vorletzte Satz von Ammianus Marcellinus’ (gest. ca. 395 n. Chr.) „Römischer Geschichte“ beginnt mit scribant reliqua potiores – mögen Fähigere das Übrige schreiben …

Wien, im Sommer 2019

Alfred J. Noll

1. Eigentum: Seit jeher und für immer?

Eigentum ist dem homo sapiens menschheitsgeschichtlich fremd. Wir kennen die ausschließende Zuweisung von Dingen an bestimmte Exemplare der Gattung buchstäblich erst aus allerjüngster Zeit. Genetisch mag sich vieles festgelegt haben, das unser heutiges Sozialverhalten bestimmt – das Eigentum gehört nicht dazu.

Das Eigentum ist eine Erfindung. Ihr historischer Segen steht in verkehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung. Die wirkmächtige Kraft dieser Erfindung keimt aus dem unerschütterlichen Glauben an den Apriorismus des Individuums als Rechtszelle und Rechtssubjekt.

Wenn wir in unsere Vergangenheit schauen, wenden wir meist den differenzierten Rechtsbegriff unserer Gegenwart kongruent auf das Recht früherer Kulturstufen an. So wollen wir dann auch auf der untersten Sprosse das Eigentum „an sich“ erhaschen. Aber da ist nichts, was es zu erhaschen gäbe – zumindest nichts, was unserer heutigen Vorstellung von Eigentum ähnelt: Ein „Eigentum“, verstanden als eine Kategorie der juristischen Zurechnung von Sachen zu Personen und als Herrschafts- und Verfügungsbefugnis dieser Personen über diese Sachen, sehen wir nicht. Der Menschheit insgesamt ist dieses Konzept des „privaten Eigentums“ so fremd wie den kleinen Kindern die Unterscheidung von „Mein“ und „Dein“ – und nicht ohne Grund hat es für Thomas Hobbes (1588–1679) im vorstaatlichen „Naturzustand“ kein Meum und Tuum, kein Mein und Dein gegeben. Sowohl menschheitsgeschichtlich wie auch individuell-biografisch ist die Vorstellung eines privaten Eigentums das Produkt von gewaltsamen Abrichtungs- und Disziplinierungsbemühungen.

Eigentum wird fast immer, wenn eine nähere Bestimmung fehlt, als Privateigentum verstanden. In dieser juristisch verengten Bedeutung fassen auch meist nichtjuristische Lexika diesen Begriff. Das ist kein Wunder: „Die Bindung an das Privateigentum ist konstitutiv für die gegenwärtig existierende Psyche. Die Eigentümer von Sachen erleben sich vermittelt über diese, sie erleben sich weitgehend als die oder der, welcher bestimmte Sachen besitzt oder nicht besitzt“ (Vinnai, S. 59). Dies ist aber eine völlig unhistorische und zudem reichlich ideologische Zurichtung. Helmut Rittstieg hat es mit wünschenswerter Deutlichkeit festgehalten:

Die wissenschaftliche und politische Diskussion kann nur dann zu tragfähigen Ergebnissen kommen, wenn sie die Abstraktion des bürgerlichen Eigentums durchbricht und die nach ihren individuellen und gesellschaftlichen Funktionen unterschiedenen Eigentumsrechte je gesondert nach ihrer Rechtfertigung befragt. Die gegenwärtigen Eigentumsordnungen sind historische bedingt. Selbst wenn die nationale demokratische Bestimmung über Wirtschaftsordnung und Ressourcenverwendung angesichts der Globalisierung zur Illusion werden sollte, ist damit die Geschichte noch nicht zu Ende. (Rittstieg, 454)

Gerade bei Begriff und Recht des Eigentums sollten wir also ständig in Erinnerung behalten, was schon Hegel in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie bemerkte: „eine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechts-Institutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein“ (Hegel, S. 33). Das Eigentum, so wie wir es kennen, ist also vermutlich nicht das letzte Stadium der Rechtsentwicklung. Wir wissen es nicht.

Wo aber liegt der Anfang des Eigentums?

Das Rechtssubjekt irgendwelcher „Eigentumsrechte“ an Grund und Boden ist bei den Wildbeutern (Jägern- und Sammlern) nicht das Individuum (davon hat die Urgesellschaft gar keine Vorstellung), es ist auch nicht die Einzelfamilie, sondern die Horde oder Lokalgruppe in ihrer Gesamtheit. Von einem „Eigentumsrecht“ sprechen wir allerdings in einem ganz anderen Sinne, als es uns heute geläufig ist. Die Urvölker (akephale, also herrschaftsfreie Gesellschaften) kennen keine rechtlich relevante Scheidung zwischen Grund und Boden und den darauf wachsenden Pflanzen und jagdbaren Tieren, ja noch nicht einmal unbedingt eine Unterscheidung zwischen „Person“ und Natur. Vielmehr verschmelzen diese Dinge zu einer gemeinsamen Vorstellung, zu einer holistischen Kosmologie. Philippe Descola hat in seinem Großwerk „Jenseits von Natur und Kultur“ festgestellt:

In dem Maße, wie die Kategorie der „Person“ auch Geister, Pflanzen und Tiere umfasst, die alle eine Seele haben, unterscheidet diese Kosmologie nicht zwischen Menschen und Nichtmenschen; sie führt lediglich eine Rangfolge je nach den Ebenen des Informationsaustausches ein, die als machbar gelten […] Im modernen Denken ist die Natur […] nur im Gegensatz zu den Werken des Menschen von Bedeutung, ob man diese in der Sprache der Philosophie und der Humanwissenschaften nun als „Kultur“, „Gesellschaft“ oder „Geschichte“ oder in einer spezialisierteren Terminologie „anthropisierter Raum“, „technische Mediation“ oder „Ökumene“ nennt. Eine Kosmologie, in der die meisten Pflanzen und Tiere in eine Gemeinschaft von Personen einbezogen sind, die alle oder einen Teil der den Menschen zugeschriebenen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und moralischen Regeln besitzen, entspricht in keiner Weise den Kriterien eines solchen Gegensatzes. (Descola, S. 25 und 27)

Offenkundig ist auch, dass Naturvölker in starkem Ausmaß vom Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit ihres Lebens bestimmt sind. Der Vergangenheit wird nicht gedacht, die Zukunft wenig bedacht. Alles findet im Hier und Jetzt statt. „Von Eigentum [kann] eigentlich nur bei Menschen die Rede sein, welche nicht bloß in der Gegenwart leben, sondern in die Zukunft blicken, eine Bedingung, welche bei den meisten Naturvölkern nicht vorhanden ist“ (Felix I, S. 10).

Wenn es den klar konturierten Gegensatz von „Natur“ und „Kultur“ nicht gibt, dann ist auch keine Platz für die Vorstellung von „Eigentum“. Klar und eindeutig ist nur die Wirkung nach außen: Nicht nur das Mitglied der fremden Horde, das unberechtigt auf fremdem Jagdgebiet jagt oder sammelt, wird getötet, sondern jeder, der überhaupt die Grenze überschreitet. Die Jäger- und Sammlerhorden können sich nicht vorstellen, dass ein Betreten ihres Stammesgebietes ohne Jagd- und Sammelabsicht, also ohne Eingriff in ihre wirtschaftlichen Rechte, (denk-)möglich ist.

Für die Menschen der Urgeschichte gibt es deshalb auch keine Übertragung von Eigentum. Ludwig Felix’ Darstellung bietet plastische Beispiele:

Ebenso gebricht es ursprünglich an dem Begriffe der Eigentumsübertragung. Insbesondere gilt das vom Grund und Boden, von dessen Veräußerung Jäger- und Nomadenstämme sich schwer eine Vorstellung machen können. So wenig wie Wasser und Feuer, pflegten die Irokesen zu sagen, vermag der Boden gekauft oder verkauft zu werden. Die Maori Neuseelands konnten sich mit dem Gedanken der Bodenveräußerung so wenig vertraut machen, dass, nachdem einer ihrer Stämme in die Abtretung eines Gebietsteiles an die englische Regierung gewilligt hatte, bei jeder Geburt innerhalb des Stammes eine Zuzahlung verlangt wurde, da doch dessen lebende Mitglieder nicht das Recht gehabt hätten, das zu verkaufen, was den noch nicht Geborenen gehöre. (Felix IV/1, S. 6)

Aus der ethnologischen Forschung können wir schließen, dass bei den Urvölkern mitunter ein noch sehr viel gravierender Unterschied zu unseren heutigen Vorstellungen besteht, der jede Vorstellung von „Eigentum“ ganz unmöglich macht. Viele der amerikanischen Naturvölker gehen nämlich davon aus, dass alle Tiere ursprünglich Menschen waren. Sie (die Tiere) stammen von den Menschen ab, nicht umgekehrt. In unserer Alltagsanthropologie besitzt der Mensch eine ursprüngliche (innere) Tiernatur („Wir stammen vom Affen ab!“), die von der Kultur und Staat gebändigt werden muss. Dem indianischen Denken zufolge haben jedoch die Tiere, weil sie einmal Menschen waren, noch immer etwas Menschliches, auch wenn sie es nicht zeigen. Marshall Sahlins hat diese Beobachtungen zusammengefasst:

Es ist, als hätten Mensch und Tier, so wie wir sie kennen, und gemeinsam mit ihnen auch nomos und physis, die Plätze getauscht. Das, was wir nach der geläufigen Meinung über die Menschheit für „natürlich“ halten, ist vordergründig und äußerlich bedingt, wie bei der veränderlichen Gestalt der Tiere, deren Menschlichkeit ihre eigentliche wesentliche Verfasstheit ist. Die Menschheit ist das Universelle, die Natur das Spezielle. Menschheit ist der Urzustand, aus dem heraus sich erst die natürlichen Formen produzieren und differenzieren. (Sahlins, S. 175)

Vor dem Hintergrund einer derartigen Kosmologie ist die ausschließende Zuweisung von Sachen an bestimmte „Individuen“ völlig unmöglich. Die Urvölker kennen keine individualisierende Sicht der Einzelwesen, sondern nur eine holistische – das Leben wird insgesamt als eine Einheit erlebt.

Eine Horde zwischen zwanzig und hundert Menschen besetzt mitunter zwischen vier- und zehntausend Quadratkilometer (Australien). Die Horde als Teile eines Stammes ist seit unvordenklichen Zeiten im Besitz eines bestimmten Landstrichs. Die Grenzen sind genau bekannt. Ein Markieren ist nicht nötig, die Eingeborenen kennen jeden Berg, jeden Bach, jeden Stein, jeden Pfad und jede Flusswindung. Dieses Land „gehört“ ihnen, ohne dass sie je einem Grundbuch eine einverleibungsfähige Urkunde vorgelegt hätten. Natürlich gibt es lokale und historische Unterschiede:

Es gab also ein ganzes Spektrum von traditionellen Landnutzungsformen, von gut markierten Territorien, die bewacht und verteidigt wurden und von denen Außenseiter bei Todesstrafe ausgeschlossen wurden, über ungefähre Heimatbereiche ohne klare Grenzen, die Außenseiter über Vereinbarungen nutzen durften, bis zu Heimatarealen, die einfach gegenseitig und informell gemieden wurden. Keine traditionelle Gesellschaft kannte den relativ offenen Zugang, den moderne Amerikaner oder Europäer genießen, von denen die meisten in viele andere Länder reisen können, indem sie einem Grenzbeamten einfach einen gültigen Pass und ein Visum vorweisen.

Grenzverletzungen sind Kriegserklärungen. Wie scharf der Begriff vom „eigenen Land“ ausgebildet ist, sieht man daran, dass jede Grenzverletzung mit dem Tod geahndet wird. „People from one territory caught trespassing on another territory were routinely killed, unless they proved to be related to the territory-owners who caught them trespassing“ [„Die Menschen eines Territoriums, die beim unerlaubten Betreten eines anderen Territoriums gefangen wurden, wurden üblicherweise getötet, außer sie konnten beweisen, dass sie mit den Besitzern des Territoriums verwandt waren, die sie erwischt hatten“] (S. 43). Getötet werden kann aber irgendwer aus der fremden Horde, es muss nicht der Grenzverletzer selbst sein. Pflicht und Recht der Rache hat die Horde gegen die Horde, nicht aber das Individuum gegen das Individuum.

Der Ich-Du-Begriff ist dem Sammler- und Jägerkulturkreis in unserer scharfen begrifflichen Ausbildung unbekannt, an seine Stelle tritt der Begriff der Hordenpartizipation […] Keineswegs bestand in den Urkulturen ein Recht des Individuums an für die Horde wertvollen oder zum Lebensunterhalt notwendigen Dingen. Vielmehr war auch hierin das Rechtsubjekt die Horde. Diese Auffassung wird gestützt durch eine Reihe rechtlicher Tatsachen bei den Sammler- und Jägervölkern. Das jagdbare Wild und die eingesammelten Pflanzen gehören nicht unbedingt dem besitzergreifenden Individuum, sondern sie gehören der Horde oder einer Mehrzahl von Hordenmitgliedern. – Dem steht keineswegs das Gegenargument gegenüber, dass trotzdem individuelles Eigentum vorhanden ist. Aber dieses individuelle Eigentum beschränkt sich auf für die Horde unwesentliche und wertlose Gegenstände. – Wertvoll ist aber für die Horde die Sicherung alles dessen, was der Gesamtheit den Lebensunterhalt gewährleistet, also in erster Linie Grund und Boden, nicht ein Bumerang, ein Speer, ein Bogen oder Pfeil, die jederzeit ergänzt werden können. (Lips, S. 488 f.)

Der Grund ist einfach: Der urgeschichtliche einzelne Mensch tritt der Gemeinschaft als Korrelat und nicht als Kontrast gegenüber. Die Natur selbst bindet den Einzelnen viel schärfer in die Gemeinschaft als wir uns das heute vorstellen können. Der Einzelne – etwa von der Hordengemeinschaft ausgeschlossen – ist unweigerlich dem Tod ausgeliefert, er ist ein Fremder, dem der Lebensunterhalt entzogen ist.

Allmählich kommt es mit beginnender Sesshaftigkeit zu Änderungen: Eine soziales Schichtung fehlt immer noch, aber es entwickeln sich Dorfältestenräte. Grund und Boden bleiben Eigentum der Dorfgemeinschaft bei familiärer Bodennutzung und mehr oder weniger individuellen Eigentumsrechten an Arbeitsinstrumenten. Immerhin gibt es aber sogenannte Erntevölker, also Völker, die für Zeiten der Not Vorräte ansammeln. Bei den Nardoo in Zentralaustralien sammelt man Samen ein, näht sie in Kängurufelle ein und bewahrt sie auf; oder es werden Yamsknollen oder Eicheln zu Mehl verarbeitet und Kuchen daraus gebacken und diese für die schlimme Jahreszeit aufgehoben. In Folge kommt es auch zu Änderungen in den Rechtsanschauungen. Julius Lips berichtet:

Hier tritt bereits eine rechtliche Differenzierung klar hervor, die sich jedoch nach zwei Richtungen hin auswirkt. Die Unverletzlichkeit des Rechtskomplexes des Hordenlandes wird durchbrochen. Der absolute Wert von Grund und Boden verschiebt sich zugunsten eines Teiles des Hordenlandes, eben desjenigen Teiles, der zur Ernährung der Horde ausschlaggebend ist. Das wird aber in der Regel immer das Ernteland sein. Dem steht durchaus nicht entgegen, dass zum Beispiel zur Zeit der Reife der Bunya-bunya-Frucht der Kaiabara-Stamm die angrenzenden Stämme einlädt, wobei den Gästen wohl von dem Überfluss der Bunya-bunya-Frucht abgegeben, ihnen aber bei Todesstrafe verboten wird zu jagen, denn die Känguruhs und anderen jagdbaren Tiere sind nötig zum Unterhalt des eigenen Stammes. Dabei ist nämlich zu berücksichtigen, dass der ebengenannte australische Stamm gewissermaßen den Übergang von den Sammlern und Jägern zu den Erntevölkern darstellt und die Bunya-bunya-Frucht nur für sechs Wochen Unterhalt gewährt, so dass ihre wirtschaftliche Grundlage zum großen Teil auf dem Vorkommen der jagdbaren Tiere beruht. (Lips, S. 491)

In dieser Entwicklungsstufe können wir auch schon Individualrechte an einzelnen Bäumen bemerken, auch die pflegliche Behandlung von Pflanzen und jagdbaren Tieren tritt in Erscheinung. Stecklinge wildwachsender Pflanzen werden wieder in die Erde zurückgesteckt, durch Ausklopfen von Samen wird absichtlich ein Teil ins Wasser geschüttet, um neue Pflanzen hervorzubringen, oder der Besitzer der wildwachsenden Kokospalme macht den Boden frei, um neuen Trieben Platz zu schaffen, wenn der alte Baum gefallen ist. Mit der sich allmählich ändernden Subsistenzweise ändern sich auch die Rechtsanschauungen:

In diesem Rechtsnormenkreis der Erntevölker ist die Rechtskomplexität von Grund und Boden, jagdbaren Tieren und essbaren Pflanzen durchbrochen. Zwar bleibt das Eigentumsrecht der Horde an Grund und Boden bestehen, aber dieses Eigentumsrecht hat nicht mehr die komplexe Bindung. Als Hauptmerkmale dieses Rechtsnormenkreises können wir feststellen: Differenzierungen der Rechtsbegriffe, Aufkommen von ausgeprägten Individualrechten, Anfänge des Asylrechtes. Rechtssubjekt: Horde und Individuum. Sonderbildung: immaterielles Rechtssubjekt (Totemgeister). (Lips, S. 492)

Über zigtausende Jahre bestehen Gesellschaften mit Menschen, die ohne zentrale Herrschaft, ohne Hierarchie und ohne Ausbeutung zusammenleben können. Es ist für die meisten von uns schwer zu akzeptieren, dass es keine anthropologische Notwendigkeit für zentrale Herrschaft, Hierarchie, Ausbeutung und strukturelle Ungleichheit und Privateigentum gibt. Das ist eine triviale ethnologische Wahrheit: Gleichheit und Herrschaftslosigkeit scheitern jedenfalls nicht an anthropologischen Erfordernissen – sondern an historischen Bedingungen, denen folgend die Menschheit insgesamt einen anderen Weg beschritten hat.

Machen wir einen großen historischen Sprung, indem wir die gesamte Antike links liegen lassen. Wenn wir als Beispiel die Entwicklung des Eigentumsrechts im nachrömischen Europa betrachten, dann fallen uns etwa die Franken ein. Darüber, wie und wann Allod, das Privateigentum an Grund und Boden, bei den salischen Franken entsteht, gibt uns neben einige Urkunden vor allem die Lex Salica (507–511) des Merowingerkönigs Chlodwig I. Aufschluss. Aus deren ältester Fassung lässt sich ablesen, dass dem einzelnen Bauern zwar bereits ein erbliches, aber selbst in dieser Vererbbarkeit noch sehr begrenztes Nutzungsrecht an dem von ihm bearbeiteten Boden zusteht. Die Lex Salica unterscheidet anfangs die Erbfolge an Land strikt von der beweglichen Habe des Bauern. Während die bewegliche Habe männlichen und weiblichen Nachkommen gleichermaßen zusteht, wird Frauen die Möglichkeit, Land zu besitzen, völlig verwehrt: „Vom Land aber gehört keine Erbschaft an ein Weib, sondern das ganze Land falle an das männliche Geschlecht“, heißt es dort. Hat ein Landbesitzer keine Söhne, so empfangen die Nachbarn (die vicini) bei seinem Tode die bis dahin von ihm genutzten Ländereien. Erst König Chilperich (535–584) erlässt 575 ein Edikt, ab dem dann auch Töchter ausdrücklich als erbberechtigt anerkannt werden. Leben weder Söhne noch Töchter, so gehen Grund und Boden an Brüder und Schwestern des Verstorbenen. Die Vorstellung, dass das Land etwas sei, was der Gemeinschaft gehört und dem Einzelnen nur zur Nutzung überlassen ist, wandelt sich mit der Stabilisierung der salischen Herrschaft.

Wird Grund und Boden frei veräußerlich und auch Gegenstand von Kauf und Verkauf, dann ist das Privateigentum ausgebildet. Bei den Franken ist dieser Zeitpunkt um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert erreicht. Bei den Bayern und den Alemannen dürfte das um 700 annähernd der Fall sein. Je weniger intensiv der Kontakt der germanischen Stämme mit den römisch-klassengesellschaftlichen Verhältnissen ist, desto später kommt es zur vollumfänglichen Ausbildung eines Privateigentums. Die Lex Saxonum lässt erkennen, dass dieser Vorgang bei den Sachsen auch in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts noch nicht ganz beendet ist. Der Vererbbarkeit und dem Kauf und Verkauf werden Schranken gezogen. Diese und andere Stammesrechte zeigen, dass die Einschränkungen der Verfügungsgewalt über Grund und Boden nur für Ländereien aufgehoben werden, die an die Kirche gegeben werden sollen. Bei all diesen Stammesverbänden wird zuerst die Auseinandersetzung um die politische Macht entschieden. Erst danach setzen sich neue (freiere) Eigentumsformen durch.

Der Übergang von der viehzucht- zur ackerbaubetonten Form der Nahrungsmittelproduktion ist wichtig. Die nachfolgende „klassische“ Grundherrschaft, wie sie von etwa der Mitte des 8. Jahrhunderts an bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts für die landwirtschaftliche Produktion im Gebiet zwischen Loire und Rhein typisch ist, ist das Ergebnis einer ganz und gar mittelalterlichen Entwicklung. Zunächst macht regelmäßig noch eigenwirtschaftlich genutztes Land den größten und wichtigsten Anteil des bäuerlichen Betriebes aus. Abhängige Bauernschaften spielen keine Rolle – deshalb besitzen auch die Frondienste der (wenigen) abhängigen bäuerlichen Wirtschaften für die grundherrliche Eigenwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle. Doch das ändert sich. Zunächst (etwa bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts) lassen die Grundherren ihr Land von Sklaven und unbehausten Knechten bestellen. Erst in der folgenden Zeit bildet sich die „klassische“ Grundherrschaft mit der für sie charakteristischen Aufteilung des Landes in das indomicatum und das Hufland (an abhängige Bauern verliehenes Land), dem hohen Anteil an Ackerland und den umfangreichen Frondiensten der zughörigen bäuerlichen Wirtschaften aus. Wesentliche Voraussetzung und zugleich wichtige Folge des Ausbaus der „klassischen“ Grundherrschaft sind ausgedehnte Rodungen. Durch diese Rodungen wird der Wald, der während der Merowingerzeit noch einen ungleich größeren Anteil des grundherrschaftlichen Bodens einnimmt als zur Karolingerzeit, erheblich zurückgedrängt und der Ackerbau auf Kosten der Viehhaltung erweitert. „Erst in der Karolingerperiode hörte das Übergewicht der Viehzucht auf und ward diese ins Gleichgewicht mit dem Ackerbaue gesetzt“ (Felix I, S. 175).

Die entstehende feudale Gesellschaft schafft sich in den überwiegend fränkisch besiedelten oder doch zeitweilig in besonderer Weise unter fränkischem Einfluss stehenden Gebieten Europas die ihr hier offenbar gemäße „klassische“ Form der Grundherrschaft selbst. Sie tut dies, nachdem die Machtverhältnisse längst geklärt und das Privateigentum an Grund und Boden schon (gesetzlich) anerkannte Tatsache ist. Die Wandlung geht einher mit einer Ausweitung der Ackerflächen und mit einer Intensivierung der Produktion, die dem äußeren Bild nach Ähnlichkeiten hat mit jenen Erscheinungen, die auch in anderen germanisch besiedelten Gebieten zu beobachten sind. Die Bevölkerungszahl sinkt vom 2. bis zum 6. Jahrhundert in ganz Europa wahrscheinlich um etwa die Hälfte. Der Tiefpunkt dieser Entwicklung dürfte im oder zumindest in der Nähe des 6. Jahrhunderts liegen. Erst danach beginnt die Bevölkerung wieder zuzunehmen. Die skizzierten Wandlungen, denen die ökonomischen, sozialen und politischen Zustände bei den Franken, Alemannen, Bayern, Thüringern, Sachsen und Friesen während des ersten Jahrtausends unterworfen sind, stellen ihrem Wesen nach einen Übergang von einer klassenlosen zu einer Klassengesellschaft dar. Zustände weitgehender sozialer und politischer Gleichheit und Gleichberechtigung wechseln hin zu solchen der Ungleichheit, der Ausbeutung, der Herrschaft und Unterdrückung. Dieser Übergang unterscheidet sich hinsichtlich seines sozialen und politischen Milieus grundlegend von jenem, in dem sich die Feudalisierung im Byzantinischen Reich, in Italien, aber auch in den südlich der Seine gelegenen Teilen Galliens vollzieht. Die gesellschaftlichen Veränderungen in den germanischen Verbänden sind viel einschneidender, viel tiefgreifender – und sind daher auch komplizierter. Sie besitzen eine andere Qualität, sie haben ein ganz anderes gesellschaftliches Gewicht. Deshalb muss hier der politischen Macht, der direkten und unverhüllten Gewalt, eine weitaus größere Bedeutung zukommen als dort, wo lediglich eine Klassengesellschaft durch eine andere ersetzt wird. Wenn noch weitgehend unter gentilgesellschaftlichen Verhältnissen lebende ethnische Verbände in einen sehr intensiven und stabilen Kontakt zu bereits ausgebildeten klassengesellschaftlichen Verhältnissen geraten (Franken, Alemannen, Bayern), dann kommt es zu dem angeführten Übergang zu neuen Eigentumsverhältnissen. Wo dies nicht der Fall ist und wo also diese Verhältnisse nicht von äußeren zu inneren Faktoren werden können, tritt dieser Übergang nur langsam ein (Sachsen, Friesen). Hier wird erst durch den Einbruch der fränkisch-karolingischen Feudalgewalt jene wesentliche Änderung „nachgeholt“, deren Grundlagen bei Franken, Alemannen und Bayern schon geraume Zeit früher gelegt wurden.

Die Grundherrschaft ist das wesentliche Eigentumsverhältnis im Mittelalter. Der Boden ist das wichtigste Produktionsmittel. Der Mensch mit seinen natürlichen Arbeitsfähigkeiten ist beim damaligen (einfachen) Stand der Arbeitsmittel die Hauptproduktivkraft. Um etwa das vier- bis fünffache der Aussaat zu erhalten, schuftet fast die gesamte Bevölkerung am Land.

Was aber bedeutet „Grundherrschaft“ unter diesen Verhältnissen?

Der Boden, der von den Bauern (Grundholden) bestellt wird, gehört ihnen nicht. Das Arbeitsgerät und auch das Vieh sind ihnen aber zu eigen. Der Boden indes ist „Eigentum“ des Grundherrn – nur er darf und kann darüber in einem gewissen Umfang rechtlich verfügen, insbesondere ihn verleihen und nutzen. Nutzungs- und Verfügungsrecht bilden jedoch kein Eigentumsrecht im Sinne unseres heutigen Verständnisses. Immerhin aber „beherrscht“ der Grundherr den Boden. Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise ist es also gerechtfertigt, den Grundherrn als Eigentümer zu bezeichnen. Der unter grundherrlicher Gewalt lebende Bauer verhält sich zum Boden nicht als zu etwas, was ihm als Produktionsbedingung völlig fremd ist, denn er bearbeitet ihn weder als Sklave noch als Lohnarbeiter. Das Land wird dem Bauern vielmehr zur eigenen und freien Nutzung vom Grundherrn verliehen, weshalb dem Bauern auch die erzeugten Produkte in einem bestimmten Umfang selbst zukommen und von ihm verbraucht und veräußert werden können. Ein Teil von ihnen steht aber in der Regel dem Grundherrn als Naturalrente zu (Geldrente kommt im Mittelalter praktisch nicht vor). Der Grundherr besitzt aber noch weiteres Eigentum: die Leibeigenen. Diese können nicht frei über ihre Arbeitskraft verfügen, sie sind nicht freizügig, sondern schollengebunden, dürfen nur mit Erlaubnis heiraten, unterliegen dem jus primae noctis (Recht der ersten Nacht) sowie anderen Einschränkungen der Freiheitssphäre. Dieses Eigentum an den Leibeigenen ist gegenüber dem Eigentum an Sklaven beschränkt. Starke germanische personenrechtliche Elemente spielen im Verhältnis von Grundherrn und Leibeigenen eine Rolle. Auch seitens des Grundherrn bestehen gewisse Schutz- und Vorsorgeverpflichtungen gegenüber dem leibeigenen Bauern. Aber Henri Pirenne hat wohl recht, wenn er insgesamt feststellt: „Freiheit und Macht haften am Boden, dessen Besitzer zu gleicher Zeit auch Herr ist, wer nichts davon hat, ist Leibeigener“ (Pirenne, S. 13).

Die Form der Grundherrschaft hat unmittelbaren politischen Charakter. Herrschaftsrechte, Regalien, Rechte also, die nach heutiger Sicht typisch staatliche Rechte und Funktionen sind (z. B. die Gerichtsbarkeit), werden vererbt, verpfändet und sind Einkommensquellen. Privates Eigentum und politische Befugnisse werden verbunden. Alle Rechte leiten sich letztlich aus dem Eigentumsverhältnis ab. So sind etwa Patrimonialgerichtsbarkeit und gutherrliche Polizeigewalt Ausfluss des Eigentums am Rittergut. Karl Marx bringt dies auf die einprägsame Formel: „Im Mittelalter ist die politische Verfassung die Verfassung des Privateigentums, aber nur, weil die Verfassung des Privateigentums politische Verfassung ist“, und er stellt fest: „In der Lehnsherrschaft erscheint es geradezu, dass die fürstliche Macht die Macht des Privateigentums ist“ (MEW 1, S. 233).

Wie aber kommen die mittelalterlichen Grundherren an „ihren“ Grund und Boden?

Die frei wirtschaftenden Bauern werden durch ökonomischen und außerökonomischen Zwang bestimmt, ihre Freiheit teilweise aufzugeben und sich in Abhängigkeit von größeren Grundbesitzern zu begeben. Das kann viele Ursachen haben. Ist der Anlass, sich der Herrschaft eines Grundbesitzers unterzuordnen, der Wunsch nach Erlangung von Schutz gegen Gewalt und Willkür anderer Großer oder des Grundherrn selbst, so schließt der freie Bauer mit dem Grundherrn einen Vertrag (commendatio), in dem dieser ihm Schutz und Hilfe gewährt. Der Bauer aber übereignet dem Grundherrn sein Land, das er dann vom Grundherrn als Leiheland zur lebenslänglichen oder erblichen Nutzung zurückbekommt – selbstverständlich gegen Entrichtung von Abgaben und Diensten. Dem prekarischen (widerruflichen) Vertrag liegt oft ökonomische Not zugrunde.

Der verarmte oder verschuldete Bauer musste sein Land dem Grundherrn übereignen und erhielt es zur Nutzung zurück. Im Fall der precaria oblata bekam er gleich viel Land zurück, im Fall der precaria remuneratioria erhielt er vom Grundherrn noch zusätzlich Boden. Daneben existierte noch die precaria data; dabei wurde das Land ausschließlich vom Grundherrn gestellt. Diese Form der Landleihe kam sowohl für Freie in Frage, zum Beispiel für die jüngeren Söhne, die auf dem väterlichen Hof keinen Unterhalt mehr finden konnten, als auch für Unfreie und Halbfreie; letztere konnten jedoch auch ohne prekarischen Vertrag zwangsweise angesiedelt werden. Mit dem Vergrundholdungsprozess der freien Bauern verband sich so der Verbäuerlichungsprozess der Unfreien. (Römer, S. 45)

Das Mittelalter vermag es nicht, einen einheitlichen Eigentumsbegriff und ein einheitliches Eigentumsrecht herauszubilden. Seit der Rechtssammlung des Decretum Gratiani (um 1140) wird zwar in den Gelehrtenstuben der Klöster einiges übers Eigentum geschrieben, die Fragen Meum und Tuum, nach „Mein“ und „Dein“ werden häufiger gestellt. Man kommt allerdings nicht weit. Gott erlaube eben Gemeinbesitz und Privateigentum. Wo aber Not herrsche, bestehe ein Anrecht auf Teilhabe am Gemeineigentum. Um 1200 lässt der Scholastiker Alain de Lille (um 1120–1202) seine Leser wissen, dass der Arme keinen Diebstahl begehe, weil er doch nur nehme, was iure naturali [dem natürlichen Recht nach] ihm gehöre. Ein anderer, der Kanonist Heinrich von Susa, erklärt gar: Ein Notleidender plane doch nicht wirklich einen Diebstahl, wenn er fremdes Eigentum gebrauche; eher scheint er damit etwas gemäß seinem natürlichem Recht zu gebrauchen (Lectura in V libros Decretalium). Durchgehend bis ins 17. Jahrhundert scheint in den theologischen Schriften die Überzeugung zu herrschen, dass Menschen in Not einen Rechtsanspruch auf die Überschüsse der Reichen haben – die Wirklichkeit kümmert sich aber nicht um diese Traktate. Selbst Wilhelm von Ockhams (1285–1347) klare Unterscheidung zwischen einem unveräußerlichen Recht auf das Lebensnotwendige einerseits (das dann später auch Thomas Hobbes vertreten wird) und einem positiven Eigentumsrecht, welches man jederzeit vollständig aufgeben kann, bringt keine rechte Klarheit. Man streitet sich darüber, ob das Einzeleigentum von Gott stamme (weil Adam doch vor Evas Erschaffung bereits Eigentum an den Dingen der Welt habe) – und diskutiert darüber, ob nicht durch die Erschaffung Evas Adam schuldlos eines Teils seiner Güter beraubt wird (was doch für das Paradies nicht recht vorstellbar sei) etc. Die Vielfalt der Eigentumsformen und Eigentumsobjekte im Mittelalter, die starke Zersplitterung des Rechts und das Fehlen eines Juristenstandes, der in der Lage wäre, die Vielfalt des Rechts systematisch zu ordnen und es durch Bildung allgemeiner Begriffe zu vereinheitlichen, lassen eine einheitliche Vorstellung von „Eigentum“ im Mittelalter nicht zu.

Nachhaltige Bedeutung erlangt der privat von Eike von Repgow verfasste Sachsenspiegel (um 1221). Darin sind nicht nur körperliche bewegliche oder unbewegliche Sachen Objekt des Eigentumsrechts, sondern auch Rechte selbst, also auch solche, die nach heutiger Terminologie als öffentlich-rechtliche Befugnisse bezeichnet werden. Sachherrschaft und Leibherrschaft werden nicht getrennt, zwischen beiden gibt es zahlreiche Verbindungen. Der Diffusheit und Mannigfaltigkeit der möglichen Objekte des Eigentumsrechts entsprechen die zahlreichen Schattierungen des Inhalts des Eigentumsrechts. Das Grundeigentum gewährt weder die volle Sachherrschaft und freie Verfügung über das Eigentumsobjekt noch sonstige fest umgrenzte rechtlich fixierte Befugnisse. Das Eigentum vermag lebenslängliche Rechte oder aber vererbliche zu beinhalten, es kann frei veräußerlich oder nur beschränkt veräußerlich sein. Eine Unterscheidung zwischen Eigentum und sonstigen dinglichen Rechten findet nicht statt. Das Eigentum kann also belastet oder unbelastet sein, die Belastungen lassen sich ihrerseits noch unter das Eigentumsrecht fassen. Die Nutzungsmöglichkeiten, die das Eigentum gewährt, machen den Kern des Eigentums aus. Die Verfügungsgewalt über das Grundstück ist vielfach eingeschränkt, etwa durch das Erfordernis der Zustimmung seitens der Mitglieder der Hausgenossenschaft und der Erben. Freies Sondereigentum mit größerer Freiheit der Veräußerlichkeit besteht eigentlich nur an beweglichen Sachen (Fahrnissen) und entwickelt sich erst allmählich in den Städten auch am Grundbesitz.

Die Rezeption des römischen Rechts ist vor diesem Hintergrund besonders bedeutungsvoll. Den Wirrnissen des germanischen Eigentumsrechts steht plötzlich eine glasklare Konzeption und Begrifflichkeit gegenüber: Das Eigentum als privatrechtliche Vollherrschaft, die innerhalb der von der Rechtsordnung und der Privatautonomie gezogenen Grenzen jede rechtliche und tatsächliche Verfügung über die Sache gestattet, eine Sachherrschaft, die nur auf bestimmten Wegen erworben werden kann und mittels actio in rem gegenüber jedermann geschützt ist. Das Eigentumsrecht als absolutes, gegen jedermann durchsetzbares Recht.

Das römische Recht muss freilich den deutschen Verhältnissen angepasst werden. Rezipiert werden die Bestimmungen, die das Eigentum an den Sachen (bzw. den Waren) und die Form der Eigentumsübertragung betreffen. Freilich nur, soweit dies aus dem Corpus iuris civilis Kaiser Justinians bekannt ist, sich aus den systematisierten und begrifflich in einen Ordnungszusammenhang gebrachten Rechtsentscheidungen (Digesten) herauslesen lässt und zunächst durch die kommentierenden und verweisenden Anmerkungen der oberitalienischen Glossatoren und dann durch die Postglossatoren und die Kommentatoren für den praktischen Gebrauch schon aufbereitet ist bzw. aktuell aufbereitet wird.

Das verwirrende Ergebnis dieses komplizierten Rezeptionsprozesses zeigt, dass die in Deutschland herrschenden Produktionsverhältnisse und ihre Entwicklung die bestimmenden Elemente sind, denen sich die Rechtswissenschaft und das von ihr erzeugte Recht anpassen: Die Besitzlehre wird ausgearbeitet und eine exakte Unterscheidung von Besitz als tatsächlicher, gewollter Sachherrschaft und Eigentum als rechtlicher Verfügungsgewalt; die Lehre von Ober- und Untereigentum entsteht, indem einige Digestenstellen falsch ausgelegt werden und ein dominium directum (Obereigentum) vom dominium utile (Untereigentum) herausinterpretiert wird, womit der einheitliche römische Eigentumsbegriff aufgelöst und sowohl die lehnsrechtlichen Verhältnisse als auch die der bäuerlichen Leihe normativ erfasst werden können.

Durch Praxis und Wissenschaft fortgebildet, vermag das römische Recht in einigen Ländern Deutschlands bis 1900 seine Geltung zu behaupten. Die immerhin weiter bestehenden Adaptionsprobleme werden in der Fortbildung des rezipierten römischen Rechts durch den sogenannten usus modernus (pandectarum) im 17. und 18. Jahrhundert bewältigt. So können die Abweichungen der Praxis vom römischen Recht als geltendes Recht behandelt werden, indem diese als gewohnheitsrechtliche Abänderungen in das rezipierte Recht integriert werden (z. B. die Integration aller Grundlasten, die gemäß Lehn-, Dienst- oder Hofrecht auf einem Grundstück lasten, in den Servituten-Begriff des römischen Rechts). Erst die in der Nachfolge der Revolution von 1848 stattfindende „Grundentlastung“ beseitigt dann allmählich das grundherrliche Obereigentum und die sich daraus ergebenden Leistungsverpflichtungen der Bauern ebenso wie die grundherrliche Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt. In Österreich sieht das kaiserliche Patent vom 4. März 1848 (RGBl. Nr. 152) vor, dass bisher untertänige Bauern gegen Zahlung eines bestimmten Betrages das freie Eigentum an Grund und Boden erwerben können – viele Bauern verschulden sich und es kommt zu neuen Abhängigkeiten, diesmal von den Geldgebern. Karl Marx und Friedrich Engels qualifizieren diesen Vorgang zynisch als „Erhaltung der Feudallasten auf ewige Zeiten, vermittels der Ablösung“ (MEGA I/7, S. 171). Die Erbpacht- und erbzinsrechtlichen Verhältnisse werden in Österreich erst im Jahr 1867 beseitigt.

Die Französische Revolution von 1789 zertrümmert den Feudalismus am Land sofort und stellt eine freie, grundbesitzende Bauernklasse her. Was von den republikanischen Armeen besetzt wird, erfährt Änderung: Im Namen der französischen Nation wird die Volkssouveränität verkündet und es wird die Abschaffung der feudalen Lasten, Dienstbarkeiten und sämtlicher Privilegien erklärt. Das Eigentumsregime wird revolutioniert, ein epochaler Wechsel tritt ein. Mit großem Pathos hält Ludwig Felix fest:

Folgte auch der Revolution die Reaction, die, wie nach einem Naturgesetze, von jeder Umwälzung unzertrennlich ist […] und wurden nun auch ihre Errungenschaften den meisten europäischen Völkern durch längere Zeit zu grossem Theile wieder verkümmert, die Theilnahme an der Gesetzgebung, den bestimmtesten Zusagen entgegen, verwehrt, so war doch der Eindruck ein zu mächtiger und nachhaltiger, als dass ihre Früchte den von Zeit zu Zeit stürmisch mahnenden Völkern dauernd hätten vorenthalten werden können. Und so leitet dieses grosse Ereignis eine neue Ära entschiedensten Fortschrittes in der Geschichte der Menschheit überhaupt und in der Entwicklung des Eigenthums insbesondere ein. (Felix IV/2, 2, S. 506)

Manches geht schnell, manches geht langsamer. Aber Mitte des 19. Jahrhunderts setzen sich in ganz Europa die neuen Verhältnisse durch. Karl Marx und Friedrich Engels kommentieren in einem Artikel für die Neue Rheinische Zeitung vom 25. Juni 1848 die überkommene Lage in Preußen:

Welch’ ein Wust von Leistungen, Abgaben, Lieferungen, welch’ ein Wirrwarr von mittelalterlichen Namen, Einer noch toller als der andre! Lehnsherrlichkeit, Sterbefall, Besthaupt, Kurmede, Blutzehnt, Schutzgeld, Walpurgiszins, Bienenzins, Wachspacht, Auenrecht, Zehnten, Laudemien, Nachschussrenten, das Alles hat bis heute noch in dem „bestverwalteten Staate der Welt“ bestanden, und würde in alle Ewigkeit bestanden haben, wenn die Franzosen keine Februar-Revolution [1848] gemacht hätten! (MEGA I/7, S. 170)

Oder ein knappes Monat später sinngleich aus der Feder von Karl Marx:

Lehnsherrlichkeit, Allodifikationszins, Sterbefall, Besthaupt, Kurmede, Schutzgeld, Jurisdiktionszins, Dreindinggelder, Zuchtgelder, Siegelgelder, Blutzehnt, Bienenzehnt u. s. w. – wie fremd, wie barbarisch klingen diese widersinnigen Namen unseren durch die französisch-revolutionäre Zertrümmerung der Feudalität, durch den Code Napoléon civilisierten Ohren! Wie unverständlich ist uns dieser Wust mittelalterlicher Leistungen und Abgaben, dies Naturalienkabinet des modrigsten Plunders der vorsündflutlichen Zeit! (S. 436)

In Deutschland und Österreich dauert es selbst nach 1848 noch geraume Zeit. Die Auseinandersetzung um den Umfang der Enteignung feudaler Grundbesitzer und deren Entschädigung endet damit, dass die Bauern dem Geldwucher ausgesetzt werden. „Das ist die Theorie der Ablösung. Sie bestätigt vollkommen […]: die Verwandlung des feudalen Eigentums in bürgerliches, der Lehnsherrlichkeit in Kapital, ist jedesmal eine neue, grelle Übervorteilung des Unfreien zu Gunsten des Feudalherrn. Der Unfreie muss seine Freiheit jedesmal erkaufen, teuer erkaufen. Der bürgerliche Staat verfährt nach dem Grundsatz: Umsonst ist der Tod“, kommentiert Friedrich Engels mit bitteren Worten (S. 503).

So verliert das Grundeigentum gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen patriarchalischen, unveräußerlichen Charakter und wird in den Verkehr hineingerissen und – wie das Karl Marx despektierlich nennt – „zu einem ordinären, oft umgeschlagenen Handelsartikel“ (S. 319). Die Befreiung der Bauern von den Grundlasten greift nur das feudale Eigentum an, nicht das moderne, bürgerliche Eigentum. Auf den Ruinen des feudalen Eigentums erhebt sich das bürgerliche Eigentum. Durch die Ablöseverträge werden die feudalen Eigentumsverhältnisse in bürgerliche Eigentumsverhältnisse verwandelt. Nun ist das bürgerliche Eigentum ebenso unverletzlich wie das feudale angreifbar und je nach Bedürfnis und Courage des Gesetzgebers verletzlich ist. In Deutschland und Österreich kommt es zur Sanktion der Feudalrechte in der Form der (illusorischen) Ablösung – der Geldgeber setzt sich an die Stelle des Grundherrn.

Wir wollen hier nicht weiter darauf eingehen, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass es massenhaft zu eigentumslosen Arbeitern einerseits und zu „freiem Eigentum“ andererseits gekommen ist. Die Entwicklung läuft in den verschiedenen europäischen Ländern durchaus unterschiedlich, aber das Ergebnis ist überall das Gleiche. Letztendlich werden „Waren“ zum Objekt eigentumsrechtlicher Befugnisse, und überall entstehen kapitalistische Produktionsverhältnisse:

Die kapitalistische Produktionsweise, auf dem Austausch der Ware Arbeitskraft und ihrer Verwertung durch den Kapitalisten im Produktionsprozess beruhend, hat zwei Bedingungen zur notwendigen Voraussetzung. Zum einen den eigentumslosen und persönlich freien Arbeiter, zum anderen eine Anhäufung von Produktionsmitteln und Geldvermögen in den Händen von Privateigentümern. Beide Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein. Ein Nomadenvolk, das durch eine Dürrekatastrophe seiner Herden beraubt ist, ein Volk von Ackerbauern, dessen Felder durch Natureinwirkung verwüstet wurden, besteht zwar aus freien und eigentumslosen Personen; aber deren Arbeitskraft kann niemand kaufen und verwerten. (Römer, S. 123)

Ab jetzt geht es ums Eigentum in dem Sinne, in dem wir es heute verstehen. Das Eigentumsrecht ist allerdings eine durchaus vertrackte Sache. Der Säulenheilige der bürgerlichen Eigentumsideologie, John Locke, selbst kein Jurist, lässt uns weitestgehend im Unklaren über den Inhalt und Begriff des Eigentums. „Property“ ist ihm ein reichlich unbestimmter Begriff, der einmal nur die Sachherrschaft über Grund und Boden, dann aber wieder alle Rechtsgüter insgesamt bezeichnet. Tatsächlich trifft die Formulierung unseres Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) aus dem Jahre 1811 aber wohl auch die Vorstellung von Locke recht genau. Dort lesen wir im § 353: „Alles, was jemanden zugehöret, alle seine körperlichen und unkörperlichen Sachen, heißen sein Eigenthum“.

Was aber heißt das?

Relativ bekannt sind zumindest zwei Aspekte des Eigentums, die man üblicherweise mit der Sachherrschafts- und der Ausschließungstheorie beschreibt. In § 354 ABGB sehen wir sie paradigmatisch formuliert: Als ein Recht betrachtet, ist Eigenthum das Befugniß, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkühr zu schalten, und jeden Andern davon auszuschließen“. (Ähnlich § 903 BGB, wonach der Eigentümer das Recht hat, „mit einer Sache nach Belieben zu verfahren“ und überdies „andere von jeder Einwirkung auszuschließen“.) Damit wissen wir zwar, was das positive Eigentumsrecht ist, wir haben aber noch keinen Begriff vom Eigentum. Ein Begriff des Eigentums ist nämlich nur dann zu gewinnen, wenn wir sowohl die positive Rechtsnorm, die sich aufs Privateigentum beziehen, als auch die ökonomische Funktion des Privateigentums erfassen.

Sachherrschaftstheoriezwischen den Gesellschaftsmitgliedern