Thomas Piketty
ÖKONOMIE DER
UNGLEICHHEIT
Eine Einführung
Aus dem Französischen übersetzt
von Stefan Lorenzer
C.H.Beck
Dank Thomas Piketty und seinem Weltbestseller «Das Kapital im 21. Jahrhundert» ist das Thema Ungleichheit aus der aktuellen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Seine in Frankreich in vielen Auflagen erschienene «Ökonomie der Ungleichheit» führt in die wirtschaftlichen Zusammenhänge hinter dem Phänomen der ungleichen Einkommensverteilung ein. Kurz und prägnant erklärt er, wie Ungleichheit entsteht, wie Ökonomen sie messen, in welchem Missverhältnis Arbeitseinkommen und Kapitalerträge zueinander stehen und was zu der ungleichen Verteilung der Arbeitseinkommen führt. Dabei geht es ihm insbesondere um die Frage, welche Möglichkeiten die Politik hat, der Ungleichheit durch Umverteilung zu begegnen, ohne die wirtschaftliche Entwicklung zu behindern und Arbeitsplätze zu gefährden.
Thomas Piketty, geb. 1971, ist Professor an der Pariser École d’Économie. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Die Schlacht um den Euro (2015), Das Kapital im 21. Jahrhundert (82016) und Kapital und Ideologie (2020).
Grafik 1: Der Niedergang der Rentiers und die Stabilität der Lohnhierarchie in Frankreich, 1913–2005
Grafik 2: Effektive Durchschnitts- und Grenzabgabensätze in Frankreich, 1996
Vorbemerkung
Einleitung
1. Ausmaß und Entwicklung der Ungleichheit
Verschiedene Einkommensarten
Lohnungleichheit
Internationale Vergleiche
Einkommensungleichheit
Internationale Vergleiche
Ungleichheiten im historischen und geografischen Vergleich
Die historische Entwicklung von Ungleichheit
Von den großen historischen Gesetzmäßigkeiten zu den Ungewissheiten
Von den Löhnen zu den Einkommen
Ungleichverteilung von Arbeit
2. Ungleichheit von Kapital und Arbeit
Der Anteil des Kapitals am Gesamteinkommen
Zur Frage der Substituierbarkeit von Kapital und Arbeit
Was heißt Substituierbarkeit von Kapital und Arbeit?
«Direkte» oder «fiskalische» Umverteilung?
Die Substitutionselastizität zwischen Kapital und Arbeit
Die Elastizität des Kapitalangebots
Brauchen wir Kapitalisten und das Preissystem?
Ein Kompromiss zwischen Theorien kurzfristiger und langfristiger Entwicklungen?
Von der Verteilung der Wertschöpfung zum Haushaltseinkommen
Was lehrt uns die Beständigkeit des Lohnanteils?
Wer zahlt die Sozialabgaben?
Eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion?
Historische gegen politische Zeitrechnung?
Warum ist der Anteil der Gewinne in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien nicht gestiegen?
Die Dynamik der Kapitalverteilung
Zur Theorie des vollkommenen Kreditmarkts und der Konvergenz
Die Frage der Konvergenz zwischen reichen und armen Ländern
Das Problem der Unvollkommenheit des Kapitalmarktes
Mögliche staatliche Eingriffe
Eine flat tax auf Kapital?
3. Ungleichheit der Arbeitseinkommen
Lohnungleichheit und Ungleichverteilung von Humankapital
Das Erklärungspotenzial der Theorie des Humankapitals
Die großen historischen Ungleichheiten
Angebot und Nachfrage
Der Anstieg der Lohnungleichheiten seit 1970
Technologiewandel zugunsten Qualifizierter?
Lohnungleichheit und Globalisierung
Wie lassen sich Arbeitseinkommen umverteilen?
Eine große politische Herausforderung
Woher rührt die Ungleichverteilung des Humankapitals?
Effiziente Ungleichheit?
Die Rolle der Familie und der Bildungsausgaben
Das Problem der ineffizienten Segregation von Humankapital
Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt
Affirmative action oder Fiskaltransfers?
Soziale Erzeugung von Lohnungleichheit
Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Lohnentwicklung
Sind Gewerkschaften ein Ersatz für fiskalische Umverteilung?
Steigern Gewerkschaften die wirtschaftliche Effizienz?
Die Monopsonmacht der Arbeitgeber
Wie eine Anhebung des Mindestlohns das Beschäftigungsniveau verbessert
Effizienzlöhne und gerechte Löhne
Nationale Traditionen und Lohnungleichheiten
4. Instrumente der Umverteilung
Reine Umverteilung
Durchschnitts- und Grenzabgabensätze der Umverteilung
Fehlende Umverteilung zwischen Arbeitnehmern
Die U-Kurve der Grenzabgabensätze
Gerechte fiskalische Umverteilung
Senken zu hohe Steuern die Steuereinnahmen?
Der Earned Income Tax Credit in den Vereinigten Staaten
Fiskalische Umverteilung gegen Arbeitslosigkeit?
Negative Einkommensteuer und «Bürgereinkommen»
Effiziente Umverteilung
Umverteilung und Sozialversicherungen
Effiziente Sozialversicherungen
Sind Sozialversicherungen ein Instrument fiskalischer Umverteilung?
Umverteilung und Nachfrage
Bibliografie
Quelle: Piketty [2001], Landais [2007].
Quelle: Piketty [1997].
Das vorliegende Buch wurde 1997 geschrieben und erstmals veröffentlicht. Seither ist es mehrfach durchgesehen und wiederaufgelegt worden. Dennoch muss betont werden, dass sein Gesamtaufbau seit 1997 unverändert geblieben ist. Es gibt also im Wesentlichen den Erkenntnisstand von 1997 und die damals verfügbaren Daten wieder. Daher werden insbesondere die in den letzten fünfzehn Jahren vorgelegten internationalen Untersuchungen zur historischen Dynamik der Ungleichheit nicht ausreichend berücksichtigt. Lesern, die sich für eine eingehendere Darstellung dieser historischen Untersuchungen und die Lehren interessieren, die man aus ihnen ziehen kann, sei empfohlen, einen Blick in die World Top Incomes Database (online verfügbar) und mein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (C.H.Beck, 2014) zu werfen.
Die Frage der Ungleichheit und Umverteilung steht im Zentrum eines politischen Grundkonflikts. Etwas vereinfacht wird man sagen können, dass sich traditionell zwei Positionen gegenüberstehen.
Auf der einen Seite versichert uns die liberale Position, langfristig seien allein die Kräfte des Marktes, Eigeninitiative und Produktionssteigerung in der Lage, Einkommen und Lebensbedingungen auch und gerade der Benachteiligten zu verbessern. Staatliche Umverteilungsmaßnahmen sollten daher nur in mäßigem Umfang erfolgen und sich auf Instrumente beschränken, die jene segensreichen Marktmechanismen möglichst wenig stören, wie z.B. die negative Einkommensteuer des integrierten Steuer- und Transfersystems von Milton Friedman [1962].
Auf der Gegenseite versichert uns die traditionelle, von den Sozialisten des 19. Jahrhunderts und den Gewerkschaften ererbte Position der Linken, allein soziale und politische Kämpfe könnten das vom kapitalistischen System gezeitigte Elend der Benachteiligten lindern. Staatliche Umverteilungsmaßnahmen sollten es daher nicht dabei belassen, zur Finanzierung von Transferleistungen Steuern zu erheben, sondern ins Zentrum des Produktionsprozesses selber eingreifen, um die Funktionsweise des Marktes, die der Aneignung der Gewinne durch die Kapitalbesitzer und den Lohnungleichheiten zugrunde liegt, als solche infrage zu stellen.
Dieser Links/Rechts-Konflikt zeigt zunächst, dass die Uneinigkeit über Opportunität und konkrete Form staatlicher Umverteilung weniger auf unterschiedliche Auffassungen von sozialer Gerechtigkeit, als vielmehr darauf zurückgeht, dass die jeweilige Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Mechanismen, die Ungleichheit hervorbringen, zu entgegengesetzten Ergebnissen kommt. Tatsächlich gibt es einen gewissen Grundkonsens über Prinzipien sozialer Gerechtigkeit. Wenn Ungleichheit zumindest teilweise Faktoren geschuldet ist, für die man den Einzelnen nicht verantwortlich machen kann, da sie seinem Einfluss entzogen sind, wie etwa das Startkapital, das er seiner Herkunft oder glücklichen Umständen verdankt, dann ist es gerecht, wenn der Staat die Chancen und Lebensumstände der Benachteiligten, also derjenigen zu verbessern sucht, die mit besonders misslichen unbeeinflussbaren Faktoren zu kämpfen haben. Moderne Theorien sozialer Gerechtigkeit haben diese Idee in Gestalt des Maximin-Prinzips zum Ausdruck gebracht: Eine gerechte Gesellschaft muss die Minimalbedingungen und Chancen maximieren, die das Sozialsystem dem Einzelnen bietet. Ausdrücklich eingeführt von Serge-Christophe Kolm [1971] und John Rawls [1972], findet sich dieses Prinzip der Sache nach schon sehr viel früher, etwa in der theoretisch weithin anerkannten Idee, es sollten allen möglichst weitreichende gleiche Rechte garantiert werden. Der eigentliche Konflikt betrifft meist weniger abstrakte Prinzipien sozialer Gerechtigkeit als die Frage, wie sich die Lebensbedingungen der am stärksten Benachteiligten konkret verbessern lassen, und wie weit die allen eingeräumten gleichen Rechte tatsächlich gehen können.
Nur eine sorgfältige Analyse der sozio-ökonomischen Mechanismen, die Ungleichheit hervorbringen, wird daher die beiden Extremvorstellungen von Umverteilung auf ihren jeweiligen Wahrheitsgehalt prüfen können – und damit vielleicht zu einer nicht nur gerechteren, sondern auch effizienteren Umverteilung beitragen. Dieses Buch will den gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse vorstellen, die uns auf diesem Weg voranbringen können.
Das Beispiel dieses Links/Rechts-Konflikts wirft vor allem ein Licht darauf, wie wichtig der Unterschied zwischen verschiedenen Typen und Instrumenten der Umverteilung ist. Soll man den Markt und sein Preissystem gewähren lassen und sich auf Umverteilung durch Steuern und Transferleistungen beschränken? Oder braucht es einen strukturellen Eingriff in die Funktionsweisen des Marktes, die Ungleichheit hervorbringen? Dieser Alternative entspricht, in der Sprache der Ökonomen, die Opposition von reiner und effizienter Umverteilung. Reine Umverteilung ist dann angebracht, wenn das Marktgleichgewicht zwar effizient im Sinne Paretos ist, also keine Möglichkeit einer Umstrukturierung von Produktion und Ressourcenallokation besteht, bei der alle gewinnen, wenn aber aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit dennoch eine Umverteilung von den Bessergestellten zu den Schlechtergestellten erforderlich ist. Effiziente Umverteilung dagegen ist dann angebracht, wenn Marktunvollkommenheiten die Möglichkeit einschließen, sowohl die Pareto-Effizienz der Ressourcenallokation als auch die Verteilungsgerechtigkeit zu verbessern.
In den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart wird diese Opposition von reiner und effizienter Verteilung häufig mit der Opposition zwischen einer moderaten und einer ambitionierten Umverteilung verwechselt. Eine kompliziertere Gestalt hat dieser überkommene Links/Rechts-Konflikt angenommen, seit manche Linke für die Einführung eines «bedingungslosen Grundeinkommens» für jeden Bürger eintreten, das sich ausschließlich durch Steuern finanziert, keinen direkten Einfluss auf das Spiel der Marktkräfte nimmt und sich von Friedmans negativer Einkommenssteuer allein dem Umfang nach unterscheidet.
Die Frage nach den Instrumenten der Umverteilung fällt denn auch, allgemeiner gesprochen, nicht zwangsläufig mit der Frage nach dem Umfang der Umverteilung zusammen. Dieses Buch wird sich um den Nachweis bemühen, dass man gut daran tut, beide Fragen gesondert zu behandeln, da sie nach ganz unterschiedlichen Erwägungen und Antworten verlangen.
Um sich diesen Fragen zu nähern und die wichtigsten Sachverhalte herauszustellen, denen eine Theorie der Ungleichheit und der Umverteilung Rechnung tragen muss, ist es hilfreich, die historischen Hintergründe und Größenordnungen der heutigen Ungleichheit in Erinnerung zu rufen (Kapitel 1). Die beiden folgenden Kapitel (Kapitel 2 und 3) sind den Hauptmechanismen gewidmet, die Ungleichheit erzeugen, und möchten nicht nur die politischen Einsätze in den intellektuellen Auseinandersetzungen zwischen den Theorien, sondern auch die beobachtbaren Tatsachen herausstellen, auf deren Grundlage sich diese Auseinandersetzungen nur entscheiden lassen. Kapitel 2 behandelt mit der Ungleichheit von Kapital und Arbeit eine fundamentale Ungleichheit, von der die Analyse der sozialen Frage seit dem 19. Jahrhundert zutiefst geprägt wurde. Kapitel 3 wird sich mit der Ungleichheit der Arbeitseinkommen selber beschäftigen, die vielleicht zum zentralen Problem im Kontext gegenwärtiger Ungleichheit geworden ist – wenn sie das nicht immer schon war.
Erst wenn diese Befunde zusammengetragen sind, wird sich die wesentliche Frage, nämlich die Frage nach den Bedingungen und Instrumenten der Umverteilung, wieder aufgreifen und vertiefen lassen (Kapitel 4). Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Ungleichheit und Umverteilung in Frankreich gelten, obwohl die verfügbaren Daten und Analysen eher dürftig sind – in auffälligem Kontrast zu der Aufmerksamkeit für die Arbeitslosigkeit, die soziale Kluft etc. in den öffentlichen Debatten der 1990er-Jahre. Daher werden wir mitunter auf Studien zu anderen Ländern, namentlich den Vereinigten Staaten, zurückgreifen müssen, um die vorgestellten Theorien zu veranschaulichen und zu bestätigen oder aber zu widerlegen.
In welchen Größenordnungen bewegt sich die gegenwärtige Ungleichheit? Verdienen die Reichen in einer bestimmten Gesellschaft zweimal mehr als die Armen? Zehnmal mehr? Hundertmal mehr? Und wie verhält sich dieses Einkommensgefälle zu dem in anderen Ländern und zu anderen Zeiten? War es im Jahr 1950 ebenso groß wie um 1900 oder um 1800? Ist die Arbeitslosigkeit in den westlichen Ländern der 1990er-Jahre die vorherrschende Gestalt der Ungleichheit?
Was sind die verschiedenen Einkommensquellen der Haushalte? Tabelle 1 schlüsselt die Einkünfte von etwa 24 Millionen französischen Haushalten im Jahr 2000 nach verschiedenen Kategorien auf: Löhne und Gehälter, Einkünfte aus selbstständiger Arbeit (Bauern, Einzelhändler, Rechtsanwälte …), Altersrenten, andere Transfereinkommen (Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe) und Vermögenseinkünfte (Zinsen, Dividenden, Mieten etc.).
Was lernen wir aus Tabelle 1? Zunächst, dass 58,8 % des Gesamteinkommens der Haushalte aus Löhnen und Gehältern und weitere 5,8 % aus selbstständigen Einkünften, also insgesamt beinahe zwei Drittel aus Arbeitseinkommen bestehen. Weiterhin machen Sozialeinkommen mehr als 30 % der Haushaltseinkommen aus, von denen wiederum zwei Drittel auf Altersrenten entfallen. Und nur etwa 5 % des Gesamteinkommens der Haushalte sind Kapitaleinkommen. Es ist freilich kein Geheimnis, dass Kapitaleinkommen von Haushalten in Einkommenserhebungen nicht korrekt angegeben werden. Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen kommen anhand der Zahlen, die Unternehmen und Banken über ausgeschüttete Zinsen und Dividenden vorlegen, zu einer höheren Schätzung des Anteils der Kapitaleinkommen am Gesamteinkommen der Haushalte von etwa 10 % [INSEE, 1996b, S. 26–29]. Aber alle Quellen sind sich gleichwohl darin einig, dass die Arbeitseinkommen der Haushalte mindestens das Sechs- bis Siebenfache ihrer Kapitaleinkommen ausmachen. Dabei handelt es sich um ein allgemeines Kennzeichen der Einkommensverteilung in den westlichen Ländern [Atkinson et al., 1995, S. 101]. Mit dieser Schätzung ihres Anteils auf 5 % oder 10 % wird allerdings die Bedeutung der Kapitaleinkommen für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt zu niedrig veranschlagt, da ein erheblicher Teil der Kapitaleinkommen von Unternehmen nicht an ihre Besitzer, die Haushalte, ausgeschüttet wird (siehe Kapitel 2).
Verschiedene Arten von Haushaltseinkommen
Löhne |
Selbstständigen-einkommen |
Renten |
Transfer- leistungen |
Vermögens- einkommen |
|
Durchschnittslohn |
58,8 |
5,8 |
21,3 |
9,5 |
4,6 |
D1 |
17,9 |
1,7 |
43,2 |
34,2 |
3,1 |
D2 |
30,0 |
2,3 |
44,6 |
20,7 |
2,4 |
D3 |
38,3 |
2,9 |
40,8 |
15,1 |
2,9 |
D4 |
44,3 |
2,7 |
35,7 |
14,3 |
3,1 |
D5 |
50,6 |
2,6 |
28,9 |
14,6 |
3,4 |
D6 |
58,4 |
3,6 |
22,0 |
12,4 |
3,6 |
D7 |
63,3 |
3,4 |
19,8 |
10,4 |
3,2 |
D8 |
66,5 |
3,3 |
18,7 |
7,6 |
3,9 |
D9 |
68,6 |
4,6 |
16,6 |
5,6 |
4,6 |
P90–P95 |
70,2 |
7,0 |
13,4 |
4,1 |
5,3 |
P95–P100 |
63,6 |
16,4 |
8,4 |
2,9 |
8,8 |
«D1» repräsentiert die ärmsten 10 % der Haushalte, «D2» die folgenden 10 %, und so weiter. «P95–100» repräsentiert die reichsten 5 % der Einkommen, «P90–95» die vorhergehenden 5 %. Löhne machen im Durchschnitt 58,8 % des Gesamteinkommens aller Haushalte aus, 17,9 % des Haushaltseinkommens der ärmsten 10 %, 30 % bei den folgenden 10 % und 63,5 % bei den reichsten 5 %.
Die Selbstständigeneinkommen umfassen Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbetrieb und nichtgewerbliche Einkünfte. Die Transferleistungen umfassen Familienbeihilfe, Arbeitslosengeld, Mindesteinkommen… Die Kapital- oder Vermögenseinkommen umfassen Dividenden, Zinsen und Mieteinkünfte. Die Einkommen sind um sämtliche Sozialabgaben bereinigt.
Quelle: Untersuchung der Haushaltsbudgets 2000, INSEE (Berechnungen des Autors).
Welchen Anteil die unterschiedlichen Einkommensarten am Haushaltsvermögen haben, hängt freilich stark davon ab, ob man arm oder reich ist. Um das genauer zu analysieren, ist es hilfreich, zwischen verschiedenen Dezilen der Einkommensverteilung zu unterscheiden. Das erste Dezil, in der Tabelle als D1 bezeichnet, versammelt die 10 % der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen, das zweite Dezil (D2) die folgenden 10 %, und so weiter bis zum zehnten Dezil (D10), also den reichsten 10 % der Haushalte. Einer präziseren Beschreibung halber greifen wir auch auf den Begriff des Perzentils zurück. Das erste Perzentil versammelt die ärmsten 1 % der Bevölkerung, und so weiter bis zum hundertsten Perzentil. Diese Begriffe bezeichnen Untergruppen der Bevölkerung (in Frankreich im Jahr 2000 pro Dezil 2,4 Millionen und pro Perzentil 240.000 Haushalte), für die man zum Beispiel das Durchschnittseinkommen berechnen kann. Sie dürfen daher nicht mit dem Begriff der Einkommensobergrenze verwechselt werden, die zwei Einkommensgruppen voneinander trennt und mit dem Buchstaben P bezeichnet wird. P10 repräsentiert zum Beispiel die Einkommensobergrenze, unterhalb derer 10 % der Haushalte, P90 die Obergrenze, unterhalb derer 90 % der Haushalte liegen, etc. In Tabelle 1 repräsentiert P90–P95 die Gesamtheit der Haushalte zwischen der Obergrenze des 90sten und der Obergrenze des 95sten Perzentils, das heißt die erste Hälfte des zehnten Dezils, während P95–P100 die zweite Hälfte des zehnten Dezils repräsentiert, das heißt die fünf reichsten Perzentile.
Tabelle 1 zeigt, dass in den Haushalten von D1 im Wesentlichen Kleinrentner und Arbeitslose leben. Der Lohn, den sie beziehen, macht im Durchschnitt weniger als 18 % ihres Einkommens aus, gegenüber fast 80 % aus Sozialeinkommen. Mit steigendem Einkommen wird in dem Maße, in dem Rentner und Arbeitslose weniger werden, der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen größer, um bei den reichsten 5 % der Haushalte (P95–P100) wieder leicht zurückzugehen, da deren Einkünfte zu einem beträchtlichen Teil aus Vermögenseinkünften, vor allem aber Einkünften aus selbstständiger Arbeit bestehen. Diesen Einkünften aus selbstständiger Arbeit kommt eine Zwischenstellung zwischen Arbeits- und Vermögenseinkommen zu, da sie nicht nur die Arbeit des Landwirts, des Arztes, des Gastronomen etc., sondern auch die von ihnen getätigten Investitionen vergüten. Gleichwohl machen Löhne und Gehälter auch bei den sehr wohlhabenden Haushalten einen nicht unerheblichen Teil des Einkommens aus: Die reichsten 5 % der Haushalte beziehen sehr viel mehr Arbeits- als Vermögenseinkommen, ganz gleich, welche Schätzung man zugrunde legt. Man muss sich in der Einkommenspyramide noch weiter nach oben bewegen, bevor Löhne und Gehälter nicht mehr den Hauptteil der Einkünfte ausmachen [Piketty, 2001].
Wie sind Löhne und Gehälter als die bei Weitem wichtigste Einkommensquelle der Haushalte verteilt? Tabelle 2 beschreibt die Lohnungleichheit unter den etwa 12,7 Millionen Vollbeschäftigten des privaten Sektors in Frankreich im Jahr 2000.
Lohnungleichheit in Frankreich, 2000
Monatslohn in Euro |
|||
Durchschnittslohn |
1700 |
||
D1 |
890 |
900 |
P10 |
D2 |
1000 |
||
D3 |
1110 |
||
D4 |
1210 |
||
D5 |
1310 |
1400 |
P50 |
D6 |
1450 |
||
D7 |
1620 |
||
D8 |
1860 |
||
D9 |
2340 |
2720 |
P90 |
D10 |
4030 |
«D1» repräsentiert die am schlechtesten bezahlten 10 % der Arbeitnehmer, «D2» die folgenden 10 %, und so weiter. «P10» ist die Lohngrenze, die D1 und D2 trennt, «P50» die Lohngrenze, die D9 und D10 trennt. Die am schlechtesten bezahlten 10 % erhalten alle pro Monat einen Lohn unter 900 Euro und einen Durchschnittslohn von 890 Euro, die bestbezahlten 10 % alle mehr als 2720 Euro und im Durchschnitt 4030 Euro.
Monatslöhne von Vollzeitbeschäftigten des privatwirtschaftlichen Sektors, um Prämien sowie um alle Sozialabgaben bereinigt.
Die am schlechtesten entlohnten 10 % der Arbeitnehmer erhalten ungefähr den Mindestlohn. Der Durchschnittslohn im untersten Dezil (D1) beträgt damit 890 Euro netto. Der Medianlohn (P50), seiner Definition nach das Lohnniveau, unter dem 50 % der Lohnempfänger liegen, beträgt 1400 Euro. Er liegt über dem Durchschnittslohn von 1310 Euro im fünften Dezil, da dieses aus den Lohnempfängern zwischen P40 und P50 besteht. Und er liegt vor allem unter dem Durchschnittslohn von 1700 Euro im Jahr 2000, denn die obere Hälfte der Lohnverteilung hat eine sehr viel größere Spreizung als die untere Hälfte, sodass die sehr hohen Löhne dafür sorgen, dass der Durchschnittslohn über dem Medianlohn liegt. Im Übrigen haben die bestbezahlten 10 % der Arbeitnehmer, die mindestens 2720 Euro im Monat verdienen, einen Durchschnittslohn, der 4030 Euro im Monat, also fast zweimal mehr als der Durchschnittslohn der folgenden 10 % beträgt (2340 Euro).
Ein hilfreicher Indikator für die Gesamtungleichheit der Löhne ist das Interdezilverhältnis P90/P10, das heißt das Verhältnis der Untergrenze des zehnten Dezils zur Obergrenze des ersten Dezils. Im Fall der Lohnungleichheit in Frankreich im Jahr 2000 beträgt dieses P90/P10-Verhältnis 2720/900, also etwa 3,0: Wer zu den bestbezahlten 10 % gehören will, muss mindestens dreimal mehr verdienen als jemand, der zu den am schlechtesten bezahlten 10 % zählt. Dieser Indikator ist nicht mit dem D10/D1-Verhältnis zu verwechseln, also dem Verhältnis des Durchschnittslohns im zehnten Dezil zum Durchschnittslohn im ersten Dezil, das per definitionem höher liegt, im vorliegenden Fall 4030/890, also 4,5: Die bestbezahlten 10 % in Frankreich verdienen durchschnittlich 4,5-mal mehr als die am schlechtesten bezahlten 10 %. Aus Tabelle 2 lässt sich auch der Anteil der bestbezahlten 10 % an der Gesamtlohnsumme ermitteln. Wenn der Durchschnittslohn in D10 um das 2,37fache höher als der Durchschnittslohn ist (4030/1700 = 2,37) und die Lohnempfänger in D10 per definitionem 10 % der Gesamtzahl der Lohnempfänger ausmachen, dann verdienen sie 23,7 % der Gesamtlohnsumme.
Es gibt andere Indikatoren, mit denen man die Ungleichheit der Gesamtverteilung und nicht allein die Kluft zwischen oberstem und unterstem Dezil messen kann, etwa den Gini-Koeffizienten und die Theil- und Atkinson-Indizes [Morrisson, 1996, S. 81–96], aber Indikatoren vom Typ der Interdezilverhältnisse, also P90/P10, D10/D1, P80/P20, etc., sind sehr viel einfacher und anschaulicher. Da das P90/P10-Verhältnis den Vorzug hat, für eine Reihe von Ländern relativ verlässliche Zahlen zu bieten, werden wir es in diesem Kapitel häufiger zurate ziehen.
Um einen vollständigeren Überblick über die Lohnungleichheiten zu gewinnen, müsste man auch die Löhne im öffentlichen Dienst berücksichtigen (Staat, Kommunen, öffentliche Unternehmen). In Frankreich erhalten die 4,1 Millionen Vollzeitbeschäftigten des öffentlichen Sektors einen Lohn, der leicht über dem des privaten Sektors liegt, und die Lohndifferenzen sind deutlich geringer: So beträgt etwa das P90/P10-Verhältnis bei Staatsbediensteten 2,6 [INSEE, 1996d, S. 55].
Internationale Vergleiche. Liegt das Interdezilverhältnis P10/P90 für Löhne und Gehälter überall bei 1 zu 3? Tabelle 3 zeigt die P90/P10-Verhältnisse für vierzehn OECD-Staaten im Jahr 1990. Wie man sieht, liegt Frankreich in der Mitte zwischen Deutschland und den nordischen Ländern einerseits, wo der Quotient im allgemeinen um die 2,5 beträgt und bis auf 2 sinken kann, und den angelsächsischen Ländern andererseits, wo der Quotient 3,4 in Großbritannien, 4,4 in Kanada und 4,5 in den Vereinigten Staaten erreicht. Die Zahlen von Tabelle 2 beziehen sich für sämtliche Länder nur auf Vollzeitbeschäftigte. Es ist wichtig, das zu betonen, da eine Berücksichtigung von Teilzeitbeschäftigten, deren Zahl sich im Jahr 2000 in Frankreich auf 3,1 Millionen beläuft, durchgängig zu einem größeren P90/P10-Abstand führt. So spricht die OECD, deren Zahlen im besonderen Fall der Vereinigten Staaten alle Teilzeitbeschäftigten berücksichtigen, für 1990 von einem P90/P10-Verhältnis von 5,5, das sich auf 4,5 reduziert, solange man nur die Vollzeitbeschäftigten berücksichtigt [Katz et al., 1995, Grafik 1; Lefranc, 1997, Tabelle 1], wie die OECD selbst es im Fall aller anderen Länder tut.