Dirk Harms
Fritz Plaschke
Der boshafte Verblichene
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Die Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Texte ©: Dirk Harms
Lektorat: IWO
Layout, Textüberarbeitung © Karin Pfolz
Covergestaltung © Detlef Klewer
© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria
Impressum: 2
In aller Eile 5
Was möchten Sie hören, wenn Sie tot sind? 6
Eine wenig famose Diagnose 9
Plaschkes Comeback Nummer 1 11
Kirche mit Dachschaden 14
Das Klärgrubenbegräbnis 19
Gerüchte und Gerüche 23
Sommerbräune sieht anders aus 25
Rache ist braun 28
Einkehr im „Fuselschuppen“ 31
Stippvisite im Rathaus 34
Gullitunnel, Klappe, die zweite 36
Die sterben ja wie die Fliegen ... 39
Fritz Plaschke wird buchstäblich weich 42
Der Segen eines Toten 47
Nach dem Sterben kommt das Erben 50
Gülle oder Humusboden? 53
Plaschkes fünfter Tod 55
Spuk im Krematorium 57
Eine Beerdigung ohne Plaschke 61
Das Geld war für das Dach gedacht 63
Begegnung an der Klärgrube 76
Plaschke bekommt Gesellschaft 81
Hella geht auf Nummer sicher 87
Besuch in der Apotheke 90
Trauer on the rocks 93
Das Ende vom Lied 98
Der Autor: Dirk Harms 101
Das Ableben des alten Plaschke schockierte niemanden in der Dreitausendseelengemeinde Sterbeberg–Trauerfeld. Ebenso wenig nahm es Einfluss auf das tägliche Kleinstadtleben dieses Ortes mit dem seltsamen Doppelnamen, welcher von einem ehemals überdimensionalen Friedhof herrührte, auf dem sogar Verstorbene aus den Nachbargemeinden ihre letzte Ruhestätte fanden. Auch war die Kleinstadt für unkonventionelle und ausgefallene Bestattungsrituale bekannt und erfreute sich daher besonderer Beliebtheit bei Dahinscheidenden und Toten in spe. In diesem Städtchen fand nicht selten die letzte Ruhe eine besondere Note.
Fritz Plaschke wohnte jedoch nur rein zufällig in diesem Ort. Nun aber war er eines kalten Herbstmorgens tot aufgewacht und daher froh, alle Vorkehrungen – bis hin zur Planung seiner Bestattung – getroffen zu haben.
Sein Sohn Hauab Plaschke, der seinen Vater – dank der Wahl dieses Vornamens – wie die Pest hasste, hoffte nun seine Dauerarbeitslosigkeit mit dem pekuniären Erbe seines toten Erzeugers gebührend versüßen zu können. Damals, während der Taufe, sprach der Priester gerade die bedeutungsvollen Worte: „... taufe ich dich auf den Namen ...“
"Hauab!", platzte da der alte Plaschke heraus. Natürlich galt diese Aufforderung seinem Saufkumpan Kalle Trunktig, der just in diesem Moment voll wie eine Haubitze zur Kirchentür hereingestolpert kam.
Und so wurde Plaschkes Junior mit diesem sowohl deprimierend dämlichen, als auch lebensversauenden Vornamen bedacht, da Pastor Glaubegut den Ausruf seines Vaters missverstand und der Wunsch des Alten ihm Befehl war.
Ein Grund mehr, den alten Miesepeter in aller Eile unter die Erde zu bringen, um dann endlich ein finanziell abgesichertes Leben zu führen. Plaschke junior, der sich gern von allen „Haui“ nennen ließ – und dann damit angab, er hieße so wie der bekannte Schlagersänger Hauard Radpedale – freute sich auf den vaterlosen Rest seines Lebens, seit Elektriker a.D. Fritz Plaschke endlich den Phasenprüfer abgegeben hatte.
Ein Jahr zuvor zog es Fritz Plaschke aus einer Laune heraus in einen Bestatterladen. Auch wenn man in seinem Fall Lungenkrebs diagnostiziert hatte, hielt er unerschütterlich an der Hoffnung fest, der Arzt sei einem Irrtum aufgesessen. Dieser Jungspund kam frisch aus der Doktorenschmiede und meinte nach durchzechter Nacht, einen Schatten auf der Lunge eines einundsechzigjährigen Frührentners erkennen zu können? Diese Jugend ist doch nur am Feiern, glaubte Plaschke. Nein, nein, er erfreute sich bester Gesundheit. Jeden zweiten Tag legte er schließlich fast zwei Kilometer zu Fuß zurück, um seine fünf Schachteln Zigaretten zu kaufen. Derartig viel Bewegung konnte nur gesund erhalten. Er und krank? Pah!
Dennoch kam er eines Tages auf die Idee, für den Fall der Fälle Vorkehrungen zu treffen. Das lag aber nicht an dem Husten, der ihn immer öfter heimsuchte und seine gegrummelten Selbstgespräche unterbrach. Und der nur daher rühren konnte, dass Fritz Plaschke immer ein wenig außer Atem geriet durch diese zügigen Spaziergänge. Teufel, diese verdammte versmogte Kleinstadtluft ...
Aber schon die Vorbereitung und die Organisation seiner eigenen Bestattung, entpuppte sich für Fritz Plaschke als Trauerspiel. Wie sollte das erst werden, wenn dann sein großer Tag gekommen war? Es durfte nichts schiefgehen! Er selbst, aufgebahrt seinen Hinterbliebenen ein letztes Mal die Parade abnehmend, konnte in seinem Zustand schließlich nicht mehr korrigierend eingreifen.
Und nun redete dieser mit Kölnisch Wasser einparfümierte Sargverkäufer hier nicht nur gnadenlos auf Plaschke ein, sondern auch an ihm vorbei. Plaschke, einundsechzigjährig und kurzatmig, bewunderte den Redefluss des kleinen Mannes, der ihm nicht von der Seite wich, als er sich im Laden umsah und unentwegt über Särge, Sorgen und Segen sprach.
Der Bestatter, so schien es Plaschke, verfügte über die Fähigkeit, durch die Ohren zu atmen. Unter Verzicht auf eine erkennbare Atmung, wie sie bei Menschen üblich ist, dozierte er ohne Punkt und Komma, verzichtete überhaupt auf jegliche Satzpausen, als rede er geradezu um sein Leben.
„…haben–wir–hier–noch–ein–Kiefermodell–Buche–ist–zwar–robuster–aber–dieser–Sarg–hier–ist–umweltfreundlicher–hergestellt–worden–außerdem–ist–Kiefer–gesünder–Sie–werden–mir–noch–dankbar–sein …“
„Vor oder nach meiner Beerdigung?“
Der 4711-Fan Unfried Urnentreter – das war der Name des Bestatters – starrte verdutzt den genervten Plaschke an um ihm dann rasch diverse klassische Musikstücke für die Trauerfeier vorzuschlagen. Plaschke aber bestand auf modernere Musik.
"Wie wäre es denn mit Schostakowitsch?", erkundigte sich der inzwischen transpirierende Dauerredner. Wer mit den Ohren atmet, dachte Plaschke, kann eben nicht gleichzeitig zuhören. "Ich möchte ganz bestimmte Musikstücke bestellen, und das hat Gründe!" Der Einundsechzigjährige bereute zunehmend seinen Entschluss für alles Vorsorge treffen zu wollen.
"Ähm, na gut. Was also möchten Sie hören, wenn Sie dann aufgebahrt sind?"
"Na, was schon? Natürlich Highway to Hell von AC/DC!"
Der Bestatter lächelte diskret und nickte verständnisvoll.
"Verstehe. Ein anderer, auch sehr populärer Song wäre ... "
"Spreche ich ausländisch? Stimmt etwas mit meinem letzten Wunsch nicht?", Plaschke funkelte sein insistierendes Gegenüber wütend an. Wie es denn stattdessen mit dem Titel "When I´m dead and gone" wäre, wollte die Nervensäge wissen. Plaschkes Neugier regte sich nun doch: Immerhin klang der Titel englisch, trotz der unmöglichen Aussprache dieses schwitzenden Inhumierungsexperten.
"Von wem ist der Song?"
"Fury in the Slaughterhouse." Plaschke runzelte die Stirn. Ein Pferd im Schlachthaus? Das kam nicht in Frage. Wenn ein alter Gaul seinen Abgesang auf das Leben anstimmte, handelte es sich um eine Sache, die nichts – aber auch gar nichts mit ihm zu tun hatte: Er war doch keine zur Notschlachtung freigegebene alte Schindmähre! So eine Frechheit.
"Die Band nennt sich so, habe ich mir sagen lassen. Es geht auch nicht um ein Pferd in dem Song", beeilte sich Urnentreter zu erklären.
"Aber Fury ist ein Pferd."
"Das ist doch nur der Name der Band, wie gesagt. Ich kann zwar kaum Englisch, aber in dem Lied geht es schon um den Tod ... glaube ich. Mein Sohn hört den Song immer rauf und runter."
"When I´m Dad and gone? Das bedeutet: Wenn ich Papa bin und abgehauen", übersetzte Plaschke.
"Äh, nee, das kann nicht sein. Es geht in dem Stück nicht um Scheidung. Außerdem bin ich nicht geschieden, ich bin ja da. Also, für meinen Sohn. Aber wo wir schon dabei sind: Was heißt eigentlich AC/DC?"
Plaschkes Unterkiefer klappte herunter ob dieser Unwissenheit. "Na, Gleichstrom, Wechselstrom natürlich!"
Der des Englischen unkundige Sargverkäufer dachte nach. Von einer solchen Band hatte er tatsächlich schon gehört.
Plaschke nutzte den überraschenden Moment der Stille und fasste seinen Entschluss. "Hören Sie, ich bleibe bei meinem Wunsch."
"Also Sie möchten diese Elektrikerband, ja?"
"AC/DC. Ja genau. Dass Sie die Band nicht kennen – nicht zu fassen ... "
"Ich hätte da noch eine Alternative anzubieten, lieber Herr Plaschke, etwas Volkstümliches, sozusagen. Alexandra mit `Mein Freund der Baum ist tot` ... "
Plaschke schlug mit der Faust vor Wut auf einen Sarg neben ihm. Das war ja nicht zum Aushalten! War er etwa ein Baum?
"Jetzt reichts! In `Flieg nicht so hoch mein kleiner Freund` kommt ein Piepmatz ums Leben. Unterstehen Sie sich, mir dieses Lied auch noch vorzuschlagen: Ich bin weder ein Baum, noch ein Pferd, noch so ein fliegendes Federknäuel! Außerdem ist AC/DC dermaßen bekannt ... Dass Sie diese Band nicht kennen, ist eine ziemliche Bildungslücke. Fragen Sie mal Ihren Sohn!"
"Sie wollen also dieses ... Stromlied?"
"Kein Stromlied, es heißt `Highway to Hell´. Das bedeutet Straße zur Hölle!", antwortete der zwischenzeitlich zornesrote Plaschke.
"Ich bin auf der Straße, die in die Hölle führt, heißt es im Refrain. Klar?"
"Jaja, sicher. Wir werden die Predigt des Pastors dann ein wenig anpassen müssen. Allerdings das mit der Hölle wird eine Herausforderung ... Wir brauchen dann noch ein paar Angaben, etwas über Sie für die Rede – also sind Sie verheiratet oder haben Sie eine Freundin, was ist Ihr Beruf, Ihre Hobbies ... "
"Ich bin verheiratet, meine Freundin weiß nichts davon, und ich arbeite als Elektriker. Genügt das?"
"Highway to Hell". Gleichstrom, Wechselstrom. Endlich glaubten die bis dahin verwirrten Synapsen des Bestatters die richtigen Verbindungen erwischt zu haben. Er rückte seine Krawatte gerade und setzte seine feierlichste Miene auf. "Also mein lieber Herr Plaschke: Ihr Musikwunsch geht selbstverständlich in Ordnung."
Als der ging, leise zweifelnd, ob dieser Unfried Urnentreter ihn auch verstanden hatte, fühlte sich der Bestatter nach der vorangegangenen Beratung noch immer so ausgelaugt, dass er die für einen solchen Auftrag erforderlichen Einträge und Notizen wie in Trance vornahm.
Seine Gedanken kreisten weiterhin um diesen seltsamen, eigensinnigen Mann, der da eben offensichtlich Kunde des Bestattungsinstitutes "Und Tschüß!" geworden war.
In der Nacht vor der Diagnose plagten Alpträume den zwischendurch immer wieder vom Husten erwachenden Fritz Plaschke. Der Arzt fütterte einen überdimensionalen Flusskrebs mit Lungenstücken und grinste dabei diabolisch. "Darf ich vorstellen? Lungenkrebs – das ist Fritz Plaschke – Herr Plaschke – Lungenkrebs! Er wollte Sie unbedingt kennenlernen, hahaha!". Als er schweißgebadet erwachte, schien das Gelächter noch in seinen Ohren nachzuklingen.
Die Testergebnisse der Klinik waren positiv – ein Grund zum Aufatmen, denn "positiv" bedeutet "gut", dachte Fritz Plaschke. "Hab ich doch gesagt, Doktor!", frohlockte er. "Dass Sie mir auch immer Angst machen müssen.“
Doch bevor er dem Mediziner mit Hang zur Übertreibung weitere Vorhaltungen machen konnte, raunte der ihm mit ernster Miene zu: " Verstehen Sie nicht? Das Ergebnis ist positiv!"
Plaschke nickte und strahlte: "Jaa! Ist das nicht toll?"
Der Arzt schüttelte betreten den Kopf. "Wir haben leider gefunden, wonach wir gesucht haben!"
In diesem Moment ging dem Elektriker a.D. ein Licht auf. Diese Erkenntnis katapultierte seinen Blutdruck in schwindelerregende Höhen.
Seither kam es ihm vor, als stünde er fortan unter Strom. Vielleicht half es, eine Glühbirne in die Hand zu nehmen? Hätte Fritz Plaschke noch als Elektriker gearbeitet – er wäre nach dieser Diagnose mühelos auch ohne Leiter in die Luft gegangen und hätte dem HB-Männchen dabei auf den Kopf spucken können ...
Seit diesem Tag war Plaschke für seine Mitmenschen nahezu unerträglich. Schon eine Fliege an der Wand löste Schimpftiraden aus. Ständig trottete er mit hochrotem Gesicht durch die Gegend. Abends im Bett leuchtete sein Dickschädel immer noch rötlich, so dass er fast auf Leselicht verzichten konnte.
Und dann, eines Morgens, lag er blass und reglos im Bett. Seine Frau Halogenia nahm fassungslos das Ohropax aus ihren Horchlappen, auf welches sie in letzter Zeit des ständigen Gemeckers wegen nicht mehr verzichten konnte.
Das Bestattungsinstitut "Und Tschüß!", bei welchem Plaschke die Einzelheiten seiner Beisetzung vorab geregelt hatte, holte den Verblichenen noch am Nachmittag des gleichen Tages ab. Als Unfried Urnentreter mit entsprechender Leichenbittermiene der Witwe Plaschke kondolierte und dann des Toten ansichtig wurde, murmelte er: "Diesen Brabbelkopf kenne ich doch, da war doch was ... "Er blätterte in seinem Terminkalender, ohne zu wissen, wonach er suchen sollte. Verflixt! Was hatte es mit diesem Plaschke noch auf sich gehabt, was nur?
"Wir begeben uns auf den letzten Weg mit dir!", versprach die Leuchttafel im Fenster des Bestattungsinstitutes. In den Abendstunden durchsuchte Urnentreter noch immer fieberhaft seine Aufzeichnungen. Wutschnaubend trat sein Vorgesetzter Gunther Grabzuweit durch die Tür und warf sie ins Schloss. Das geschah eigentlich nur, wenn ihm wirklich Anlass zu Zorn geboten wurde. Ein Funkenregen auf der Leuchttafel zog einen verschmorten Geruch nach sich und sorgte dafür, dass etliche Buchstaben plötzlich erloschen. Nun präsentierte sich von dem Slogan nur noch der Schluss. Aus dem vormals solidarisch-tröstlichen "Wir begeben uns auf den letzten Weg mit dir!" war nunmehr die despektierliche Aufforderung "Weg mit dir!" entstanden. Bei Licht besehen brachte sie die eigentliche Arbeitsweise des Bestattungsunternehmens viel besser auf den Punkt, auch wenn Grabzuweit und Urnentreter sich stets Mühe gaben, das zu verschleiern.
"Was fällt Ihnen ein, Urnentreter?", polterte Grabzuweit los. "Sie haben den Leichnam schon zum Einbalsamieren gegeben? Wo sind seine Verfügungen für das Bestattungsarrangement? Sie wissen anscheinend wieder mal nicht, was es vorzubereiten gilt!"
"Ähm, doch ... der Kunde hatte einen ausgefallenen Musikwunsch." Grabzuweit schüttelte den Kopf. "Fällt aus. Keine Extrawünsche! Wir müssen in der Gewinnspanne zulegen, alles muss so günstig wie möglich sein. Wissen Sie denn, was es war?"
Urnentreter schwitzte. "Ein Titel, der von der Zeit nach dem Tod handelte." Der Typ hatte sich doch damals so aufgeplustert, sie waren mehrere Musikstücke durchgegangen, soviel wusste er noch. Wo zum Teufel lagen nur seine Aufzeichnungen von damals?
Sein Chef mahnte zur Eile. "Kommen Sie, machen Sie nicht so ein Gewese darum. Wir haben `My Heart will go on´ von dieser Titanic-Diva. Das passt, und fertig! Und der Alte hört es ja nicht mehr."
Urnentreter gab sich schweren Herzens geschlagen. Aber so etwas wie eine düstere Vorahnung beschlich ihn trotzdem: Dieser Plaschke würde "My Heart will go on" sicher mit "Mein Herz wird angehen" übersetzen ... Wie gut, dass der den Text nicht mehr analysieren können würde. Oder handelte es sich im Titel am Ende um eine Prophezeiung? Unfried Urnentreter ahnte nicht, wie nahe er damit der Realität kommen sollte.
Plaschkes Frau vergoss dann doch noch anderthalb Tränen über das Ableben ihres Gatten. Haui Plaschke dagegen heuchelte seine Trauer sehr geschickt. Sein Vater war zwar in den Augen seines Sohnes ein cholerischer Kotzbrocken, hatte aber sein Vermögen in Telekom-Aktien investiert und darüber hinaus noch eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen. Also lag auf der Hand, dass die Tiefe der Trauer des Sohnes mit der Höhe des zu erwartenden Erbes korrespondierte. Dass es nach der Diagnosestellung allerdings so schnell mit dem Dauermotzer zu Ende ging, kam überraschend. Hauab´s Freundin, Greta Stase, und deren Mutter Meta Stase hofften nunmehr ebenfalls auf eine abgesicherte Zukunft mittels baldiger Verlobung von Greta und Hauab.
Wie bereits erwähnt, nahm niemand sonst im Ort übermäßig Notiz vom Tode Plaschkes. Bis zu seiner denkwürdigen Beerdigung, über die man noch lange – und weit über die Stadtgrenzen hinaus reden würde.
Gunther Grabzuweit, Inhaber des örtlichen Bestattungsinstitutes, bläute seinem Geschäftsführer Urnentreter bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein, trotz Pietät und Mitgefühl die Priorität einer möglichst großen Gewinnspanne im Auge zu behalten. Aufgrund dieser permanenten Gehirnwäsche gedachte Urnentreter daher, sich auch bei der Grabrede für Plaschke auf das Mindeste zu beschränken. Die Instruktionen seines Chefs lauteten: "Wir nehmen für die Feier die Ortskirche, die Feierhalle auf dem Friedhof wird deswegen nicht extra hergerichtet. Und bei der Rede fassen Sie sich gefälligst kurz: Blabla ... warum musste er sich verpissen ... wir werden ihn vermissen ... Fritz Plaschke war ein besonderer Dingens. Erde zu Asche zu Staub, Amen – oder so. Und bevor Sie sich aus demselben machen, noch fix ab zum Grab, hinein mit dem Sarg, und weg. Wie man hört, konnte diesen teuren Verblichenen sowieso kaum jemand ausstehen."
„Aber man sagt doch über Tote nur Gutes ...“
"Unsinn, Urnentreter! Im Beisein der Familie vielleicht. Da möchte ich auch nichts anders von Ihnen hören, haben wir uns verstanden? Aber hier im Dienst sind wir doch unter uns. Haben Sie den Sarg vorbereitet?"
"Ja. Ich glaube, er wollte Buche."
Grabzuweit schien der Verzweiflung nahe. "Himmel, Arsch und Zwirn! Sie nehmen einen soliden verschraubten Sarg aus Erwachsenenpapier, unser Sparmodell, ist das klar?"
"Aber wieso Presspappe, damit schaffen wir es nicht einmal bis zur Grabstelle", maulte Urnentreter.
"Ja dann nageln Sie innen ein paar Winkel gegen, zum Teufel, stabilisieren Sie das Teil, schnallen Sie den alten Motzkopf fest, was weiß denn ich! Herrgott, Urnentreter!“, Grabzuweits Stimme überschlug sich inzwischen fast.
Im Nebenzimmer klapperte etwas. Ob noch jemand im Geschäft sei, fragte der Bestatter seinen Vorgesetzten möglichst beiläufig, da er einen erneuten Wutausbruch befürchtete, den er so zu vermeiden hoffte.
Grabzuweit rückte nur seine Krawatte gerade und schüttelte den Kopf. "Nein. Der Einbalsamierer hat den Leichnam vorhin gebracht, liegt nebenan. Ist aber wieder gegangen."
"Waas? Der Leichnam? Jesses, wohin denn?"
Urnentreters Augen wurden tellergroß. Grabzuweit tat sich und seinen Nerven einen Gefallen und blickte lediglich verzweifelt gen Himmel, einen großen Seufzer ausstoßend, bevor er seinen begriffsstutzigen Geschäftsführer in den Feierabend schickte. Er konnte ihn für heute nicht mehr sehen. Urnentreter ließ sich das Wort "Feierabend" nicht zweimal sagen, trat in seinem zerknitterten Regenmantel aus der Tür, wünschte seinem Chef einen schönen Abend und verschwand hinter der nächsten Häuserecke.
Wenig später schloss Grabzuweit die Eingangstür seines Unternehmens ab. Beim Hinausgehen fiel ihm die defekte Leuchtreklame auf. Diese Aufforderung "Weg mit dir!" – galt sie nun Plaschke oder Urnentreter, diesem Aktivisten der letzten Ölung? Gutes Stichwort, dachte sich Grabzuweit und verspürte Durst auf ein Bier. Sein Spaziergang nach Hause führte ihn daher zunächst direkt an den Tresen des "Fuselschuppen", der zweckmäßigerweise neben dem Friedhof lag.
Im Geschäft des Bestattungsunternehmens rumorte es unterdessen. Inzwischen setzte die Abenddämmerung ein, weswegen jemand hier offensichtlich auf Kerzenlicht zurückgriff. Das grelle Licht im Haus hätte umgehend für Aufsehen gesorgt. Nun ja, die Immobilie gehörte sowohl vom Zustand als auch von der Lage her zur unteren Preiskategorie. Das Haus lag etwas abseits von einer der Hauptstraßen im Schatten des Kirchplatzes, so dass das geschäftige Treiben in seinen Räumen zu dieser späten Stunde von der Außenwelt unbeachtet blieb.
Ein Kribbeln durchlief Plaschkes Körper. Wie konnte ich nur so lange schlafen, ärgerte er sich und schlug die Augen auf. Zu völliger Bewegungsunfähigkeit verdammt fand er sich in ein weißes, bettlakenähnliches Stück Leinen gehüllt – nur dass es sehr viel zerknitterter und voller Falten war. Jemand hatte ihn fest eingewickelt, fast blieb ihm die Luft weg. Um das ändern zu können, versuchte er, sich auf die Seite zu rollen. Wo zum Teufel bin ich hier? Plaschke verstand die Welt nicht mehr. Nicht ahnend, dass sich ihm bald eine neue erschließen würde, die er ebenfalls nicht verstehen sollte ... Doch jetzt und hier, in einem dunklen, merkwürdig riechenden Raum, rekapitulierte er angestrengt, was mit ihm passiert sein musste.
Das lästige Leinentuch presste seinen Körper immer noch zusammen, während er sich nach dem schmerzhaften Aufprall auf dem Boden krümmte und aufzustehen versuchte. Allmählich bekam er einen Arm frei und wickelte sich aus dem Fetzen. Erschrocken blickte Plaschke an sich hinunter. Was war mit seinen Kleidern passiert? Wer hatte sie ihm ausgezogen und ihn in diesen Fetzen gehüllt? Ein Teelicht, neben dem Streichhölzer lagen, kam ihm gerade recht. Plaschke entzündete mit zittrigen Fingern das Licht, entdeckte in einer Ecke des Raumes einen Standspiegel und riskierte einen Blick. Aber was er sah, entlockte ihm einen markerschütternden Entsetzensschrei und ließ ihn ohnmächtig zu Boden sinken.
Nicht, dass ihn der Anblick seines unbedeckten Körpers derart schockiert hätte, soeben aber war da nur ein schwebendes Teelicht zu sehen gewesen – dieser idiotische Spiegel erdreistete sich, ihn einfach komplett zu ignorieren! Grund genug für Plaschke, die Fassung zu verlieren, doch daran hinderte ihn im Moment nur so eine läppische Ohnmacht.
Irgendetwas (in diesem Fall irgendjemand, aber das konnte Urnentreter ja zunächst nicht wissen) lag im Wege und sorgte so am anderen Morgen dafür, dass die Tür in den Aufbettungsraum sich nur schwer öffnen ließ. Urnentreter schob mühsam etwas Schweres mit der Tür beiseite und wunderte sich. Das hier war eine Situation mit Symbolcharakter – als wolle der Verblichene noch nicht bestattet werden. Aber wie konnte der ahnen, dass er noch so manches Mal aus dem Schattenreich zurückkehren und Unruhe unter den Hinterbliebenen stiften würde? Blut und Wasser schwitzend, bugsierte der Bestatter den Leichnam wieder auf den Tisch und nahm sich vor, dem Einbalsamierer eine saftige Predigt zu halten. Wie konnte der die Leiche nur derart pietätlos ablegen, nur um vielleicht zwei Minuten früher verduften zu können?
Als Plaschke in Urnentreters Armen plötzlich dessen notgedrungene Umarmung wohlig lächelnd erwiderte, tat er dem höchst überraschten Bestatter damit keinen Gefallen, oh nein ... blass wie ein Liter Milch im Neuschnee schoss Unfried Urnentreter pfeilschnell durch die Tür davon und suchte vor Plaschke und seiner eigenen Verwirrung Schutz im „Fuselschuppen". Bereits nach dem dritten Whisky konnte er endlich wieder durchatmen, bevor ihm einfiel, dass er Abstinenzler war.
Folgerichtig trat er völlig benebelt eine Weile später hinaus vor die Tür und fiel seinem erzürnten Chef in die Arme, der sich eben anschickte einzutreten. Grabzuweits Zorn wich blankem Entsetzen, denn so kannte er seinen Mitarbeiter nicht. Unter körperlicher Anstrengung schleifte er Urnentreter zurück ins Büro des Bestattungsinstitutes. Jetzt war ein Hektoliter Kaffee für diesen schreckhaften Trottel fällig, notfalls auch eine kalte Dusche.
Sobald dieser Plaschke die Radieschen von unten betrachtete, würde er Urnentreter wohl die Kündigung aushändigen, überlegte Grabzuweit stirnrunzelnd. Jetzt galt es, ihn erstmal nüchtern zu kriegen.
Unfried Urnentreter konnte den Kaffee ebenso wenig bei sich behalten wie die Tatsache, dass Fritz Plaschke ihn innig umhalst hatte. Es schüttelte ihn, als er seinem Vorgesetzten in weinerlichem Ton davon berichtete. Grabzuweit zweifelte einen Moment lang an der Geschichte, kam dann aber zu dem Schluss, das sei zumindest eine plausible Erklärung für das merkwürdige Verhalten des Bestatters.
Ein Jahr zuvor, als Fritz Plaschke und sein Lehrling Stecker, der diesen Spitznamen seinen Weibergeschichten verdankte, in einer leer stehenden Wohnung Leitungen verlegten, hatte der Meister mal wieder buchstäblich für Spannung gesorgt.
Stecker verbummelte mit einer Hartnäckigkeit Phasenprüfer und Schraubenzieher aller Art, also schraubte Plaschke notgedrungen mit einem metallenen Schraubenzieher ohne Griff gerade eine Steckdose fest, als ihn plötzlich krampfhafte Zuckungen durchfuhren. Aber es blieb ihm nichts Anderes übrig, zumal sein dienstbeflissener Lehrling eben gerade ohne sein Wissen die Sicherung wieder eingedreht hatte.
Die Standpauke, welche dann folgte, begann mit den Worten "Ich bin schon wieder sowas von geladen …“, Stecker prustete los vor Lachen, so dass Plaschke nun seinerseits vor Zorn krebsrot anlief. Ein Hustenanfall unterbrach die Gardinenpredigt, bevor Plaschke richtig in Fahrt kam.
Nicht, dass der Lehrling seinen Meister nicht respektierte – im Gegenteil: Sobald der zum Beispiel „Feierabend!" sagte, war Stecker der Erste, der auf seinen erfahrenen Chef hörte und dessen Anweisung ernst nahm.
An diesem Abend sah Plaschke in den Nachrichten einen dubiosen Bericht. Er weilte gerade auf einen kurzen Abstecher bei seiner heimlichen Geliebten Hella Dunkelohm, einer zwanzig Jahre jüngeren Blondine, die aber ansonsten keine Leuchte war. Sie hatten es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Ungläubig starrte er auf den Flimmerkasten.
Ein Hochspannungselektriker war nach seinem Ableben zwischenzeitlich mehrmals kurz wiedererwacht. Herzmuskelkontraktionen von ungewöhnlich langer Dauer hatten seinen Tod quasi mehrmals unterbrochen. Dem Bericht zufolge lag die Ursache darin, dass er zu Lebzeiten mehrere lebensgefährliche Stromschläge erlitten und überlebt hatte.
Plaschke, zu diesem Zeitpunkt schon todkrank, hielt das für Quatsch und war sich sicher, ihm würde so etwas nicht passieren können, zumal er nicht mit solchen Spannungsstärken arbeitete. Hella, die blonde Dunkelbirne mit dem Horizont einer liegenden Ameise, umhalste ihre Lichtgestalt und beschwor ihren Lieblingsladungsträger, wenn es doch so komme mit ihm, dann solle er sie heiraten, denn an jenem Tag wusste sie noch nichts von seiner Ehe. "Oder hast du eine Andere?", klopfte sie auf den Busch.
"Wieso?" Er sah sie an und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen.
Hella lächelte nur und entgegnete: "Naja, das wäre ja dann egal. Für alle anderen Leute bist du dann ja de facto tot. Aber irgendwie bist du es auch nicht – nur etwas weniger lebendig. Und dann starten wir durch, oder?" Und sie himmelte ihn weiter an, ihre Blicke sprangen an ihm hoch wie junge Hunde.
Plaschke rollte mit den Augen ob dieser geistigen Ergüsse, lächelte aber dankbar und kuschelte sich an ihre Riesenscheinwerfer, ganz den Moment genießend. Er, der Choleriker, der sonst so schnell auf die Palme zu bringen war, verschwendete kaum einen Gedanken an diesen Bericht. Warum sollte er ihr diesen fixen Gedanken ausreden? Solange alles beim Alten blieb, war es gut. Wenn der Herrgott bei ihm die letzte Sicherung herausdrehen würde, konnte Hellalein auf ihn warten, bis sie schwarz wurde ... na und seine Alte erst recht.