Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Prolog
  5. 1
  6. 2
  7. 3
  8. 4
  9. 5
  10. 6
  11. 7
  12. 8
  13. 9
  14. 10
  15. 11
  16. 12
  17. 13
  18. 14
  19. 15
  20. 16
  21. 17
  22. 18
  23. 19
  24. 20
  25. 21
  26. 22
  27. 23
  28. 24
  29. 25
  30. 26
  31. 27
  32. 28
  33. 29
  34. Epilog
  35. Danksagung
  36. Über die Autorin
  37. Die Romane von Shelly Bell bei LYX
  38. Impressum

SHELLY BELL

Nights of Seduction

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Mara Hoffmann

Zu diesem Buch

Ein heißer CEO, familiäre Intrigen und eine geheime Liebe

Ryder McKay hat schon einige Erfahrungen mit Frauen gesammelt und ist eigentlich nicht so leicht hinters Licht zu führen. Bis er nach einer heißen Nacht aufwacht und bemerkt, dass sein One-Night-Stand ihm geheime Firmenunterlagen geklaut hat. Als diese Unterlagen dann auch noch in den Händen seines größten Rivalen – seines Vaters – auftauchen, ist sich Ryder sicher, dass Jane ihn bewusst verführt und betrogen hat. Doch als er ihr ein Jahr später unerwartet bei einer Familienzusammenkunft wieder begegnet, weiß er nicht, welchem Impuls er nachgeben soll: Jane aus dem Weg zu gehen – oder ihre gemeinsame Nacht zu wiederholen.

Für Spencer – weil du mich zu einem meiner Lieblingssätze in diesem Buch inspiriert und mich zum Lachen gebracht hast. Ich bin so stolz auf dich.

Prolog

Vor 24 Jahren

Ryder McKay wachte in seinem Rennauto-Bett auf, nass und verschwitzt unter der neuen Star-Wars-Decke.

Im Zimmer war es stockdunkel.

Er mochte die Dunkelheit nicht.

Deswegen hatte er sein R2-D2-Nachtlicht. Aber das funktionierte nicht, denn wenn es funktionieren würde, sähe er etwas anderes als absolute Finsternis.

Sein Dad meinte, er brauche kein Nachtlicht. Das sei nur etwas für Babys.

Ryder war kein Baby.

Sein Bruder, Finn, hatte ihm erzählt, dass er sich auch manchmal im Dunkeln fürchtete, und Finn war fünfzehn, zehn Jahre älter als er. Dann hatte Finn ihm das Nachtlicht von seinem eigenen Taschengeld gekauft.

Ryder vermisste Finn sehr. Der war den Sommer über bei seiner Mutter, weit weg in einem anderen Staat.

Ryder hatte keine Mutter.

Sie war bei seiner Geburt gestorben. Das hatte Dad gesagt, und in seinen Augen hatten Tränen gestanden.

Ryder hatte sie umgebracht.

Das hatte Dad nicht gesagt, aber Ryder war schlau, also hatte er sich das zusammengereimt.

Ryder hatte nie ein Bild von ihr gesehen, weil Dad keine Fotos von ihr hatte. Auch das musste ihn traurig machen. Ryder war auch manchmal traurig deswegen, denn alle seine Freunde hatten eine Mommy.

Aber er hatte Finn, und das war besser als eine Mommy zu haben. Wenn Ryder sich fürchtete, sorgte Finn dafür, dass er sich wieder sicher fühlte.

Dad und Nanny Spector sorgten nicht dafür, dass er sich sicher fühlte. Keine Umarmungen. Kein Lächeln. Keine Witze. Dad tätschelte ihm nur den Rücken und sagte zur Nanny, sie solle sich um ihn kümmern. Die tat so, als würde sie ihn mögen, aber seinen Dad mochte sie lieber. Das wusste er, weil er einmal gesehen hatte, wie sie sich in Dads Bett umarmt und geküsst hatten. Nackt! Das war eklig und verursachte ihm ein seltsames Gefühl, deshalb war er verschwunden, bevor sie ihn entdecken konnten. Er wusste nicht, warum sie in Daddys Bett schlief, wo sie doch ihr eigenes Zimmer im Haus hatte.

Er mochte Nanny nicht. Ihr Atem roch komisch, wenn sie einen Schluck aus der kantigen Flasche getrunken hatte, die sie in ihrer Handtasche versteckte. Manchmal schlief sie mit der Flasche im Arm ein, hielt sie wie ein Baby. In solchen Nächten konnte Ryder sie nicht wach bekommen, nicht einmal, wenn er auf ihrem Bett herumsprang.

Ein lautes Krachen drang von unten herauf, sprengte die Stille.

Er zuckte zusammen, dann lag er ganz und gar regungslos da.

Es hatte geklungen, als sei ein Böller im Haus losgegangen.

Das wäre so was von cool.

Er sprang aus dem Bett und streckte die Arme aus, um die Tür zu finden.

Er hörte wütende Stimmen. Sein Daddy und eine Frau. Das war nicht Nanny. Diese Frau sprach eine andere Sprache, aber ein Wort verstand er klar und deutlich.

Ryder.

Ryder tastete mit den Händen über die glatte Wand, bis er die Tür fühlte. Er wollte kein Geräusch machen, daher drehte er den Knauf langsam und drückte die Tür nur einen Spalt weit auf. Die Stimmen wurden lauter.

Still und vorsichtig schlich er über den mit Teppich ausgelegten Flur, an all den ausgefallenen Kunstwerken entlang, die er laut Dad nicht berühren durfte.

»Du wirst ihn nicht mitnehmen, du verrückte Hure!«, schrie Dad.

Daddy hat ein böses Wort gesagt.

Er musste wirklich wütend sein.

Ryder ging auf die Knie und spähte durch das weiße hölzerne Treppengeländer. Ja, da war Daddy, in seinem glänzenden Schlafanzug, also musste die Frau ihn aus dem Bett geholt haben.

Die Frau schrie ihn weiter in dieser komischen Sprache an und fuchtelte mit etwas Grauem herum. Bei jeder Bewegung schwang ihr langes schwarzes Haar vor und zurück. Er hatte noch nie so lange Haare gesehen. Wie bei dieser blöden Prinzessin, die in diesem Turm festsaß, nur dass die Haare dieser Frau schwarz waren statt blond. Schwarz wie sein Zimmer ohne das Nachtlicht.

Und sie war genauso Furcht einflößend.

»Gib mir die Pistole, bevor du jemanden damit verletzt«, sagte sein Daddy. Er sprach mit ihr, wie Ryder mit dem Hund seines Freundes redete, wenn er ihn streicheln wollte.

Aber vielleicht verstand die Frau ihn nicht, oder es lag daran, dass Daddy vergaß bitte zu sagen, denn die Frau fing an, nach Ryder zu rufen. Dann sagte sie noch ein Wort, das er verstand.

Mama.

Ryder musste ein Geräusch gemacht haben, denn beide, die Frau und Daddy, schauten hoch zur Treppe.

War die Frau seine Mama?

Er berührte seinen Kopf. Seine Haare waren auch schwarz.

Aber seine Mutter war tot.

Oder nicht?

Die Frau rannte auf die Treppe zu, und Daddy packte sie am Arm, riss sie herum, stoppte sie. Sie knurrte wie ein wildes Tier, und dann kämpften sie um das graue Ding in ihrer Hand. Einen Augenblick lang wirkten sie, als würden sie tanzen, und er kicherte.

Es gab einen lauten Knall, so laut, dass Ryder die Ohren schmerzten und er zitterte. Warmes Pipi lief seine Beine hinunter und färbte den weißen Teppich gelb.

Die Frau fiel vor der Treppe auf den Boden, Daddy stand über ihr und hielt das graue Ding in einer Hand. Auf beiden war rotes, glänzendes Blut, und es floss aus ihrem Bauch auf die Bodenfliesen.

Ryder wollte wegrennen und sich verstecken, aber er fürchtete sich zu sehr, also rollte er sich ganz klein zusammen, hoffte, er könnte so ganz verschwinden.

Die Frau richtete den Blick auf ihn, starrte ihn an. »Ryder«, sagte sie und hustete. Blut rann aus ihrem Mund, während sie wieder und wieder seinen Namen flüsterte.

Dann hörte sie auf zu flüstern. Hörte auf zu husten. Hörte einfach … auf.

Da wusste er, dass die Frau mit den langen, schwarzen Haaren tot war.

Daddy hatte sie umgebracht.

Daddy sprach ins Telefon. »Es gab hier einen Vorfall. Ich brauche das Team für eine Bereinigung.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, dann blickte er die Treppe hinauf.

Ryders Herz schlug ganz schnell. Würde Daddy jetzt ihn töten?

Tränen stiegen in ihm auf. Er wollte nicht sterben.

Er kroch rückwärts, bis er nicht mehr nach unten sehen konnte. Dann sprang er auf und holte ein Handtuch aus dem Schrank, versuchte, das Pipi aus dem Teppich zu reiben. Vielleicht konnte er ihn so sauber bekommen, dass Daddy nichts merkte. Während er sich bemühte, hörte er, wie Türen schlugen, hörte Schritte und verschiedene Männerstimmen.

Einige Minuten später rannte er in sein Zimmer und zog die nassen Sachen aus. Er stopfte sie, zusammen mit dem Handtuch, ganz hinten in den Schrank, und zog einen trockenen Schlafanzug an. Als er zurück ins Bett schlüpfte und sich die Decke über den Kopf zog, war es unten im Haus ruhiger geworden.

Wieder war es stockdunkel.

Aber dieses Mal machte ihm das nichts aus.

Denn da draußen im Hellen war es viel beängstigender.

Seine Tür knarrte, und jemand ging auf sein Bett zu.

Er hielt den Atem an, wünschte sich, Finn wäre da, um ihn zu retten.

»Ich weiß, dass du wach bist, Kumpel«, sagte Daddy und zog ihm die Decke vom Kopf.

Aus dem Flur fiel Licht ins Zimmer. Ryder blinzelte, fokussierte seinen Blick.

Daddy trug jetzt einen anderen Schlafanzug. Groß und dunkel ragte er über ihm auf, und er rieb sich die Augen, als sei er gerade erst aufgewacht.

Er sah nicht mehr wütend aus.

Nur müde.

»War sie meine Mama?«, flüsterte Ryder.

Daddy runzelte die Augenbrauen. »Wer?«

Ryder setzte sich auf. »Die Frau unten, die du umgebracht hast.«

Daddy packte ihn bei den Schultern. »Da ist nichts passiert.«

»Aber ich habe –«

»Nichts gesehen.« Dad setzte sich auf das Bett und beugte sich nah über ihn, bis sein Atem über Ryders Gesicht strich. Der roch wie der von Nanny Spector. »Du hast nichts gesehen. Du hast einen Albtraum gehabt. Aber jetzt ist Daddy hier. Wird immer hier sein. Weißt du warum?«

»Warum?«

»Weil du mir gehörst.« Daddy legte die Hände an Ryders Wangen. »Du bist mein Sohn, du gehörst mir. Und das heißt, was auch immer geschieht, ich werde dich nie gehen lassen, Ryder. Und jetzt schlaf. Sprich nicht mehr über diesen Albtraum, nie wieder. Denn wenn du das tust … nun ja, sagen wir einfach, ich würde nur ungern erleben, dass jemand verletzt wird.«

Ryder wollte nicht Daddy gehören.

Nicht wenn das bedeutete, in diesem großen, Furcht einflößenden Haus festzusitzen wie ein Hamster im Käfig.

Aber wenn er Daddy verriete, könnte Finn verletzt werden. Und er wollte nicht, dass Finn irgendetwas geschah.

Er würde das Geheimnis bewahren müssen.

Selbst wenn es ihn umbrachte.

1

Gegenwart

Ryder McKay stürzte einen Jameson hinunter, knallte das Whiskyglas auf den Tresen und schnappte sich das nächste, genoss das geschmeidige Brennen in der Kehle. Es passierte nicht jeden Tag, dass der eigene Bruder die Tochter des mächtigsten Mannes im Land heiratete.

Die Presse nannte die Verbindung eine »im Himmel gestiftete Ehe«.

Ein Pakt mit dem Teufel schon eher.

Nur war es in diesem Fall ein Pakt zwischen zwei Teufeln. Zwei Kriminelle, die sich als seriöse Geschäftsmänner ausgaben, und die vermutlich ihren Nachwuchs dazu benutzten, eine Art von Pakt zwischen den beiden Familien zu festigen. Wenn Keane McKay und Ian Sinclair sich zusammentaten, statt gegeneinander zu arbeiten, bargen sie das Potenzial, das größte Verbrechersyndikat in Nordamerika zu formen.

Ryder hatte diesem Leben und Keane schon vor Jahren den Rücken gekehrt. Nach seinem Schulabschluss hatte er das Versprechen eingelöst, das er sich selbst gegeben hatte. Er zog aus und kehrte nie wieder zurück.

Jedes Gespräch, das er mit Keane im letzten Jahrzehnt geführt hatte, hatte sich darauf beschränkt zu insistieren, dass sein Vater ihn nicht noch einmal kontaktierte. Es hatte einige Jahre gedauert, aber dann hatte der den Hinweis endlich kapiert und mit den Anrufen aufgehört.

Damit er weiter Abstand zu Keane halten konnte, hatte Ryder nicht an der Hochzeit seines Bruders Finn teilnehmen wollen.

Letzte Woche dann war er auf ein Foto gestoßen, das ihn seine Meinung ändern ließ.

Ein Foto von Jane.

In Erinnerungen an die Femme Fatale versunken, mit der er vor gut einem Jahr eine heiße Nacht verbracht hatte, leckte er sich den Whisky von den Lippen und fuhr mit einem Finger den Rand des Glases entlang. Bevor er in jener Nacht eingeschlafen war, war ihm klar geworden, dass ihm eine Nacht mit Jane nicht ausreichte.

Er hatte mehr gewollt.

Nicht nur Sex, sondern die Chance sie kennenzulernen.

Was verrückte Gedanken waren für einen Kerl, der sein ganzes Erwachsenenleben bislang damit verbracht hatte, nicht zweimal Sex mit derselben Frau zu haben.

Aber sie hatte einen auf Aschenputtel gemacht und war mitten in der Nacht aus seinem Hotelzimmer geflüchtet. Mehr als ihren Vornamen hatte er nie von ihr erfahren.

Er war besessen davon gewesen, mehr über die Frau herauszufinden, die er nicht vergessen konnte. Monate hatte er mit der Suche nach ihr vergeudet. Er hatte Kontakt mit den Organisatoren der Konferenz aufgenommen, bei der sie sich begegnet waren. Hatte andere Konferenzteilnehmer angerufen. War die Fotos der Konferenz durchgegangen. Himmel, irgendwann war er so verzweifelt gewesen, dass er einen Privatdetektiv engagiert hatte.

Und was hatte der gefunden?

Nichts.

Es schien, als habe sie nie existiert.

Er schloss die Finger um das Glas.

Er war ein Narr gewesen.

Denn jetzt kannte er die Wahrheit.

Bald nach der gemeinsamen Nacht war ihm klar geworden, dass jemand Design- und Software-Daten von seinem Computer kopiert hatte. Er hatte nicht glauben wollen, dass Jane diejenige gewesen war – die im System-Protokoll ausgewiesenen Zeiten passten auch nicht –, doch letzte Woche war Ryder auf einen Online-Artikel gestoßen, der über den Vorstoß seines Vaters in die Automatisierung von Großküchen berichtete, dem Geschäft Ryders eigener Firma, Novateur.

Dann erregte das Foto zum Artikel seine Aufmerksamkeit.

Das Foto zeigte die Vizepräsidentin für Innovationen der Firma, wie sie neben Keane stand.

Jane.

Ein Muskel an seinem Kinn zuckte, als er sich erneut eingestand, was für ein Narr er in jener Nacht gewesen war.

Er hatte ihr genau in die Hände gespielt, alle Vorsicht beiseitegelassen, als er sie mit auf sein Hotelzimmer nahm, nicht ahnend, dass sie ihm in den Rücken fallen würde, sobald er schlief.

Novateur war eines der ersten Unternehmen weltweit, das »Smarte Küchentechnologie« in Restaurants und Bäckereien brachte. Ryder und sein bester Freund Tristan waren bereits Geschäftspartner gewesen – sie berieten Restaurants in Fragen zur Produktivitätsoptimierung –, als sie Ideen entwickelt hatten, wie die Automatisierung in Restaurantküchen Kosten sparen und die Effizienz erhöhen könnte. Kurz entschlossen hatten sie daraufhin Novateur gegründet, und sprachgesteuerte Geräte, Roboterarme und Fließbänder für Restaurants und Bäckereien – selbst kleinere in Familienbesitz – waren jetzt eine erschwingliche Realität.

Eine Zeit lang war Novateur das einzige Unternehmen gewesen, das automatisierte Küchen nach Kundenwünschen designte und die Technologie an den individuellen Bedürfnissen des Kunden orientiert in dessen Unternehmen installierte – bis McKay Industries dahergekommen war.

Die Beweise waren eindeutig. Jane hatte die Designs für seinen Vater gestohlen.

Hatte sie gedacht, Ryder würde das nicht herausfinden? Oder hatte sie gemeint, das System-Protokoll zu manipulieren, würde sie unverdächtig machen?

Letzten Endes war sie die Angeschmierte. Denn alles, was sie kopiert hatte, war wertlos, solange man die Schlüsselcodes nicht besaß. Das allein hätte ihm Befriedigung verschaffen sollen, hätte ihn dazu bringen müssen weiterzuziehen.

Und doch gelang ihm das nicht. Irgendetwas passte da nicht zusammen. Er konnte die Frau, mit der er in jener Nacht zusammen gewesen war, nicht mit der Frau zusammenbringen, als die sie sich jetzt offenbarte. In seinem Bett hatte sie sich so unschuldig gegeben, hatte die Augen weit aufgerissen, als würde sie in Ehrfurcht versinken, als er sich auszog und ihr einen ersten Blick auf seinen Schwanz gab.

Nicht, dass der nicht Ehrfurcht gebietend wäre. Mit falscher Bescheidenheit gab er sich nicht ab.

Aber Janes Reaktionen schienen so … ehrlich. Sie war tatsächlich zusammengezuckt, als er in sie eindrang. Selbst jetzt noch konnte er ihre heisere Stimme in seinem Kopf hören und wie sie seinen Namen flüsterte, als er sie zum Höhepunkt brachte. Er erinnerte sich an das seidige Gefühl ihrer Schenkel an seinen Wangen und wie eng sie sich um ihn herum zusammengezogen hatte, als sie kam.

Er strich sich mit den Fingerknöcheln über die Bartstoppeln.

Seit jener Nacht musste er immer an Jane denken, wenn er mit einer anderen Frau zusammen war.

Und auch wenn er zugab, dass er ein Arsch war, wenn es um das andere Geschlecht ging, er würde nicht Sex mit einer Frau haben, während er an eine andere dachte.

Sie hatte ihm nicht nur seine Technologie gestohlen.

Sie hatte ihm seine verdammte Magie geklaut.

Er sollte sie hassen. Und doch waren da Nächte, in denen er sich umdrehte und nach ihr tastete, aber nur ein kaltes, leeres Bett vorfand.

Laut Finn waren alle wichtigen Angestellten von McKay zur Hochzeit eingeladen.

Deswegen war Ryder hier.

Er hatte eine Mission.

Jane finden.

Sie konfrontieren.

Und sie ein für alle Mal aus dem Kopf bekommen.

Was immer dafür nötig war.

Selbst wenn das bedeutete, einen bescheuerten Anzug anzuziehen, Leute anzulächeln, die er verabscheute, und vor seinem Vater zu buckeln. Eins war sicher, wenn Ryder sich bei McKay Industries gezeigt hätte, Keane hätte ihn vom Sicherheitsdienst rausschmeißen lassen.

Aber von der Hochzeit konnte er ihn nicht fernhalten.

Und Jane würde ihn hier nicht erwarten.

Ryder stürzte den nächsten Whisky hinunter, machte nicht mal Anstalten, ihn zu genießen, und stellte das Glas mit der Öffnung nach unten auf den mit weißem Satin bedeckten Tresen. Zum Glück hatten sein Bruder und seine Verlobte beschlossen, im einzigen Fünf-Sterne-Hotel der Stadt zu heiraten statt traditionell in einer Kirche. Nüchtern würde er die nächsten paar Stunden niemals durchstehen.

»Einen Doppelten und das Glas nicht leer werden lassen«, orderte er beim Barkeeper.

Ein harter Schlag landete auf seinem smokingbedeckten Rücken und ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, wer ihn so hart attackierte. Finn mochte ja zehn Jahre älter sein, aber er hatte ihn nie geschont.

»Lass noch was von dem guten Stoff für die anderen Gäste übrig«, sagte sein Bruder.

Ryder drehte sich um, erleichtert, dass sein Bruder allein war. Bevor er sich mit dem Rest der Familie befasste, brauchte er definitiv noch mehr Whisky. »Dachte, du bereitest dich zusammen mit Keane und den anderen Trauzeugen vor.«

Trotz des gemeinsamen Vaters ähnelten sie sich so gar nicht. Ihre einzige Gemeinsamkeit bestand in den grauen Augen, die alle McKay-Männer besaßen. Ansonsten kam Ryder, mit seinen dunklen Haaren und der gebräunten Haut, nach seiner mexikanischen Mutter, während Finn mit seinen rotblonden Haaren eine jüngere Version ihres irischen Vaters war. Davon abgesehen überragte Ryder Finn um gut 12 Zentimeter, was er seinen älteren Bruder nie vergessen ließ.

Glatt rasiert und mit kurz geschorenem Haar kannte Ryder seinen Bruder kaum wieder. Wo war der Bart? Die für ihn typischen langen Haare? Dieser Kerl war eine Kopie ihres Vaters. Natürlich war es ein paar Jahre her, dass er Finn zuletzt gesehen hatte. Obwohl es ihn schmerzte, hatte Ryder Abstand zu Finn halten müssen, seit sein Bruder eine Stelle bei McKay Industries übernommen hatte.

Finn zwinkerte ihm zu. »Wollte sichergehen, dass mein Trauzeuge sich nicht mit irgendeiner Frau verdünnisiert hat, um sich den traditionellen Vorhochzeits-Blowjob geben zu lassen.«

Wahrscheinlicher war, dass Finn sich gesorgt hatte, Ryder hätte seine Meinung wieder geändert und sei doch nicht zur Hochzeit aufgetaucht. Verständlich, da Ryder ihn mehr als einmal gefragt hatte, warum er Ciara heiratete.

Schlimm genug, dass Finn den Job beim Generalstaatsanwalt aufgegeben hatte, um die Stelle bei McKay Industries anzutreten, aber in eine Familie einheiraten, die womöglich noch korrupter war als die eigene? Finn musste seinen verdammten Verstand verloren haben.

Ryder kratzte sich am Kopf. Er musste ein letztes Mal versuchen, Finn davon zu überzeugen, dass er eine falsche Entscheidung getroffen hatte. »Hör zu, auch wenn du das sicher nicht hören willst, aber –«

»Ich heirate Ciara.« Finn hob eine Hand, stoppte Ryder. »Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen, aber ich versichere dir, ich weiß, was ich tue.«

Gegen den Tresen gelehnt, verschränkte Ryder die Arme vor der Brust und schnaubte. »Na klar, deine erste Ehe hat ja auch so toll funktioniert.«

Sein Bruder verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Ehen sind kompliziert.«

Komplikationen waren etwas, das Ryder nicht brauchen konnte. Deswegen würde er nie heiraten. »Insbesondere, wenn deine Frau versucht, dich umzubringen.«

»Sie hat nicht versucht, mich umzubringen«, murmelte Finn und rieb sich den Nacken. »Greta war eine ausgezeichnete Schützin. Hat mich genau da erwischt, wo sie wollte.«

Nie würde Ryder die Nacht mit dem Anruf vergessen, dass sein Bruder angeschossen worden war. Fast wäre er von der Straße abgekommen in seiner Eile, das Krankenhaus zu erreichen. Und dann hatte er seinen Bruder gemütlich auf dem Bauch liegend vorgefunden, während er sich ein Spiel der Tigers auf dem iPhone anschaute.

Verdammter Idiot.

»Was hält deine neue Frau von der Narbe auf deinem Hintern?«, fragte Ryder.

Finn grinste. »Sie findet sie sexy.«

»Nur die Tochter eines Kriminellen würde eine Kugel im Hintern sexy finden.«

Sein Bruder hieß ihn schweigen und kam näher, blickte sich mit allen Anzeichen von Paranoia um. »Sprich leiser, okay?«

Ryder unterdrückte den Drang zu lachen. Seinen Bruder zu verunsichern, rangierte weit oben auf seiner Liste von Lieblingsbeschäftigungen. »Wovor hast du Angst? Dass jemand herausfindet, dass dein zukünftiger Schwiegervater kriminell ist, oder dass deine Ex dir in den Hintern geschossen hat, als du die Scheidung wolltest?«, fragte er laut genug, dass alle Umstehenden ihn hören konnten, inklusive des Barkeepers, der bei Ryders Worten das Abwaschen unterbrach und schnaubte.

Finn schüttelte nur den Kopf. »Du bist ein Arsch. Weißt du das?« Er packte Ryder an einer Schulter und drückte zu. Fest. »Aber du bist auch der beste Bruder, den ein Mann haben kann. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass Dad das Dienstmädchen gevögelt und dich gezeugt hat. Deswegen versichere ich dir, ich weiß, worauf ich mich bei Ciara und ihrer Familie einlasse.«

»Ich hab gedacht, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir beide aus dem Familiengeschäft aussteigen. Ich mit Novateur und du, indem du ein Spitzenanwalt wirst. Wir brauchen Dads Geld nicht und schon gar nicht seine Verbindungen.«

Sein Bruder spannte das Kinn an und blickte von ihm weg, er wirkte fast schuldbewusst. »Solange Dad die Leitung bei McKay Industries hat, werden wir nie frei von ihm sein. Hast du das noch immer nicht begriffen?«

»Also hast du einfach aufgegeben und dir gedacht, du gibst ihm noch mehr Macht an die Hand und heiratest die Tochter eines Konkurrenten?«

Finn seufzte und kniff sich in den Nasenrücken. »Ich habe es dir gesagt. Ich liebe –«

»Du liebst Ciara.« Er verdrehte die Augen. Kindisch aber angemessen. »Ich hab dich schon bei den ersten zwanzig Malen gehört. Aber ich glaube dir immer noch nicht.«

Ryder war innerlich nicht komplett abgestorben. Er konnte lieben. Er liebte seinen Bruder, Tristan und ein eiskaltes Bier bei einem Spiel, aber wenn es um die ewige, romantische Liebe ging?

Das lag nicht in seiner genetischen Veranlagung.

Sein Vater war bei Ehe Nummer vier – nein, fünf – und die erste Ehe seines Bruders hatte mit einer Schussverletzung geendet.

Die Chancen standen definitiv nicht gut für Ryder … oder seinen Bruder.

Schon vor Langem hatte Ryder beschlossen, weder zu heiraten noch Kinder zu bekommen. Eine Ehefrau und ein Kind würden ihn auf eine Art verletzlich machen, die er sich nicht leisten konnte. Ein Beweis dafür war, wie Keane seine Designs gestohlen und gegen ihn angetreten war. Nein, diese Macht würde Ryder ihm niemals geben.

Finn blickt ihn enttäuscht an. »Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich wünschte, du würdest wenigstens das Vertrauen haben, dass ich weiß, was ich tue.« Er streckte die Brust heraus und rückte seine Fliege zurecht, brach die unangenehme Anspannung mit einem Grinsen. »Immerhin bin ich dein großer Bruder. Du solltest zu mir aufsehen.«

»Würde ich auch, wenn du nicht so ein Zwerg wärst«, gab Ryder zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

Sein Bruder fasste sich zwischen die Beine. »Im Gegensatz zu dir bin ich da groß, wo es wirklich drauf ankommt.«

Ryder wollte diese Aussage gerade bezweifeln, als das Grinsen vom Gesicht seines Bruders verschwand und alle gute Laune aus dem Raum entwich. Er musste sich nicht umdrehen, um die Quelle dafür zu kennen.

»Dad«, grüßte Ryder.

Eine Hand legte sich fest auf seine Schulter und eine raue Stimme, kreiert von zwei Päckchen Zigaretten pro Tag, erklang hinter ihm. »Ryder. Schön dich zu sehen, Sohn.«

Zu dumm, dass er nicht dasselbe sagen konnte.

Er wartete darauf, von Zigarettengestank attackiert zu werden, und war überrascht, als das nicht passierte. Hatte der Alte endlich aufgehört zu rauchen?

Sein Vater kam an seine Seite, und Ryder bekam einen Blick auf den Mann, den er seit Jahren nicht gesehen hatte.

Er war immer robust gewesen und ein wenig rund um die Hüften, aber jetzt hatte sein Vater bestimmt die Hälfte seines Umfangs verloren. Er war immer noch nicht mager, aber Ryder erwischte die Veränderung unvorbereitet. Das weiße Haupthaar war dünn und ließ die rote Kopfhaut durchschimmern, und der Gewichtsverlust hatte die Haut runzeln lassen.

Er wirkte … müde. Alt. Zu alt für 71.

Einen Moment lang spürte Ryder Mitleid in sich aufwallen, bis er sich daran erinnerte, dass sein Vater nie Mitleid für irgendwen gehabt hatte.

Er wartete auf eine Lektion. Eine abfällige Bemerkung. Irgendetwas.

Aber sein Vater nickte ihm nur zu und wandte sich an Finn. »Die Zeremonie verzögert sich. Es heißt, dass es irgendein Missgeschick mit Janes Brautjungfernkleid gab und sie den Schaden beheben lassen musste. Sie ist jetzt auf dem Rückweg vom Brautmodengeschäft.«

Ryder erstarrte mitten in einem Atemzug. Obwohl er sich bemühte, desinteressiert zu klingen, war er alles andere als das. »Jane?«

So etwas wie Stolz strahlte in den Augen seines Vaters auf. »Meine Stiefenkeltochter. Oder baldige Stiefenkeltochter.«

Nein.

Es musste sich um eine andere Jane handeln.

»Ciara hat eine Tochter?«, fragte er seinen Bruder, überrascht, dass das noch keine Erwähnung gefunden hatte.

»Jane ist inzwischen erwachsen. Ciara hat sie mit fünfzehn bekommen«, sagte Finn leise. »Jane ist bei Ciaras Tante und Onkel in Florida aufgewachsen. Auch jetzt noch wissen nur wenige in unseren Kreisen, dass Ciara eine Tochter hat, und ich wüsste es zu schätzen, wenn du das für dich behältst.«

Wer auch immer diese Jane war, er spürte, wie Wut für sie in ihm aufstieg.

Die wollten ein Geheimnis um sie machen, als müsste sie sich für irgendetwas schämen. Warum sie dann überhaupt zur Hochzeit einladen?

Gemurmelte Flüche und hektische Schritte klangen über den Flur und wurden lauter, als jemand näher kam.

Ryders Mund wurde trocken.

Selbst murmelnd hätte er diese seidige Stimme überall erkannt.

Wie ein Wirbelsturm schwirrte sie in den Raum, alles an ihr in Unordnung, von den langen dunklen Locken bis zu der dicken, schwarz geränderten Brille, die schief auf ihrer Nase saß.

Sie war so schön wie in seiner Erinnerung.

Das machte es ihm schwer, sich daran zu erinnern, dass sie zum Feind gehörte.

»Es tut mir so leid.« Sie raffte das Kleid mit beiden Händen an den Seiten, damit der Saum nicht über den Boden schleifte, und blickte auf ihre Füße, als fürchtete sie zu stolpern. »Als ich aus der Wohnung bin, hat sich der Kleidersaum in –«, sie schaute auf und ihre Augen weiteten sich, als sie Ryder erblickte, »– der Tür verfangen.«

Das war nicht der Plan. Er hatte sie überraschen wollen.

Aber er hatte nicht erwartet, selbst geschockt zu sein.

Wenn Ciara Janes Mutter war, dann machte das Jane zu seiner …

Er konnte den Gedanken nicht einmal beenden.

Finn küsste sie familiär auf die Wange. »Jane. Das ist mein Bruder Ryder. Ryder, das ist –«

»Jane«, sagte sie und lächelte gezwungen, während ihr schwanengleicher Hals sich in einem Schlucken bewegte. »Deine baldige Stiefnichte.«

2

Ein Jahr zuvor …

Jane betrat den Ballsaal des Grand Hotels auf Mackinac Island und mischte sich unter die Hunderte von Konferenzteilnehmern. Dabei entging ihr nicht die Ironie, die darin lag, die größte Innovationsmesse auf einer Insel abzuhalten, auf deren Straßen keine Autos erlaubt waren.

Sie strich sich über das Haar, um eventuelle krause Strähnen zu zähmen, bevor ihr wieder einfiel, dass sie erst vor ein paar Tagen ihre Haare hatte glätten lassen.

Wie lange würde es dauern, bis sie sich nicht mehr wie ein Mädchen fühlte, das eine Erwachsene spielte? Dank des Budgets, das McKay Industries für Kleidung gewährte, hatte sie sich für die tagsüber stattfindenden Veranstaltungen einen roten Armani-Anzug leisten können und ein elegantes Outfit für die abendliche Cocktailparty. Die weiße Seidenbluse schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut, konservativ, doch mit einem Hauch von Provokation, und der schwarze Glockenrock betonte ihre frisch gewachsten Beine.

Als sie sich vor ein paar Minuten im Spiegel betrachtet hatte, hatte sie sich kaum wiedererkannt.

Es war faszinierend, was ein Spa-Besuch und Kontaktlinsen bewerkstelligen konnten.

Und das alles verdankte sie Keane McKay.

Sie spielte an den Diamanten, die ihre Ohrläppchen zierten. Allein der Schmuck hatte mehr gekostet, als sie in einem Jahr als Praktikantin bei McKay Industries verdiente.

Aber wenn der Boss einem die Gelegenheit gab, ein millionenschweres Unternehmen zu repräsentieren, dann nahm man an und akzeptierte alle Geschenke, die er einem machen wollte. Sie wusste nicht, warum er sie ausgesucht hatte. Es brachte ihm keine Vorteile, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Und doch hatte Keane im Frühjahr bevor sie ihren Abschluss an der renommierten Lancaster Business School der Edison Universität machte den Dekan der Wirtschaftsfakultät angerufen, um Jane ein bezahltes Praktikum bei McKay Industries anzubieten. Erst nachdem sie angenommen hatte und in die Stadt gezogen war, hatte sie erfahren, dass ihre Mutter mit Keanes Sohn Finn ausging.

Und dass ihre Mutter nicht einmal von dem Jobangebot wusste.

Jane war nicht enttäuscht gewesen. Wirklich nicht. Immerhin hatte Ciara auch zuvor nie mit ihr zu tun haben wollen. Warum sollte sich daran etwas geändert haben?

McKay Industries war bekannt für umstrittene und oft feindliche Übernahmen und Fusionen, aber Keane hatte ihr eine Stelle in der kleinen Entwicklungs- und Innovationsabteilung des Unternehmens gegeben, hatte ihr alles über Start-Ups und neu entstehende Technologien beigebracht. Trotzdem war sie geschockt gewesen, als er nicht nur darauf bestand, dass sie an dieser Konferenz teilnahm, sondern auch für ihren Spa-Besuch bezahlt hatte, bei dem sie das volle Programm bekam, inklusive einer Maniküre, einer neuen Frisur und Make-up.

Zum ersten Mal in ihren zweiundzwanzig Lebensjahren konnte sie so tun, als sei sie jemand anders als die langweilige Jane, die Jungfrau, die man mit dem Wort Mauerblümchen beschreiben konnte. Heute Abend wirkte sie ebenso üppig und majestätisch wie das viktorianische Hotel, in dem sie stand, doch innerlich kannte sie die Wahrheit.

Sie gehörte nicht dazu.

Aber was war daran schon neu?

Sie gehörte nirgendwo dazu.

Sie schuldete es Keane, dieses Wochenende zu netzwerken. Er hätte sie nicht hergeschickt, wenn er nicht an sie glauben würde, und sie wollte ihn nicht enttäuschen, nachdem er so viel für sie getan hatte.

Also würde sie so tun, als gehöre sie dazu, bis sie selbst daran glauben konnte. Sie würde lächeln. Den Leuten in die Augen schauen. Gespräche führen. Das Leben genießen.

Das Gegenteil der langweiligen Jane sein.

Niemand musste erfahren, dass sie nicht wirklich eine Führungskraft bei McKay Industries war. Für heute Abend würde sie vergessen, dass das einzige Feld, in dem sie noch weniger Erfahrung hatte als in der Geschäftswelt, das Schlafzimmer war.

Sie sah sich im Saal nach einem halbwegs freundlichen Gesicht um. Aus irgendeinem Grund hatte sie hier eher junge Nerds erwartet, doch es schien kein einziger unter den Gästen zu sein, und das Durchschnittsalter lag um die vierzig. Alle wirkten geschliffen, weltmännisch und erfahren. Alle waren führende Angestellte in ihren Unternehmen. Nicht die brillanten Gehirne, die hinter den Innovationen steckten. Ein wenig alkoholische Ermutigung würde vielleicht helfen, ihr die Zunge zu lösen.

Kellner liefen mit Tabletts herum und boten Wein an, doch sie war nie eine Weintrinkerin gewesen. Wenn, dann war eine mit Wodka aufgepeppte Limonade ihr Ding, doch sie bezweifelte, dass man hier so etwas vorrätig hielt.

Jane ging auf die Bar zu, stoppte kurz, um ein Stückchen Käse von einem der Tabletts mit Horsd’œuvres zu stibitzen. Sie steckte es in den Mund und erinnerte sich, seit dem Mittag nichts mehr gegessen zu haben, während sie sich für einen Drink anstellte und die begrenzte Auswahl edlen Alkohols begutachtete.

Es dauerte nur eine Minute, dann stand sie vorn. »Einen Wodka und ein Wasser, bitte«, sagte sie, den bevorzugten Drink ihres Onkels auswählend. Sie hatte versehentlich einmal einen Schluck davon genommen, hatte gedacht, es sei ein Glas Wasser. Als sie endlich aufgehört hatte zu husten, hatte sie Wodka für den Rest ihres Lebens abgeschworen. Natürlich war sie damals erst zwölf gewesen.

»Sie wirken mehr wie eine Sex-on-the-Beach-Trinkerin auf mich«, erklang eine männliche Stimme leise hinter ihr.

Sie fuhr herum, erwartete einen grauhaarigen Manager in einem Dreiteiler zu sehen.

Sie hätte sich nicht gründlicher irren können.

Sex.

Das war das Erste – das Einzige –, woran sie denken konnte. Heißer, verschwitzter, schmutziger Sex auf jeder verfügbaren Fläche. Das strahlte er aus, so wie die Sonne Hitze ausstrahlte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, ihr Mund trocknete aus, während sie spürte, wie sie an anderer Stelle feucht wurde.

Seine dunklen Haare hatten diesen verwuschelten Look, als sei er gerade erst aufgestanden und wäre nur kurz mit den Fingern hindurchgefahren. Im Gegensatz zu den anderen anwesenden Männern trug er dunkle Jeans und einen azurblauen Pullover mit V-Ausschnitt, unter dem sich die Muskeln seines Oberkörpers abzeichneten.

Aber es waren seine Augen, die sie so anzogen. Auf den ersten Blick dachte sie, sie wären blau, aber von Nahem bemerkte sie, dass sie nur die Farbe seines Pullovers spiegelten. Tatsächlich waren sie von einem ungewöhnlichen hellen Grau, als blicke man in eine Glasscherbe. Sie blinzelte, als ihr klar wurde, dass sie ihn anstarrte. »Wie bitte?«, sagte sie schließlich, nicht sicher, ob erst Sekunden oder schon Minuten verstrichen waren, seit er sie angesprochen hatte.

»Sex. On. The. Beach«, sagte er, jedes Wort betonend, sodass sie fast schon den kühlen, feuchten Sand unter sich und sein Gewicht auf ihrem Körper spüren konnte. »Der Cocktail.«

Er bestellte einen Scotch auf Eis für sich und griff an ihr vorbei, streifte dabei ihre Brust mit seinem Arm. Ihr stockte der Atem bei der Berührung, Hitze schoss zwischen ihre Schenkel, und ihre Nippel wurden steif unter ihrer Bluse. Sein Blick fiel auf ihre Brust, als er ihr den Wodka reichte und seiner Kehle entfuhr ein Geräusch, eine Mischung aus einem Aufstöhnen und einem Fauchen und sie fragte sich, wie er wohl klingen würde, wenn sie vor ihm auf die Knie ginge und ihn tief in den Mund nähme.

Okay, das war unerwartet.

»Und wie kommen Sie darauf, Mr …?« Sie befahl ihren Nippeln, sich zu benehmen, und leerte ihr Glas mit drei großen Schlucken. Obwohl sie das Brennen in der Kehle willkommen hieß, schmeckte der Alkohol noch immer so grässlich wie vor zehn Jahren.

Er nahm seinen eigenen Drink vom Tresen und die Eiswürfel klirrten im Glas, als er ihr damit zuprostete. »Ryder. Einfach nur Ryder.«

Passt, dass er einen ungewöhnlichen Namen hat. Im Gegensatz zu …

»Jane.«

Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus, dank des Alkohols … und Ryder.

Er nahm einen Schluck von seinem Scotch. »Also, Jane«, sagte er, als glaube er nicht, dass das ihr echter Name war, »Frauen auf diesen Veranstaltungen fallen meist unter eine von drei Kategorien. Da sind die traditionellen Weintrinkerinnen. Schau dich um, die meisten Frauen hier trinken Wein. Sie sind die Angepassten. Folgenden. Haben Angst, ein Risiko einzugehen und mal was anderes zu trinken.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mögen sie auch einfach nur Wein.«

Er legte eine Hand weit unten auf ihren Rücken und führte sie zu einer verlassenen Stelle neben der Bar. Die Berührung fühlte sich intim an, als würde er Anspruch auf sie erheben.

»Dann sind da diejenigen, die den harten Stoff bevorzugen«, fuhr er fort. »Das sind Frauen, die etwas beweisen müssen. Die eisernen Ladys. Sie steigen im Unternehmen auf und krachen durch die Glasdecke, nur um das Glas zu ersetzen, sobald sie an der Spitze sind, damit andere Frauen nicht erreichen können, was sie haben. Im Grunde sind sie Männer mit Vaginas.«

Er nahm ihr das leere Glas aus der Hand und stellte es auf einem Tablett neben der Bar ab. »Trotz deines gewählten Drinks passt du da nicht rein.«

»Stimmt genau.« Sie atmete seinen schwindelerregenden Duft ein, eine Mischung aus Rasierwasser, Seife und etwas … Unbekanntem. Unbekannt, aber nicht unwillkommen. »Ist dir je in den Sinn gekommen, dass es nicht nur abstoßend, sondern auch unglaublich fehleranfällig ist, Frauen nach ihren Drinks zu kategorisieren?«

Er hielt inne, trank aus, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein. Also, wo war ich stehen geblieben?« Er stellte sein Glas neben ihrem ab. »Stimmt, die dritte und letzte Kategorie. Der Mixdrink. Das sind die durchschnittlichen, gewöhnlichen Frauen. Sie haben gerne eine gute Zeit, trinken sich gern leicht einen an, aber sie hassen den Geschmack von Alkohol. Sie arbeiten hart, aber sie würden niemals wem auf die Zehen treten, um an die Spitze zu kommen, und wenn sie doch dorthin gelangen, tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um anderen Frauen ebenfalls an die Spitze zu helfen.«

»Und du glaubst, ich sei eine dieser Frauen?«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, während er näher kam. »Das glaube ich nicht, ich weiß es. Keine Frau, die sich so anzieht wie du, mag Wein oder harten Alkohol.«

Sie trat einen Schritt zurück, stieß mit dem Rücken gegen eine Säule. »Hier sind viele Frauen so angezogen wie ich.« Zwar lag er mit seiner Einschätzung richtig, aber was war falsch an ihrer Aufmachung? Schließlich trug sie keine Jeans und ihren Lieblingspullover mit der Florida-Aufschrift. Dank Keane passte sie zu den Gästen hier. Wenigstens von außen betrachtet.

»Nein.« Er beugte sich vor, legte eine Hand neben ihrem Kopf an die Säule, platzierte seine andere auf ihrer Hüfte. Seine Berührung brannte sich durch die Seide ihres Rocks, während er mit dem Daumen über ihre Hüfte strich.

Sie zitterte, als wüte ein Fieber in ihr. »Nein?«

Er lächelte und kleine Fältchen bildeten sich neben seinen Augen. Dann senkte er den Blick auf ihre Brust. »So sehr ich den Ausblick auf deine Nippel genieße, deine Bluse ist falsch geknöpft.«

Entsetzt verschränkte sie die Arme über der Brust. »Wie bitte?« Sie blickte an sich hinab, vergewisserte sich, dass er sie nicht nur aufzog. Irgendwie hatte sie einen Knopf übersehen, sodass die Bluse an einer Stelle weit offen stand, und da sie kaum Körbchengröße B ausfüllte, hatte sie auf einen BH verzichtet. Wem hatte sie sonst noch unabsichtlich ihre Brüste gezeigt?

Sie schloss die Augen und seufzte. So viel dazu, einen guten Eindruck zu machen. Vermutlich lachten schon alle hinter ihrem Rücken. »Fick mich.«

Ryder nahm sie bei der Hand und zog sie von der Säule weg. »Eigentlich mag ich vorher etwas Geplänkel, aber ich bin dabei.«

Sie riss die Augen auf, während sie nach vorn stolperte und gegen eine Wand aus Muskeln prallte. Er schloss die Arme um ihre Taille, half ihr das Gleichgewicht wiederzufinden. Sie klammerte sich an seinen Pullover. Himmel, er roch gut. »Wie bitte?«

Er wirkte verwundert, zog eine Augenbraue hoch, während die zweite unbewegt blieb. »Du hast mich gebeten, dich zu vögeln.«

»Hab ich nicht«, protestierte sie wesentlich schwächer, als sie beabsichtigt hatte.

Verdammter Kerl. Er verwirrte sie mit seiner Schlagfertigkeit.

Sie presste die Beine zusammen, stellte sich eine bessere Beschäftigung für seine Zunge vor. Mist, daran sollte ich nicht einmal denken. Was stimmt nicht mit mir? »Das war nur … Ich meine, ich –«

Er legte einen Finger an ihre Lippen, stoppte ihr Stottern. »Sag mir die Wahrheit. Willst du, dass ich dich vögele oder nicht?«

War das eine Fangfrage? Sie glaubte nicht, dass es auch nur eine einzige Frau in diesem Saal gab, die Ryder nicht in ihrem Bett haben wollte. Er nahm den Finger von ihren Lippen, gab ihr eine Chance zu antworten. »Ich … ich kenne dich nicht mal.«

»Wie kann man jemanden besser kennenlernen als beim Vögeln?«

Bei der Art wie er vögeln sagte, wurde ihr ganz heiß. »Ähm … ein Gespräch?«

Er lachte leise, der Klang war wie ein Streicheln zwischen ihren Beinen. »Du willst dich unterhalten? Wie wäre es damit?« Er schloss sie fester in seine Arme und zog sie näher an sich, ließ sie den vollen Effekt seiner Erregung an ihrer Hüfte spüren. »Wenn ich meinen Mund nicht in den nächsten fünf Minuten zwischen deinen Beinen habe, dann steige ich auf den Tresen und erzähle allen, dass du dich, ohne zu zahlen, auf der Konferenz eingeschlichen hast.«

Die erwähnte Stelle zuckte, war vollkommen einverstanden mit Ryders Erpressung. Die Verräterin.

Ihre Vernunft und ihr Körper kämpften miteinander. Es wäre beschämend genug, wenn irgendwer herausbekäme, dass sie nur eine Praktikantin war, aber wenn Ryder wirklich täte, was er androhte, wäre sie zu Tode blamiert.

»Das würdest du nicht.« Sie wartete darauf, dass er zugab, nur gescherzt zu haben, doch sein Grinsen sagte etwas anderes. »Du würdest.«

Er strich mit einem Finger ihren Arm hinab, hinterließ eine Spur aus Gänsehaut. »Es sei denn, du willst wirklich nicht, dass ich dir das Hirn rausvögele. Allerdings wäre das gelogen, oder?«

Sie lachte. »Du bist verrückt. Hat dir das schon mal wer gesagt?«

»Öfters.« Er hielt ihr eine Hand hin. »Jane?«

Was würde die gewöhnliche Jane tun?

Die Antwort war offensichtlich. Sie würde höflich ablehnen und weggehen.

Aber die gewöhnliche Jane war heute Abend nicht anwesend.

Er musste sie nicht erst dazu erpressen, mit ihm zu schlafen, denn ihr Körper hatte diesen Kampf bereits gewonnen.

Sie wollte ihn.

Er musste sie nicht noch einmal fragen. Sie legte eine Hand in seine, bebte bei dem Gefühl von seiner warmen Haut an ihrer. »Ich bin dabei.«

Heute Nacht würde sie mutig sein. Draufgängerisch. So tun, als sei sie eine Frau, die One-Night-Stands hatte. Morgen konnte sie wieder die gewöhnliche Jane sein. Aber für die nächsten Stunden …

Da gehörte sie ihm.