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ISBN 978-3-8280-3517-1
1. Auflage 2020
Umschlaggestaltung: Michael Beautemps
Sämtliche Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Die objektive und daher sachlich angemessene Bezeichnung für diese historische Tatsache lautet „Angriff“. Dennoch wird sie, je nach der subjektiven Grundauffassung des jeweiligen Autors, entweder durch „Präventivschlag“ oder durch „Überfall“ ersetzt.
Beide Ausdrücke sagen zwar inhaltlich dasselbe aus, nämlich Eröffnung eines Krieges, ohne daß dieser vorher erklärt worden ist, unterscheiden sich jedoch in ihrer Bewertung. „Präventivschlag“ wird mit der Behauptung gerechtfertigt, durch ihn sei Hitler dem Angriff Stalins zuvorgekommen, und wird daher positiv gesehen. „Überfall“ drückt mit der gegenteiligen Behauptung, Stalin habe keinen Krieg gegen das Dritte Reich führen wollen, sondern sei grundlos angegriffen worden, Negatives aus.
Ebenso wie ein Präventivschlag ist auch ein Überfall ein unerklärter Angriffskrieg. Deswegen ist es sachlich unhaltbar zu sagen: Es war kein Präventivschlag, sondern ein Überfall. Würden nämlich diese beiden Ausdrücke durch das ersetzt, was sie gemeinsam beinhalten, müßte es heißen: Es war kein unerklärter Angriffskrieg, sondern ein unerklärter Angriffskrieg.
Dies ist so offenkundig widersinnig, daß es nur dann behauptet werden kann, wenn es nicht darum geht, eine historische Wahrheit festzustellen, sondern darum, unbeirrt durch diese, die eigene Meinung als allein richtig gelten zu lassen. – Auch dieser Punkt hat bei den Ereignissen, die im folgenden geschildert werden, eine Rolle gespielt.
Alles hat sich vor mehreren Jahrzehnten zugetragen. Da die Mehrzahl der damals Verantwortlichen inzwischen verstorben ist, geht es nicht um eine posthume Abrechnung1, sondern um die Darstellung von Vorgängen, durch die deutlich wird, wie wieder einmal um – und gegen! – die Freiheit der Wissenschaft gestritten worden ist. Es handelt sich also um einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte.
Nach meinem Eintritt in das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA)2 wurde ich einem Team zugeteilt, das in einem auf zehn Bände angelegten Großprojekt unter dem Gesamttitel „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ dessen militärische Abläufe erarbeiten sollte.
Über eine Konzeption für das Gesamtprojekt war schon seit Jahrzehnten diskutiert worden. Bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre war ein vom MGFA vorgelegter Bericht höhererseits gebilligt worden. Zu den Grundzügen des in ihm entwickelten Konzeptes gehörte es, den Anteil Deutschlands am Zweiten Weltkrieg in das weltweite Geschehen einzuordnen sowie alle Elemente miteinzubeziehen, die für die deutsche militärische Kriegführung wesentlich gewesen waren.
Da es sich um eine deutsche Militärgeschichte im Zweiten Weltkrieg handeln sollte, lagen die konzeptionellen Schwerpunkte auf der Darstellung der – auf die Gesamtkriegführung bezogenen – Operationen und sogenannten „historischen Gegenstände“. Mit ihnen waren Sachverhalte gemeint, die bei „Operationen“ nicht erfaßt wurden, jedoch für das historische Verständnis wesentlich waren. Außerdem sollte die deutsche Gesamtkriegführung als Problem der obersten – nicht nur militärischen – Führung abgehandelt werden. Dabei ging es um die Motive, Zielsetzungen und Bedingtheiten, unter denen sie den Krieg geführt hatte.
Diese „historischen Gegenstände“ sollten deswegen gebracht werden, weil eine bloße Operationsgeschichte das Kriegsgeschehen nur unzulänglich widergegeben hätte. Militärische Führung im strategischen, operativen und taktischen Sinne wurde als nur eine Seite des militärischen Wesens gesehen; denn dieses wurde auch in Auswirkungen des Krieges auf z. B. rechtlichem, wirtschaftlichem und ideologischem Gebiet deutlich, von denen keines in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer bestimmten Operation stand. Daher waren sie ebenfalls zu erarbeiten.
Doch dann erfolgte der entscheidende qualitative Umschlag.
Die sich daraufhin ergebenden Streitigkeiten ergaben sich vor allem aus dem entscheidend wichtigen methodologischen Problem, daß die grundlegende gedankliche Klärung über Möglichkeiten und Grenzen von Teamarbeit3 vollständig unterblieben war. Auch wenn sich diese ausschlaggebende Unterlassung ohne weiteres aus dem Theoriedefizit des Projektleiters und ebenso des Leitenden Historikers erklärte, so führte sie doch zu vielen schwerwiegenden Differenzen.
Das andere, mindestens ebenso wesentliche Problem bestand darin, daß das, was den Wesensgehalt von Militärgeschichte ausmacht, nicht hinreichend geklärt worden war und daher schwerwiegende Weiterungen bewirkte. Hinzu kam die Nichtbeachtung geltenden Verfassungsrechtes, die sich wegen vorhandener organisatorischer Mängel besonders nachteilig auswirkte. Durch diese ergaben sich wegen unklarer oder gar ganz fehlender Konzepte, die vor Beginn der Forschungsprojekte zu erarbeiten und schriftlich festzulegen gewesen wären, gravierende Auffassungsunterschiede, die sich immer wieder in heftigen Auseinandersetzungen entluden.
Was die unbotmäßig Andersdenkenden erwartete, ließ die Grundauffassung des Leitenden Historikers erkennen, die er bereits in der von ihm verfaßten Einleitung zum ersten Band der Weltkriegsreihe mit Verbindlichkeit für alle Bände vorgegeben hatte.
Vor allem der Krieg gegen die Sowjetunion sollte besonders intensiv dargestellt werden, weil es hier „um die Verwirklichung der eigentlichen programmatischen Ziele Hitlers“4 gegangen sei.
Besondere Bedeutung erhielt dieser Satz durch die doktrinäre Behauptung, daß bei Teamarbeit das Problem auftauche, „den Freiraum des einzelnen Autors“ mit einem – angeblichen! – „Erfordernis, einen möglichst geschlossenen Band und am Ende ein möglichst in sich stimmiges Gesamtwerk vorzulegen“5, in Einklang zu bringen.
Wohin die Maßnahmen, dies zu erreichen, geführt haben, wird dargelegt. Sie wurzeln in einer Meinung wie der, die Freiheit des Forschers wegen einer vermeintlichen Notwendigkeit, einen inhaltlich möglichst einheitlichen Band entstehen zu lassen, – rechtswidrig! – für einschränkbar zu halten. Jene ist – in so außerordentlichem Maße!6 – verfassungsrechtlich geschützt, daß dies sachlich nicht begründbar ist.
Nach seiner Ernennung zum Leitenden Historiker brachte Manfred Messerschmidt die Grundgedanken, die ungefähr ein Jahrzehnt lang die Konzeption für das gesamte Weltkriegswerk gebildet hatten, zu Fall. Nun bestimmte er die Richtung, in der geschrieben werden mußte bzw. sollte.
Zwar unterschied sich seine Auffassung unbeschadet anderer Formulierungen inhaltlich zunächst in manchem nicht von der bisherigen Konzeption, doch wollte er keine Militärgeschichte mehr geschrieben sehen. Probleme wie die Aufrüstung nach 1933, Krieg und Zusammenbruch bis hin zur Wiederbewaffnung nach 1945 (!) waren für ihn wichtiger als die Schilderungen einzelner Operationen.
Diese Grundlinie, die er mit allen Mitteln durchzusetzen versuchte, formulierte Messerschmidt so, daß „von Anfang an“ an eine Militärgeschichte gedacht gewesen sei, „die sich nicht als hergebrachte, allein auf militärische Abläufe gerichtete Kriegsgeschichte versteht, sondern als eine Geschichte der Gesellschaft im Krieg.“7
Gerade in den 1970er Jahren, in denen im MGFA die ersten Bände der Weltkriegsreihe erarbeitet wurden, wurden in Historikerkreisen die Inhalte von „Gesellschaftsgeschichte“ intensiv erörtert. Daher wird zunächst auf diese grundsätzliche Diskussion eingegangen; dann wird an einem konkreten Einzelfall gezeigt, wohin die Forderung nach Befolgung des gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes konkret geführt hat.8
Dessen prinzipielle Schwächen hat K. Hildebrand in seiner Auseinandersetzung mit H.-U. Wehler aufgezeigt.9 „Gesellschaftsgeschichte“, die „mehr als Sozialgeschichte oder politische Geschichtsschreibung sein“ wolle, trete als „eine neue Integrationswissenschaft“ auf, die danach trachte, alle Einzeldisziplinen der Geschichtswissenschaft „durch den Oktroi ihrer eignen Paradigmen zu bevormunden.“10 Dieser drücke sich darin aus, daß sie – unter Zuhilfenahme bestimmter Theorien – Geschichte als historische Sozialwissenschaft verstehe, wodurch sie deren bisherigen Wesensgehalt verändere.
Als solche betrieben, fordere sie den Primat über alle geschichtswissenschaftlichen Disziplinen. Diese sollten künftig – wobei sie „gesellschaftsgeschichtliche“ Fragestellungen voll zu übernehmen hätten – „allein noch als Bestandteile der alles umfassenden und erklärenden ‚Gesellschaftsgeschichte‘“ existieren. Deren „Herrschaftsanspruch“ artikuliere sich darin, „für alle [!] Zweige der Geschichtswissenschaft die einschlägigen Fragen verbindlich“11 festlegen zu wollen. – Daraus ergab sich ohne weiteres, daß in dieser bisher üblich gewesene Ansätze als unergiebig galten.
Unter Hinweis auf den Auftrag12 für die historische Sozialwissenschaft wird Wehler mit seiner Auffassung zitiert, daß für sie die Marx’sche Theorie „‚als Forschungs- und Erklärungsstrategie [...] bisher schwerlich übertroffen worden‘ sei“13.
Dem hält Hildebrand entgegen, daß sich Geschichtswissenschaft nicht damit begnügen könne, Geschichte vor allem als historische Sozialwissenschaft zu verstehen „und ihren Theoriebegriff bzw. ihre Theorien allein auf die ‚wahre Theorie‘ von Karl Marx zu reduzieren.“14 In jedem Teilbereich der Geschichte, auf den eine „gesellschaftsgeschichtliche“ Theorie angewendet werde, werde im Ergebnis die jeweilige historische Realität unzulässig verformt. Die Geschichtswissenschaft werde gefährdet;15 mehr noch, ein solches Verfahren bedeute letztlich, sie aufzugeben.
Das Problem liegt jedoch nicht einfach darin, daß es sich bei dieser Theorie um eine marxistische, sondern vor allem, daß es sich überhaupt um eine solche – also gleich welchen Inhalts – handelt. Mit keiner Theorie kann sich Vergangenem so angenähert werden, daß es hinreichend erfaßbar ist. Dies ergibt sich daraus, daß die der Geschichtswissenschaft angemessene Arbeitsmethode induktiv ist.
Bei einem wissenschaftlichen Fragen, das durch eine Theorie von vornherein einseitig in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, ist es unmöglich, das mögliche Maß an Objektivität zu erreichen. Um dieses zu erlangen, muß – als unabdingbare Voraussetzung – die Pluralität der geschichtswissenschaftlichen Ansätze gegeben sein.
Daher wird der „Absolutheitsanspruch der ‚Gesellschaftsgeschichte‘, der durch die verordnete Einseitigkeit wissenschaftlichen Fragens garantiert werden soll“16, verworfen. Für jede wissenschaftlich akzeptierbare Geschichtsschreibung gilt nun einmal, daß „allein differenzierend gewählte, in engem Austausch mit dem historischen Material der Quellen gewonnene theoretische Ansätze ihren je spezifischen Forderungen gerecht werden und somit die ‚richtigen‘ Erkenntnisse vermitteln können.“17
Dies trifft nicht nur für „Gesellschaftsgeschichte“ insgesamt, sondern auch für eine Kriegsgesellschaftsgeschichte zu. Obwohl es sich daher um eine grundlegend wichtige Angelegenheit für die Arbeit der wissenschaftlichen Mitarbeiter auch dieser Forschungsinstitution handelte, unterblieb im MGFA wegen des bei fast allen von ihnen vorhandenen, durch ihr Theoriedefizit bedingten Desinteresses jegliche Diskussion.
Hätte sie stattgefunden, hätte sich die sachliche Unhaltbarkeit des allein zu gelten habenden gesellschaftsgeschichtlichen Ansatzes zweifelsfrei erwiesen. Dann hätte die bisherige, offiziell genehmigte und nicht aufgehobene Konzeption weiterhin gelten können, zumal da durch sie dem Schreiben einer Kriegsgeschichte alter Art bereits eine Absage erteilt worden war.
Doch darum ging es nicht mehr. Da keine deutsche Militärgeschichte mehr geschrieben werden sollte, erledigte der Leitende Historiker die bisherige tragfähige Konzeption durch die Festlegung darauf, daß eine „Geschichte der Gesellschaft im Krieg“ zu verfassen war.
Jeder Versuch, ein derartiges Vorhaben zu verwirklichen, ist von vornherein auch deswegen zum Scheitern verurteilt, weil die Gesellschaft, d. h. diese in ihrer Gesamtheit, soziologisch nicht faßbar ist. Es können einzelne soziale Schichten oder Gruppen erforscht oder in Relation zueinander gesetzt werden, doch die gesellschaftliche Wirklichkeit insgesamt kann in keiner noch so weit angelegten Untersuchung vollständig erfaßt und dargestellt werden.
Obwohl diese Ansicht undurchführbar ist, haben die Wissenschaftsfunktionäre im MGFA gerade sie verwirklichen wollen. Denn trotz ihrer Unsinnigkeit besitzt sie für ihre Protagonisten einen unschätzbaren Vorteil: In einer (Kriegs-)Gesellschaftsgeschichte können alle beliebigen Themen untergebracht werden, also auch solche, die militärgeschichtliche Problematiken inhaltlich gar nicht berühren.18 Darüber hinaus kann die Behandlung letzterer vernachlässigt werden oder ganz unterbleiben.
Mag seit den 1970er und 1980er Jahren in immer mehr Arbeiten „Krieg“ noch so sehr „als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen verstanden werden, in dem neben militärischen gleichermaßen politische und bürokratische, ökonomische und soziale Entwicklungsstränge“19 gebündelt werden – diese alle können nicht zugleich abgehandelt werden. Es ist lediglich möglich, den Gegenstand der Untersuchung, der einem dieser Bereiche entstammt, als Hauptthema zu erarbeiten und ihn in weitere Zusammenhänge einzuordnen.20
Im übrigen dürfte es sich bei diesen Themen, „die einen evidenten Zusammenhang zwischen Kriegführung und regimetypischem Herrschaftshandeln erkennen lassen“21, weniger um eine gesellschafts- als vielmehr um eine inhaltlich erweiterte militärgeschichtliche Sichtweise handeln, die – wie dargelegt – „historische Gegenstände“ betrachtet. Eine alle gesellschaftlich wichtigen Bereiche zugleich erfassende Darstellung ist nun einmal nicht möglich.
Weitere Autoren, die ebenfalls weder die grundsätzliche Bedeutung der Problematik als solche erfaßt noch die Tragweite des Vorhabens Messerschmidts erkannt hatten, hoben einen anderen „Perspektivenwechsel“ um so mehr hervor. Dieser hatte sich bereits ungefähr anderthalb Jahrzehnte vor den hier abgehandelten Vorgängen dadurch vorzubereiten begonnen, daß die Ansicht über eine durch und durch makellose Wehrmacht immer mehr bezweifelt wurde. An der Schaffung der daraus folgenden, grundlegend veränderten Sichtweise war, wie betont wurde, u. a. Messerschmidt wesentlich beteiligt.22 Außerdem seien von diesem „wesentliche Impulse für ein neues Verständnis der militärgeschichtlichen Arbeit überhaupt“ ausgegangen; dabei wurde – wortwörtlich übernommen – auf dessen zentrales Anliegen hingewiesen, wie Militärgeschichte verstanden werden müsse.
Die Verschiebung von der Militär- zur Gesellschaftsgeschichtsschreibung konnte letztlich deswegen erreicht werden, weil im MGFA zu keinem Zeitpunkt eine gedanklich umfassende theoretische Klärung dessen erfolgt war, was „Militärgeschichte“ beinhaltete und was nicht. Es gab weder einen Positivkatalog derjenigen Themen, die zweifelsfrei in ihren Bereich gehörten, noch war sie – obwohl sie ein Zweig der allgemeinen Geschichtswissenschaft sein sollte – hinreichend gegen die Inhalte der anderen historischen Teildisziplinen abgegrenzt worden.
Wäre eine solide theoretische Grundlage für militärhistorisches Arbeiten beizeiten entwickelt und zur Geltung gebracht worden, hätte der Versuch, Militär- durch Gesellschaftsgeschichtsschreibung zu ersetzen, nachgewiesen und unterbunden werden können. So jedoch standen sich nur zwei konzeptionelle Ansichten gegenüber. Die sachlich angemessene unterlag der anderen vor allem deswegen, weil diese wegen der damaligen amtsinternen Machtverhältnisse durchgesetzt werden konnte.
Wie nachteilig sich die Doktrin, deren Durchsetzung Messerschmidt ständig zu erzwingen versuchte, auf die wissenschaftliche Arbeit im MGFA auswirkte, erfuhr man bald.
Obwohl höchstrichterliche Urteile zugunsten der Meinungsfreiheit gefällt worden sind,23 wurden diese durch das Treiben des Leitenden Historikers und weiterer Wissenschaftsfunktionäre wiederholt auf das gröblichste verletzt.
Die grundsätzliche Gefährdung der Freiheit der Wissenschaft zeigt sich beispielhaft an Vorgängen, die sich bei der Erarbeitung eines Sammelbandes über den deutsch-sowjetischen Krieg24 („Unternehmen Barbarossa“) im MGFA zugetragen haben. Ich hatte die Rüstungsmaßnahmen zu erarbeiten. –
Doch zunächst einige Ausführungen zu Sachverhalten, die ich vorweg berichte, obwohl ich sie oft sehr viel später und auch nur zufällig erfahren habe. Ich tue dies, weil erst ihre Kenntnis viele der zu schildernden Vorgänge ganz verständlich macht.
Zwischen den älteren und jüngeren wissenschaftlichen Mitarbeitern auch an diesem Band bestand ein zeitlicher Abstand von gut einem dreiviertel Jahrzehnt. Von jenen hatten alle die Zeit des Dritten Reiches miterlebt. Deren jüngster gehörte dem Jahrgang 1930 an; die älteren waren im Weltkrieg Soldaten gewesen.
Die Angehörigen der beiden Altersgruppen wahrten eine gewisse Distanz zueinander, die ich mir sehr lange nicht zu erklären vermochte. Mir fiel nur auf, daß jene auch in privaten Gesprächen mit uns Jüngeren niemals über ihre Zeit vor 1945 sprachen.
Das Team IV bestand aus zunächst nur drei Mitarbeitern. Dessen Leiter hatte bereits 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion teilgenommen, jedoch nicht als Soldat der Wehrmacht, sondern als Angehöriger der Waffen-SS, genauer gesagt der „Leibstandarte Adolf Hitler“ (LAH). Das lag insofern nahe, als seine Mutter als NS-Reichsfrauenleiterin dem engsten Führungsreis um Hitler angehört hatte. Er besaß dem Vernehmen nach den Dienstgrad eines Scharführers.25
Wie war es möglich, daß ausgerechnet dieser Beamte das Team mit einem derartig hochbrisanten Thema zu leiten hatte?
Vermutlich deswegen, weil dies der obersten Dienstbehörde nicht bekannt gewesen ist, und zwar aus folgendem Grunde nicht: Beim Aufbau der Bundewehr wurden alle Soldaten der Wehrmacht durch einen Personalgutachterausschuß (PGA) auf ihre Eignung für den Dienst in den neuen Streitkräften überprüft. Jemand, der weiterhin nationalsozialistischem Gedankengut verhaftet war und die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht vorbehaltlos bejahte, wurde nicht übernommen.
Eine Institution, die dem PGA vergleichbar gewesen wäre, gab es für die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr, d. h. für die Angehörigen der Bundeswehrverwaltung (BWV), nicht. Sie gehörten, rechtlich gesehen, nicht zu den Streitkräften, sondern zur zivilen Staatsverwaltung. Jeder Bewerber konnte ungeprüft eingestellt werden.
Bei der Einsetzung gerade dieses Beamten als Teamleiter könnte es mitentscheidend gewesen sein, daß er mit seiner Promotion über die Panzerschlacht bei Kursk 1943 nicht nur fachlich ausgewiesen war, sondern daß mit Blick auf den wissenschaftlichen Betreuer seiner Arbeit niemand etwas vermutete – war sein Doktorvater doch Professor Rothfes.
Als er, eigener Darstellung zufolge, diesem jüdischen Wissenschaftler seine militärische Zugehörigkeit mitgeteilt habe, habe ihm dieser geantwortet: Wenn er immer anständig geblieben sei und sich nie an einem Vergehen oder Verbrechen beteiligt habe, nehme er ihn als Doktoranden an.
Ich kann jedoch nicht ausschließen, daß dem Leitenden Historiker und dem Projektleiter die militärische Vergangenheit des Teamleiters bekannt gewesen ist.
Das Schweigen des letzteren erkläre ich mir aus folgendem Grund: Eines Tages erzählte mir jemand, daß sein Vater als Oberst- oder Generalarzt der Wehrmacht aktiv an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt gewesen war, und zwar auf dem Gebiet der Euthanasie. Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, daß im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg/Br. etliche umfangreiche Faszikel vorhanden waren, aus denen dessen Schuld zweifelsfrei beweisbar war. – Ob ich nicht einen Aufsatz verfassen wolle?
Durch die Publikation einer solchen Abhandlung hätte ich den Projektleiter auf die für ihn schlimmste Weise treffen können. Ich unterließ es, weil er nicht für die Handlungen seines Vaters verantwortlich war.
Selbst über den Leitenden Historiker26 wurde mit Blick darauf, daß er der Vorsitzende einer Organisation war, die sich für die Errichtung eines Denkmals für den „Unbekannten Deserteur“ einsetzte, einiges gemunkelt …
Das anzunehmende gegenseitige Wissen um diese Dinge dürfte das gemeinsame Schweigen über sie leicht erklären.
Unbeschadet der Altersunterschiede standen sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter in zwei weltanschaulich unversöhnlichen Lagern gegenüber. Alle diejenigen, die die „Progressiven“ nicht zu den ihren zählten, nannten sie „Goldfasane“, während sie selbst als die Angehörigen der „Roten Zelle Militärgeschichte“ (RoZMilG) bezeichnet wurden – ein Ausdruck, der bald auch von außen auf das MGFA insgesamt angewendet wurde, sehr zum Schaden für seine fachliche Reputation.
Wie es in ihm um seine Atmosphäre insgesamt bestellt war, zeigte sich beispielsweise an der Beteiligung am Betriebsausflug. An ihm nahmen, als ich in das Amt eintrat, zwischen 96 % und 98 % der Amtsangehörigen teil. Wenn es weniger – aber immer noch über 90 % – waren, wurde bereits besorgt gefragt, ob etwas nicht mehr in Ordnung sei. – Zwanzig Jahre später lag die Beteiligung bei 15 %.
Die Auseinandersetzungen, die in zwei Gerichtsprozessen gipfelten, ohne damit bereits ihr Ende gefunden zu haben, begannen scheinbar harmlos. Es ging vordergründig darum, wie in den offiziellen Publikationen des Amtes slawische Wörter, die nach dem kyrillischen Alphabet geschrieben werden, in lateinischer Schrift wiederzugeben waren.
Ungefähr ein dreiviertel Jahr vor Beginn der diesbezüglichen Auseinandersetzung hatte die Schriftleitung des MGFA auf eine entsprechende Anfrage eine Antwort vom Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen erhalten. Dieser bezeichnete es als unzutreffend, daß sich in seinem Hause „Richtlinien über die Schreibung von Ortsnamen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten befinden.“ – Als „deutsches Reichsgebiet“ sei nach der früher geltenden Regelung das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 bezeichnet worden. Die innerhalb dieser liegenden Orte seien mit ihren deutschen Namen wiedergegeben worden.
Die Richtlinien, die 196527 für die Bezeichnung Deutschlands und der in ihm gelegenen Orte erlassen worden waren, wurden 1971 durch Beschluß des Bundeskabinetts28 ersatzlos aufgehoben. Die Bezeichnung der betreffenden Orte, die nunmehr „freigestellt“ war, würde – wie z. B. auf Karten – „normalerweise“ sowohl fremd- als auch deutschsprachig erfolgen.
Obwohl diese Regelungen für aktuelles und künftiges politisches Handeln gedacht waren, sollten sie für die amtliche Militärgeschichtsschreibung verbindlich gemacht werden. Dies geschah nicht etwa auf Weisung vorgesetzter Dienststellen (diese wußten gar nichts davon), sondern es wurde amtsintern durch den Projektleiter Deist, noch dazu auf intrigante Weise, durchzusetzen versucht.
Um sein Vorhaben zu verwirklichen, ohne dabei als dessen Initiator erkannt zu werden, ließ Deist seine Urheberschaft niemanden wissen. Stillschweigend bediente er sich eines Mitarbeiters, der damals nicht einmal zu seiner Projektgruppe gehörte. Er veranlaßte ihn, „Überlegungen zur Übertragung slawischer Wörter aus der kyrillischen in lateinische Schrift (in den Publikationen des MGFA)“ zu erarbeiten.
Der von ihm Beauftragte konnte nicht ahnen, worauf er sich eingelassen hatte. Die sachlich berechtigte Frage, wie Wörter aus slawischen Sprachen transliteriert werden sollten, wurde nämlich sogleich mit einer anderen verquickt, die mit dieser gar nichts zu tun hatte. Es sollte nämlich festgelegt werden, wie Orte, die in von der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eroberten oder besetzten Ländern lagen, zu benennen waren.
Zu diesem Zweck sollten die Bände der Weltkriegsreihe, die die Ereignisse in Osteuropa „(im heutigen ‚Ostblock‘)“ behandelten, ein Ortsnamensverzeichnis erhalten. Die im Text erwähnten Orte waren mit den gebräuchlichsten ihrer Varianten zu nennen. Diejenigen von ihnen, die während des Zweiten Weltkrieges mehrere Namen getragen hatten, sollten im allgemeinen „mit dem jeweils aktuellen Namen aufgeführt“ werden.
Die Begründung hierfür mutete nicht nur weltfremd, sondern geradezu einfältig an: Ausgerechnet „der Leser im Ostblock“ solle „mit westlicher historischer Literatur ohne unnötige Schwierigkeiten umgehen können.“ – Als ob diese Literatur im damaligen sowjetrussischen Machtbereich frei zugänglich (oder überhaupt erhältlich) gewesen wäre!
Wird außerdem berücksichtigt, daß selbst in offiziellen sowjetrussischen Darstellungen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges ostdeutsche Ortsnamen deutsch29 wiedergegeben werden, wirkte die Forderung nach deren „aktueller“ Schreibweise noch unangemessener als bis dahin schon.
Die angestrebte Regelung, dienstlich – und damit für die Mitarbeiter des MGFA verbindlich! – festzulegen, daß die Namen insbesondere ostdeutscher Orte „– zumindest im Register – zweisprachig“ aufgeführt wurden, veranlaßte mich als einen der Mitarbeiter an dem Band, in dem Vorgeschichte und Anfangsphase des Ostkrieges abgehandelt werden sollten, zu einer Stellungnahme.
Einleitend wies ich darauf hin, daß die „Überlegungen“ nicht nur eine Sachfrage, sondern auch ein politisches Problem beinhalteten. Ich ging davon aus, daß es nach der damaligen Rechtslage keine „ehemaligen“ deutschen Ostgebiete gab, sondern nach wie vor die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Denn in der Gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972 hatte es bezüglich der von ihm an diesem Tage verabschiedeten Verträge mit der Sowjetunion und Polen geheißen: Sie „nehmen eine friedensstaatliche Regelung für Deutschland nicht vorweg und schaffen keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen.“ Diese rechtsverbindlichen Festlegungen beruhten auf dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, zu dem es in dessen Präambel hieß: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“