Für meine Großeltern, Rimma Wasiljewna Woropajewa und Anatolij Andrejewitsch Woropajew, die dank den Proben ihres Jazz-Orchesters an einem Frühlingstag 1945 am Leben blieben
Mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin e. V.
Zugleich Phil. Diss. Freie Universität Berlin, D188
Viktoria Volkova
Zur Konstituierung der Kunstfigur durch soziale Emotionen
Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier
Recherchen 152
© 2019 by Theater der Zeit
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Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
Layout: Tabea Feuerstein
Konzeption der Reihengestaltung: Agnes Wartner
Umschlagabbildung: Inszenierungsfoto von Krankenzimmer Nr. 6
am Deutschen Theater Berlin. © Arno Declair
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-238-8 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95749-285-2 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-286-9 (EPUB)
Probenarbeit von Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier
Probe an der renommierten Moskauer Theaterhochschule GITIS, 1940
Einleitung
1Über die »Genealogie« der Probe
1.1Zum Verhältnis von Performance und Probe sowie zur Methodik der Probenanalyse
1.2Zum Verhältnis von Proben-, Handlungs- und Aufführungssituation im Probenprozess
2Zur Zusammensetzung theatraler Probenprozesse
2.1Der Begriff des performativen Raums
2.2Zur Rolle der literarischen Vorlage im zeitgenössischen Probenprozess
2.3Zur zeitlichen Dimension der Probe
2.4Die Probe als ritueller Raum: Was verbirgt sich hinter der Intimität von Theaterproben?
3Ästhetik der Herausforderung in theatralen Probenräumen: Grenzauflösung zwischen Kunst und Alltagspraktiken
3.1Zur Begründung einer Ästhetik der Herausforderung
3.2Intermediale Ansätze: Echtzeit-Tendenzen
3.3Zur performativen Kunst des theatralen Probens als Ausprägung einer Ästhetik der Herausforderung
4Probenästhetische Perspektive: Der Stellenwert der Improvisation für die Konstituierung der Aufführung
4.1Empirische Erfahrung: Der Einfluss der sozialen Interaktion auf den Improvisationszustand der Spielenden im Produktionsprozess
4.2Der Bezug der Improvisation auf die Emotionsebene im rituellen Prozess der Proben
5Soziale Emotionen in den Probenprozessen
5.1Interaktionsrituale in den Probensituationen
5.2Zum Begriff der sozialen Emotion
5.3Ein historischer Überblick über die Emotionstheorien im Regietheater
5.4Zur Forschungsmethode der Emotionen im Regietheater der Gegenwart an Beispielen der drei besuchten Berliner Theaterhäuser
6Das Einblenden der sozialen Emotionen
7Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen
7.1Zum Begriff der Kunstfigur
7.2Die Konstituierung der Kunstfiguren durch soziale Emotionen in den Probenprozessen am DT, am BE und an der Schaubühne
Schlusswort
Anhang
Danksagung
Zur Autorin
Menschliche Verhaltensweisen, wie sie in verschiedenen Lebenssituationen vorkommen, stellen ein Geflecht aus sozio-kulturellen sowie sozio-emotionalen Normen und Werten dar. Ein warmherziges oder verräterisches, liebevolles oder zurückweisendes Verhalten ist häufig auf eine bestimmte Gefühlslage des Menschen zurückzuführen. Auf einer Urlaubsreise entdeckt ein angesehener, betagter Schriftsteller in sich ihm bis jetzt unbekannte erotische Gefühle für einen 14-jährigen Jungen, den er sich lediglich aus der Ferne zu beobachten traut. Die Unmöglichkeit, das lange gesuchte ästhetische Ideal seiner künstlerischen Phantasie beobachten zu können, endet für den Mann tödlich.1
Oder ein anderes Beispiel: Eine Lehrerin, die wegen einer Liebesaffäre mit einem Schüler gekündigt und aus der Stadt gewiesen wurde, muss zu ihrer jüngeren Schwester ziehen und deren Mann ertragen, zu dem sie von Anfang an eine Antipathie verspürt. Mit ihrem Schwager unter einem Dach zu leben, fällt ihr von Tag zu Tag schwerer, weil er einem anderen sozialen Milieu als ihre Schwester und sie entstammt. Zwar ist er zügellos, ordinär, oft auch brutal, aber körperlich attraktiv, familienorientiert und treu, steht mit beiden Beinen im Leben und ist daher auch imstande, selbstständig für den Unterhalt seiner schwangeren Frau zu sorgen. Nach dem nächsten Gewaltakt des Hausherren an seiner Frau versucht die ehemalige Lehrerin ihre Schwester davon zu überzeugen, den Mann zu verlassen und ganz von vorne anzufangen. Die jüngere Schwester appelliert aber an die Gefühle, die sie zu ihrem Ehemann empfindet, und wehrt sich gegen die Versuche der älteren Schwester, sie aus ihrer Familie herauszuziehen. Die alleinstehende ehemalige Lehrerin ist zwar ratlos und empört über das Verhalten ihrer jüngeren Schwester, muss die Umstände aber so hinnehmen, um überhaupt noch ein Dach über dem Kopf zu haben.2
Fälle wie diese sind uns aus der Weltliteratur bestens bekannt. Zahllose Romane, Dramen, Gedichte, Stücke usw. klären uns darüber auf, welchen Stellenwert Gefühle im Leben eines Menschen haben und wie mit diesen umgegangen wird. Eine solche Aufklärungsleistung kann selbstverständlich auch das Theater bewerkstelligen. Sowohl während als auch nach einer Aufführung können wir den Ursachen und Auswirkungen eines inszenierten zwischenmenschlichen Problemkomplexes gedanklich auf den Grund gehen. Der emotionale Kern des – im buchstäblichen Sinn – gespielten (und das heißt auch: fremden, dem Zuschauer nicht selbst zugehörigen) Problems ist in der Regel relativ leicht nachvollziehbar. Nicht selten zeigen wir uns dabei darüber verwundert, wie simpel eigentlich zu lösen ist, worum die Darsteller auf der Bühne so heftig streiten.
Etwas komplexer gestaltet sich indes die Analyse von Gefühlen im Bereich der alltäglichen Lebenspraxis. Bekanntlich vermögen sich manche Gefühle wie Liebe oder Eifersucht lediglich innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu entwickeln. Es ist durchaus möglich, dass jemandem nicht unmittelbar bewusst ist, tiefere Gefühle für eine andere Person zu empfinden. Aber wie kann man ein Gefühlsproblem eines vertrauten Menschen, eines Patienten oder einer Versuchsperson richtig nachvollziehen, wenn man sich – figurativ ausgedrückt – in die Person nicht hineinversetzen kann? Die Gefühlslage eines anderen Menschen ist üblicherweise auf Basis von Mimik, Gestik, Körperhaltung bzw. aufgrund von seinen persönlichen Formulierungen sichtbar, die aber auch nur sehr begrenzt zum Ausdruck kommen und keineswegs ein Gesamtbild der Gefühlswelt darstellen. Darüber hinaus werden komplexe Gefühle wie Liebe, Neid, Stolz, Eifersucht etc. stets nur über einen bestimmten Zeitraum hervorgebracht, sodass man diesen nur in ihrer Entstehung nachgehen könnte. Und die Verfolgung der »Entstehung« sollte womöglich auch den Einbruch in die Privatsphäre der Versuchsperson mitbegreifen, denn wie sonst könnte der Entstehungsprozess einer Emotion beobachtet werden3? Allein aus ethischen Gründen wäre eine vollständige Analyse alltäglicher emotionaler Zustände nicht durchsetzbar. Wäre dies allerdings auch dann der Fall, wenn sich der Analyseprozess an einem Modell des Lebens orientierte? Und vor allem: Was genau wäre als elementare Analyseeinheit eines solchen »Lebensmodells« zu identifizieren? Eine Antwort auf diese Fragen findet sich erstaunlicherweise in der Theaterforschung. So schlägt die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer grundlegenden Studie Ästhetik des Performativen vor, eine theatrale Aufführung
sowohl als das Leben selbst als auch als sein Modell zu begreifen – als das Leben selbst, insofern sie die Lebenszeit der an ihr Beteiligten, von Akteuren und Zuschauern, real verbraucht und ihnen Gelegenheit gibt, sich ständig neu hervorzubringen; als ein Modell des Lebens, insofern sie diese Prozesse in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieht, so daß die Aufmerksamkeit der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden. Es ist unser Leben, das in der Aufführung in Erscheinung tritt, gegenwärtig geht und vergeht.4
Ausgeklammert bleibt allerdings oft die Tatsache, dass eine Theateraufführung das Resultat eines Probenprozesses darstellt, der sich über Wochen oder sogar Monate ziehen kann. Wenn eine theatrale Aufführung zum Modell des Lebens erhoben werden kann, als was wäre dann der Probenprozess zu begreifen? Ist er ein Grundriss des Lebensmodells? Ein Modellentwurf? Literaturforscher greifen häufig auf frühere Fassungen und Entwürfe eines literarischen Werkes zurück, um präzisere und eindeutigere Antworten auf ihre Forschungsfragen zu erhalten. In der vorliegenden Studie werde ich mich zeitgenössischen Probenprozessen im Regietheater zuwenden. Auf diesem Weg werde ich nicht nur die Entstehungsbedingungen einer Aufführung beleuchten, sondern zugleich der Frage nachgehen, mit welchen Mitteln in ästhetischen Kontexten Emotionen dargestellt bzw. konstituiert werden. Leitend ist für mich in diesem Zusammenhang die folgende Annahme: Die von einer Kunstfigur in einer fiktiven Situation erlebte Emotion (Liebe, Neid, Verachtung etc.) muss sich auf die eine oder andere Weise im Prozess des Probens konstituieren. Aus diesem Grund werde ich mich in meiner Analyse auf die Frage konzentrieren, was genau im Probenprozess vollzogen wird, um die späteren Zuschauer glauben zu lassen, dass die Kunstfigur tatsächlich verliebt ist, jemanden verachtet oder beneidet. Es lohnt sich daher, theatrale Proben im Hinblick auf die Entfaltung von Emotionen zu beobachten. Deswegen untersuche ich Probenprozesse, die als Modellentwürfe des Lebens zu fassen sind.
Die theaterwissenschaftliche Untersuchung der theatralen Probenpraxis erweist sich als ausgesprochen problematisch. Schließlich finden Theaterproben gewöhnlich hinter verschlossenen Türen statt. Externen Beobachtern wird dieser Handlungsraum meist nur äußerst begrenzt zugänglich gemacht. Dieser Umstand gilt insbesondere für große Theaterhäuser. Vor allem berühmte Regisseure lassen sich zudem nur höchst ungern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich theatrale Probenprozesse aufgrund ihrer Flüchtigkeit unmöglich in ihrer vollen Materialität dokumentieren lassen. Nicht zuletzt deshalb weist der Forschungsstand zur theatralen Probenpraxis große Lücken auf. Zwar wurden diese in den vergangenen zehn bis 15 Jahren sukzessive gefüllt, doch geschah dies insgesamt nur in einem ausgesprochen spärlichen Maß. Bis heute ungelöst sind die enormen methodologischen Probleme, denen sich eine empirische Untersuchung theatraler Probenprozesse angesichts der genannten Zugangs- und Dokumentationsprobleme unweigerlich gegenübersieht.
Erste Versuche einer empirischen Probenanalyse hat es in der deutschsprachigen theaterwissenschaftlichen Forschung – wenn auch nur vereinzelt – schon vor den 2000er Jahren gegeben. So präsentierte Claudia Dickhoff mit ihrer 1984 erschienenen Dissertation Probenarbeit, Dokumentation und Analyse eines künstlerischen Prozesses: dargestellt am Beispiel der Münchner Inszenierung von Niccoló Machiavellis »Mandragola« eine Studie, die sich sowohl auf qualitativem als auch auf quantitativem Weg mit der szenischen Präsenz und Interaktion der Figuren (nicht der sie darstellenden Schauspieler!) sowie der inneren und äußeren Struktur der Bühnenhandlung auseinandersetzt. Darüber hinaus enthält Dickhoffs Arbeit eine vergleichende Untersuchung von Text und Aufführungsform. Bereits die ersten Zeilen des ersten (»chronologisch-deskriptiven«) Teils machen deutlich, dass Dickhoffs Dissertation die »ungewöhnliche[n] Arbeitsbedingungen« eines eigens »für das Projekt der Münchner Theaterwissenschaft gegründeten Schauspiel-Ensembles«5 behandelt. Nach einigen weiteren Sätzen über das gegenseitige Kennenlernen der am Projekt beteiligten Wissenschaftler und Künstler sowie über den Verlauf der zweiwöchigen Leseproben und Gespräche offenbart Dickhoff den Lesern ihrer insgesamt siebenseitigen Beschreibung des Probenverlaufs eine Tatsache, welche die methodische Grundlage für eine sehr eng ausgerichtete und – aus heutiger theaterwissenschaftlicher Sicht – weniger relevante6 Probenanalyse, als sie vor dreißig Jahren noch gelten konnte, aufweist. Sie schreibt nämlich: »Am 24.9. nehmen die wissenschaftlichen Beobachter ihre Plätze oben auf der schalldichten [!], verspiegelten [!] Tribüne ein, wo sie von nun an – für die Personen im Probenraum unsichtbar – den Probenprozeß mitverfolgen werden.«7
Die wissenschaftlichen und künstlerischen Wege gehen also nach den vorherigen gemeinsamen Tischgesprächen, Leseproben und technischen Vorbereitungen komplett auseinander, sodass die Schauspieler während ihrer Proben die am Inszenierungsprozess nicht direkt beteiligten Theaterwissenschaftler nicht zu Gesicht bekommen können und die Wissenschaftler ihrerseits die Darsteller von oben wie in einem Aquarium beobachten müssen.8 Die Ebene der körperlichen Präsenz, räumlichen Nähe und des damit verbundenen wirkungsvollen Energieaustausches wird durch diese beiderseitige Absonderung folglich von Anfang an getilgt. Durch diese Maßnahme wird die konkrete Probenanalyse ferner auf vereinzelte quantitative und qualitative Aspekte beschränkt. So wird etwa einerseits die Szenenanzahl, die Dauer der Bühnenpräsenz, die Anzahl der Auftritte und der Begegnungen, das Maß der szenischen Entfernung oder der Interaktionsanteil der Charaktere in Augenschein genommen; andererseits wird sich z. B. auf die Beziehungen der Personen im Dramentext und der Inszenierung, die Untersuchung der Handlungsstruktur, die Handlung im dramatischen Text oder die Handlungsführung und Szenenkomposition in der Aufführungsform konzentriert.9 Allerdings: Was an Dickhoffs Probenstudie als ein Vorteil erachtet werden kann, ist der in der deutschen Theaterwissenschaft so selten in Betracht gezogene experimentelle Aspekt der gemeinsamen (!) Arbeit zwischen Wissenschaftlern und Künstlern. Allein die Tatsache, dass die Theatermacher mit den Wissenschaftlern zu diesem Forschungszweck zusammentrafen, ist schon als Experiment zu verstehen. Meistens lassen die Künstler so gut wie keine »Dritten« hinter die Kulissen. (Und die erstaunliche Tatsache, dass dieses Projekt bereits vor über dreißig Jahren vorgenommen wurde, macht die in ihm beschriebene theaterwissenschaftliche bzw. -praktische Veranstaltung allein durch ihren Bestand noch exklusiver.) Solche miteinander verwobenen akademisch-künstlerischen Probenexperimente sind eher seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und eher im angelsächsischen Raum aufzufinden – genauer: in Australien, wo die professionelle künstlerische Probenpraxis überaus erfolgreich in das akademische Feld integriert werden konnte. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem die am Department for Performance Studies der University of Sydney lehrende Theaterwissenschaftlerin Gay McAuley. Sie organisiert für ihre Studenten die sogenannten »page-to-stage«-Projekte, in denen eingeladene professionelle Theaterakteure und Studierende innerhalb von dreiwöchigen Workshops gemeinsame Aufführungen hervorbringen. Über ihre theaterwissenschaftlich-pädagogische Praxis schreibt McAuley in dem Artikel »Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning«:
The study of the rehearsal process is a central element in teaching and research in performance studies at the University of Sydney and it developed from work that began when I was teaching theatre in the Department of French before the performance studies programme was introduced. For students of French literature, a play is a book to be read, so, in an attempt to demonstrate to students that the meaning of a play is not to be found simply in the words on the page, I organized a number of what we called ›page-to-stage‹ projects. Students enrolled in these courses spent a three-week semester break observing professional actors in rehearsal, working to create a performance with a text that the students had previously studied in class. The experience provided vivid insights into the dynamically shifting and contingent nature of theatrical meaning-making, revealing to the students how meaning in the theatre is constructed by actors together with other artists and craftspeople, how the text functions within this multilayered process, and how the same words can come to bear radically different meanings in different performance versions. It occurred to me, as I watched highly skilled and experienced theatre practitioners rehearsing plays by Corneille, Racine and Genet, that this way of working also had a great deal to offer students in departments of theatre studies. In such departments, students often spend a considerable amount of time and energy putting on plays and making their own performances, but the result is that, all too often, the only experience of rehearsal they have is what they and their peers have been able to produce. In developing performance studies as an academic discipline at the University of Sydney, my concern has been first and foremost with the work practices of professional artists, and the observation and analysis of the rehearsal process is a foundational element in the research training provided by the department and my own work.10
Solch eine jährliche Zusammenkunft von Berufsschauspielern und Theaterstudierenden mit dem Ziel einer kollektiven Analyse der Hervorbringung eines Probenprozesses sowie der gemeinsamen Realisierung einer Inszenierung ist im deutschsprachigen Raum immer noch Zukunftsmusik. Zwei- oder dreitägige Workshops, die Schauspieler und Theaterstudierende zum Zweck des Erfahrungsaustausches unter ein Dach bringen, finden in manchen Einrichtungen wohl hin und wieder statt. Die Dimension der von McAuley organisierten Projektwochen haben diese Formate hierzulande indes noch nicht erreicht. Über den Förderhintergrund und Verlauf ihres Universitätsprojektes macht McAuley noch weitere Angaben:
The Department of Performance Studies funds one project a year in which professional actors rehearse in facilities provided by the university and permit students to observe their process. These projects are part of the practical training provided for honors students preparing to undertake participant observation in professional theatre companies. They are recorded, usually using two cameras and making a live edit, and a team of three students takes responsibility for the documentation of each day’s work. Two are responsible for image and sound while the third writes a log detailing time, tape references and a brief indication of the activities involved. This log is a crucial element in making the documentation accessible to users after the event.11
Wie aus diesem Zitat folgt, verfolgen McAuleys akademisch-künstlerische Projekte den Zweck, leistungsstarke Studenten auf die teilnehmende Beobachtung (»participant observation«) von Probenprozessen in professionellen Theatern vorzubereiten. Ein derart leichter Zutritt zum sozialen Feld der professionellen theatralen Probenpraxis ist für das zeitgenössische europäische Theater sehr wünschenswert, oft aber leider utopisch. Immerhin handelt es sich selbst bei der empirischen Untersuchung von Inszenierungsprozessen um einen ausgesprochen jungen Forschungsbereich.12 Entsprechend problematisch gestaltet sich die empirische Probenforschung – insbesondere im deutschsprachigen Raum. Davon zeugt nicht zuletzt die Zahl der hier erschienenen Studien, welche – im Vergleich mit dem anglo-amerikanischen Sprachraum – bescheiden bleibt. Der Grundstein für das weitaus größere Spektrum des angelsächsischen Probendiskurses wurde bereits in den 1990er Jahren gelegt. Allerdings beschränkt sich die Aufmerksamkeit der meisten Probenforscher seither entweder auf die Arbeitsmethoden einzelner Regisseure (auf die Theorie, Historiographie oder Notizen »interner«, d. h. zum Theaterbetrieb gehöriger Beobachter) oder aber auf die Analyse bestimmter Inszenierungsprozesse.13
Einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der theatralen Probenpraxis im deutschsprachigen Raum leistete die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke mit ihrer 2012 veröffentlichten Habilitationsschrift Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Anhand von Anekdoten, die von Schauspielern und Theatermachern überliefert wurden, beleuchtet Matzke das »Verhältnis von Theater und Arbeit im Zeitraum vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart«14. Zur Methodologie der empirischen Untersuchung von Probenprozessen schreibt Matzke: »Die wenigen methodischen Auseinandersetzungen in der Theaterwissenschaft mit der Probenpraxis lassen sich in einen aufführungsanalytischen, ethnologischen und literaturhistorischen Zugang differenzieren.«15 In ihrer Arbeit weist Matzke auf drei weitere Publikationen hin, die im Kontext der Probenforschung vor einigen Jahren entstanden sind.16 Der Theaterforscher Hajo Kurzenberger rückt in seinem Buch Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper. Probengemeinschaften. Theatrale Kreativität »die Herstellungs- und Rezeptionsvorgänge vor, während und nach der Aufführung: die Interaktionen der Probe, der Theaterorganisation, der Gruppen- und Ensemblebildung«17 in den Fokus. In Anlehnung an Kurzenberger untersuche ich den Probenprozess in den nachstehenden Kapiteln als einen sozialen Gruppenprozess, dessen Verlauf »von [seiner] Struktur, vom Status und der Funktion [seiner] Mitglieder, vor allem aber von […] der Anzahl der Beteiligten [abhängig ist]«.18 Die empirische Untersuchung von theatralen Probepraktiken ist in der Regel äußerst rar: Zumeist kann/darf dem Probenprozess nicht in seiner vollen Länge beigewohnt werden, weswegen die Forscher nur noch einzelne Aspekte der Probenpraxis fokussieren bzw. diese in kleineren Arbeiten thematisieren. Auch Matzke hat über die Aspekte der Probenforschung nur ansatzweise geschrieben, bevor ihre wertvolle Habilitationsschrift erschien. So berichtete sie während der internationalen Tagung Regie heute – Soziale Dimensionen des Inszenierens an der Zürcher Hochschule der Künste im November 2011 in ihrem Referat »Konzepte proben – Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen« (welches ein Jahr später in der Publikationsreihe subTexte veröffentlicht wurde) über die Herausforderungen der empirischen Probenforschung. In ihrem Konferenzbeitrag problematisierte Matzke zum einen die verschiedenen Formen des theatralen Probens, die mit dem postdramatischen Diskurs in Erscheinung traten; zum anderen diagnostizierte sie fehlende »Methoden zur Probenbeobachtung«19.
Vor dem Hintergrund der oben angedeuteten Zugangs- und Dokumentationsprobleme ist auch Sabine Krügers probenanalytische Studie über die Inszenierungspraktiken der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus zu erwähnen. Krügers Feststellung, dass »der Gegenstand der Proben noch keinen Platz im allgemeinen akademischen Diskurs eingenommen hat«20, bekräftigt die Ausgangsthese der vorliegenden Dissertation, wonach die empirische Untersuchung von Probenprozessen ein noch sehr junges und nur wenig entwickeltes Unterfangen darstellt. Auch Krüger kann die Gründe nicht übergehen, die dafür verantwortlich sind, dass der Probenprozess von der Theaterwissenschaft bislang noch nicht adäquat erforscht worden ist. Neben der »Instabilität und Kurzlebigkeit von (westlichen) Theatergruppen«21, der »Transformation der Probensituation« durch die »(handelnde) Präsenz des Forschers«22 und dem »von den beteiligten Künstlern selbst nicht erwünschte[n] Zutritt hinter die Kulissen des Theaters für externe Beobachter«23 hebt Krüger eine weitere Hürde für die empirische Probenforschung hervor: die »Motivation, die ›Authentizität‹ des Probenprozesses zu erhalten, indem Aufzeichnung und Dokumentation des künstlerischen Geschehens ausschließlich durch interne, an der Inszenierung beteiligte Künstler und Dramaturgen vollzogen [werden]«.24 Um diesen Punkt zu bekräftigen, führt Krüger das Beispiel des Projekts »Inszenierungsdokumentation« an der Akademie der Künste in Berlin sowie ein Zitat Peter Ullrichs aus dem Vorwort über die Dokumentationsmethodik dieses Projekts an:
Die Dokumentation wird von den am Inszenierungsprozeß Beteiligten selbst hergestellt. Also keine Dokumentation ›von außen‹ durch Wissenschaftler, Journalisten, Studenten usw., sondern ›von innen‹, durch Dramaturgen, Regieassistenten, Regisseure. Das sichert Authentizität in der Darstellung.25
Solch eine Direktive würde in einem seltenen »externen« Probenbeobachter, der – folgt man der Logik der Dokumentationsmethodik – wohl aus Versehen dennoch in die Proben gelangen konnte, Verständnis hervorrufen. Denn die Begründung, warum die Probendokumentation so einseitig bleiben und dadurch so »empowered and restricted in unique ways«26 dargeboten werden soll, geht aus diesem Appell nicht hervor bzw. bleibt sehr vage. Im Gegenteil erweitert ein externer Blick auf die Proben den Horizont der theoretischen Reflexionen über das Fach. Hingegen umfasst das Herangehen der ausschließlich »internen« Beobachter an die Probe meistens nicht mehr als Interviews mit dem Regisseur und manchmal auch mit weiteren beteiligten Künstlern, wobei diese Interviews dazu noch vor oder/und nach dem unmittelbaren Proben stattfinden, bereits einige Zeit vorausgeplant und so in die »Tagesordnung« des Regisseurs gut integriert sind. Die Beschreibungen des monatelangen Probenverlaufs selbst, die täglichen Fixierungen der dort stattfindenden Geschehnisse sowie das Erstellen eines gleichwertigen verwertbaren Materials seitens der »Internen« sind des öfteren kein Thema. Eine weitere bekannte australische Theaterprobenforscherin, Kate Rossmanith, weist auf diese Lücke im Vorgehen der Theaterangehörigen eindeutig hin:
Rehearsal accounts by practitioners about their own work come in the form of interviews, short articles where actors or directors reflect on particular rehearsal processes, practitioners writing about their specific working approach, and lengthy casebooks where directors and actors document the daily work of rehearsal throughout a specific process. Overall, while this material offers insights into the usually private sphere of rehearsal, it does not necessarily extend into examining or describing the minutiae of what actually occurs over the weeks and even months of a process.27
Dieser Sachverhalt wirft Licht auf den Stellenwert des Materials der vorliegenden Probenuntersuchung: Als Regiehospitantin bei den drei angesehenen Regisseuren Dimiter Gotscheff, Thomas Langhoff und Thomas Ostermeier gelang es mir, den Ablauf der Probenprozesse mit den dort stattgefundenen Gesprächsverläufen (teilweise auch mit Videokamera) aufzuzeichnen und vieles davon in Tabellen zu überführen. Diese Aufzeichnungen, Transkriptionen und Tabellen können hiermit nicht nur für meine eigene, sondern auch für weitere Feldforschungen verwertbar sein. Es ist also ersichtlich, dass die Probenpraxis eine spannende Forschungsdomäne ist und dass viele ihrer Aspekte – um das Wort »Neuland« zu vermeiden – noch einer umfassenden Erforschung bedürfen.
Warum ist die Frage nach der Entstehungsweise und Struktur einer Emotion relevant? Bis heute können Forscher verschiedenster Disziplinen, von Philosophen bis zu Neurowissenschaftlern, nicht eindeutig auf die Frage antworten, was eine Emotion ist, wodurch sie sich von einem Gefühl unterscheidet, was genau ihre Entstehungsbedingungen sind usw. Diese Unschlüssigkeit ist durchaus erklärlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Antworten auf diese Fragen von dem Ziel, der gewählten Methode sowie dem Material der jeweiligen Untersuchung abhängen.
Für fast jegliche Art von Probenforschung – ausgenommen vielleicht nur der historische Probendiskurs, dessen Hauptmethode die Arbeit mit überlieferten Dokumenten, Anekdoten und anderen Artefakten ausmacht28 – ist zugleich auch ein Proben besuch erforderlich. Vor und hauptsächlich nach dem Besuch von drei gesamten Probenprozessen an großen Berliner Häusern – dem Deutschen Theater (DT), dem Berliner Ensemble (BE) und der Schaubühne am Lehniner Platz – wurde mir klar, dass eine wissenschaftliche Analyse von theatralen Probenprozessen die Hinzuziehung einer empirischen Forschungsmethode erfordert. Eine empirische Herangehensweise an den Probenprozess ermöglicht mir einerseits eine genauere Auseinandersetzung mit dem sozialen Aspekt der Probe (eine heutzutage vernachlässigte Domäne) und andererseits die Auslotung des soziologischen Aspektes der Emotionsforschung. Dass der soziale Aspekt der Probe sehr wenig erforscht ist, hat seinen Grund wohl in der Mystifizierung und im Flüchtigkeitscharakter der Probe. Der Ausdruck der »Mystifizierung« der Probe ruht meines Erachtens auf der Annahme derjenigen Forscher, die den Zugang zur Probe nicht als Hindernis erleben müssen. Dies sind meistens solche Probenforscher, die entweder selbst mehrere Jahre im Theaterbetrieb tätig waren oder bereits eng mit Theatermachern zusammenarbeiten: Für sie existieren tatsächlich keine Zugangshürden, sodass der Zutritt zur Probe keine außergewöhnliche, sondern eher eine selbstverständliche Angelegenheit ist. Ein Blick auf den professionellen Hintergrund solcher Forscher genügt, um zu begreifen, warum sie jegliche »Mystifizierung« der Probe als ein künstlich geschaffenes Problem ansehen und diese »Mystifizierung« überhaupt in Frage stellen. Ich hingegen musste auf meinem Weg auf die Hinterbühne viele Hürden überwinden: Eine permanente Stelle im Theaterbetrieb habe ich nämlich nicht und als Theaterwissenschaftlerin hat man keinen Vorrang vor den unzähligen Probeninteressenten, die sich für die selten ausgeschriebenen Regiehospitanzstellen an großen Berliner Häusern bewerben. (Des öfteren sind diese Stellen überhaupt nicht ausgeschrieben.) Es ist also kein Mythos, dass der Probenprozess in der Regel nur ausgesprochen begrenzt zugänglich ist. Allerdings will ich damit nicht sagen, dass die Probe mit einem Zauberritual mit magischen Sprüchen gleichgesetzt werden soll (obgleich es sich hier natürlich immer auch um einen rituellen Prozess handelt!): Selbstverständlich ist die Probe einerseits ein alltäglicher, gewöhnlicher Arbeitsprozess zwischen professionellen Künstlern, die unter gewissen – dem Theater eigenen – Gesetzen und Bedingungen miteinander über Jahre und Jahrzehnte hindurch interagieren. Es sind nicht nur bestimmte rituelle Prozesse und Praktiken, die man in den Proben miterleben kann; es sind auch (für Theaterleute) alltägliche Beziehungen, Arbeitskonstellationen, Interaktionen, Aktionen, die einen »normalen« Probentag ausmachen. Mein Vorschlag lautet nun, die Anknüpfungspunkte für die Methodik meiner nachstehenden Analysen gerade in solchen Alltagspraktiken der Künstler aufzuspüren. Die Alltagssituationen innerhalb des Probenprozesses verdienen meines Erachtens eine weitaus stärkere Aufmerksamkeit. So erkläre ich die Alltagssituation der Probe im Folgenden zur Einheit der vorliegenden Probenanalyse und nenne diese Alltagssituation fortan eine Probensituation.
Die Herausgliederung der Situation im Kontext der Probenarbeit scheint nicht zufällig zu sein. Der Philosoph und Kunsttheoretiker Gerald Raunig macht in mehreren Schriften auf Hegels Theorie der Situation aufmerksam, die in dessen Vorlesungen zur Ästhetik entfaltet wurde.29 Raunig vermerkt, dass Hegel die Funktion der Kunst darin sieht, »Raum für die Kollision von Differenzen zu schaffen«30 und als Mechanismus zur Schaffung eines solchen Raums die Öffnung des allgemeinen Weltzustandes31 vorschlägt. Laut Hegel ist dieser »geöffnete (Dritte) Raum«32 zwischen der Einfühlung und dem allgemeinen Zustand gerade die Situation. Und so ist es »die Besonderheit des Zustandes, dessen Bestimmtheit jene Differenz und Spannung hervorbringt, die erst das auslösende Moment für die Handlung darstellt«33. Oder um mit Hegel selbst zu sprechen:
Die Situation im allgemeinen ist einerseits der Zustand überhaupt, zur Bestimmtheit partikularisiert, und in dieser Bestimmtheit zugleich das Anregende für die bestimmte Äußerung des Inhalts, welcher sich durch die künstlerische Darstellung ins Dasein herauszukehren hat. Vornehmlich von diesem letzteren Standpunkte aus bietet die Situation ein weites Feld der Betrachtung dar, indem es von jeher die wichtigste Seite der Kunst gewesen ist, interessante Situationen zu finden […].34
Die wichtigste Aufgabe der Kunst sieht Hegel also in der »Erzeugung einer Situation als ›Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung‹«35. Deswegen bedarf es der Künstler, also konkreter Personen, die konkrete Aktionen durchführen und auf diese Weise eine Situation »und damit eine Möglichkeitsbedingung für das […] Betätigen all dessen [schaffen], was im allgemeinen Weltzustande noch unentwickelt verborgen liegt«.36 Und auch die Künstler selbst spüren (sei es bewusst oder unbewusst), dass der Dreh- und Angelpunkt ihrer Aktionen die Schaffung einer Situation sein soll. So widmete der Regisseur Thomas Ostermeier eine Vorlesung über sein eigenes Kunstschaffen im September 2014 in London der Frage nach der Identifikation und Ergründung der theatralen Situation. Die lateinische Phrase Totus mundus agit histrionem, die zu Shakespeares Zeiten über den Pforten des Globe Theatres hing, deutete er darin folgendermaßen:
The somewhat ›official‹ version, ›All the world’s a stage‹, suggests that we are acting in our lives like characters of a play on stage. But the sentence also implies that we are driven to act by the situations that we are confronted with [hervorgehoben von mir, V. V.] in our life. Totus mundus agit histrionem can also be translated as totus – all, mundus – world, agit can also be an active word, and histrionem is not the story, as some might think, but it means ›actor‹. The sentence might therefore not only be read as ›the whole world acts like an actor‹, but also ›the whole world acts the actor‹ – the whole world forces the actor to act. And by extension: we are forced by the world to act like an actor. We are constantly forced to pretend to be somebody else. We are driven to change identities, to put on a mask, in order to find out, through playing, who we are and who the other might be.37
Ostermeier berichtete, dass man als Schauspieler während der Proben oft mit der Frage »Was spiele ich in diesem Moment als Figur?« (»What am I playing as a character at the moment?«) konfrontiert sei. Er als Regisseur müsse mit seinen Schauspielern oft ganz »banale«38 Wahrheiten während der Proben (wieder) entdecken, wie etwa solche, die sich darauf beziehen, dass ein probender Schauspieler nicht umhin kann, eine theatrale Situation anders als wahrhaft zu spielen:
When you discuss with the actors how to play a certain scene, you will not need to talk about how you can, in this very moment, be truthful to the situation, or to the character. Instead, you can talk about what you are playing in this moment, as a character. The actor will be playing a character who is playing a situation. […] For an actor in a rehearsal space who has to find his or her way into the dramatic situation, and who feels blocked and restrained by the pressure to be truthful to this situation, it will be an act of liberation when the director is able to reassure them: do not even think about being truthful to the situation. Just play the moment the character is playing. This means that there is no more right or wrong. As a result, anything you do as an actor, even very bad acting, cannot be but truthful, because it is, for instance, Iago who is simply playing the role of Othello’s best friend. The very fact of not successfully, of not entirely ›truthfully‹ acting, therefore might even become the very beauty of portraying Iago […].39
Das Wichtigste für den Schauspieler beim Proben einer theatralen Situation sei laut Ostermeier das Gefühl des Unerwarteten bzw. das der Überraschung, das die Schauspieler – im Gegensatz zu den literarischen Figuren – nicht so einfach und selbstverständlich erzielen können, weil die Akteure über den Ausgang der Szene bereits im Vorfeld der Proben Bescheid wissen. Im Gegenteil hat die Figur in der Literatur keine Ahnung davon, was mit ihr als Nächstes passieren wird. Oft habe man in den Proben mit einer doppelten oder sogar dreifachen theatralen Situation zu tun:
We should keep a sense of the surprise that something really works out well, rather than just expecting it as a given. It seems almost banal to state that none of the characters in a play have lived through the situation they are confronted with before; they do not know what is going to happen next. Still, this needs to be explicitly mentioned, and I have to constantly remind actors of this fact. Too often do we make decisions or arrive at certain ways of playing a scene because of our knowledge of the play as a whole. The character, however, does not know the scene; the character only ever makes an attempt to adapt to the situation, and to respond to the problem he or she is confronted with. […] I believe that if we saw a Richard Gloucester on stage in front of us who was completely convincing, he would be very boring from the start. We should see him having problems being Richard himself – problems being somebody else. This doubled theatrical situation […] helps me to approach and understand how to stage [Shakespeare’s] plays. The double, or sometimes even triple, theatrical situation suggests an answer to many of the questions I have raised, about who we are or could be: we are multiple ›I‹s who try to adapt to the situations we are confronted with by playing, by pretending to be somebody else.40
Eine in der Literatur gegebene Situation mit darstellerischen Mitteln in einer theatralen – und d. h.: neu entdeckten – Situation herzustellen, ist also die wichtigste, um nicht zu sagen: die Schlüsselaufgabe der probenden Künstler.
Rund um die Erzeugung einer Situation dreht sich auch die Lehre der Schauspielkunst von Konstantin Stanislawski.41 In seinen bekanntesten Werken Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens (Teil 1) und Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Verkörperns (Teil 2) beschreibt Stanislawski, wie die Schauspielstudenten von ihrem fingierten Lehrer Torzow die »Umstände« erläutert bekamen und anhand dieser Vorgaben Situationen auf der Studiobühne erzeugen mussten, die danach zusammen mit dem Lehrer auf Fehler hin analysiert wurden. Genau auf solch eine Analyse der erzeugten Situationen während des Studienprozesses an einer Schauspielschule geht Stanislawski in den genannten Werken ein.42 Die darin gegebenen Beispiele zur Beschäftigung mit der Situation als maßgeblicher Analyseeinheit waren für mich ein entscheidender Anstoß, um auch in meiner Studie die Probensituation ins Zentrum zu rücken und zur wichtigsten Einheit meiner Analyse zu erheben.
In einem nächsten Schritt galt es, die Kriterien zu bestimmen, anhand derer die einzelnen Situationen der in der vorliegenden Arbeit erörterten Probenprozesse herauszuheben waren. Praktisch jede Aufführung im Regietheater wird auf der Basis (mindestens) eines literarischen Werkes inszeniert. Das heißt, dass schon im Vorfeld der Proben mehr oder weniger klar ist, welche Themen und Probleme das zu inszenierende Stück behandeln wird. In jedem Fall nehmen die beteiligten Akteure zuallererst das entsprechende Buch aus dem Regal und lesen den Inhalt des literarischen Werkes. Erst unmittelbar während des Probenprozesses selbst entstehen dann Ereignisse bzw. erzeugen die Künstler Situationen, die das eine oder andere in der literarischen Vorlage bereits vorgegebene Thema auf je spezifische Weise wiedergeben oder herstellen. Gerade diese Situationen, die nur während des gemeinsamen Probenvorgangs entstehen bzw. erzeugt werden, machen das vorgegebene literarische Problem oder Thema auf der Bühne überhaupt erst sichtbar. Und gerade diese Situationen werden von den Künstlern fortwährend – von einem Probentag auf den anderen (aber jedes Mal auf eine neue Weise) – wiederholt. Folglich werden gerade diese Probensituationen den Kern meiner Analyse bilden. Leitend wird für mich in diesem Zusammenhang die folgende Frage sein: Wie genau entstehen solche Situationen während der Proben? Die Antwort auf diese Frage sollte meines Erachtens im ereignishaften Charakter einer jeden Aufführung gesucht werden.43 So ist ein jeder Probentag für diejenigen, die an ihm teilnehmen können, selbst bereits ein besonderes Ereignis. Dieses besteht seinerseits aus weiteren »kleinen« Ereignissen – und damit auch aus weiteren Interaktionen, Handlungen, Empfindungen –, die sämtliche Probentage prägen. Angesichts dessen werde ich die emotionalen Ereignisse, die in den sozialen Interaktionen der Probenbeteiligten auftreten und in die Bühnenfassung der späteren Theateraufführung eingehen, als soziale Emotionen bezeichnen. Soziale Emotionen stellen zugleich auch die Mechanismen dar, nach denen sich eine Kunstfigur konstituiert, denn aus den gemeinsamen Ereignissen – sprich: aus gemeinsam erlebten Vorgängen, aus Gesprächen, Witzen, Stress und Anstrengungen, aus Auflockerungen und Gelächter sowie überhaupt aus der Einstellung auf einer »emotionalen Wellenlänge« bzw. aus dem Wunsch heraus, etwas gemeinsam zu verstehen – ergeben sich für jeden Schauspieler eben jene Voraussetzungen, an denen er sich bei der Konstituierung seiner Kunstfigur orientiert.
Für meine Probenanalysen werde ich im Folgenden von einem breiteren Methodenmix Gebrauch machen. Dieser umfasst:
1.die empirische Beschreibung und Dokumentation der gesamten Probenprozesse mittels detaillierter Probennotizen und Videoaufzeichnungen,
2.Gespräche, die ich als Probenmitglied mit sämtlichen Probenteilnehmern führen konnte,
3.Interviews mit den Schauspielern,
4.den Rückgriff auf Performativitäts-, Emotions-, Improvisations-, Ritual-, Raum-, Zeit- und Intermedialitätstheorien sowie
5.die Analyse von Probenpraxen, wie sie z. B. in theoretischen Schriften (Lang, Engel, Diderot, Lessing, Goethe), Anekdoten (Goethe, Schiller), Tagebüchern (Wachtangow, Brecht) oder den Schauspiellehren von Stanislawski und Čechov zu finden sind.
Auf dieser methodischen Grundlage werfe ich die Frage danach auf, was genau ein theatraler Probenprozess unter emotions-, ritual- und performativitätstheoretischen wie auch theaterwissenschaftlichen und soziologischen Gesichtspunkten ist. Ziel meiner Untersuchung ist also einerseits, die theaterwissenschaftliche Forschungsmethodik des Theaterprobenprozesses auszubauen. Warum sind Probenprozesse für die Öffentlichkeit zumeist unzugänglich? Was sind die Kriterien, nach denen sich ein Probenprozess zusammensetzt? Mit welchen ästhetischen Kategorien wird bei der Probenuntersuchung operiert? Meines Erachtens ist für die Theaterwissenschaft eine sich auf die Emotionsforschung beziehende Methode der Probenforschung relevant. Aus diesem Grund verfolge ich andererseits, wie die Emotionen der Kunstfiguren innerhalb der sozialen Interaktionen zwischen den Künstlern am Beispiel eines »Modellentwurfs des Lebens« – des theatralen Probenprozesses – entstehen.44 Welche emotionalen Ereignisse werden im Prozess der Zusammensetzung einer Probe buchstäblich in Szene gesetzt? Wie entwickeln sich die Beziehungen zwischen den Kunstfiguren durch die sozialen Interaktionen der Künstler? Zum einen gehe ich sowohl als Probenbeobachterin als auch als Probenbeteiligte empirisch vor. Die unmittelbare Teilnahme als Regiehospitantin ermöglichte mir, einen engen Kontakt mit den Künstlern zu knüpfen und sie bei Bedarf zu interviewen. Zum anderen werde ich die Performativitätstheorien aufgreifen, die die kunstwissenschaftliche Forschung seit den 1990er Jahren maßgeblich bestimmen. Mit dem »performative turn«, der sich vom Logozentrismus des »linguistic turn« absetzte, »verlagerte sich [das kunstwissenschaftliche Interesse] nun stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und herausbilden«.45 Den Probenprozess betrachte ich demnach vor allem vor dem Hintergrund seines performativen Charakters. Um der Komplexität dieses facettenreichen Handlungsraums auf den Grund zu gehen, werde ich mich in den folgenden Kapiteln auf eine Vielzahl von Theorieansätzen beziehen. Dies betrifft etwa die Aufführungs- bzw. Performancetheorien, anhand derer in erster Linie das grundlegende Verhältnis zwischen Aufführung, Performance und Probe bestimmt wird. Aufgrund von diesem Verhältnis wird für die Analyse die Struktur des Probenprozesses zum Vorschein gebracht. Mit Hilfe der Performativitätstheorien wird eine Annäherung an den Prozess der Zusammensetzung einer Probe möglich. Die Theorien der Ritualität, der Grenzüberschreitung, der Raumästhetik und der Intermedialität sind für die vorliegende Studie deswegen von großer Relevanz, weil anhand dieser Theorien zum einen der Transformations-, zum anderen der Flüchtigkeitscharakter und die erschwerte Dokumentierbarkeit des Probenprozesses hervorgehoben werden. Die verwendeten Probentheorien ermöglichen mir auf der einen Seite, die auf die Proben bezogenen Schlüsselbegriffe zu revidieren. Auf der anderen Seite knüpft ein Blick in die Geschichte der Probentheorien und Schauspielmethoden an das Analyseverfahren des Regietheaters an, den Prozess seines Werdegangs sowie weitere im Regietheater verlaufende Prozesse in den Fokus der Betrachtung zu nehmen. Rezipiert werden darüber hinaus die Improvisations- sowie die Emotionstheorien. Mit deren Hilfe werden die tiefe Verbindung und Wechselwirkung der schauspielerischen Improvisation und emotionalen Ereignisse im Probenprozess deutlich gemacht.
Die vorliegende Forschungsarbeit besteht aus einer Einleitung, sieben Kapiteln und einem Schlusswort. In den ersten vier Kapiteln werden die theoretischen und praktischen Zusammenhänge ausgelotet, die der Konstituierung eines Probenprozesses zugrunde liegen. Die Kapitel fünf bis sieben sind dem Phänomen der sozialen Emotionen sowie ihrer Funktion gewidmet, als Mechanismen der Konstituierung von Kunstfiguren im Probenprozess zu dienen. Der Stellenwert der ersten vier Kapitel wird nach den Kriterien und Begriffen ermessen, die sich für die theaterwissenschaftliche Methodik der Probenuntersuchung sowie für die Zusammensetzung eines Probenprozesses als relevant erweisen.