Barfuß
im Himmel
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© Karina-Verlag, Wien
www.karinaverlag.at
Text: Karina Moebius
Lektorat: Bruno Moebius
Layout und Covergestaltung: Karina Moebius
Coverbild: Pixabay, Gerd Altmann, Zorro4,
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© 2019, Karina Verlag, Vienna, Austria,
ISBN Print: 978-3-96443-858-4
ISBN E-Book: 978-3-96858-831-5
Vorwort
Was passiert, wenn wir sterben? Haben Sie sich darüber schon einmal Gedanken gemacht? Wo gehen wir hin, wenn wir überhaupt irgendwo hingehen? Womöglich heißt es: ›Licht aus!‹, und das war es dann. In unserer materialistisch orientierten Welt ist dieser Gedanke weit verbreitet, denn für eine geistige Welt ist kein Platz in den Köpfen der Menschen.
Seit Urzeiten stellt sich die Menschheit die Frage, ob es ›danach‹ nicht doch noch etwas gibt, und die Antworten, die verschiedene Kulturen für sich gefunden haben, sind vielfältig.
Müssen wir uns dem Totengericht des Osiris stellen? Oder wartet auf die Sünder ein Gehörnter, um sie mit Feuer und Schwefel für ihre Verfehlungen zu bestrafen? Schwingen wir uns mit jedem Sterben auf ein karmisches Rad und dienen im nächsten Leben unsere schlechten Taten ab? Haben wir schon so oft gedient, dass wir uns am Ende im Nirwana, dem seligen Nichts, auflösen? Was, wenn wir gar Charon, dem Fährmann auf dem Weg in den Hades einen Obolus leisten müssen? Und was passiert eigentlich in den ›Ewigen Jagdgründen‹? Vielleicht wartet ja Petrus an der Himmelstür auf uns und wir müssen ihm Rechenschaft ablegen?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise ist alles ja ganz anders …
Dieser Roman soll Spaß machen und gleichzeitig auch ein bisschen zum Nachdenken anregen. Er beruht auf den Lebensgeschichten dreier ganz unterschiedlicher Frauen, die dementsprechend auch den Himmel auf unterschiedliche Art und Weise kennenlernen.
Lassen Sie sich berühren und lachen Sie, was das Zeug hält, getreu meinem Motto:
Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
Herzlichst
Karina Moebius
Josefa
Mittwoch! Ja, es ist Mittwoch! Da ist sich Josefa ganz sicher, doch diese Erkenntnis bleibt das Einzige, das ihr einfällt. Sie steht verloren an der Bushaltestelle, irgendwo in der Pampa, im dichten Nebel. Worauf sie wartet, weiß sie nicht. Vermutlich auf den Bus, sonst würde sie ja nicht an der Haltestelle stehen. Doch wo sie hin will und was noch vor fünf Minuten war, bleibt ihr ein Rätsel. Die Umgebung ist vom diffusen Weiß des Nebels verschlungen und sie kann kein einziges Geräusch wahrnehmen. Totenstille. Verunsichert sieht sie sich um, doch außer einer schmächtigen alten Frau, die auf der Bank im Wartehäuschen sitzt, sieht sie nichts und niemanden. Die Alte lächelt ihr freundlich und aufmunternd zu, als wäre sie mit Josefa gut bekannt und wüsste Bescheid.
»Na, die schaut aus, wie wenn s’ gerade aus dem Bett gestiegen wär«, denkt Josefa, während sie die Frau, vor allem deren Frisur, kritisch mustert. Sie würde ja gerne nachfragen, wo sie hier ist, doch dann müsste sie dieser merkwürdigen Fremden gegenüber zugeben, dass ihr Kopf wie leer gefegt ist. Und das wäre ja zu peinlich! Plötzlich fährt, wie aus dem Nichts kommend, ein auf Hochglanz poliertes weißes Taxi vor. Die hinteren Türen öffnen sich scheinbar automatisch und lautlos.
»Kommen S’ Gnädigste, steigen S’ ein!«, ruft der Fahrer Josefa gut gelaunt zu. Nur zögernd nähert sie sich dem Fahrzeug und sieht sich den Jüngling hinter dem Steuer erst einmal ganz genau an. Nein, sie kennt ihn nicht, doch auch er tut, als wäre Josefa eine gute alte Bekannte.
»Ein fescher Bursch, nur die Frisur …«, geht ihr durch den Kopf, denn seine langen blonden Haare sind im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der fesche Bursch lächelt charmant und aus seinen blauen Augen blitzt der Schalk hervor.
»Kommen S’, kommen S’, sonst verpassen S’ noch den Check-in!«, treibt der Feschak in Fahreruniform Josefa zur Eile an. Sie weiß nichts von einem Check-in, aber es klingt wie etwas, das sie unter keinen Umständen verpassen sollte, und so klettert sie hurtig ins Taxi. Die Alte, die gerade noch im Wartehäuschen saß, tut, als gehöre sie dazu, und steigt wie selbstverständlich auf der anderen Seite des Fahrzeugs ein.
»Na, die ist allerhand!«, ärgert sich Josefa – das Taxi ist ja schließlich ihretwegen gekommen –, doch sie traut sich nicht, etwas zu sagen.
Das Fahrzeug fährt wie auf Schienen. So kommt es ihr zumindest vor. Kein Gerüttel und Geschüttel, nur sanftes Dahingleiten. Sonst bekommt sie von der Fahrt nicht allzu viel mit, denn sie ist mit sich selbst beschäftigt und draußen ist sowieso nur Nebel.
Wie ist sie überhaupt in diese kuriose Situation gekommen? Sie kann sich bei aller Anstrengung nicht erinnern, warum sie an dieser Bushaltestelle gestanden ist. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie die Alte neben sich auf dem Rücksitz. Obwohl niemand ein Wort spricht, beschleicht Josefa plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass sich die Alte mit dem Fahrer unterhält. Irgendetwas ist hier sehr seltsam …
»Endstation, bitte alle aussteigen!«, verkündet der fesche Bursch nach einer Weile und strahlt Josefa an. Da fällt ihr siedend heiß ein, dass sie kein Geld dabei hat und nicht weiß, wie sie den Taxifahrer bezahlen soll.
»Ent…schuldigung …«, stammelt sie, doch der Fahrer scheint ihren unausgesprochenen Gedanken bereits zu wissen und gibt freundlich Auskunft:
»Keine Sorge, Gnädigste! Die Fuhre geht aufs Haus!«
Josefa hat keine Ahnung, welches Haus gemeint sein könnte, aber sie bedankt sich höflich und steigt aus. Die Alte folgt ihr schweigend – wie ein Schatten.
Der Taxifahrer hat die beiden vor einem großen, weißen Gebäude abgesetzt. Der Nebel ist mittlerweile auf wundersame Art und Weise verflogen.
»Sehr edel«, nimmt Josefa wohlwollend zur Kenntnis, als sie ihren Blick nach oben, die Fassade entlang schweifen lässt.
›HeavenInn‹ steht da in überdimensionalen erleuchteten Lettern über dem Eingang.
»He…a...ven…Inn?«, fragend sieht sie die Alte an, die immer noch wie eine Klette an ihr hängt.
»So wie ›HolidayInn‹, nur halt mit ›Heaven‹, das kennst du doch!«, erklärt diese pragmatisch.
Josefa versteht gar nichts. Und wieso ist die Alte mit ihr per ›du‹? Gut, ›HolidayInn‹ ist ihr schon ein Begriff – auch wenn sie nicht genau weiß, warum –, aber sie hat keine Idee, was ›Heaven‹ bedeuten soll.
Völlig unerwartet tänzelt die Alte auf dem Platz vor dem großen Gebäude auf Zehenspitzen herum und summt. Und dann trifft Josefa fast der Schlag. Zu ihrem Entsetzen bemerkt sie, dass die Frau ein Nachthemd trägt! Es ist ihr bisher gar nicht aufgefallen, doch jetzt, da die komische Alte offenkundig ganz verrückt geworden ist, den Saum ihres Nachthemdes mit beiden Händen wie einen weitschwingenden Rock festhält und sich im Kreis dreht, ist es nicht zu übersehen.
»Heaven, I’m in heaven! And my heart beats so that I can hardly speak …« trällert die Alte, während sie sich wie einst Ginger Rogers im Kreis dreht.
»Herr im Himmel …«, entfährt es Josefa peinlich berührt, doch dann versteht sie. Es ist also irgendein modernes Hotel, in dem sie einchecken soll. Zumindest, wenn sie dem spitzbübischen Taxifahrer Glauben schenken soll. Und sie hat keinen Grund, dies nicht zu tun. Wahrscheinlich ist das ›HeavenInn‹ auch Teil so einer neumodischen amerikanischen Hotel-Kette und Josefa hofft inständig, dass die da wenigstens Deutsch sprechen, sonst würde hier alles noch komplizierter werden, als es ohnedies schon ist.
Entschlossen marschiert sie durch den Eingang, auf weißem Marmor direkt auf die Rezeption zu, während die Alte zwei Schritte hinter ihr immer noch tänzelt und summt.
Erwartungsvoll blickt die junge Frau hinter dem Pult den Neuankömmlingen entgegen.
»Steini! Das ist aber schön, dass du endlich da bist! Ich freu mich ja so, dich zu sehen!«, ruft sie mit Überschwang in der Stimme. Wer ist denn ›Steini‹? Einmal mehr kennt sich Josefa nicht aus. Nein, sie kann ja nicht gemeint sein, sie heißt ja … Wie um alles in der Welt heißt sie eigentlich?
»Ja, bin ich denn schon vollkommen verblödet?«, fragt sie sich heimlich. Sie ist ziemlich sicher, dass ›Steini‹ nicht ihr Name ist. Aber vielleicht doch? Nein, vermutlich ist die komische Alte, die ihr seit gefühlten Stunden am Rockzipfel hängt, damit gemeint. Ein zufälliger Blick in den großen Spiegel hinter dem Rezeptionspult lässt Josefa erstarren. Nein, das darf doch alles nicht wahr sein! Wie konnte ihr so etwas passieren? In Schockstarre erkennt sie, dass sie selbst ein Nachthemd trägt, noch dazu das gleiche altmodische Flanellmodell, in dem die Steini herumhüpft. Josefa wird schon wieder heiß und sie glaubt zu spüren, wie ihre Wangen rot werden. Sie geniert sich unendlich ob ihres unpassenden Outfits, doch die junge Frau hinter dem Pult meint tröstend:
»Nur keine Angst! Das ist schon in Ordnung so. Außerdem klärt sich später sowieso alles auf.«
Josefa weiß nicht so genau, was sich aufklären soll und es ist ihr in diesem Augenblick auch egal. Am liebsten würde sie vor Scham in den Erdboden versinken.
»Jetzt reg dich doch nicht so auf«, tröstet nun auch die alte Steini. »Nachthemden sind doch recht hübsch. Und bequem sind sie außerdem.«
Nun gut, da es hier jedem egal zu sein scheint, was sie trägt, atmet Josefa tief durch und beruhigt sich langsam.
Sie erfährt von der freundlichen jungen Frau mit Namen Maria, dass das Turmzimmer für sie reserviert ist und dass sie nur dem linken Korridor folgen und dann die Treppe bis ganz nach oben steigen muss, um dorthin zu gelangen.
»Gibt es vielleicht auch eine Zimmernummer?«, will Josefa sicherheitshalber wissen.
»Selbstverständlich!«, antwortet Maria. »Zimmer Nummer Einebilliardeneunhundertneunzehnbillioneneinhundertmilliardensechshundertzwanzigmillionenfünfzigtausendachthundertfünfzehn!«
Josefa bleibt erst einmal der Mund offen.
»Nun, es ist ein großes Haus und es steht schon sehr lange«, erklärt die junge Frau und schreibt die Zimmernummer in Ziffern auf einen Zettel. »Aber du kannst es ja nicht verfehlen. Es ist das letzte Zimmer, ganz oben im Turm.«
Zu gerne hätte Josefa ja noch wegen ihres Namens nachgefragt, doch die Frau an der Rezeption hält sie ja für eine gewisse Steini. Die würde also vermutlich gar nicht weiterhelfen können und auch angesichts der Peinlichkeit fragt sie lieber nicht. Zögernd macht sich Josefa auf den Weg und durchschreitet die Empfangshalle, geht den linken Korridor entlang, bis zum Stiegenaufgang. Die hüpfende Steini immer noch zwei Schritte hinter ihr. An der Treppe angekommen hält Josefa kurz inne, als müsste sie sich für den Aufstieg zum Turmzimmer erst einmal sammeln.
»Ja, gibt’s denn das? Die haben hier gar keinen Lift?«, murmelt sie leicht verdrossen.
»Komm schon, nur keine Müdigkeit vorschützen!« Die Steini lacht albern und hopst voraus.
»Die Alte macht mich fertig«, murmelt Josefa missmutig weiter und fragt sich einmal mehr, was die eigentlich von ihr will und warum sie tut, als seien sie allerbeste Freundinnen.
Josefa ist bereits ein paar Hundert Stufen hochgeklettert und ziemlich erstaunt, wie gut sie in Form zu sein scheint. Sie ist kein bisschen müde, nur die Geduld geht ihr langsam aus.
»Komm schon!«, ruft Steini – ebenso ungeduldig wie Josefa selbst – von ungefähr einhundert Treppen höher, zu ihr hinunter.
»Du wolltest doch immer schon hoch hinaus!« Josefa hört es über ihr kichern und sie ärgert sich gehörig. Wie kommt die dazu, so etwas zu ihr zu sagen? Was bildet sich die eigentlich ein? Ein paar Stufen weiter fällt Josefa ein, wie sie heißt. Woher diese Erkenntnis auf einmal kommt, ist ihr unklar, aber egal. Hauptsache sie weiß es wieder. Sie ist beruhigt, weil sie offensichtlich doch nicht ganz verblödet ist.
Viele Stockwerke höher ist Josefa endlich am Turmzimmer mit der Aufschrift ›1.919.100.620.050.815‹ angekommen. Zahlen scheinen ihr sehr vertraut zu sein und sie betrachtet die unendliche Aneinanderreihung von Ziffern eingehend. Die ersten zwölf kommen ihr so bekannt vor, als würde sie diese schon immer kennen. Eine ganze Weile steht sie da, betrachtet die Zahlenreihe und grübelt. Und dann weiß sie es. Steini sieht sie erwartungsvoll an.
»Am 6. Oktober 1919 bin ich auf die Welt gekommen!« Josefa freut sich und ist mächtig stolz, dass sie das Rätsel endlich gelöst hat. So ein Zufall!
»Zufall? Es gibt keinen Zufall. Und hier schon gar nicht«, kommentiert Steini Josefas Gedanken trocken.
»Ja, was denn sonst?«
»Ich bin da ganz sicher, dass es kein Zufall ist«, insistiert Steini voller Überzeugung.
»Mich interessiert der Rest der Zahl aber auch«, beharrt Josefa und vertieft sich in die verbliebenen Ziffern.
»2005? Haben wir jetzt 2005? Ich kann mich nicht mehr erinnern!«, klagt sie.
»Ja, es ist 2005.«
Josefa, die das System der Ziffern begriffen hat, interpretiert weiter.
»Fünfzehnter August 2005, also! Soll mir das auch etwas sagen?«
»Ja, das soll es!«, weiß Steini.
Es ist Josefa unangenehm, dass sie keinen Schimmer hat, und sie stellt fest, dass sie trotz ganz offensichtlich allerbester Form jetzt doch etwas erschöpft ist. Wie die alte Steini nach diesem Aufstieg so quietschfidel sein kann, ist ihr unerklärlich. So wie die aussieht, zählt sie bestimmt schon weit über achtzig Jahre.
»Komm erst einmal ins Zimmer und ruh dich etwas aus«, rät Steini und Josefa nimmt diesen Vorschlag dankbar an. Weitere Diskussionen über Zufälle oder ihr unbekannte Daten will sie im Moment nicht führen. Außerdem ist sie neugierig, was sich hinter der Tür des Turmzimmers verbirgt.
Josefa traut ihren Augen nicht. Der Raum misst gut fünfzig Quadratmeter und ist mit weißem flauschigem Teppich ausgelegt. So etwas hat sie sich immer gewünscht, weiß sie plötzlich. Aber da so ein Teppich ja unglaublich heikel und daher äußerst unpraktisch ist, hat sie sich diesen Wunsch nie erfüllt.
»Na, Putzfrau möcht ich hier nicht sein«, stellt sie fest, noch bevor sie einen Schritt in den Raum tut. Einem Impuls folgend und weil es sich so gehört, will Josefa ihre Schuhe ausziehen, bevor sie den Teppich betritt. Da bemerkt sie, dass sie barfuß unterwegs ist.
»Na servas, ich komm also nicht nur im Nachthemd, sondern auch noch bloßfüßig daher.« Sie schüttelt den Kopf und kann sich nur noch wundern. Seit Stunden folgt ein seltsames Ereignis dem anderen und sie kann sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Und dann noch diese neue beste Freundin. Irgendwie nervt ihre aufdringliche Anwesenheit, doch andererseits ist Josefa mittlerweile sogar recht froh, dass sie da ist und scheinbar immer ein bisschen mehr weiß, als sie selbst. Auch wenn sie meist nur halbe Erklärungen abgibt und recht geheimnisvoll tut. Die geheimnisvolle Steini macht es sich bereits auf dem weißen Sofa mit unzähligen Kissen in allen Regenbogenfarben gemütlich.
Vorsichtig betritt Josefa den Raum und schließt die Türe hinter sich.
»Wirklich schön!«, denkt sie ganz ehrfürchtig geworden, aber gleichzeitig stellt sie fest, dass irgendetwas an diesem Zimmer seltsam ist. In einer Ecke des Raumes, gegenüber der Tür steht das weiße Sofa, auf dem Steini thront, davor einige komfortabel wirkende Fauteuils und ein teuer aussehender kleiner Tisch aus geschliffenem Kristallglas. In der anderen Ecke erblickt Josefa zu ihrer großen Freude ein geräumiges weißes Himmelbett. Eine Anzahl kleinerer und größerer Kissen in denselben Regenbogenfarben wie auf dem Sofa liegen dekorativ an seinem Kopfende. Und jetzt bemerkt Josefa, was hier so seltsam ist. Die Fenster im Raum haben gelbe Scheiben. Kathedralglas, weiß Josefa. Dieses Glas lässt keinen Blick hinaus zu, nur das Licht von draußen kann gelb getönt herein. Es wirkt ungewöhnlich, aber durchaus freundlich. Als ob die Sonne persönlich durchs Fenster hereinschauen würde.
»So ein Schmarrn, dass man hier nicht hinaussieht«, murmelt sie. »Wir sind ja so hoch oben und hätten sicher eine ganz wunderbare Aussicht.«
»Das kommt später«, erklärt die allwissende Steini, doch sie erklärt nicht, wie sie das meint. Stattdessen fordert sie Josefa auf, es sich doch im Himmelbett gemütlich zu machen und ein bisschen zu ruhen.
»Siehst du, wie gut es ist, dass du schon das Nachthemd anhast«, witzelt sie, doch Josefa hört nichts mehr. Sie ruht nicht nur, sondern schläft tief und fest und lange.
»Auf, auf, ihr Hasen! Hört ihr nicht den Jäger blasen?«, trötet Steini gut gelaunt durch den Raum.
Josefa reibt sich die Augen. Sie braucht eine ganze Weile, um sich zurechtzufinden. ›Auf, auf, ihr Hasen …‹, was ist denn das für ein Schmarrn? Von irgendwoher kennt sie es. Ja, damit hat sie ihr Kind aufgeweckt. Plötzlich erinnert sie sich an ihre Tochter Helga, die diesen Morgengruß gar nicht leiden konnte und wann immer sie ihn anhören musste, schon beim Aufwachen ungehalten oder gar zornig war. Jetzt kann Josefa nachvollziehen, warum.
»So ein Blödsinn aber auch!« Sie erinnert sich plötzlich, dass sie sich manchmal einen Spaß daraus gemacht und die Kleine ganz bewusst damit sekkiert hat. Jetzt fühlt sie sich davon äußerst unangenehm berührt und schuldig. So etwas macht man doch nicht! Ein Kind zu ärgern ist doch wirklich gemein. Damals, als junge Frau, fand sie es jedoch recht amüsant. Josefa schiebt diesen Gedanken eilig beiseite.
»Gibt es hier einen Spiegel?«, will sie plötzlich wissen.
Steini lächelt und zeigt auf eine Tür, die Josefa bisher noch gar nicht entdeckt hat. Wie von der Tarantel gestochen hüpft sie aus dem Bett und erstürmt den Raum mit dem Spiegel. Doch bereits nach dem ersten Schritt ins Zimmer hält sie erschrocken inne. Dies ist nicht der Raum mit dem Spiegel, es ist ein Raum voller Spiegel. Zögernd setzt Josefa einen Fuß vor den anderen und geht auf die Mitte des Spiegelkabinetts zu, um dort festzustellen, dass die Spiegel an den Wänden ihr Bild mindestens dreißigfach von allen Seiten reflektieren.
»Meine Güte, bin ich alt und schiarch!«, entfährt es ihr. Und ganz plötzlich und unerwartet erkennt sie, dass sie genau so aussieht wie die Alte, die seit gestern ständig um sie herumscharwenzelt. Josefa fühlt sich schrecklich und Tränen treten in ihre Augen.
»Irgendwo ist bei mir die Zeit stehen geblieben. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass ich so alt bin.«
Steini steht in der Tür und sieht Josefa mitfühlend an.
»Die Zeit hat damit nichts zu tun. ›Die Zeit‹, so wie du sie kennst, gibt es in Wahrheit gar nicht. Aber das möchte ich jetzt gar nicht vertiefen. Es gibt Wichtigeres, das du heute begreifen musst.«
Josefa hat sich rasch wieder gesammelt und sieht die Steini herausfordernd an:
»Ja, als Erstes möchte ich wissen, wer du bist!«
»Hast du denn gar keine Idee, wer ich sein könnte? Ich meine, ich sehe aus wie du, ich bin immer bei dir und passe auf dich auf, was ich übrigens schon immer getan habe …«
Josefa hat einen spontanen Gedanken, den sie aber gar nicht auszusprechen wagt und so hilft ihr Steini einmal mehr auf die Sprünge.
»Ja, ich bin dein Schutzengel! Auch wenn es dich überrascht, aber ich war schon vor dem Tag deiner ersten Geburt an immer um dich herum und habe dich in den schwierigen Zeiten geführt.«
Josefa ist überrascht, gleichzeitig aber auch nicht. Was die Steini mit ›erster Geburt‹ meinen könnte, weiß sie natürlich auch nicht, doch in diesem Augenblick will sie sich mit solchen Nebensächlichkeiten gar nicht beschäftigen.
»Aber warum seh ich dich denn erst jetzt, wo ich schon so alt bin? In den schwierigen Zeiten wär’s hilfreich gewesen!«
»Weil sich etwas Einschneidendes in deinem Leben verändert hat.«
»Wie? Was und wann hat sich etwas verändert? Ich weiß von nichts.«
»Am 15. August 2005.«
Josefa denkt angestrengt nach. Das ist der zweite Teil ihrer Zimmernummer und gestern konnte und wollte sie ja nicht mehr darüber nachdenken.
»War gestern der 15. August 2005?«, fragt sie Steini und diese nickt zustimmend.
»Ich kann also meinen Schutzengel seit gestern, dem 15. August 2005, sehen.« Josefas Augen weiten sich und langsam scheint ihr die Antwort auf Frage, was es mit diesem Datum auf sich hat, zum Greifen nah.
»Ich bin am 6. Oktober 1919 geboren worden und … am 15. August 2005 … gestorben …«, erkennt sie und ihre Stimme versagt. Sie muss sich erst einmal auf den Boden setzen. Steini setzt sich ihr gegenüber.
»Ja, du bist gestern gestorben. Willkommen im richtigen Leben!«
»Das verstehe ich nicht«, flüstert Josefa. »Ich bin also tot …«
Steini sieht sie ernsthaft an.
»Josefa, wenn du tot bist, wieso stehst du dann hier vor mir? Fühlst du dich denn tot?«
»Nein, gar nicht, aber irgendwie anders!«
»Tot sein oder ›den Tod‹ gibt es gar nicht«, erklärt Steini mitfühlend. »Das Leben währt ewig, es ändert nur seine Form.«
»Ja, aber wie … und was geschieht denn jetzt mit mir?«, fragt Josefa verunsichert. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.
»Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Und außerdem bin ich ja immer bei dir!«
Josefa sitzt eine Weile schweigend im Spiegelzimmer und denkt angestrengt nach. Steini lässt sie erst einmal in Ruhe und will ihr die Zeit geben, die sie braucht, um sich mit dem Gedanken, nicht mehr unter den Lebenden – so wie Josefa das kennt – zu weilen, anzufreunden.
»Du, Schutzengerl«, fragt Josefa, als sie sich wieder gesammelt hat, den großen Raum mit Himmelbett und gelbem Fensterglas betritt und sich zu Steini auf das bequeme Sofa setzt. »Wie heißt du eigentlich?«
»Du kannst mich Steini nennen«, kichert Steini. »Die himmlischen Namen der Engel sind in irdischen Sprachen sowieso unaussprechlich. Und ich finde dieses ›Steini‹ ganz reizend.«
»Also hat die junge Frau an der Rezeption tatsächlich dich begrüßt?«
»Nein, nein, dieses ›Steini‹ galt schon dir, das weiß ich ganz genau.«
»Ja, aber warum hat sie mich Steini genannt? Ich heiße doch Josefa!«, bohrt diese weiter. Gestorben zu sein war ja gar nicht so übel, bei Weitem nicht so schrecklich, wie sie sich das immer vorgestellt hat, doch überaus kompliziert.
»Josefa, Josefa, es wird sich alles aufklären. Aber das geht nicht an einem Tag. Nicht einmal hier.«
Das mit dem ›hier‹ versteht Josefa auch nicht ganz, aber sie möchte jetzt gar nicht darüber nachdenken müssen, sie hat ganz andere Sorgen.
»Sag Steini, müssen wir denn wirklich die ganze Zeit im Nachthemd herumlaufen? Gehört das hier so?«, will sie wissen. Steini lacht und erklärt, dass ein Nachthemd keine Voraussetzung sei, um in den Himmel zu kommen, und dass sie sich jederzeit etwas Passendes wählen könnte.
»Na, dann hätte ich gerne ein Chanel-Kostüm«, neckt Josefa ihren Schutzengel. Sie meint den hohen Anspruch an ihre Garderobe nicht wirklich ernst, doch sie hat das dringende Bedürfnis ihren Schutzengel etwas aus der Reserve zu locken.
»Hast du einen speziellen Farbwunsch?«, fragt Steini erstaunlich unbeeindruckt und tänzelt summend ins Spiegelzimmer.
»Blau-weiß, wäre schön, das passt zu meinen Augen!«, ruft ihr Josefa provokant nach, doch sie staunt nicht schlecht, als Steini mit einem blau-weißen Chanel-Kostüm über dem Arm daherkommt. Bevor Josefa noch einen Ton sagen kann, zieht der Schutzengel noch ein kleines Paket mit Unterwäsche und Strümpfen ans Licht. Diskret verzieht sie sich einmal mehr tänzelnd ins Spiegelzimmer. Voller Bewunderung für die gebrachten Gaben kleidet sich Josefa an, um sich danach vor den unzähligen Spiegeln zu bewundern. Steini wartet bereits auf sie – im Chanel-Outfit. Josefa wundert langsam gar nichts mehr. Sie betrachtet ihr Spiegelbild und stellt fest, dass ihre Frisur wirklich zu wünschen übrig lässt. Vorlaut erkundigt sie sich, ob es hier im Haus auch einen Friseur gäbe.
»Nein, einen Friseur gibt es nicht«, lacht Steini, »aber den brauchen wir auch nicht.« Sie fährt Josefa mit den Fingern durchs Haar und als sich diese neuerlich ihrem Spiegelbild zuwendet, sitzt die Frisur perfekt. Doch da bemerkt sie auch schon etwas ganz anderes:
»Steini! Schuhe! Ich brauche doch Schuhe, ich kann ja hier nicht in Strümpfen herumlaufen!«
»Hmmm … Eigentlich brauchst du keine Schuhe … Du bräuchtest nicht einmal Strümpfe.«
»Was? Um Himmels willen, wie sieht denn das aus? Nein, das geht gar nicht!«, beharrt Josefa. Steini seufzt und gibt sich geschlagen. Woher auch immer, plötzlich steht ein Paar passender Pumps vor Josefa. Die schlüpft blitzschnell hinein, ist ein paar Zentimeter größer und findet ihr Erscheinungsbild nun nahezu perfekt. Zufrieden stellt sie fest, dass sie auch wesentlich frischer aussieht als noch vor wenigen Stunden, und sie fühlt sich auch irgendwie besser als gestern. Als ihr Blick auf Steini fällt, muss sie zugeben, dass auch Steini nicht mehr so zerknittert und uralt aussieht und mit der zerzausten Alten im Nachthemd gar nicht mehr zu vergleichen ist.
»Sag, sehen alle Schutzengel so wie ihre Schutzbefohlenen aus?«
»Oh nein! Jeder Schutzengel kann seine Erscheinung ganz nach Belieben der jeweiligen Situation anpassen.«
Josefa grübelt.
»Musst du dann unbedingt so aussehen wie ich? Irgendwie irritiert mich das. Könntest du nicht vielleicht ein hübscher junger Mann sein?«
»Können tät ich schon, aber das würde dich ja vom Wesentlichen ablenken!«, kichert Steini und zwinkert Josefa zu.
Als sich die beiden gerade auf dem Sofa niedergelassen haben, fällt ihr auf, dass der Steini-Engel, im Gegensatz zu ihr, immer noch keine Schuhe trägt.
»Na ja … Jeder wie er will«, denkt sie und verkneift sich eine diesbezügliche Bemerkung in Richtung Schutzengel.
Unerwartet geht die Tür auf und Maria von der Rezeption kommt unaufgefordert ins Zimmer.
»Seid ihr so weit? Es geht gleich los.«
»Was geht los?«, fragt Josefa aufgeregt. Schon wieder weiß sie von nichts.
»Wir haben jetzt einen wichtigen Termin«, gibt sich Steini wieder einmal kryptisch.
»Na gut, dann halt nicht« , seufzt Josefa und folgt den beiden eilig aus dem Zimmer.
Maria, Josefa und der Steini-Engel marschieren schweigend und im Gänsemarsch durch einen langen, hell erleuchteten Korridor. Was wird jetzt wohl passieren? Und warum machen die zwei so ein Geheimnis daraus? Josefa brennt vor Neugierde und die Aufregung steigt mit jedem Schritt, doch sie bemüht sich, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein paar Mal dreht sie sich zu Steini um und sieht sie fragend an. Doch die grinst nur und hilft ihr kein bisschen. Nach einer Weile hält Maria an einer Tür mit dem Schild ›Erstgespräch‹. Natürlich erklärt Josefa niemand, was das bedeuten soll.
»Wir sind da«, stellt Maria überflüssigerweise fest. »Ich lasse euch jetzt wieder allein, ihr braucht mich im Moment nicht mehr.« Ohne weitere Erklärungen schreitet sie den langen Gang wieder zurück und als sich Josefa umdreht, um ihr noch einmal nachzusehen, ist Maria bereits verschwunden, als hätte sie sich in Nichts aufgelöst.
»Wo ist sie denn hin verschwunden?«, will Josefa wissen, aber Steini scheint ihre Frage zu überhören.
»Was kommt denn jetzt? Was passiert denn jetzt mit mir?«, löchert Josefa die Steini weiter.
»Gehen wir hinein, dann wirst du’s wissen!«, kommt die unerwünscht lapidare Antwort.
Als Josefa zum Klopfen an der Tür ansetzt, meint Steini:
»Das brauchst du hier nicht, geh einfach.«
Also geht Josefa hinein.
»Willkommen, Josefa!«, wird sie freundlich begrüßt. »Ich bin Michael!«
»Sie?«, fragt Josefa verwundert. Augenblicklich erkennt sie ihren Taxifahrer von gestern hinter dem gläsernen Schreibtisch. Doch im Gegensatz zum vorigen Tag wirkt er heute viel größer, mächtiger und sogar irgendwie majestätisch. Keine Spur von seiner spitzbübischen, jungenhaften Ausstrahlung. Seine weiße Kleidung kann Josefa nicht so richtig zuordnen. Es ist viel, sehr viel Stoff in Falten gelegt und an der Schulter mit einer glänzenden Spange zusammengehalten. Über die andere Schulter ist ein Teil des Stoffes wie ein Umhang gelegt. Josefa ist fasziniert und irritiert gleichzeitig. So etwas hat sie noch nie gesehen, das weiß sie. Es wirkt so … majestätisch eben. Sogar Michaels Frisur gefällt ihr heute besser – wenn auch lange Haare etwas für Mädchen sind.
»Nimm Platz!«, fordert er sie zuvorkommend auf. »Und du komm auch her, Steini!«, wendet er sich mit einem fast unmerklichen Lächeln an die Schutzengel-Steini, die ganz entgegen ihrer Art noch keinen Schritt in den Raum getan hat und die seltsam zurückhaltend und ehrfürchtig an der Tür steht. Langsam kommt sie näher und bleibt hinter Josefas Stuhl stehen.
»Das ist der Erzengel Michael.«, flüstert sie ihr ergriffen zu.
»Du bist … äh … Sie … sind der Erzengel Michael?«, stottert Josefa ungläubig. »Aber Sie haben mich doch mit dem Taxi hergebracht …«
»Das stimmt allerdings, Josefa! Und lass bitte das förmliche ›Sie‹ weg. Das ist wirklich nicht notwendig. Wie du dir aber denken kannst, ist es nicht unbedingt die Aufgabe eines Erzengels, ein Taxi zu fahren. Für dich habe ich aber eine Ausnahme gemacht, denn es hat jemand für dich gebetet, als du gestorben bist. Ich wurde gebeten, dich persönlich auf deinem Weg zu begleiten und zu beschützen. Und wenn jemand so einen konkreten Wunsch äußert, dann tue ich das natürlich sehr gerne!«
»Für mich gebetet?«, fragt Josefa ungläubig und ehrfürchtig. »Wer war das denn?«
»Das ist im Moment nicht gar nicht so wichtig. Einen Schritt nach dem anderen.«
Der Erzengel greift nach der dicken Mappe auf dem Schreibtisch und blättert eine Weile in deren unzähligen Seiten. Josefa erspäht ihren Namen und die Aktenzahl ›1.919.100.620.050.815‹ auf dem Aktendeckel.
»Entschuldigung, darf ich Sie … dich etwas fragen?«, erkundigt sie sich vorsichtig.
»Was immer du möchtest!«
»Die Aktenzahl da auf dem Deckel … Steht die schon immer drauf? Ich meine … die ganze Zahl?«
»Ja, natürlich«, antwortet Michael.
»Aber … das würde doch bedeuten, dass schon seit Anfang an feststand, wann ich sterben würde!«, ruft sie fassungslos.
»Aber ja, du hast dir das Datum selbst ausgesucht, als du dich für dieses Leben auf der Erde entschieden hattest!«
»Was? Ich soll mir das ausgesucht haben? Daran kann ich mich aber gar nicht erinnern!« Josefa protestiert innerlich. Für lauten Protest reicht ihr Mut nicht aus, denn der Erzengel wirkt nicht nur majestätisch, sondern fast ein bisschen einschüchternd. »Dann ist also das Leben vorherbestimmt …«, resümiert sie statt eines offenkundigen Protests.
»Nicht alles, Josefa! Nicht alles …«
So wie Michael dies sagt, traut sie sich nicht mehr, weiterzufragen. Sie hält lieber den Mund, auch wenn sie das Gefühl hat, dass ihr tausend Fragen durch den Kopf schwirren. Der Erzengel macht Notizen auf einem bis dato leeren Blatt Papier und Josefa wüsste natürlich nur zu gerne, was er da schreibt. Als Michael mit seinen Anmerkungen fertig ist, lehnt er sich zurück und mustert Josefa eingehend. Sie fühlt sich unwohl. Durchschaut und überraschend schuldig, obwohl sie gar nicht wüsste, warum.
»Josefa, in der nächsten Zeit wird es deine Aufgabe sein, dir dein Leben auf der Erde ganz genau anzusehen und festzustellen, in welchem Bereich es noch Verbesserungsbedarf gibt. Steini wird dich dabei nach Kräften unterstützen. Und natürlich helfen auch all jene, mit denen du in diesem Leben zu tun hattest«, bestimmt der Erzengel. »Sofern sie schon da sind.«
»Ja, aber ich kann mich doch an nichts erinnern!«, klagt Josefa. Ihr ist plötzlich so weinerlich zumute und sie fühlt sich von der ihr zugedachten Aufgabe überrollt und überfordert.
»Nur keine Bange, das kommt schon mit der Zeit! … Du kannst dich wirklich an gar nichts erinnern?«
»Auf auf, ihr Hasen!«, trällert Steini ganz leise, doch es reicht aus, um Josefa den richtigen Impuls zu geben. »Doch! An mein Kind kann ich mich schon erinnern!«, ruft die gerade noch verzagte Josefa jetzt freudestrahlend.
Michael blickt verwundert von einer zur anderen. »Na fein, ihr habt ja ganz offensichtlich eure eigene Art der Kommunikation. Na, mir soll es recht sein. Wenn’s funktioniert!«, lacht er.
»Steht alles in der Akte, auf Seite 465!«, erklärt Steini sofort beflissen.
Michael wirft Steini einen wissenden Blick zu, die nickt und Josefa ärgert sich. Immer dieses unhörbare Getuschel hinter ihrem Rücken. Und überhaupt: Was steht da alles über sie in dieser blöden Akte? Der Ärger weicht brennender Neugierde.
Michael blickt sie erneut an und wiederum fühlt sie sich durchschaut und schuldig. Vielleicht sollte sie sich nicht immer gleich so ärgern, wenn man ihr nicht alles sofort auf die Nase bindet. Aber das ist gar nicht so einfach. Der Erzengel hat etwas von ›Verbesserungsbedarf‹ dahergeredet und obwohl sie zuerst keine Ahnung hatte, was er damit gemeint haben könnte, beschleicht sie jetzt der Verdacht, dass ›Geduld‹ nicht zu ihren irdischen Tugenden zählte und dies womöglich der Kategorie ›Verbesserungsbedarf‹ zuzuordnen ist. Aber wie sie ihr Leben ansehen sollte, wo sie sich doch an fast nichts erinnern kann, bleibt ihr vorläufig ein Rätsel. Zum Glück ist ja die Steini da und wird hoffentlich wie immer Bescheid wissen.
»Ihr könnt jetzt gehen und euch an die Arbeit machen. Wir sehen uns bald wieder und ich bin gespannt, welche Fortschritte du dann schon gemacht haben wirst«, verabschiedet der Erzengel die überforderte Josefa und die mittlerweile wieder locker gewordene Steini.
Als Josefa vor die Tür in den langen Korridor tritt, dreht sie sich noch einmal zu Michael um. Doch der ist längst verschwunden. Mit ihm der Aktenordner mit der Nummer ›1.919.100.620.050.815‹.
»Sonderbar … Alles sehr sonderbar.« Sie schüttelt den Kopf und trabt neben Steini, die schon wieder herumtänzelt, zurück Richtung Turmzimmer.
*
»Es gibt also Schutzengel und Erzengel«, resümiert Josefa, als sie mit Steini wieder auf dem Sofa im Turmzimmer sitzt.
»Ja, aber es gibt auch noch viele andere Engel, eine ganze Hierarchie davon, und sie alle haben unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen«, weiß Steini. »Aber vorerst reicht es, wenn du deinen persönlichen Schutzengel kennst. Und du hast ja offensichtlich sogar einen persönlichen Erzengel. Das kommt nicht so oft vor. Normalerweise führt ein einfacher Verwaltungsengel das Erstgespräch.«
»Ein Verwaltungsengel? So etwas wie ein Beamter?«, grübelt Josefa.
»Ja und nein«, lacht Steini. »Wie kommst du denn darauf? Kannst du dich an einen Beamten erinnern?«
»Ich habe keine Ahnung. Es ist mir einfach so eingefallen.«
»Siehst du, Josefa, dir fallen schon die ersten Dinge über dein Leben ein. Ihre Bedeutung werden wir nach und nach ergründen.«
»Aber wie soll das denn funktionieren?«, fragt Josefa verdrossen. »Ich bin doch ganz offensichtlich ziemlich alt geworden. Fast sechsundachtzig Jahre. Da brauchen wir ja eine Ewigkeit, wenn mir die Dinge nur ›nach und nach‹ einfallen!«
»Keine Panik, du Griesgram! Das ist nur am Anfang so, irgendwann geht es dann viel schneller. Und außerdem haben wir ja reichlich Zeit.«
Das hofft Josefa inständig. Wie sie die nötige Geduld aufbringen soll, ist ihr allerdings immer noch unklar.
»Sag, Steini«, fällt ihr plötzlich ein, »wieso warst du denn so ehrfürchtig und still, als du Michael im Zimmer erkannt hast? Du hast ihn doch auch im Taxi gesehen und da warst du ganz entspannt.«
»Ja, stimmt! Aber er hat sich mir nicht zu erkennen gegeben. Ganz offensichtlich wollte er es nicht. Mein Verhalten hätte dich dann vermutlich noch mehr verunsichert, als du es sowieso schon warst!«
»Sehr umsichtig«, stellt Josefa wohlwollend fest.
Eine Weile sitzen Schutzengel und Schützling schweigend nebeneinander auf dem Sofa und Josefa grübelt. Langsam fallen ihr die Augen zu. Sie fragt sich ernsthaft, wovon sie so erledigt ist. Es sind doch erst ein paar Stunden, seit sie aus ihrem Himmelbett aufgestanden ist. Zumindest kommt es ihr so vor. Doch andererseits scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein. Hier ist alles einerseits normal und gleichzeitig ganz unnormal. Josefa grübelt weiter. Sie kann sich nicht daran erinnern, was vor ihrem Eintreffen an der Busstation geschehen war. Sie weiß nicht, wer sie ist und woher sie kommt, und doch erscheinen ihr manche Dinge ganz vertraut, andere wiederum kommen ihr sehr seltsam und unbekannt vor. Eben nicht ›normal‹. Sie kann sich all das nicht erklären. Doch je länger sie nachdenkt, desto normaler kommt ihr das Unnormale vor, und schließlich kennt sie sich gar nicht mehr aus.
»Ach, Steini …«, seufzt sie.
»Schritt für Schritt, meine Liebe. Wir haben viel Zeit. Ich rate dir, wieder ein bisschen auszuruhen, und danach sehen wir weiter. Zerbrich dir nicht den Kopf, du wirst die Dinge sowieso erst nach und nach verstehen.«
›Nach und nach‹, daran muss sich Josefa ganz offensichtlich erst gewöhnen. Hier scheint alles ›nach und nach‹ und ›Schritt für Schritt‹ zu geschehen. Resignierend erhebt sich die Ungeduldige vom Sofa und legt sich auf ihr Bett. Wer es wohl gemacht hat? Sie war es nicht, denn dafür ist gar keine Zeit gewesen. Mit diesem Gedanken schlummert sie ein. Steini setzt sich ans Fußende des Bettes. Langsam löst sich die menschliche Form des Engels auf und sie wird zu einem glitzernden Etwas, das an einen Stern erinnert. Liebevoll umhüllt das Glitzern seinen Schützling und bewacht ihren Schlaf.
*
»Mutti?« Das junge Mädchen beugt sich über Josefa und berührt sie sanft an der Schulter. Josefa schlägt die Augen auf und ist wie vom Blitz getroffen.
»Helga! Was machst du denn hier?«, ruft sie verwundert und setzt sich blitzschnell auf.
»Nun, ich war doch schon vor dir hier. Kannst du dich nicht mehr erinnern?«, fragt Helga und setzt sich auf die Bettkante.
»Du warst schon vor mir hier?«, fragt Josefa ungläubig, anstatt eine Antwort zu geben. Langsam steigt ein düsteres Bild in ihr hoch.
Sie sieht einen Eichensarg am offenen Grab und sie erinnert sich, wie sie zwei verzweifelte Schritte nach vorne macht und den Sarg berührt. »Mein Kind! Mein Kind!«, ruft sie in ihrem Schmerz. Welch schrecklicher Gedankensplitter.
Tränen treten in Josefas Augen, denn langsam wird ihr das ganze Ausmaß dieser dunklen Erinnerung klar. Ja, ihre Tochter ist so jung gestorben. Sie wurde gerade einmal vierundfünfzig Jahre alt. Moment! Das Mädchen, das auf der Bettkante sitzt, wirkt aber, als wäre sie gerade mal siebzehn oder achtzehn Jahre alt.
»Du siehst so jung aus«, stellt Josefa fest.
»Ja, Mutti, wenn wir lange genug hier sind und unser Leben bereits ausreichend reflektiert haben, begreifen wir auch, dass wir nicht mehr an irgendein Aussehen gebunden sind, weil unser Körper eben nicht mehr irdisch ist.«
»Ach, das ist ja interessant! Dann kann ich auch irgendwann einmal wieder jung aussehen?« Josefa hat nur die Hälfte verstanden, doch sie ist höchst erfreut. Einen Augenblick lang denkt sie an das erschütternde Spiegelbild, in dem sie sich an der Rezeption selbst erkannte.
»Natürlich kannst du das, aber das ist eigentlich gar nicht wichtig. Das Wichtigste ist, dass du dir dein Leben ansiehst und dass du erkennst, was du gut und was du weniger gut gemacht hast.«
»Und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt«, erklärt sich Josefa selbst mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme. »Davon habe ich schon gehört!«
»Und? Bist du schon fündig geworden, Mutti?«, fragt Helga.
»Nein, leider noch nicht. Das dauert hier alles so lange.« In ihrer Stimme schwingt Bedauern.
»Wir haben ja Zeit. Komm, steh auf du Schlafmütze! Wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich.«
»Sag, wo ist denn eigentlich die Steini?«, wundert sich Josefa, und krabbelt aus dem Bett.
»Steini? Wieso? Wer ist denn die Steini? Ich meine, das warst doch du, wenn ich mich recht entsinne!«, entgegnet Helga überrascht.
»Hahahaha! Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Augenblick so rasch kommt«, lacht Steini, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Jetzt ist Josefa irritiert. Welcher Augenblick? Und wieso soll sie die Steini sein oder gewesen sein?
»Helga, schön, dich wiederzusehen!«, ruft der Steini-Engel erfreut. »Ich bin Steini. Du hast ganz offensichtlich deine Rückschau schon erledigt!«
»Ja, das habe ich, nur noch ein paar Kleinigkeiten«, antwortet das Mädchen und wundert sich, warum Josefas Schutzengel ›Steini‹ genannt wird.
Zu dritt machen sie es sich in der Sitzecke gemütlich. Steini thront wie immer auf dem Sofa, Helga sitzt neben ihr und Josefa nimmt zum ersten Mal in einem der beiden Fauteuils gegenüber Platz, als die Tür aufgeht und Maria erscheint. Ganz selbstverständlich setzt sie sich zu ihnen in den zweiten Fauteuil.
»Servus, Mimi!«, ruft Helga erfreut und strahlt über das ganze Gesicht.
»Grüß dich, Helga! Wie schön, dass wir jetzt alle beinander sitzen.«
Josefa sieht fragend von einer zur anderen. Ganz offensichtlich weiß hier jeder außer ihr Bescheid.
»Sollte ich dich denn auch kennen, Maria?«, fragt sie.
»Aber ja, Steini! Es ist halt schon so lange her, dass wir einander gekannt haben. Ich weiß, du wunderst dich seit dem dem ersten Augenblick hier, dass ich dich ›Steini‹ nenne. Aber das habe ich schon immer getan. Es wird Zeit, dass du dich erinnerst, warum.«
»Ja, warum wohl …?«
Die Runde schweigt und Josefa denkt nach, aber sie tappt gewissermaßen im Dunkeln. Plötzlich reicht ihr der Steini-Engel ein Blatt Papier und einen Stift.
»Unterschreib mal!«, fordert sie auf. Und Josefa schreibt – ohne lange nachzudenken: ›Josefa Steinwendner‹.
»Steinwendner? Ich habe ›Steinwendner‹ geheißen?« Überrascht betrachtet sie ihre Unterschrift und sieht im Geiste, wie sie fast ein ganzes Leben lang immer und immer wieder mit diesem Namen unterschrieben hat. Ja, langsam kommt er ihr nicht nur bekannt, sondern sogar richtig vertraut vor. Also ist ›Steini‹ wohl ein Kosename, der sich aus ihrem Nachnamen ableitet. Sie sieht ihren Schutzengel erstaunt an. Wie ist denn das möglich? Wieso kann sie denn plötzlich so einfach unterschreiben, als hätte sie ihren Namen niemals vergessen?
»Diese Information stammt aus der großen Chronik.«
»Große Chronik …«, wiederholt Josefa trocken. »Muss ich wissen, was das ist?«
»Ja, natürlich, meine Liebe!«, ruft Steini. »Alles, wirklich alles, was dich ausmacht, ist da drinnen aufgezeichnet. All deine Gedanken, Gefühle, alles was du jemals gesagt oder getan hast, bleibt auch erhalten, wenn du nicht mehr auf der Erde lebst. Nichts geht verloren. Und jetzt hast du dich durch das Schreiben selbst überlistet und auf einen Teil dieses Informationsspeichers zugegriffen, den du nur mit Nachdenken ganz offensichtlich nicht erreichen konntest. Und wenn du erst einmal Zugriff auf eine der Informationen hattest, dann wird es beim nächsten Mal schon einfacher gehen und irgendwann ist es ganz selbstverständlich – du musst es nur wirklich wollen!«
»War das bei euch auch so langwierig?«, Josefa schnauft überfordert und sieht Helga und Maria abwechselnd an.
»Eh klar, ich hab die Arschkarte gezogen!«, ärgert sie sich, als beide dies verneinen.
»Josefa! Contenance, wenn ich bitten darf!« Steini setzt ein strenges Gesicht auf und Josefa hält sich etwas beschämt die Hand vor den Mund. »Aber ich verstehe dich«, lacht Steini nun herzlich, als sie die peinlich berührte Josefa ansieht. »Der ›Gstieß‹ wäre dir lieber gewesen!«
»Ja, und der ›Pagat‹ zum Schluss!«, kontert Josefa wie aus der Pistole geschossen. Steini zerkugelt sich und wirft einen Stapel Spielkarten auf den kleinen gläsernen Tisch. Helga verdreht die Augen und Josefa wundert sich über das, was sie da eben gesagt hat. Irgendetwas dämmert in ihr. Es liegt ihr auf der Zunge, ziert sich jedoch, an die Oberfläche ihres Geistes zu dringen. Neugierig greift sie nach den Karten.
»Um Himmels willen!« Helga schüttelt sich angeekelt. »Ich dachte wirklich, dass ich das Thema erledigt hätte! Jetzt verfolgt mich dieses scheiß Kartenspielen bis hierher!«
Steini und Maria sehen Helga erschrocken an und Maria will schon nachfragen, was denn los sei, da sprudelt Josefa los:
»Kartenspielen! Ja, ich habe doch immer so gern Karten gespielt! Jetzt weiß ich es wieder ganz genau! Am allerliebsten Tarock!« Sie ist komplett aus dem Häuschen, strahlt über das ganze Gesicht und beäugt die Spielkarten in ihrer Hand.
»Genau! Und damit hast du mir das Leben vermiest.« Ärgerlich springt Helga auf und Josefa lässt die Karten eingeschüchtert wieder fallen. Sie versteht schon wieder nicht, worum es eigentlich geht. In diesem Augenblick erscheint eine männliche Gestalt hinter Helga und legt ihr seine Hand auf die Schulter. Augenblicklich beruhigt sie sich, setzt sich wieder nieder und sieht ihre Mutter an.
»Es tut mir leid, Mutti! Ich wusste gar nicht, dass mich das Thema immer noch derart aufregt.«
»Ja, aber wieso denn nur, Kind? Das ist doch nichts Schlimmes, oder?«
»Natürlich nicht«, antwortet Helga kleinlaut. »Aber für mich schon. Ich erinnere mich nur zu gut, dass ich stundenlang keinen Mucks von mir geben durfte. Wenn ihr daheim gespielt habt, war das nicht ganz so schlimm, denn da hatte ich ja mein gewohntes Umfeld und zumindest ein paar Spielsachen. Aber wenn wir irgendwo auf Besuch waren und ich stundenlang nur dasitzen musste und eine Dachtel nach der anderen bekam, wenn ich nur laut atmete, dann war das Kartenspielen die Hölle für mich! Ich bin aber wirklich überrascht, dass es mich nach so vielen Jahrzehnten immer noch derart aus der Reserve lockt.«
Josefa fühlt sich augenblicklich schlecht. Die kurze Euphorie über das Auffinden dieses winzigen Puzzlestückchens mit dem Namen ›Tarock‹, das ganz offensichtlich einen großen Stellenwert in ihrem Leben hatte und gleichzeitig ihr Kind immer noch so unglücklich stimmt, weicht einem unliebsamen Schuldgefühl.
»Wahrscheinlich war ich eine Rabenmutter«, murmelt sie frustriert.
»Nein, das warst du ganz und gar nicht«, mischt sich jetzt der junge Mann hinter Helga ein. »Oh, Entschuldigung! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin der Charly. Meines Zeichens Schutzengel von Helga. Nein«, wiederholt er, »eine Rabenmutter warst du ganz sicher nicht. Aber niemand ist in seinem Erdenleben perfekt. Ihr seid ja schließlich zum Lernen dorthin gegangen. Und Helga hat sich halt so manches anders gewünscht. Auch wenn sie bei der Lebensplanung genau wusste, worauf sie sich einlassen würde, wenn sie zu euch käme …«
»Auf was sie sich einlassen würde? Das klingt ja fürchterlich«, seufzt Josefa unglücklich. »Ich fürchte, ich werde da noch so einigen Verbesserungsbedarf aufdecken.«
»Den gibt es bei allen«, tröstet Steini.
»Was glaubst du, was ich mir alles anschauen musste«, mischt sich nun auch Maria ins Gespräch. »Meine Schwiegertochter hat mich gründlichst aufgeklärt … Aber das war ja gut so. Du musst dir immer bewusst machen, dass wir uns für unser Leben ganz bestimmte Ziele gesetzt haben, die wir mehr oder weniger gut erreichen. Und dann evaluieren wir einfach die Zielerreichung. Was erreicht wurde, wird abgehakt, und was nicht, kommt auf die ›Noch-zu-erledigen‹-Liste fürs nächste Mal. Fertig.«
Marias pragmatischer Ansatz gefällt Josefa und gleichzeitig kommt er ihr irgendwie vertraut vor. Irgendjemand aus ihrem früheren Leben ist genau so gewesen. Sie erinnert sich nur nicht mehr, wer das war. Nun, irgendwann würde sie schon an der richtigen Stelle in der hochgepriesenen Chronik blättern und fündig werden.
»Wir werden uns jetzt verabschieden«, unterbricht Charly ihre Grübelei. Und an Josefa gerichtet: »Ich glaube, du hast fürs Erste schon reichlich Input bekommen und wirst eine Weile beschäftigt sein.«
Helga umarmt ihre Mutter kurz, Maria lächelt zum Abschied und dann verschwinden sie mitsamt dem Schutzengel Charly durch die Tür.
»Ich habe also ›Input‹ bekommen«, murmelt Josefa. »Wenn ich wüsste, was das ist, könnte ich vielleicht etwas damit anfangen.«
»Na, du hast ein paar Informationen, die dir weiterhelfen werden. Stoff zum Nachdenken. Verstehst du?«
Das versteht Josefa. Nachdenklich greift sie nach den Spielkarten auf dem Tisch und sieht sie sich genau an. Langsam weicht ihr betrübter Gesichtsausdruck einem hocherfreuten Lächeln und eifrig beginnt sie die Karten zu sortieren. Sie trennt die ›Färbigen‹ von den ›Schwarzen‹ und mit ganz besonderer Freude legt sie drei Karten zur Seite. Gstieß, Mond und Pagat. Und dann – voilà – weiß sie es wieder. Glasklar erscheint ihr das Wissen um dieses Spiel. Die Spielregeln sind plötzlich so vertraut, als hätte sie nie etwas anderes als Tarockieren getan.
»Möchtest du spielen?«, fragt Steini und kann sich das breite Grinsen nicht verkneifen.