Über dieses Buch:
Paris im 18. Jahrhundert: Er kennt keine Konventionen, keinen Anstand – und er nimmt sich, wonach es ihn verlangt. Als die junge Lorraine ihm zum ersten Mal in die Augen sieht, weiß die Schöne, dass sie verloren ist. Der halbwilde Mann, den Lorraines Vater mit nach Hause bringt, ist kein Umgang für eine unschuldige Lady – und doch fühlt sie sich immer mehr zu ihm hingezogen. Wer ist der Fremde, den man als Kind im Wald ausgesetzt und den Wölfen überlassen hat? Lorraine ahnt, dass er ein gefährliches Geheimnis hütet, aber ihrer Neugier kann sie ebenso wenig widerstehen wie seinen fordernden Küssen, die brennende Leidenschaft versprechen …
Über die Autorin:
Kerstin Dirks, 1977 in Berlin geboren, hat eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert und Sozialarbeit studiert. Sie schreibt seit vielen Jahren erotische Romane, historische Liebesromane und Fantasy.
Bei dotbooks veröffentlichte sie bereits den erotischen Kurzroman »Eiszart« und – gemeinsam mit Sandra Henke – die Vampirsaga Condannato: »Die Condannato-Trilogie – Erster Roman: Begierde des Blutes«, »Die Condannato-Trilogie – Zweiter Roman: Zähmung des Blutes«, »Die Condannato-Trilogie – Dritter Roman: Rebellion des Blutes«.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe Februar 2020
Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Die Wildkirsche« 2007 bei MIRA und 2013 bei dotbooks.
Copyright © der Originalausgabe 2007 by Kerstin Dirks
Copyright © der überarbeiteten Neuausgaben 2013 und 2020 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / anetta / Dmitry Rukhlenko / Kiev:Victor / Digiselector
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-156-4
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Kerstin Dirks
Wilde Sehnsucht
Roman
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Frankreich, 1753
Doktor Gabriel Beaumont war ein ernster, aber gütiger Mann. Er liebte das Leben in der kleinen Stadt Gagnion nahe Paris, die Schlichtheit ihrer Bürger und ihre Freundlichkeit. Mit Vorliebe trug er edle Röcke, er puderte seine Perücke und rauchte ab und an eine Pfeife mit amerikanischem Virgin Tabak, für den er auf dem Markt einiges Geld zahlte. Die Abende verbrachte er gern mit seinem Freund, dem Winzer Giffard, bei einem gemütlichen Schachspiel. Ihre längste Partie, so verkündeten sie jedem, der es wissen wollte, habe ein Vierteljahr gedauert. Fragte man sie, wie das Spiel geendet hatte, erklärten sie zerknirscht: »Mit einem Remis« – was beiden nicht so recht gefallen mochte.
Der Doktor betreute seine Patienten sehr gewissenhaft. Er machte regelmäßige Hausbesuche und war für seine Fürsorglichkeit in der ganzen Stadt beliebt. Ebenso gern wie den Kranken widmete er sich den Kindern, die tagein tagaus in den Gassen spielten und sich die Zeit mit allerlei Schabernack vertrieben. Sie jagten streunende Katzen oder bewarfen die Mädchen aus dem vornehmen Nachbarhaus mit Kieselsteinen, wenn sie sich am Fenster blicken ließen. Beaumont studierte ihr Verhalten mit großer Leidenschaft. Seine Schriften füllten mehrere Bücher, und jede noch so kleine Beobachtung wurde akribisch notiert, denn Kinder hatten einen besonderen Platz in seinem Herzen. Es war immer sein Wunsch gewesen, eine Schule zu errichten, um Knaben und auch Mädchen aus armen Verhältnissen Bildung zu ermöglichen. An manchen Tagen lud er sie in sein Haus, wo er eigens für seine kleinen Gäste ein Spielzimmer eingerichtet hatte, und unterrichtete sie dort. Lesen, Rechnen, Schreiben.
Dies aber ist längst nicht alles, was sich über Gabriel Beaumont sagen ließe. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er in Paris – der Stadt der Eitelkeiten, wie Beaumont sie gern nannte – Yvonne Delarc lieben gelernt. Er hatte sie mit Geschenken überhäuft und ihr Pelze und prachtvolle Kleider gekauft. Sie hatte sich mit Bescheidenheit und Fürsorglichkeit bedankt. Es war eine Liebe gewesen, wie man sie nur einmal im Leben fand. Doch das Glück hatte nicht lange gewährt. Fünf Jahre nach der Hochzeit und der Geburt der gemeinsamen Tochter war Yvonne an einer rätselhaften Krankheit verstorben. Von Gewissensbissen geplagt und in dem festen Glauben, als Arzt versagt zu haben, war Beaumont der Alkoholsucht verfallen. Von diesem Tag an hatte man ihn bereits am frühen Morgen betrunken gesehen. Zuerst hatten sich die Patienten von ihm losgesagt, bald darauf seine Freunde. Ohne seine Haushälterin Amelie hätte er seine Tochter Lorraine niemals aufziehen können.
Schließlich hatte Beaumont beschlossen, der Stadt den Rücken zu kehren, weil ihn die Leute nach seinem Absturz in die Welt des Alkohols nicht mehr kennen wollten. In den Pariser Straßen und Cafés hatte er gelernt, die Oberflächlichkeit zu verabscheuen, die hier zum Leben gehörte wie das Atmen. Beaumont wusste, dass Paris auch heute noch dasselbe Gesicht hatte. Jeder war nur auf seinen Vorteil bedacht, jeder eiferte den hohen Herren und Damen nach. Und das Vergnügen – es stand bei allem im Vordergrund. Auf Bettler wurde gespuckt, an anderer Stelle das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Er war froh, dieser Verlogenheit entronnen zu sein. Auch vom Alkohol war er losgekommen und hatte nicht nur seinen Frieden mit sich selbst gefunden. Er hatte auch seine Arbeit wieder aufgenommen – hier, in dem ruhigen Städtchen Gagnion.
Seit einigen Tagen wurde seine geliebte Ruhe jedoch empfindlich gestört, denn die Aufbauten für den Jahrmarkt hatten begonnen. Beaumont hielt wenig von solchen Ereignissen, da es die Menschen nicht allein wegen der exotischen Waren zum Markt zog, sondern vor allem wegen der Kuriositätenschauen. In Paris hatte er das Leid einer bärtigen Dame gesehen. Jahre später hatten die selben Betreiber zwei Männer vorgeführt, die am Unterleib zusammengewachsen waren. Noch heute lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er an diese armseligen Kreaturen zurückdachte, die nicht nur ein grausames Schicksal, sondern auch den Hohn und Spott der Zuschauer hatten ertragen müssen.
Als das Wochenende näher rückte und das Treiben in den Straßen auf ein unerträgliches Maß anschwoll, hätte sich Beaumont am liebsten in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und in seine Schriften vertieft. Doch es war ausgerechnet Beaumonts Freund, der Winzer Serge Giffard, der am frühen Vormittag im Vorgarten stand und ihn dazu brachte, gemeinsam mit ihm den Markt zu besuchen. »Wann gibt es schon einmal einen Jahrmarkt bei uns kleinem Völkchen«, sagte Giffard und schob Beaumont durch das Gartentor.
»Einmal im Jahr«, antwortete Beaumont widerwillig, der allein beim Gedanken an die Pariser Händler und ihre Sitten plötzliche Übelkeit verspürte. Er hatte eine tiefe Abneigung gegen ihre Profitgier.
»Möchtest du immer nur Kranke und Gebrechliche um dich haben, mein lieber Beaumont?«
»Es ist meine Berufung.«
»Aber das Leben bietet mehr als das!«
»Erzähl das meinen Patienten, die an der Schwindsucht leiden und früher oder später daran sterben. Wenn ich ihnen nicht helfe, wer tut es dann?«
»Und dafür lieben dich die Leute. Trotzdem solltest du nicht immerzu trüben Gedanken nachhängen.«
Der wohlbeleibte Weinbauer ging durch eine kleine Verkaufsgasse und streckte die Arme nach beiden Seiten aus. »Sieh dich um, mein Freund. Hier gibt es Dinge, die du nirgendwo sonst findest. Warum immer schwermütig sein? Genießen wir den Tag, gönnen wir uns etwas, was wir uns normalerweise nicht leisten würden!«
»Kaufen Sie dieses schöne Tuch für Ihre Gemahlin oder das Fräulein Tochter«, pries ein Händler seine exotischen Stoffe mit orientalischen Mustern an.
»Ein Kleid in solchen Farben würde Lorraine sicher gut stehen«, versuchte Giffard seinen Freund zum Kauf zu verführen. Beaumont winkte ab. »Der Kleiderschrank meiner Tochter droht schon zu bersten.«
»Wie wäre es mit einem edlen Parfüm, der Herr«, rief ein junger Mann vom Nachbarstand und öffnete eine kleine, bauchige Phiole. Er träufelte nur einen winzigen Tropfen auf sein Handgelenk und schnupperte genießerisch daran. »Ah, welch ein Duft!«
»Kauft Obst, frisches Obst! Früchte aus Afrika und Asien!«
Beaumont lief unbeirrt weiter und ignorierte die ausgestreckte Hand, die ihm eine Apfelsine hinhielt. Sein Weg führte ihn an einem kleinen Stand vorbei, hinter dem eine alte Wahrsagerin saß, hin zu einem großen Zelt, das fast den gesamten hinteren Teil des Platzes einnahm.
»Hereinspaziert! Immer hereinspaziert«, rief ihnen ein Mann mit einem riesigen Zylinder zu, der ihn um zwei Köpfe größer erscheinen ließ. »Genießen Sie das beste Schauprogramm jenseits und diesseits der Seine.«
»Oh, bitte nicht«, sagte Beaumont mit einem schweren Seufzen, als Giffard zwei Eintrittskarten kaufte und ihm das Papierstück mit einem Grinsen reichte.
»Geht auf mich. Ich lade dich ein, alter Freund. Lehne es nicht ab, ich habe immerhin meine letzten Centimes für dich ausgegeben.«
Widerwillig folgte Beaumont ihm ins Innere des Zeltes. Im Zentrum machten sie eine kleine, lieblos zusammengezimmerte Bühne aus, auf der ein Mann mit weiß geschminktem Gesicht ein Gebärdenspiel vorführte. Seine Bewegungen waren fließend, beinahe schlangenhaft, und es schien, als besäße sein Körper keine Knochen. Er war zu allerlei Verbiegungen fähig, die ein normaler Mensch nicht vollführen konnte, ohne sich dabei etwas zu brechen. Nur wenige Zuschauer hatten sich vor der Bühne eingefunden, der Applaus war äußerst verhalten.
»Ein Pantomime? Dafür verlangen die solch horrende Eintrittspreise«, schimpfte Giffard und stemmte die Hände in die fleischigen Seiten.
»Mir gefällt seine Kunst«, überraschten Beaumonts Worte nicht nur Giffard, sondern auch ihn selbst. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn irgendeine Attraktion mitreißen würde. Doch dem jungen Mann mit dem weißen Gesicht war es gelungen, ihn innerhalb weniger Sekunden in seinen Bann zu ziehen. Mit wellengleichen Bewegungen streckte er die Arme nach vorne aus und öffnete die Hände, als wollte er sein Publikum berühren. Federleicht sprang er dann in die Höhe und landete auf einem Bein, drehte sich um seine eigene Achse und knickste vor den Zuschauern, wie es sonst nur junge Mädchen vor hohen Herrschaften taten.
»Du nennst dieses Gehopse Kunst?«
»Ach, Giffard, du verstehst nicht, was er mit seinem Tanz ausdrücken möchte. Es ist die Freiheit, die Loslösung von höfischen Sitten. Ich finde ihn inspirierend. Er bringt mich auf eine Idee für ein neues Spiel, das meinen Kindern sicherlich gefallen wird.«
»Deinen Kindern?«
Ein Lächeln huschte über Beaumonts Lippen. »Ich spreche von meinen Schülern, die ich im Lesen und Schreiben unterrichte.«
»Und demnächst wohl auch in der Kunst des Gebärdenspiels«, sagte Giffard und wandte den Kopf zur Seite. Durch einen Spalt in der Zeltwand erhaschte er einen Blick nach draußen. »Oh, là, là, sieh einmal dort hinüber.«
Giffards schwulstiger Finger deutete auf zwei hübsche Frauen, die sich alle Mühe gaben, einen Jüngling in ihren Wagen zu locken. Sie tänzelten um ihn herum, ließen anzüglich ihre Hüften kreisen und rückten immer wieder ihre üppigen Dekolletés zurecht. Die Haut der Mädchen, von der sie weit mehr zeigten, als es sich ziemte, schimmerte in einem warmen Olivton, und das Klimpern der Goldplättchen, die ihre Gürtel zierten, war bis ins Innere des Zeltes zu hören.
»Diese Tänzerinnen sind nicht zu verachten. Was würde mein italienischer Cousin Giovanni zu diesen kecken Frauenzimmern sagen? Mamma Mia!«
»Giffard!«, stöhnte Beaumont. »Hast du denn immer nur das Eine im Kopf?«
»Wir sind doch hier, um uns zu amüsieren, oder nicht?«
»Ja. Aber dir tropft bereits der Speichel aus dem Mund.«
»Ich bin eben ein Mann. Dir würde nebenbei bemerkt ein Weib an deiner Seite guttun, dann verlörest du vielleicht endlich diese elende üble Laune, die du mit dir herumträgst wie ein Geschwür.«
Beaumonts Augen blitzten. Giffard merkte, dass er zu weit gegangen war, und senkte den Kopf. »Verzeih«, stammelte er. »Manchmal bin ich ein Trampeltier. Ich weiß, dass dir Yvonne fehlt, gleich wie viele Jahre seit ihrem Tod vergangen sind.«
Beaumont atmete tief ein und blickte Giffard versöhnlich an. »Im Gegensatz zu mir hast du noch eine Frau, die dich liebt. Kümmere dich besser um sie, anstatt fremden Röcken nachzustarren.«
»Du hast ja recht, nur diese Mädchen ... wären eine Sünde wert.«
Giffard blickte erneut zum Wagen. Mit einiger Enttäuschung musste er jedoch feststellen, dass die aufreizenden Tänzerinnen verschwunden waren. Auch von dem Jüngling war nichts zu sehen.
»Ich beneide den Jungen«, sagte Giffard schwermütig und wandte sich erneut der Bühne zu, vor der sich inzwischen einige Leute versammelt hatten. Der Pantomime zog ein weißes Tuch aus seinem Ärmel und winkte der Menge zu, bevor er sich mit einem Rückwärtssalto verabschiedete. Der Applaus fiel trotz des Zuwachses im Zuschauerbereich gering aus. Erst als zwei Männer die Bühne betraten, schwoll er merklich an. Der kleinere der beiden Gaukler grinste breit und offenbarte eine Reihe ungewöhnlich gepflegter Zähne, die allein durch seine dunkle Gesichtsfarbe noch mehr erstrahlten. Er hatte etwas Katzenhaftes an sich. Der andere war korpulent, überragte seinen Kollegen um gut einen Kopf und strahlte Gemütlichkeit aus. Zweifelsohne waren die beiden ein ungewöhnliches Paar. Dies allein rechtfertigte jedoch nicht die Begeisterung, die ihnen die Zuschauer entgegenbrachten.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir freuen uns, dass Sie so zahlreich erschienen sind und präsentieren Ihnen nun voller Stolz unsere Kuriositätenschau!«
Abermals schwoll der Beifall an. Beaumont schüttelte seufzend den Kopf. Hätte er geahnt, welche Art von Veranstaltung ihn hier erwartete, hätte er das Zelt nicht betreten. Er überlegte zu gehen. Aber der Andrang wurde immer größer. Die Menschen trieben ihn und Giffard in die erste Reihe, direkt an den Bühnenrand.
»Sie sind wie die Geier!«
»Es ist eben nicht viel los in Gagnion. Deswegen dürsten die Menschen nach Abwechslung, nach Spannung, nach einer Sensation.«
»Hast du vorher gewusst, dass dies eine Kuriositätenschau ist?«
»Nein, ich las das Schild nicht«, sagte Giffard aufrichtig. »Aber was ist denn an einer Schau so schlecht?«
»Du willst mich nicht verstehen, nicht wahr?«
»Nun warte doch erst einmal ab, was sie uns bieten.«
»Eine Kuriositätenschau lebt von ihren Kuriositäten! Was also werden sie uns schon anderes vorführen als eine arme, geschundene Kreatur, aus deren Leid sie ihre Einnahmen beziehen?«
»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand, Gabriel.« Beaumont seufzte schwer. »Es bringt nichts, mit dir darüber zu debattieren. Ich gehe!«
Er wandte sich ab, doch Giffard hielt ihn am Arm zurück. »So warte doch! Vielleicht ist dies die Gelegenheit, Vorurteile abzulegen?«
»Vorurteile? Ich weiß, wovon ich rede.« Widerwillig blieb der Doktor stehen. »Die Kuriositätenschauen, die ich gesehen habe, waren allesamt gleich. Sie zeichneten sich durch eine ungeheuerliche Menschenverachtung aus!«
»Seit du das letzte Mal auf einem Jahrmarkt warst, ist einige Zeit vergangen. Die Menschen haben sich geändert. Sieh es dir an, danach kannst du immer noch gehen.«
Als wäre dies sein Stichwort gewesen, trat der katzenartige Gaukler einen Schritt nach vorn an den Bühnenrand und breitete die Arme aus. »Sehen Sie die unglaublichsten Dinge aus aller Welt! Meine Brüder und ich haben weder Kosten noch Mühen gescheut, um Ihnen heute den gefährlichen Wolfsmann zu präsentieren. Er ist halb Mensch, halb Tier!«
»Das ist doch was – ein Werwolf! Macht es dich nicht neugierig?«, flüsterte Giffard aufgeregt.
»Wieso höre ich nur immer auf dich? Die Schau ist genau so, wie ich es erwartet habe. Wie vor zwanzig Jahren.«
»Das kannst du mir nicht erzählen, Beaumont. Du willst einen Werwolf erwartet haben?«
»Nein, ich spreche von der Ausbeutung, die hier betrieben wird.«
»Bewahren Sie bitte äußerste Ruhe, wenn wir ihn gleich auf die Bühne holen. Er lebte viele Jahre in der Abgeschiedenheit der Wälder, große Menschenmengen machen ihn aggressiv.«
Der Dickwanst, der trotz seines massiven Leibesumfangs eine gewisse Leichtfüßigkeit an den Tag legte, eilte die Treppe hinunter und riss den Zeltvorhang auf. Das Rasseln schwerer Eisenketten erklang und das Grollen eines Tieres war zu vernehmen. Beaumont hielt den Atem an. Sein Herz pochte schneller, als ein junger, schwarzgelockter Jüngling in das Innere des Zeltes trat, einen anderen, merkwürdig gebückt laufenden Mann an einer Kette hinter sich herziehend. Brutal riss er an dem Eisen, das in einem Lederband um den Hals des Gefangenen endete, sodass dieser gezwungen war, hastig die Treppe emporzusteigen. Kaum hatte er die Bühne betreten, ging ein entsetztes Raunen durch die Menge. Der Gaukler stolzierte mit geschwellter Brust am Bühnenrand entlang, der Wolfsmann folgte ihm mit gesenktem Blick. Widersetzte sich die Kreatur, hob er den Rohrstock in seiner rechten Hand und ließ ihn auf den Rücken des Wilden niedersausen, bis dieser sich unter schmerzerfülltem Geheul fügte. Aufgeregt tuschelten die Frauen in der hinteren Reihe. »Welch haariges Biest«, hörte Beaumont ihre Worte. »Hat man so etwas schon gesehen!« »Widerlich, einfach widerlich dieser Gestank.«
Eine Dunstwolke umhüllte den Wilden und folgte ihm, wo immer er hintrat. Der Geruch von Schweiß stieg Beaumont in die Nase und ließ ihn würgen. Giffard ging es nicht besser. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Rasch hielt er sich ein frisches Tuch vor Nase und Mund, als der Wilde an ihnen vorbeilief. Die schwarzen Haare hingen ihm ins Gesicht, sein Körper war von Striemen gezeichnet, Schmutz lag in einer dicken Schicht auf seiner krustigen Haut. Am Leib trug er nicht mehr als einen Lendenschurz. Sein Anblick war ekelerregend. Es kostete die Zuschauer einiges an Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Gleichzeitig konnte niemand den Blick von der erbärmlichen Gestalt lassen. Alle ergötzten sich an seinem Leid.
Langsam zog der Jüngling seine Kreise, drohend den Stock hebend, wenn der Wilde nicht spurte.
»Mein Gott, ich frage mich, wo sie diesen menschlichen Abfall hergeschafft haben?«, keuchte Giffard und drückte den feinen Stoff seines Tuches fester in sein schwammiges Gesicht.
»Lassen Sie sich nicht täuschen, der Herr, erklärte ein junger Mann zu Giffards Linken. »Wolfsmenschen gibt es nicht. Das sind Mythen. Ich bin überzeugt, diese abgewrackte Kreatur ist in Wahrheit ein Schauspieler, der sich sein tägliches Brot mit derlei Auftritten verdient. Zugegeben eine nicht gerade angenehme Tätigkeit, wenn man bedenkt, worin sich der Ärmste gesuhlt haben muss, um derart zu stinken. Heutzutage tun die Menschen vieles für Geld.«
Wer genau hinsah – und das tat Beaumont –, bemerkte schnell, dass der Wolfsmann, der eigentlich eher einem verkrüppelten Affen glich, einen eigentümlichen Gang besaß. Er erschien Beaumont keineswegs gestellt und dem Wilden ganz natürlich inne. Mühelos ging er auf allen vieren, nicht jedoch auf den Knien, wie es ein kleines Kind tat, das noch nicht laufen gelernt hatte. Durch die unterschiedliche Arm- und Beinlänge war er gezwungen, sein Gewicht nach vorn zu verlagern und dabei das Hinterteil auf fast schon belustigende Weise in die Höhe zu recken.
»Lauf die gleiche Strecke zurück, unsere Zuschauer wollen dich sehen. Sie bekommen nicht genug von deiner Hässlichkeit«, rief der Gaukler und führte den Wilden nochmals über die Bühne. Dieses Mal konnte Beaumont dem Wilden ins Gesicht blicken. Der Ausdruck war stumpf, beinahe einfältig. Die Augen glanzlos und trüb. Nein, so gut konnte nicht einmal der beste Schauspieler eine Rolle verkörpern.
Nachdenklich rieb sich Beaumont die Stirn. Natürlich gab es keine Werwölfe, jedoch war es historisch belegt, dass es zu allen Zeiten Wildkinder gegeben hatte, die isoliert in den Wäldern aufwuchsen, manchmal sogar von Tieren aufgezogen wurden, und die keine menschlichen Sitten kannten. Es existierten wenige Fälle, die ausführlich dokumentiert worden waren, doch die wenigen, die es gab, hatte er studiert, als er noch an der Universität war. Man hatte versucht, die Wolfskinder in das gesellschaftliche Leben zurückzuführen, ihnen Werte beizubringen, die Sprache zu lehren. Meist waren die Versuche erfolglos geblieben. Man hielt sie für schwachsinnig und brachte sie schließlich in einer Anstalt unter, wo sie ein trauriges Dasein fristeten und meist recht schnell verstarben.
Der Schrei einer Frau riss Beaumont aus seinen Gedanken. Sein Blick schweifte zur Bühne, auf der die drei Männer mit vereinten Kräften an der Kette des Wolfsmenschen zogen. Er war ins Publikum gesprungen. Zwei der Männer packten ihn an den Armen, der dritte riss an der Eisenkette, bis das Lederband den Wolfsmann strangulierte. Die Menge wich zurück. »Was für eine bösartige Kreatur!«, ertönten Rufe.
»Komm jetzt!«, brüllte einer der Männer, nachdem sie ihn auf die Bühne zurückbefördert hatten. Als sich der Wolfsmensch ihm zuwandte und gefährlich knurrte, hob er den Rohrstock.
»Schafft diesen Kerl endlich fort!«
»Eine Unverschämtheit, so etwas habe ich ja noch nie erlebt!«
Der Stock schnellte auf den ungeschützten Rücken des Wilden nieder und hinterließ einen kräftigen, rot schimmernden Abdruck.
»Aufhören!«, erhob Beaumont Protest, als er die Misshandlung sah. Doch niemand reagierte auf seinen Einwand. Im Gegenteil, die Leute belohnten den Gaukler mit Applaus und Zurufen.
Der Beifall schwoll derart an, dass der Wolfsmann verängstigt zum Ende der Bühne zurückwich, ohne jedoch den heftigen Hieben entrinnen zu können, die ohne Unterlass auf ihn niederprasselten.
»Lass es gut sein«, beruhigte der katzenhafte Jüngling seinen Gefährten und hielt ihn davon ab, den Wilden erneut zu schlagen. Dann griffen die Brüder nach den Armen des Wolfsmannes und schleiften die jaulende Gestalt aus dem Zelt. Kurz darauf kam einer der Männer zurück und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Beschwichtigend hob er die Hände, um das aufgebrachte Publikum zu beruhigen.
»Warum ist der Wolfsmensch von der Bühne gesprungen? Hast du das gesehen, Giffard?«, fragte Beaumont verwirrt.
»Er hat eine Frau angegriffen. Plötzlich ging er auf sie los, ohne ersichtlichen Grund.«
Beaumont blickte zu der jungen Dame, um die sich einige Herren versammelt hatten. Sie war hübsch, hatte jedoch nichts Auffälliges an sich, was einen plötzlichen Übergriff gerechtfertigt hätte. Auch schien sie den Wolfsmann nicht provoziert zu haben, schenkte er ihren Worten, sie habe wirklich nichts getan, Glauben.
»Meine Damen und Herren, es war nicht vorherzusehen, dass so etwas geschehen würde. Ich bitte Sie inständig um Verzeihung.«
»Ich verlange mein Geld zurück, verdammte Gauklerbande!«
»Mit diesem Pack gibt es nur Ärger!«
»Wir verzichten in diesem Fall selbstverständlich auf die Bezahlung. Ihre Eintrittsgelder erhalten Sie an der Kasse zurück.« Er deutete zum gegenüberliegenden Ausgang des Zeltes. Seine Worte beruhigten die Leute recht schnell. Etwas anderes hatte Beaumont von den Menschen nicht erwartet. Die meisten begaben sich zum Kartenverkäufer, um ihr Geld einzufordern, sodass sich eine lange Reihe vor seinem Stand bildete.
»Was machen wir nun?«, fragte Giffard, der mit Beaumont am Bühnenrand stehen geblieben war. »Ich habe keine Lust, mich dort anzustellen. Und von Vorführungen habe ich für heute ebenfalls genug. Wie wäre es mit einem Rotwein in der Taverne für mich und einem Glas Orangensaft für dich?«
»Warte einen Augenblick«, sagte Beaumont und blickte zu dem katzenhaften Gaukler, der von der Bühne sprang und das Zelt verließ. »Ich muss etwas erledigen«, sagte er dann ernst und folgte dem Jüngling nach draußen, wo er ihn jedoch zwischen den Wagen aus den Augen verlor.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Giffard, nachdem er Beaumont eingeholt hatte.
»Ich suche etwas Bestimmtes.«
»Und was, wenn man fragen darf?«
Beaumont blickte sich um, ohne Giffard zu antworten. In der hinteren Wagenreihe entdeckte er einen überdachten Käfig. Entschlossen steuerte er darauf zu. Am Boden lagen Stroh und Exkremente, deren Geruch beißend in seine Nase drang und ihn ein Stück zurücktaumeln ließ.
In der Ecke entdeckte er eine zitternde Gestalt, die schwer atmend zwischen verschimmeltem Brot und fauligen Fleischresten kauerte. In diesem Drecksloch wurde nicht etwa ein Tier gehalten, sondern ein Mensch! Und das auf die entwürdigendste Weise, die man sich vorstellen konnte. Die Narben und blutunterlaufenen Striemen am Rücken des Gefangenen zeugten von unentwegt ausgeübter Gewalt. Das Herz schlug Beaumont vor Zorn bis zum Hals. Wie grausam konnte der Mensch sein, dass er für Geld selbst vor der Versklavung seiner eigenen Art nicht haltmachte. Während er noch immer um seine Fassung rang, legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter.
»Was willst du hier? Dieser Bereich ist nicht für die Zuschauer«, erklang eine knurrende Stimme hinter ihm. Als Beaumont sich umwandte, blickte er in das feiste Gesicht des Dickwansts.
»Ich bin Arzt. Lassen Sie mich seine Wunden behandeln, wenn Sie morgen wieder mit ihm auftreten wollen.«
Der Dicke warf einen skeptischen Blick in den Käfig und verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Das ist nicht nötig. Es geht ihm gut.«
»Gut nennen Sie das? Er kann in dieser Kiste nicht einmal aufrecht stehen! Seine Wunden müssen gereinigt und versorgt werden!« Beaumonts Stimme überschlug sich vor Wut. Wollte der Kerl ihn für dumm verkaufen? Jeder, der nicht mit Blindheit geschlagen war, erkannte, dass die arme Kreatur litt!
Von Beaumonts Gebrüll angelockt, kamen die beiden anderen Gaukler vom gegenüberliegenden Wagen herbei. Der Jüngling, den Beaumont in Gedanken »Katzengesicht« getauft hatte, knabberte an einer Hühnerkeule und warf den Knochen, nachdem er das Fleisch abgenagt hatte, achtlos durch die Gitterstäbe in den Käfig.
»Gibt es Probleme, Ubaldo?«, fragte er und musterte Beaumont abschätzig.
»Nein, der werte Doktor wollte gerade gehen.«
Beaumont straffte die Schultern. Er durfte nicht zurückstecken, er musste handeln! Er wusste, dass der Wolfsmensch bei dieser menschenunwürdigen Haltung und den ständigen Misshandlungen bald sterben würde. »Ich kann nicht zulassen, dass Sie diesen Mann so behandeln.«
Der Dickwanst lachte. »Was willst du tun, Doktor? Er gehört uns. Und es ist unsere Sache, was wir mit ihm machen. Ein Freund meiner Familie hat ihn mir und meinen Brüdern verkauft. Er war die Attraktion auf seinen Reisen und hat ihm viel Geld eingebracht. Eine Züchtigung ab und an erinnert ihn daran, wer sein Herr und Meister ist. Für heute hat er seine Lektion gelernt, er wird kein zweites Mal eine Frau aus dem Publikum angreifen. Glaub mir, Doktor, wir wissen, wie wir mit ihm umzugehen haben.«
Diese Ungeheuerlichkeit war nicht zu ertragen! Hier wurde ein menschliches Wesen auf das Widerwärtigste ausgebeutet! Er durfte nicht zulassen, dass sein Martyrium weiterging. Aber was konnte er tun? Sollte er den Fall den Behörden melden? Am Ende brachte man den armen Kerl in ein Irrenhaus, was bedeutete, dass er von einer Gefangenschaft in die nächste geriet. Dazu war es fraglich, ob sich jemand fand, der sich seiner annahm und ihm die nötige Erziehung zuteil werden ließ, um ihn an ein normales Leben zu gewöhnen. Nicht zuletzt witterte Beaumont jedoch auch eine Chance, die sich ihm hier eröffnete und nicht so schnell wiederkehren würde. In keiner der dokumentierten Fälle war es gelungen, ein Wildkind zu zivilisieren. Wenn aber er, Beaumont, das Unmögliche möglich machte, würde sein Name in die Geschichte eingehen. Natürlich wäre Beaumont nicht Beaumont, hätte er allein an seinen Nutzen und den Ruhm gedacht. Vielmehr sah er die Möglichkeit, durch seinen gesteigerten Bekanntheitsgrad endlich eine Schule für Kinder zu eröffnen, deren Eltern nicht genügend Geld hatten, sie in eine Schule zu schicken. Nachdenklich blickte er zum Wolfsmann, der den Blick gesenkt hielt. Mit viel Geduld und der rechten Erziehung sollte es wohl gelingen, ihn zu zivilisieren, überlegte Beaumont. Auch wenn der Wilde ein Alter erreicht hatte, das seine Lernfähigkeit gewiss einschränkte.
»Geld ist es also, woran Sie interessiert sind?«
Der Dicke hob eine Augenbraue. »Wir sind Geschäftsmänner, werter Herr.«
»Was, um alles in der Welt, hast du vor, Gabriel?«, rief Giffard, als ahnte er, dass Beaumont etwas ausheckte, was ihn Kopf und Kragen kosten konnte.
»Werde deutlicher, ich kann dir nicht ganz folgen«, forderte der dicke Gaukler.
»Ich möchte Ihnen den Wolfsmann abkaufen.«
»Was?«
»Sie haben richtig gehört, meine Herren. Ich möchte ihn kaufen.«
»Was ist nur in dich gefahren?« Giffard raufte sich die Haare.
»Du bist ein Schelm, Doktor. Ein wahrer Spaßmacher«, sagte der Dickwanst und brach in schallendes Gelächter aus. Seine Brüder stimmten ein. Doch Beaumont hob die Hand.
»Mitnichten. Ich möchte mit Ihnen ins Geschäft kommen. Aber hier ist nicht der rechte Ort, um alles zu besprechen. Seien Sie meine Gäste, bei einem Glas Wein im Gasthof Cerf Blanc.«
»Wir würden ein Bier im Coq Doré, dem Goldenen Gockel, vorziehen, wenn du nichts dagegen einzuwenden hast.«
»Ganz wie Sie wünschen. Ich richte mich nach Ihnen.«
Wenig später fanden sie sich in einer dunklen Nische der Taverne wieder. Die fünf Männer beäugten sich noch immer misstrauisch. Der Rauch von Zigarren lag in der Luft. An der Bar saß ein leichtes Mädchen, das mit zwei Freiern flirtete. Viel mehr war um diese Uhrzeit nicht los im Coq Doré. Das Ambiente war nicht nach Beaumonts Geschmack, er zog den Gasthof Cerf Blanc vor, in dem eine weniger zwielichtige Atmosphäre herrschte. Doch hier, so glaubte er, konnte er ein gutes Geschäft mit den drei Gauklern machen, die nicht unterschiedlicher hätten aussehen können. Wahrscheinlich waren sie nicht miteinander verwandt, obgleich sie sich selbst als Brüder bezeichneten.
»Ich glaube, wir haben uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Gabriel Beaumont, und dies ist mein Freund Serge Giffard.«
»Man nennt mich Ubaldo«, sagte der Dickwanst und deutete auf das Katzengesicht. »Das ist Jacques, aber wir nennen ihn Chik, er ist der Jüngste von uns und ein stolzer Franzose. Der lange Dürre mit den goldenen Haaren heißt Maryo.«
»Sehr erfreut. Es verhandelt sich besser, wenn man weiß, wen man vor sich hat. Ich schätze, Sie drei kommen weit herum und haben viel von der Welt gesehen, nicht wahr?«
»Einiges! Wir sind überall in Europa zu Hause. Am schönsten ist es in Italien, meiner Heimat! Die Frauen sind heißblütig, und die Küche ist die beste, die es gibt!«
»Oh, das glaube ich Ihnen gern. Mein Cousin Giovanni sagt immer ...«
»Giffard! Bitte unterbrich unseren neuen Freund Ubaldo nicht.«
Giffard warf Beaumont einen grimmigen Blick zu, dann lauschte er Ubaldos Ausführungen. Er hatte einiges zu erzählen, gestikulierte leidenschaftlich, lachte tief und ohne Unterlass über seine eigenen Witze und trank ein Bier nach dem anderen. Beaumont sorgte stets für genügend Nachschub, sodass seine Aussprache bald undeutlich wurde. Sorgen bereiteten ihm die beiden anderen Brüder, die zurückhaltend waren und noch immer ihre ersten Humpen vor sich hatten.
»So ... entschiehhhden wir ... unser Glüüück in ... in ... la France ... zu suchen ... wir waren ... in Paris! Und heu... heute ... in Gagnion ... und morgen ... wieder in Gagnion.«
»Sind Sie nur zu dritt angereist?« Beaumont spülte mit seinem Apfelsaft das trockene Gefühl in seiner Kehle hinunter.
»Nein, wir ... sind eine grrrroooße ... bunte Gauklerfamilie! Wir haben ... Artisten aus ... Russland ... und auch China und von ... überall her bei uns.«
»Sie haben Großmütterchen Veruschka vielleicht bemerkt. Sie bietet als Wahrsagerin ihre Dienste auf dem Jahrmarkt an, und unsere Schwestern tanzen für die französischen Männer«, ergänzte Chik.
»Wie hätte ich die hübschen Mädchen übersehen sollen!« Giffards Gesicht nahm einen seligen Ausdruck an.
»Noch ein Bier, werter Ubaldo?« Beaumont hob den Finger und gab dem Wirt ein Zeichen, ehe sein Gast geantwortet hatte.
»Gern! Du ... bist ganz schöööhn ... flink. Uuund gro... großzühhgig bist duuu auch.«
Die Schankmagd stellte den nächsten Humpen auf den Tisch und verschwand mit einem Schmunzeln.
»Dann treffen Sie nicht allein die Entscheidungen und ich muss eigentlich mit Ihrer Sippe verhandeln?«
Ubaldo nahm den randvollen Krug, setzte ihn an die Lippen und trank ihn in zwei Zügen leer. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum vom Mund.
»Das kommt ... darauf an!«
»Worauf?«
»Hören Sie, Doktor, wir wissen, was Sie bezwecken«, ergriff Maryo das Wort. »Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie unseren Bruder betrunken machen. Der Wolfsmann ist nicht zu verkaufen. Das entscheidet nicht der Zirkus, sondern wir, weil er unser Besitz ist. Denken Sie daran, dass er uns Profit einbringt.« Maryos Stimme klang gereizt.
Aber noch wollte sich Beaumont nicht geschlagen geben. »Sie übersehen etwas Wichtiges, Maryo. Der Wolfsmann bringt Ihnen nicht nur Geld ein, er verursacht ebenso Kosten. Oder wollen Sie ihn auf Ihren Reisen verhungern und verdursten lassen?«
Maryos Mundwinkel zuckten kaum merklich.
»Verdursten?«, grölte Ubaldo ungläubig. »Wie ... grääässlich. Da brauche ich ... noch ein Bier ... Mademoiselle!«
»Übertreiben Sie es nicht«, sagte die Schankmagd, als sie ihm einen weiteren Krug auf den Tisch stellte. Hastig griff er nach seinem Seidel.
»Langsam ist es wirklich genug, Ubaldo. Ich habe keine Lust, dich später nach Hause zu tragen.«
»Niemand weiß, wie sich Ihre Geschäfte in Zukunft entwickeln werden. Vielleicht geht das Interesse an dem Wolfsmenschen zurück oder er erkrankt und stirbt an einer Infektion. Eine medizinische Betreuung verweigern Sie ihm ja. Gewonnen hätten Sie dann nichts. Ich hingegen verspreche Ihnen eine fixe Summe ohne Risiken, die ich Ihnen bar auf die Hand gebe.«
»Von welcher Summe sprechen wir?«, fragte Maryo und blickte Beaumont kalt an.
Beaumont atmete tief durch. Er hatte bereits alles durchkalkuliert und entschied, alles auf eine Karte zu setzen. Auch wenn dies möglicherweise seinen Ruin bedeutete. Doch er fühlte sich verantwortlich, dem Wilden zu helfen. Und war bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen.
»Ich gebe Ihnen eine Summe, die Ihren Einnahmen innerhalb eines Jahres entspricht.«
Giffard zog für alle hörbar die Luft durch die Zähne und pfiff beeindruckt.
»Die Herren sehen also, dass ich Sie keineswegs übers Ohr hauen möchte.«
»Warum ist Ihnen unser Wolfsmann so viel wert?«, hakte Chik nach. »Sie geben ein Vermögen aus für einen Menschen, den sie nur einmal gesehen haben.«
Beaumont zögerte, inwieweit er die Gaukler in seine Pläne einweihen sollte. Nachdenklich nahm er Tabak aus seiner Porzellandose, stopfte ihn in seinen Pfeifenkopf und entzündete ihn mit einem Schwefelholz.
»Es geht um ein wissenschaftliches Experiment«, erklärte er schließlich, paffte an seiner Pfeife und bedachte die Anwesenden mit einem bedeutsamen Blick. Den drei Männern imponierten seine Worte, lediglich Giffard schüttelte seufzend den Kopf.
»Aber wie kann er Ihnen nützlich sein? Er ist einfältig und dumm, versteht keine Anweisungen und gehorcht nur der Peitsche.«
»Mein lieber Chik, genau das macht ihn so wertvoll für meine Forschungen.«
»Sie suchen also jemanden, der nichts kann?«
Beaumont lehnte sich zurück. »Ich suche jemanden wie ihn. Dies muss Ihnen als Erklärung genügen. Kommen wir ins Geschäft?«
»Das können wir nicht hier und jetzt entscheiden. Wir möchten uns vorher beraten, wenn Sie nichts dagegen haben. Unserem Bruder fehlt es momentan an klarem Verstand. Und die Entscheidung will wohlüberlegt sein.«
»Niemand würde Ihnen mehr zustimmen als ich. Wie viel Zeit werden Sie benötigen?«
»Wir werden uns heute Abend zusammensetzen, sobald Ubaldos Trunkenheit verflogen ist. Morgen teilen wir Ihnen unsere Entscheidung mit.«
»Einverstanden. Ich werde Sie aufsuchen.« Beaumont nickte zufrieden. Zwar war das Verhandlungsgespräch nicht so verlaufen, wie er es erwartet hatte, doch zumindest hatte er seinen Standpunkt deutlich machen können, und es gab eine reelle Chance, dass sie auf seinen Vorschlag eingehen würden.
»Gut, dann gehen wir nun. Herzlichen Dank für die freundliche Einladung.« Maryo und Chik erhoben sich, griffen Ubaldo unter die Arme und halfen ihm auf. Der Dickwanst torkelte voran und zog aufgrund seines Gewichts die anderen beiden hinter sich her. Das Trio gab einen köstlichen Anblick ab, fand Beaumont. Giffard schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Beaumont, du bist von allen guten Geistern verlassen«, sagte er, nachdem die Gaukler die Taverne verlassen hatten.
Beaumont legte einige Taler auf den Tisch. »Wie kommst du darauf?«
»Offenbar hast du dir keine Gedanken über dein ach so großartiges Vorhaben gemacht. Woher das Geld nehmen, um den Wilden freizukaufen?«
Beaumonts Züge wurden ernst. »Ich habe Ersparnisse, die ich eigentlich in die Errichtung einer Schule stecken wollte.«
»Du ruinierst dich selbst. Ich hoffe, dass ist dir klar? Und wo willst du den Wolfsmenschen unterbringen? Etwa in deinem Haus? Ich prophezeie dir, nach nur wenigen Tagen wirst du dein Heim nicht wiedererkennen!«
»Sieh nicht immer so schwarz, Giffard. Er kann im Gästezimmer wohnen.«
»Und was wird Lorraine sagen, wenn plötzlich ein fremder Mann bei euch wohnt? Noch dazu ein solches Exemplar, bei dessen Anblick einem Angst und Bange wird. Kein schöner Umgang für ein Mädchen in ihrem Alter.«
»Lass das meine Sorge sein, Giffard. Sie ist mit ihren achtzehn Jahren mitunter noch etwas naiv, aber sie wird es bestimmt verstehen.«
Der Winzer hob die Schultern. »Du musst wissen, was du tust. Vergiss trotzdem nicht, dass es sich auf deine Arbeit nachteilig auswirken wird. Niemand geht freiwillig zu einem Arzt, der sich ein wildes Tier im Hause hält.«
»Ich bin der einzige Arzt in Gagnion. Sie werden es vorziehen, zu mir zu kommen, anstatt sich auf den langen Weg nach Paris zu machen.«
Das Läuten der Türglocke schreckte Lorraine auf. Eilig stieg sie aus dem Badezuber, hüllte sich in ein großes Stofftuch und schob vorsichtig den Vorhang zur Seite, um aus dem Fenster zu spähen. Ihr Herz pochte heftig, als sie Etienne Poméroy, den Sohn des Apothekers, im Vorgarten entdeckte. Er hatte angekündigt, heute Medikamente zu liefern. Dass er allerdings so früh vor ihrer Tür stehen würde, hatte sie nicht erwartet.
Lorraine öffnete leise das Fenster, vergewisserte sich, dass kein neugieriger Nachbar zu sehen war, und schaute vorsichtig heraus.
»Bonjour, Etienne. Vater ist nicht da. Warte einen Augenblick, ich komme sofort«, rief sie ihm zu.
»Lorraine!«, erwiderte Etienne und winkte. Sein strahlendes Lächeln ließ sie förmlich dahinschmelzen. Er war ein gut aussehender Mann! In seinem marineblauen Rock machte er eine hervorragende Figur, und die Zopfperücke stand ihm gut zu Gesicht. Außerdem besaß er Charme und Witz. Auch war er eine gute Partie. Eines Tages würde er die kleine Apotheke seines Vaters am Ende der Straße übernehmen.
Lorraine rannte aus dem Bad, hielt jedoch vor der Haustür inne. Sie hatte sich sehr auf ihr Wiedersehen gefreut. Nun, da es unmittelbar bevorstand, hatte sie plötzlich Angst, er könne schlecht von ihr denken. Schon längere Zeit hatte er versucht, sie zu berühren, doch Lorraine hatte ihn stets zurückgewiesen. Bis auf das letzte Mal im Wald, als sie sich an den kleinen See gesetzt hatten. Er hatte sie geküsst und dann Dinge mit ihr angestellt, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausgemalt hatte. Sie straffte ihre Schultern und atmete tief durch, bevor sie die Tür öffnete.
Kaum hatte sie ihn eingelassen, zerstreute er sämtliche Zweifel, indem er einen Arm um ihre Taille legte und sie leidenschaftlich küsste. Lorraine hielt vor Schreck den Atem an und streckte beide Hände aus, um die Tür hinter ihm zuzustoßen. Niemand sollte mitbekommen, dass sie einen Geliebten hatte.
»Ich habe dich so vermisst«, stöhnte Etienne und fuhr mit einer Hand durch ihr dunkles, nasses Haar.
»Oh Etienne, mir geht es genauso.«
Er schob sie ins Wohnzimmer, stellte den Beutel, den er unter dem Arm geklemmt hatte, auf den Tisch und griff mit beiden Händen nach ihrem Gesicht.
»Ich habe deinem Vater die Salbe für seinen Ausschlag gebracht. Er muss sie zweimal täglich auftragen, aber das weiß er sicherlich selbst.«
»Ich richte es ihm aus.« Ihre Worte gingen in seinem Stöhnen unter. Fordernd schob er seine Zunge in ihren Mund, und Lorraine schloss seufzend die Augen, weil sie endlich das bekam, wonach sie sich so sehr verzehrt hatte. Bis vor Kurzem hatte sie nicht einmal gewusst, dass man beim Küssen auch die Zunge zum Einsatz bringen konnte. Nun ließ sie die ihre spielen, indem sie sanft seine Lippen nachfuhr. Etienne war ihr Lehrmeister gewesen. Von ihm wusste sie alles, was eine Frau normalerweise erst nach ihrer Heirat erfuhr. Am liebsten hätte sie sich ihm ganz und gar hingegeben, doch das war im Moment nicht möglich.
»Ich ... ich muss mich ankleiden«, keuchte sie atemlos und wich einen Schritt zurück, als sie merkte, dass die Situation außer Kontrolle geriet.
»Warum? Du gefällst mir gut, wenn du nur in ein Stück Stoff gehüllt bist.« Er lächelte verwegen.
Lorraine wickelte das Tuch enger um ihre weiblichen Rundungen. »Vater könnte jeden Augenblick vom Jahrmarkt zurückkommen. Ich weiß nicht wieso, aber das Frühjahrsfest hat es ihm dieses Jahr angetan. Dies ist bereits der zweite Tag, an dem er es aufsucht. Wenn er uns hier sieht, wird er gewiss böse mit dir, Etienne.«
Das sah er glücklicherweise ein.
»Ich bin gleich zurück«, versprach Lorraine und lief in den Flur, die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Auf ihrem Bett lagen ihr hellbraunes Kleid, das Mieder und die Unterröcke bereit. Sorgsam legte sie das durchnässte Tuch zusammen und wollte in einen der zahlreichen Unterröcke schlüpfen, als sie zwei warme Hände auf ihren nackten Pobacken spürte. Erschrocken fuhr sie herum und blickte in Etiennes Gesicht.
Ein breites Grinsen bildete sich auf seinen Lippen. »Überrascht, mich zu sehen?«
»Das ... war nicht sehr ... anständig von dir.« Sie schluckte, als er sacht seine Hände auf ihre prallen Brüste legte. Ein süßer Schauer jagte durch ihren Körper. Die sanfte Berührung raubte ihr sekundenlang den Atem und weckte ihre Lust auf mehr. Wie hatte er es nur geschafft, sich unbemerkt an sie heranzuschleichen? Mit Zeigefingern und Daumen begann er, ihre Knospen zu zwirbeln.
»Etienne ... Denk doch an Papa!«
»Der Jahrmarkt bietet dieses Jahr viele Attraktionen. So bald ist nicht mit ihm zu rechnen.«
Ihre Brustwarzen reckten sich ihm willig entgegen. Sie hätte es gern gesehen, wenn er sie, eine nach der anderen, in den Mund genommen und an ihnen gesaugt hätte. Doch seine Hände glitten tiefer, streichelten ihren Bauch und umkreisten ihren Nabel. Sie wusste, was er damit bezweckte und wohin seine Hand alsbald wandern würde.
»Das ist keine gute Idee«, besann sich Lorraine und wollte ihm ausweichen. Als sie jedoch einen Schritt zurück machte, fiel sie rücklings auf ihr Bett und fand sich zwischen ihren Kissen wieder.
»Und ich hatte geglaubt, du hättest mich vermisst«, flüsterte Etienne, ihre hilflose Lage schamlos ausnutzend. Geschmeidig ließ er sich neben ihr nieder. »Hat es dir nicht gefallen, als ich dich liebte?«
Lorraine richtete sich auf und bedeckte ihren Körper mit dem Unterrock, den sie noch immer in den Händen hielt. »Es war wundervoll, Etienne.« Nein, eigentlich war es sogar mehr als das gewesen! Nachdem er sie genommen hatte, war keine Nacht vergangen, in der sie nicht von ihm geträumt hatte. Insgeheim schämte sie sich für ihre verruchten Gedanken. In ihrer Fantasie ging es hoch her, und Etienne liebte sie in allen nur erdenklichen Positionen. Sie wusste, dass es sich nicht ziemte, an solcherlei Dinge auch nur zu denken, aber sie konnte nichts dagegen tun. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf und bereiteten ihr in einsamen Nächten die schönsten Gefühle, denn das Erlebnis an dem kleinen See im nahegelegenen Wald hatte sie so sehr beeindruckt, dass sie es weder vergessen konnte noch wollte.
»Dann verstehe ich nicht, warum du dich plötzlich sperrst. Entspann dich, ma chère.«
Er beugte sich über sie und versuchte sie ein weiteres Mal zu küssen, doch Lorraine hielt schnell den Unterrock vor ihren Mund, sodass seine Lippen lediglich den Stoff berührten.
»Ich kann nicht«, wisperte sie.
»Warum?«
»So versteh mich doch! Wenn Vater uns erwischt, spricht er nie mehr ein Wort mit mir. Und was würden die Leute sagen, wenn sie davon erführen?« Sie sah ihn flehend an. Lorraine wusste, wenn er nicht aufgab, würde sie früher oder später schwach werden und seiner Verführungskunst erliegen. Jetzt schon verspürte sie ein unwiderstehliches und drängendes Prickeln, das ihren Unterleib erfasste und ihr Blut derart erhitzte, dass es nicht ihre Wangen allein waren, die nun feurig glühten.
»Die Leute reden viel. Ganz besonders die Bürger von Gagnion sind ein geschwätziges Völkchen. Aber ich verspreche dir hoch und heilig, dass kein Mensch von unserem Stelldichein erfahren wird. Es ist unser Geheimnis.«
Vorsichtig zog er ihr den Rock weg und warf ihn auf den Boden.
»Ich werde eines Tages heiraten. Spätestens dann wird herauskommen, dass ich keine Jungfrau mehr bin.«
»Ma chère, was redest du denn da? Ich habe dir doch versprochen, dass ich um deine Hand anhalten werde. Dein Vater wird nichts dagegen haben. Ich bin der Sohn seines alten Freundes und zudem ein ehrbarer Mann. Es gibt also nichts, wovor du dich fürchten musst.«
Lorraine schloss die Augen und dachte über Etiennes Worte nach. Als er sie am See genommen hatte, hatte er das erste Mal von seinen Heiratsabsichten gesprochen. Eigentlich war es jener Moment gewesen, von dem sie schon oft geträumt hatte und der im Leben jeder Frau eine wichtige Rolle spielte. Doch seltsamerweise hatten Etiennes Worte ein Unbehagen in ihr ausgelöst, das sie sich nicht erklären konnte. Gewiss mochte sie ihn. Wenn er in ihrer Nähe war, schlug ihr Herz vor Aufregung Purzelbäume. Nur, warum bekam sie Zweifel, wenn es darum ging, sich auf ewig an ihn zu binden?
Sanft berührten seine Lippen ihren Mund. Der Moment der Unachtsamkeit hatte genügt, um Etienne einen Vorteil zu verschaffen. Er legte sich auf sie, nahm ihr Gesicht mit beiden Händen und hielt es fest. Zuerst wollte sie sich wehren, ihn hinunterstoßen oder zumindest seine Zunge aus ihrem Mund verdrängen. Doch die Zärtlichkeiten, mit denen er sie überhäufte, ließen ihre Gegenwehr erlahmen. Es war wie beim letzten Mal. Ihr Unterleib begann zu vibrieren, als entwickelte er ein Eigenleben. Dann wurde ihr abwechselnd heiß und kalt, da seine Hand quälend langsam ihren Bauch hinabstrich und auf ihre pochende Scham zusteuerte. Alles, was ihr eben noch Sorgen bereitet hatte, verlor an Bedeutung. Die Gefahr, dass ihr Vater nach Hause kommen und sie in Etiennes Armen erwischen könnte, genauso wie die Angst vor der Schande, sollte jemand von ihrem frivolen Geheimnis erfahren. Vermutlich hätte es sie in diesem Augenblick nicht einmal gestört, wenn sie von einem Nachbarn des gegenüberliegenden Hauses heimlich durch das Fenster beobachtet worden wäre.
»Du bist so schön«, sagte er in einer kurzen Atempause, bevor er sie erneut leidenschaftlich küsste. Dabei schloss sich seine Hand um ihre Vagina und massierte sie in einem sachten Rhythmus.
Lorraine spürte, wie ein Schwall süßer Feuchtigkeit aus ihr austrat, begleitet von einem schmatzenden Geräusch. Sie sehnte sich danach, Etienne in sich zu spüren. Und sei es nur sein Zeigefinger.
Genau diesen ließ er nun lustvoll über ihre Schamlippen gleiten. »Gefällt dir das?«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Oh ja!«
»Es gibt viele Arten, eine Frau zu lieben, ma chère. Ich will dir jede einzelne zeigen.«