London 1940: Die achtzehnjährige Susan Banks hat nur einen Traum: ihr Land im Krieg als Pilotin zu unterstützen. Aber Susan weiß, dass ihr Wunsch für immer ein Traum bleiben wird, denn sie ist arm, mittellos und völlig allein.
Als sie jedoch auf Fluglehrer Tony Richards trifft, schöpft sie Hoffnung, dass sie ihre Pläne doch noch verwirklichen kann. Und je besser sie Tony kennenlernt, umso mehr empfindet Susan für ihn. Doch dann erhält sie eine erschreckende Nachricht, die alle ihre Träume zu zerstören scheint …
Lily Baxter wuchs in London auf und begann ihre Karriere in dem Bereich Werbung und TV. Mittlerweile lebt sie mit Ihrer Familie in Dorset und ist Autorin zahlreicher Romane.
Schwingen der Hoffnung
Liebe im Herzen
Serenade im Mondschein
In der Ferne blüht die Hoffnung
Wiedersehen in Dorset
Über den Wolken
beginnt das Glück
Aus dem Englischen
von Isabell Lorenz
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2011 by Lily Baxter
Titel der britischen Originalausgabe: »Spitfire Girl«
First published in Great Britain by: Arrow Books, London
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Beke Ritgen
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Georgethefourth | Irina Bg | KathySG | Alexey Fedorenko
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-3848-5
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Für Gay und Tim
Primrose Hill, London – Dezember 1940
Es war Mitternacht, aber den Himmel über London erhellte ein Feuersturm. Susan stand auf dem Primrose Hill. Entsetzt sah sie die Bomben vom Himmel fallen und Granatkartätschen in Kaskaden herabregnen, als wäre der 5. November und Feuerwerk zum Gedenken an die Pulververschwörung. Sogar aus dieser Entfernung hörte sie das Motordröhnen der deutschen Flugzeuge. Ein Bombeneinschlag, ohrenbetäubend laut und mächtig genug, um die Erde selbst erzittern zu lassen, vermochte selbst die tapferste Seele in Angst und Schrecken zu versetzen. Wie musste es da erst, wo hier Einschlag auf Einschlag folgte, für das kleine Geschöpf sein, das zitternd zu ihren Füßen kauerte?
»Ist schon gut, Charlie«, sagte Susan, bückte sich und hob den Welpen hoch. Sie wiegte ihn in den Armen, rieb die Wange an seinem weichen Fell und atmete den warmen Welpengeruch ein, als wäre er das teuerste französische Parfüm.
Charlie gab einen leisen Laut von sich, halb ein Grunzen, halb ein Winseln, schmiegte sich unter ihr Kinn und hob den Kopf in dem Versuch, ihr das Gesicht zu lecken. Der kleine Kerl zitterte immer noch. Entschlossen machte Susan kehrt.
»Na, dann komm, Kerlchen, wir gehen nach Hause und zurück ins Warme. Aber du musst ein ganz, ganz braver Junge und ganz still sein, ja? Keinen Laut, wenn ich bitten darf!«
Susan nahm den Weg über Elsworthy Terrace rechts in die Elsworthy Road. Der Widerschein des rotglühenden Himmels verlieh den Reihenhäusern aus der Zeit König Edwards eine gewisse angestaubte Vornehmheit, die sich bei Tageslicht besehen in Schäbigkeit gewandelt hätte. Das galt auch für das Haus, in dem Susan lebte und arbeitete. Sie stieg die Stufen zur Haustür hoch, schloss auf und machte dabei so wenig Lärm wie möglich. Normalerweise wäre sie so spät abends nicht mehr unterwegs gewesen, schon gar nicht bei Fliegeralarm. Aber Charlie war noch nicht ganz stubenrein, und seine Bedürfnisse schienen ihr in diesem Moment drängender als ihre eigene Sicherheit.
Sie wagte kaum daran zu denken, wie lange sie Charlies Anwesenheit noch vor Mrs. Kemp und ihren Töchtern geheim halten könnte, und dennoch: London mochte ja überall um Susan herum in Chaos und Schutt versinken, aber zum ersten Mal in ihren achtzehn Jahren hatte sie etwas, das ihr gehörte, ihr ganz allein.
Susan verbarg den Labradorwelpen unter ihrer Jacke und ging geradewegs und so schnell, wie es ihr die Dunkelheit erlaubte, auf die Dienstbotentreppe zu. Diese führte ins Untergeschoss, wo die Wirtschaftsräume lagen. Im Dunkeln tastete sich Susan vorwärts. Ihre Finger kamen an das kalte Glas eines der gerahmten Aquarelle, die den schmalen Flur säumten. Sie war froh, dass sie die rätselhaften Gesichter der japanischen Krieger nicht sehen musste, die mit versteinertem Gesichtsausdruck vor sich hinstarrten. Vorsichtig suchte Susan sich ihren Weg um das halbmondförmige Mahagonitischchen herum, auf dem ein reichlich böse dreinschauender Buddha im Schneidersitz hockte. Daneben stand ein altmodischer Fernsprechapparat, der nur ein weiteres Überbleibsel der Vergangenheit war, von der die Familie nicht lassen mochte.
Der verstorbene Graham Kemp hatte als kleiner Beamter in der britischen Botschaft in Tokio gearbeitet. Doch wenn man Mrs. Kemp von ihrem Mann reden hörte, hätte man glauben können, er habe eine weit einflussreichere Position bekleidet. Ihre ruhmreichen Tage im Kreise anderer Engländer im Ausland waren sicher längst vorbei. Dennoch hielt die Familie an der Überzeugung fest, sie stünden in jeder Hinsicht über allen anderen Menschen.
Jane Kemp war, wie Susan auf die schmerzliche Art hatte herausfinden müssen, ein Snob, borniert und obendrein bigott, und ihre Töchter waren nicht viel besser. Alle drei ließen keinen Zweifel daran, dass ein Mädchen wie Susan, eine Waise, aufgewachsen in einem Kinderheim, weniger als nichts wert sei. Susan war Dienstmädchen, und als solches hatte sie unsichtbar zu bleiben. Sie erhielt einen Wochenlohn, der ihr kaum ermöglichte, sich Strümpfe und Haarshampoo zu kaufen. Dennoch erwartete man von ihr Dankbarkeit für Unterkunft und Verpflegung und für die Dienstkleidung, die sie tagaus, tagein zu tragen hatte.
Nur einen halben Tag pro Woche hatte Susan frei. Also hatte sie beinahe ständig entweder in der einen oder der anderen wenig schmeichelhaften Ausstattung herumzulaufen, die ihre Arbeitgeberin ihr zur Verfügung stellte. Vormittags galt es, ein braunes Baumwollkleid mit beigefarbener Schürze und Häubchen zu tragen verabscheuungswürdig alle drei Teile. Für den Nachmittag war ein schwarzes Kleid mit weißer Rüschenschürze und Stirnband vorgeschrieben, was Susan auch nicht besser gefiel. Beide Uniformen waren derzeit definitiv nicht der letzte Schrei in Modefragen. Die schwarzen Schnürschuhe, die die Dienstmädchenuniform komplettierten, waren genauso hässlich wie unbequem.
Susan drückte Charlie an sich und ging vorsichtig die Treppe hinunter in die große, altmodische Küche. Diese konnte sich nicht sehr verändert haben, seit das Haus kurz nach der Jahrhundertwende erbaut worden war. Ein Kiefernholztisch stand in der Mitte des Raums, und der ursprüngliche, gusseiserne Herd nahm immer noch den Ehrenplatz ein. Allerdings hatte Mrs. Kemp kürzlich, wenn auch widerstrebend, einen moderneren Gasherd angeschafft. Er stammte aus zweiter Hand, aber Susan kochte wesentlich lieber mit der schnelleren, leichter zu kontrollierenden Hitze. Der alte Herd war sehr breit, launisch und verschlang Holz und Kohle wie ein hungriger Riese. Ständig musste er gefüttert und gereinigt werden. Außerdem musste man einmal in der Woche eine Schicht Schwärze auf das Gusseisen auftragen, damit sich kein Rost festsetzte. Es war eine schmutzige, undankbare Aufgabe, eine Aufgabe, auf die Susan liebend gern verzichtet hätte.
Als sie ihre Stelle im Haus an der Elsworthy Road angetreten hatte, hatte es bei den Kemps noch eine Köchin und eine Putzfrau gegeben. Die Köchin war eine freundliche Frau gewesen, die schon ihr ganzes Arbeitsleben lang bei der Familie in Stellung gewesen war. Doch kurz nach Ausbruch des Krieges hatte sie gekündigt, weil sie sich lieber aufs Land zurückziehen und bei ihrer verheirateten Tochter wohnen wollte. Die Putzfrau hatte eine gut bezahlte Beschäftigung in einer Munitionsfabrik angenommen.
Susan setzte Charlie auf dem Boden ab. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass die Verdunkelungsvorhänge zugezogen waren, schaltete sie das Licht an. Eine Vierzig-Watt-Glühbirne verbreitete schwaches Licht, aber inzwischen kam Mrs. Kemp die Ausrede zu Hilfe, dass sie ihre patriotische Pflicht erfülle, wenn sie Strom spare. Vor dem Krieg war es einfach nur ihr Geiz gewesen, der zu solch Einsparungen geführt hatte.
Susan ging zur Vorratskammer und holte den Milchkrug vom Marmorregal. Sie goss eine kleine Menge auf eine Untertasse und stellte sie vor Charlie auf den Fußboden. Aber ehe er die Milch aufschlecken konnte, schnellte ein heller Blitz auf hohen, dunklen Beinen durch den Raum und grub seine Krallen in die Schnauze des Welpen. Charlie jaulte vor Schmerz und stolperte beim Versuch, sich vor dem fauchenden Siamkater in Sicherheit zu bringen, über die eigenen Pfoten und fiel um.
»Binkie-Bu«, rief Susan wütend, »du schreckliches Geschöpf!« Sie bückte sich und tröstete Charlie, versuchte aber gar nicht erst, dem bösartigen Katzentier die Untertasse zu entreißen. Zufrieden, weil er diese Runde gewonnen hatte, schleckte der Kater die Milch auf. Susan holte ein Obstschälchen aus der Schublade und stellte es in sicherer Entfernung zum reizbaren Binkie-Bu auf. Dann erst füllte sie das Schälchen mit Milch. Charlie schlang alles in Sekundenschnelle herunter, wobei er seinen Gegner skeptisch im Auge behielt.
Susan stand Wache. Sie war bereit, sich auf Mrs. Kemps verwöhnten Liebling zu stürzen, sollte der beschließen, ein kleiner Labradorwelpe wäre leichte Beute. Aber als Binkie-Bu seinen Durst gestillt hatte, streckte er sich und zeigte seine scharfen Krallen, als wäre es notwendig, allen ins Gedächtnis zu rufen, dass er bewaffnet und gefährlich sei. Er setzte sich und fing an, sich zu putzen.
Susan schüttelte den Kopf. »Du bist das entsetzlichste, verzogenste Tier, das mir je untergekommen ist«, sagte sie im Plauderton. »Andererseits, hätte ich dich heute Vormittag nicht zum Tierarzt bringen müssen, hätte ich Charlie nicht entdeckt.« Sie schenkte dem Hund ein Lächeln, und zur Antwort wedelte der mit dem Schwanz. Sie nahm ihn hoch und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, das eingezwängt zwischen der Vorratskammer und dem Waschraum des Gärtners lag. Das Zimmer war klein und schlicht möbliert. Es gab nur ein schmales Bett, eine Kommode und einen hübschen Bugholzstuhl. Aber immerhin konnte sich der Raum eines Fensters rühmen, das auf den großen Garten hinter dem Haus ging und einen Ausblick auf die grasbewachsene Kuppe des Primrose Hill bot.
Sie setzte Charlie aufs Bett und hockte sich neben ihn. Sie streichelte ihn, bis er sich zu einer Kugel zusammenrollte und die Augen schloss.
»Keiner darf wissen, dass du hier bist«, sagte Susan leise. »Das meine ich ernst, Charlie. Du musst sehr, sehr still sein. Mrs. Kemp mag Hunde nicht, und sie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich dich ins Haus gebracht habe.«
Einen Moment lang blieb Susan still sitzen und runzelte die Stirn, als sie sich an die Szene im Wartezimmer des Tierarztes erinnerte. Da war ein gutes Dutzend Hunde mit ihren jeweiligen Besitzern, und alle Tiere schienen gesund zu sein, wenn manche auch sichtlich alt waren. Seltsamer noch war die Tatsache, dass keiner der Hunde mehr aus dem Behandlungszimmer wieder auftauchte. Hastig machten sich ihre Besitzer allein auf den Weg nach Hause, manche hatten Tränen in den Augen.
Susan hatte fast bis zum Schluss warten müssen. Im Wartezimmer gab es nur noch sie selbst mit Binkie-Bu in seinem Weidenkörbchen und einen großen Pappkarton mit einem sehr kleinen Labradorwelpen mit lohfarbenem Fell. Der Karton war immer noch da, als sie aus dem Behandlungsraum herauskam.
Susan hatte dem Tierarzt die Symptome der Katze geschildert, oder eher Mrs. Kemps Version des Gesundheitszustands ihres Lieblings. Es war Susan klar gewesen, wie der Arzt reagieren würde, und so war sie nicht enttäuscht. Der Arzt hatte die Augenbrauen hochgezogen und erklärt, er habe selten ein gesünderes Exemplar gesehen. Dabei versorgte er einen langen Kratzer auf der Hand, den der empörte Siamkater ihm beigebracht hatte. Schließlich riet der Arzt zu einer leichten Diät und einem strikten Verbot, dem übergewichtigen Kater den Rahm von der Milch zu geben. »Es herrscht Krieg, kleines Fräulein«, sagte er und funkelte sie wütend an, als wäre sie die Schuldige.
Susan hatte den Behandlungsraum mit Binkie-Bu verlassen, der immer noch kehlig fauchte. Schließlich hatte er die würdelose Prozedur über sich ergehen lassen müssen, dass man ihm ein Thermometer in einen Teil seiner Anatomie steckte, den er offenbar für persönlich und sehr privat hielt.
Susan hatte den Katzenkorb auf dem Boden abgesetzt. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gasmaskenbehälter zu kämpfen, ehe sie ihr Portemonnaie hatte aus der Handtasche ziehen können. Die Sprechstundenhilfe reichte ihr die Rechnung, die Susan mit dem Geld bezahlte, das Mrs. Kemp ihr gegeben hatte. »Verlangen Sie einen Rabatt bei Barzahlung«, sagte sie. »Achten Sie darauf, dass Sie den bekommen.«
Susan war vorher schon in der Praxis gewesen. Fragend neigte sie den Kopf, und die Sprechstundenhilfe reagierte mit einem Lächeln auf Susans unausgesprochene Frage. »Fragen Sie nicht«, sagte sie und zählte das Wechselgeld ab.
»Das habe ich vor Ewigkeiten schon aufgegeben.« Susan ließ die Münzen in ihr Portemonnaie gleiten. »Eines würde ich aber doch gern wissen. Was ist mit den ganzen Hunden passiert? Ein gutes Dutzend wurde ins Behandlungszimmer gebracht, und keiner ist rausgekommen. Gibt es irgendeine schreckliche Epidemie unter Hunden?«
»Das könnte man so sagen.« Das Lächeln der Sprechstundenhilfe war verblasst. »Überall das Gleiche in ganz London. Wir haben Dutzende vollkommen gesunder Tiere eingeschläfert. Das ist der Krieg. Die Leute können es sich entweder nicht leisten, die Hunde zu behalten, oder sie haben Angst vor den Luftangriffen und wollen nicht, dass ihre Haustiere leiden. Mir fehlt das Verständnis für beides.«
Besorgt musterte Susan den schlafenden Welpen. »Aber doch nicht der auch, oder?«
»Doch, leider. Die anderen aus dem Wurf haben wir unterbringen können. Aber der ist der kleinste, man könnte sagen, der schwächste aus dem Wurf. Wenn ihn bis heute Abend keiner will, dann wird er leider enden wie die anderen Hunde heute im Behandlungszimmer.«
Mehr hatte Susan nicht hören müssen. Sie hatte ihr Portemonnaie auf dem Tresen ausgekippt und sich dabei nicht darum gekümmert, dass sechs Pennys und drei Farthings ihrer Arbeitgeberin gehörten. Sie würde behaupten, ihr wären die Münzen heruntergefallen und sie wären durch einen Gitterrost gekullert. Lieber wollte sie einer erzürnten Mrs. Kemp gegenübertreten, als den kleinen Kerl seinem Schicksal überlassen.
Charlie kuschelte sich tiefer ins Federbett und brummelte leise und zufrieden. Vorsichtig stand Susan auf. Sie wollte ihn nicht stören. Sie wusste, sie hatte das Richtige getan. Wie konnten die Leute nur in einem Anfall vorübergehenden Wahnsinns ihre Haustiere einschläfern lassen! Susan würde noch ihren letzten Bissen mit Charlie teilen. Er gehörte jetzt ihr, und sie würde alles tun, um ihn zu beschützen. Erschrocken fuhr sie herum, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Schnell lief sie aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
In der Küche stand Virginia Kemp am Tisch und starrte auf die leeren Schüsseln und die verräterischen Milchspritzer auf dem Boden. »Was haben Sie angestellt, Banks? Ich dachte, der Tierarzt hätte gesagt, der garstige Kater soll weniger Rahm bekommen. Wollen Sie ihn umbringen?«
Binkie-Bu schlenderte zu Virginia hinüber, machte einen Buckel und rieb sich an ihren Beinen. Er schaute zu Susan auf, und sie war sicher, dass er hämisch grinste. Schnell sammelte sie die Anstoß erregenden Tellerchen ein. »Tut mir leid, Miss. Ich habe vorhin vergessen, das aufzuheben.«
Virginia zuckte mit den Schultern. »Sie bekommen Schwierigkeiten, sollte Mummy den Schmutz auf den Fliesen sehen, wenn sie hereinkommt.«
»Ja, Miss. Ist sonst noch etwas?«
»Mummy möchte Tee und Gebäck. Sieht nach einer langen Nacht aus. Pam und ich nehmen Kakao. Für sie keinen Zucker, sie ist sowieso schon zu dick.« Virginia machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Hintertür. »Bringen Sie alles zum Luftschutzraum, und denken Sie an die Verdunkelung.« Dann machte sie das Licht aus und trat in die Dunkelheit hinaus.
Susan wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, ehe sie das Licht wieder anmachte. Sie seufzte. Dass sie allein im Haus zurückblieb, schien die anderen nicht zu kümmern. Man hatte ihr zwar nicht ausdrücklich den Zugang zum Schutzraum verwehrt, aber sie hatte ihn bisher nur ein einziges Mal betreten. Es handelte sich um eine Wellblechkonstruktion, die man in den Erdboden hineingegraben und mit dicken Grassoden abgedeckt hatte. Bei diesem ersten und bisher einzigen Besuch des Luftschutzraums hatte sich Susan aber erstens nicht willkommen gefühlt und zweitens auch unter leichter Klaustrophobie gelitten. Wie dem auch sei, sie würde lieber ihr Glück versuchen und im Haus bleiben als die Nacht mit Mrs. Kemp und den beiden Furien verbringen, wie Susan die beiden Kemp-Töchter getauft hatte. Pamela ging ja noch, man konnte mit ihr auskommen, wenn man allein mit ihr war. Bei Virginia dagegen sah die Sache anders aus.
Susan konnte bloß hoffen, dass es eines Tages, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft, zur Einberufung aller jungen Frauen käme und sie selbst sich bei einem der Frauen-Hilfscorps würde melden müssen. Das jedenfalls wäre der einzige Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Lage. Seit ihrem Geburtstag im August hatte sie immer wieder ernsthaft daran gedacht, sich beim Hilfscorps zu bewerben. Allerdings hatte sie den Plan wieder aufgegeben, als sie herausfand, dass man sie nicht in die Nähe eines Flugzeugs lassen würde. Susan hatte immer wieder Berichte über die beeindruckenden Leistungen von Amy Johnson gelesen, der berühmten britischen Fliegerin, die 1930 als erste Frau einen Alleinflug von England nach Australien absolviert hatte. Inspiriert von diesen Berichten hatte Susan in aller Heimlichkeit den Ehrgeiz entwickelt, fliegen zu lernen, aber das kam ja für ein Mädchen wie sie nicht infrage.
Susan bereitete den Tee vor und erhitzte die Milch für den Kakao. Als alles fertig war, lud sie ein Tablett voll und trug es durch den Garten zum Luftschutzraum. Der Prim-rose Hill lag als dunkle Silhouette vor dem rotglühenden Himmel. Susan roch den beißenden Rauch von Hunderten brennender Gebäude, hörte das Donnern der Flugabwehrkanonen, in das sich das Dröhnen von Flugzeugmotoren mischte, während Bomben auf das East End und benachbarte Stadtteile fielen.
Als käme das Ende der Welt, genauso fühlte es sich an. Der Kriegslärm in seiner ganzen Perfidie war selbst Mrs. Kemp nicht entgangen, denn sie fühlte sich gedrängt, Susan in den Luftschutzraum einzuladen. Susan schüttelte den Kopf und behauptete, sie habe vergessen, die Hintertür abzuschließen, und sie sei nicht sicher, ob sie das Gas abgestellt habe. Sie zog sich zurück, und Mrs. Kemps bissige Bemerkung hallte ihr in den Ohren. »Dummes Ding, ich weiß wirklich nicht, wieso ich dich noch in meinem Haus behalte!«
Den Rest der Nacht verbrachte Susan zusammengerollt auf dem Bett gemeinsam mit Charlie, der sich eng an sie schmiegte. Am nächsten Morgen wachte sie in aller Frühe auf und brachte den jungen Hund in den Garten, ehe er sich danebenbenehmen konnte. Eine Frostschicht lag wie Glasur auf dem Rasen und den kahlen Ästen des Apfelbaums ganz hinten im Garten. Spätblühende Chrysanthemen waren vor Kälte zusammengeschrumpft und versenkten die Köpfe in ihren absterbenden Blättern. Eine bleiche, butterblumenfarbene Sonne zerteilte mit Mühe das Federbett aus Wolken. Abgesehen von dem immer noch in der Luft hängenden Brandgeruch und dem durch die Entfernung gedämpften Brausen und Röhren der Feuer, die irgendwo im Süden wüteten, hätte es ein vollkommener Wintermorgen sein können.
Susan setzte Charlie ins Gras und hoffte, er würde die Gelegenheit nutzen und sich erleichtern. Er trödelte, lief hierhin und dahin, mit der Nase am Boden, erschnüffelte Gerüche, die für menschliche Nasen nicht wahrnehmbar waren. Nervös wartete Susan auf ihn und behielt den Luftschutzraum stets im Auge. »Beeil dich, Charlie«, flüsterte sie. »Mach voran. Bitte.«
Er wedelte mit dem Schwanz und tollte um sie herum. Aber dann schien er zu begreifen, weshalb er hier draußen war, und tat, was von ihm erwartet wurde. Er war kaum fertig, als die Schutzraumtür aufging und Pamela den Kopf herausstreckte. Susan schnappte sich Charlie und ließ ihn in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten.
»Ach, Sie sind das.« Mit ihren kurzsichtigen Augen blinzelte Pamela sie an. »Bringen Sie uns Tee, seien Sie so gut, ja, Susan?« Sie duckte sich, ging zurück in den Luftschutzraum und ließ die Tür weit auf.
»Ja, Miss.« Hastig zog sich Susan in die Küche zurück. Sie nahm Charlie aus ihrer Tasche und setzte ihn auf dem Boden ab. »Das war ganz schön knapp, Kleiner. Ein Glück, dass Miss Pamela zu eitel ist, um ihre Brille zu tragen.« Vor lauter Erleichterung kicherte sie. »In Zukunft werden wir vorsichtiger sein müssen.«
Susan setzte den Kessel auf, dann krümelte sie etwas Brot in ein Schüsselchen und goss Milch darauf. Sie stellte die Schüssel vor Charlie auf den Boden und warf dabei Binkie-Bu einen ängstlichen Blick zu. Doch der Kater lag immer noch in aller Seelenruhe auf seinem Samtkissen. Was momentan in der Küche passierte, interessierte ihn scheinbar nicht. Aber Charlies Begeisterung für sein Frühstück riss den Kater aus seiner Lethargie. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob er sich von seinem Ruhekissen und stolzierte in unverkennbarer Absicht über die Steinfliesen.
Diesmal war Susan darauf vorbereitet und nahm Charlie aus dem Weg, bevor sie den Rahm der Milch abschöpfte und in eine Schale goss. »Da hast du, du fetter Kater!«, brummelte sie. »Iss auf und genieß es, denn mehr bekommst du nicht.« Sie brachte Charlie in die Sicherheit ihres Zimmers. »Tja, das wird wohl noch ganz schön schwierig«, sagte sie zu sich selbst, als sie die Tür zumachte und ihn einschloss.
Der einzige Dank dafür, dass sie das Tablett mit dem Tee zum Schutzraum brachte, war ein Tadel ihrer Arbeitgeberin. Mrs. Kemp trat heraus, auf dem Kopf steckte ein Lockenwickler am anderen, das Gesicht ohne Make-up wirkte nackt und bleich. Wütend funkelte sie Susan an. »Wieso bist du denn noch nicht angezogen, Mädchen? Was sollen die Nachbarn denken, wenn sie dich in deinem Nachtzeug durch den Garten spazieren sehen?«
»Tut mir leid, Madam«, erwiderte Susan leise. »Miss Pamela bat mich, den Tee zu bringen.«
»Schieb bloß nicht die Schuld auf meine Tochter. Und jetzt mach dich um Himmels willen anständig zurecht.« Mrs. Kemp schnappte sich das Tablett und verschwand in dem, was Susan wie die Eingeweide der Erde erschien.
Am liebsten hätte Susan den Eingang zugeschüttet und die drei Kemp-Weiber dort verrotten lassen. Stattdessen seufzte sie und trottete ins Haus zurück. Danke schien in Mrs. Kemps Wortschatz nicht vorzukommen. Aber nachdem Susan die Familie vier Jahre lang von vorn bis hinten hatte bedienen müssen, hatte sie sich damit abgefunden, wie eine Leibeigene behandelt zu werden. Eines Tages, dachte sie, packe ich meine Sachen und gehe. Nur wann und wohin, das war die Frage.
Susan ging in ihr Zimmer und zog das verhasste braune Kleid an, in dem auch die schönste Frau der Welt bieder und hausbacken ausgesehen hätte. Sie bürstete sich das blonde Haar, bis es glänzte, und stopfte alles unter ein Haarnetz, bevor sie das Häubchen auf dem Kopf feststeckte. Sie band sich die Schürze um und tätschelte Charlie ein letztes Mal, bevor sie ihn wieder allein ließ. Er wollte ihr nachlaufen, aber sie setzte ihn zurück aufs Bett und befahl ihm streng, dort zu bleiben, bis sie wieder zurückkäme. Natürlich verstand er kein Wort von dem, was sie sagte, aber mehr konnte sie schließlich nicht tun. Sie lief in die Küche und machte sich an die Vorbereitung des Frühstücks.
Trotz des hohen Blutzolls, den London nicht nur in dieser Nacht hatte entrichten müssen, und trotz der Verwüstung in einigen Stadtteilen ging das Leben im Kemp-Haushalt weiter, als wäre nichts geschehen. Mrs. Kemp beschwerte sich, der Porridge sei klumpig und der Toast auch nicht nach ihren Wünschen. Anschließend zog sie sich in den Salon zurück, wo sie ihre Zeit meist auf dem Fenstersitz verbrachte und das Leben vorbeiziehen sah. Oder sie saß in einem Sessel am Kamin und las alte Nummern der Zeitschriften National Geographic Magazine oder Woman’s Journal.
Pamela verließ das Haus früh und öffnete die kleine Buchhandlung an der U-Bahn-Station Swiss Cottage, wo sie Geschäftsführerin war. Virginia machte sich nach einem geruhsamen Frühstück auf den Weg in den Golfclub. Sie hatte eine kleine Leibrente von ihrem Vater geerbt, weshalb sie es nicht nötig hatte, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Kürzlich hatte Virginia verkündet, dass sie inoffiziell mit Dudley Thomson verlobt sei und bald heiraten werde. Allerdings fragte sich Susan oft, ob Virginia den jungen Mann in das Geheimnis eingeweiht hatte. Dudley Thomson war eine gepflegte Erscheinung, trat weltmännisch auf, litt aber unter Plattfüßen und Asthma, was ihm die Befreiung vom Kriegsdienst eingebracht hatte. Er war stellvertretender Geschäftsführer der Stadtteilfiliale der Westminster Bank und hielt sich selbst für einen Charmeur. Nach einer verstörenden Episode vergangene Weihnachten, als er versucht hatte, Susan unter dem Mistelzweig zu küssen, und ihr an Busen und Hintern gefasst hatte, achtete Susan darauf, nie mit ihm allein zu sein.
Trotz allem schien Susans offensichtliche Abneigung gegen Dudley ohne Wirkung auf sein Ego zu bleiben. Wenn er den Damen des Hauses einen Besuch abstattete, was für Susans Geschmack zu oft geschah, behandelte er sie mit dem herablassenden Wohlwollen seiner Klasse Dienstboten gegenüber und würzte das Ganze noch mit einem gelegentlichen Klaps auf Susans Hintern, um ihr freundschaftliches Verhältnis zu bekräftigen. Sie erduldete alles schweigend, denn sie wusste, jeder Versuch, ihn bloßzustellen, würde nur zu Ärger führen. Sie hatte den Verdacht, dass er Pamela einer ähnlich demütigenden Behandlung aussetzte, denn sie errötete, wann immer sie ihn sah, und vermied es, sicher kein Zufall, ganz wie Susan, allein mit ihm zu sein.
Dudley hätte gern, so vermutete Susan, sein Glück bei der jüngeren, hübscheren Schwester versucht. Aber Virginia hatte ihn zuerst entdeckt und hatte die Krallen, zu denen sie ihre veritablen Fingernägel hatte wachsen lassen, tief in ihre Beute geschlagen. Dudley mochte sich ja winden wie ein Kaninchen, das in den Fängen eines Habichts steckte, aber befreien würde er sich nicht mehr können. Susan konnte nur hoffen, die zwei lebten unglücklich bis an Ende ihrer Tage.
Als der Frühstückstisch abgeräumt und der Abwasch erledigt war, begab sich Susan an ihre übrigen Pflichten. Sie machte die Betten und leerte die Nachttöpfe aus, auf deren Benutzung die Familie immer noch bestand, obwohl es auf der ersten Etage eine bestens funktionierende Toilette neben dem Badezimmer gab. Sie wischte Staub in allen Räumen und bearbeitete die Böden mit dem Teppichkehrer von Ewbank. Das Polieren der schweren Mahagonimöbel im Speisezimmer war an diesem Tag nicht an der Reihe, und Susan musste auch keine Graphitpaste auf den Herd auftragen. Aber einkaufen musste sie.
Susan hatte ein altes Fahrrad, das jahrelang vernachlässigt und vor sich hin rostend im Gartenschuppen gelegen hatte, wieder zum Leben erweckt. Jetzt war es gereinigt, poliert, eingeölt, es war Luft in den Reifen, und damit war es ein nützliches Fortbewegungsmittel geworden. Allerdings machte Mrs. Kemp in aller Deutlichkeit klar, dass das Rad nicht in der Freizeit benutzt werden dürfe. Susan durfte an ihren freien Tagen also nicht damit fahren, Ausflüge nach Hampstead Heath oder noch weiter weg waren verboten. Zu Fuß gehen sei gesund, verkündete Mrs. Kemp, es kräftige die Beinmuskulatur, und tief durchzuatmen tue dem Kreislauf gut und stärke das Herz.
Susan fragte sich oft, wieso Mrs. Kemp ihren eigenen Rat nie befolgte. Das Haus verließ sie nur selten, und selbst dann nahm sie ein Taxi. Oder sie begleitete Virginia und Dudley auf eine Spritztour aufs Land, was selbstredend in Dudleys Auto geschah. Mrs. Kemp legte immer noch Wert darauf, als Anstandsdame ihrer Mädchen zu fungieren, auch wenn Virginia bald vierundzwanzig wäre und Pamela gerade volljährig geworden war. Manchmal, allerdings nicht oft, hatte Susan tatsächlich Mitleid mit den beiden. Aber dann erinnerte sie sich immer, und das Gott sei Dank schnell, an Virginias beißende Kommentare und an Pamelas Nörgeleien, und ihr Mitgefühl verflog so schnell wie Morgennebel an einem Sommertag.
Erst am späten Nachmittag war Susan mit ihren Einkäufen fertig. Stundenlang hatte sie anstehen müssen, zuerst beim Bäcker, dann beim Metzger. Im Waitrose-Supermarkt hatte sie an einer Theke lange auf die kläglichen Rationen Butter, Käse und Speck warten müssen, dann an einer anderen Theke noch einmal lange auf Tee, Zucker und Kekse. Mrs. Kemp bestand darauf, nachmittags zum Tee Plätzchen aus gut verdaulichem Vollkornmehl oder einen Keks mit Vanillecremefüllung zu essen. Pamela war versessen auf Süßigkeiten, besonders auf Schokolade, und vermisste ihre Vorkriegsgewohnheit, täglich mindestens eine Tafel Cadbury-Schokolade mit Früchten und Nüssen zu essen. Auch in ihren besten Momenten war Pamela kein glücklicher Mensch; doch nicht genug Schokolade zu bekommen brachte sie definitiv an den Rand des Nervenzusammenbruchs.
Susan kam aus dem Lebensmittelladen, Kartoffeln und einen großen Wirsing im Einkaufsnetz. Ihr Fahrradkorb war beinahe voll, also musste sie das Netz an den Lenker hängen und sich bemühen, das Gleichgewicht zu halten, während sie losstrampelte. Sie machte schon ordentlich Tempo und registrierte nur am Rande den großen roten Ball, der genau vor ihr auf die Straße rollte. Den kleinen Jungen, der dem Ball hinterherrannte, sah sie erst, als es zu spät war. Mit aller Kraft stieg sie in die Bremse, schlitterte und stürzte, und die Kartoffeln regneten auf sie herab und rollten in den Rinnstein, wo sie sich zum Wirsing gesellten. Der kleine Junge stieß ein erbarmungswürdiges Geheul aus und rannte zu seiner Mutter.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Susan hatte mit einem aufgeschrammten Ellbogen und einem angeschlagenen Selbstbewusstsein zu kämpfen. Aber mit Unterstützung einer hilfreichen Hand kam sie, wenn auch mühsamer als gedacht, wieder auf die Beine. »Alles in Ordnung, danke.«
»Sie bluten.« Der junge Mann trug eine Uniform, die für Susan nach Royal Air Force aussah. Er zog ein sauberes, weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und drückte es sacht gegen den verletzten Ellbogen. Dann bückte er sich, hob den Ball auf und reichte ihn der Mutter des schluchzenden Jungen. »Sie sollten besser auf das Kind aufpassen, Madam. Ihr Sohn hätte einen schlimmen Unfall verursachen können.«
»Wenn ich einen Rat von Ihnen will, frage ich danach, Mister.« Die Frau packte ihren Sohn am Genick, gab ihm einen ungezielten Klaps auf den Hintern und zerrte ihn ins nächstgelegene Geschäft. Sein Geschrei hallte dennoch die ganze Straße hinunter.
»Sie hätte ihn an der Hand halten sollen«, meinte Susan mit bebender Stimme. »Der Junge hätte überfahren werden können.«
»Ist auch ganz bestimmt alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja, danke. Mir geht es gut. Nur ein paar Schrammen. Nichts weiter Erwähnenswertes.« Sie hob das Rad an und musterte wehmütig den vorderen Reifen. »Sieht aus, als hätte ich jetzt ein Loch im Reifen.«
»Das hört sich jetzt womöglich wie eine dumme Anmache an, aber mein alter Herr hat hier eine Straße weiter ein Fahrradgeschäft.« Er grinste, und seine haselnussbraunen Augen blitzten.
Susan lehnte das Rad an einen Laternenpfahl, bückte sich und sammelte das Gemüse aus dem Rinnstein auf. »Danke. Aber ich muss jetzt nach Hause.«
Dem plötzlichen Aufheulen von Sirenen folgte das Geräusch eiliger Schritte. Die Leute rannten, um einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Der junge Offizier nahm Susan das Einkaufsnetz ab und half ihr, die letzten Kartoffeln einzusammeln.
»Mein Vater hat hier um die Ecke wirklich ein Geschäft. Wir haben einen Schutzraum im Garten. Kommen Sie.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drückte er ihr das Einkaufsnetz in die Hand. Dann nahm er das Rad am Lenker und schob es in die entgegengesetzte Richtung.
Susan blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Das Fahrradgeschäft kannte sie gut. Einen großen Teil ihres sauer verdienten Lohns hatte sie dort gelassen und in diverse Ersatzteile fürs Rad investiert. Trotzdem ging sie nur widerstrebend mit. Mrs. Kemp hatte für Susan von Anfang an eine Sperrstunde verhängt. Nach acht Uhr abends durfte sie das Haus nicht verlassen, was es ihr praktisch unmöglich machte, sich mit anderen in ihrem Alter zu treffen oder einen Freund zu haben. In aller Deutlichkeit hatte Mrs. Kemp erklärt, sie halte nichts von jungen Frauen, die Verehrer hätten, und das schloss ihre Töchter mit ein. Pamela gehorchte den Regeln ihrer Mutter pflichtbewusst. Aber Virginia machte sich einen Spaß daraus, auf diese Regeln zu pfeifen.
Susan lief schneller, um mit dem jungen Mann Schritt zu halten. »Es ist wahrscheinlich gar nicht so schlimm«, meinte sie ängstlich. Was Mrs. Kemp wohl sagen mochte, wenn das Abendessen zu spät auf den Tisch käme, machte ihr im Moment größere Sorgen als die Gefahren eines Bombenangriffs. Und dann war da noch Charlie. Er könnte wimmern oder an der Tür kratzen. »So weit weg vom Hafen werfen die doch keine Bomben ab«, fügte sie atemlos hinzu.
»Das Kaufhaus John Lewis hat kürzlich einiges einstecken müssen. Und eine Bombe ist auch in der Baker Street runtergegangen. In Pimlico auch.«
»Ich sollte lieber sofort nach Hause.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Absichten sind ehrbar, kleines Fräulein.« Sein Lachen war ansteckend, und trotz ihrer Proteste hielt er unbeirrt auf sein Ziel zu.
Überall um sie herum eilten die Leute zum öffentlichen Luftschutzbunker und zum Eingang der U-Bahn. Sirenen hallten immer noch durch die Straßen, ein wirklich grauenerregendes Geräusch. Die Straßen leerten sich schnell, Dringlichkeit und Panik breiteten sich aus, eine Stimmung, die etwas Ansteckendes hatte.
Es war eine große Erleichterung, als sie endlich vor dem Fahrradgeschäft ankamen. Aber Susan war immer noch skeptisch. Sie wunderte sich, dass ein junger Offizier eine solch bescheidene Umgebung sein Zuhause nannte, aber ihr neuer Freund zögerte nicht. Er schob ihr Rad in eine schmale Gasse zwischen den Häusern und öffnete ein Tor, das auf einen Hinterhof führte. Gerade als sie ankamen, trat ein kahlköpfiger Mann mit einem Becher Tee aus dem Gebäude. Seine faltigen Gesichtszüge verzogen sich zu einem erfreuten Lächeln.
»Hallo, Tony, was für eine schöne Überraschung! Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.«
Susan kannte Mr. Richards gut, und er erinnerte sich offenkundig ebenso gut an sie. Denn er wandte sich mit freundlichem Lächeln zu ihr. »Hallo, Herzchen, wieder mal Probleme mit dem Rad, ja? Oder ist mein Junge in meinem Namen auf Kundenfang gegangen?«
»Nichts dergleichen, Dad. Sie hatte einen kleinen Unfall, und jetzt hat sie ein Loch im vorderen Reifen.« Tony umarmte seinen Vater, der deshalb Tee auf dem Betonboden verschüttete. »Aber darum wollen wir uns lieber später kümmern. Jetzt müssen wir Sie erst einmal in den Luftschutzraum bringen.« Er hielt Susan die Hand hin. »Kommen Sie, Miss … tut mir leid, ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.«
Susan zögerte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen attraktiven, jungen Mann kennengelernt, der sie wie eine Erwachsene behandelte. Sie wünschte sich verzweifelt, dass er einen guten Eindruck von ihr hätte. Aber er war Offizier, und sie war nichts als ein einfaches Hausmädchen. Alle Zweifel, all die Unsicherheit, die ihre Kinderzeit geprägt hatten, überfielen sie mit einem Mal. Sie war ein Niemand, ungewollt und ungeliebt. Banks war der Nachname des Polizisten, der sie ausgesetzt auf den Stufen einer Methodistenkirche gefunden hatte. Zur Identifizierung besaß sie nur einen Zettel, angeheftet an die Decke, in die sie gehüllt war, und auf dem Zettel in Großbuchstaben der Name SUSAN. »Einfach nur Susan«, hauchte sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Tony Richards. Freut mich, Einfach-nur-Susan. Ich nehme an, Sie haben auch einen Nachnamen.«
Sie holte tief Luft. Sie wünschte sich so verzweifelt, dass er einen guten Eindruck von ihr hätte. »Natürlich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kemp. Ich heiße Susan Kemp.«