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Oliver Bullough

LAND DES
GELDES

MONEYLAND

Warum Diebe und Betrüger
die Welt beherrschen

Aus dem Englischen
von Jürgen Neubauer

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

  1 Aladins Räuberhöhle

  2 Unter Piraten

  3 Die Königin der Karibik

  4 Sex, Lügen und Offshore

  5 Das Geheimnis der Harley Street

  6 Stille Post

  7 Krebs

  8 Fies wie eine Klapperschlange

  9 Der Passverkäufer

10 Diplomatische Immunität!

11 Die Unbeschreiblichen

12 Dunkle Materie

13 Der Atomtod klopft an die Tür

14 Ja zum Reichtum

15 Luxusimmobilien

16 Unter Plutokraten

17 Die Zerschlagung der Schweiz

18 Steuerparadies USA

19 Der Kampf gegen Moneyland

 

Quellen

Dank

Register

KAPITEL 1

ALADINS RÄUBERHÖHLE

DIE FRANZOSEN BEGANNEN IHRE REVOLUTION 1789 mit dem Sturm auf die Bastille, einem Symbol für die Grausamkeit ihrer Herrscher. Und die Ukrainer begannen ihre Revolution 2014 mit dem Sturm auf den Präsidentenpalast Meschyhirja, einem Symbol für die Selbstbereicherung ihrer Herrscher. Auf dem weitläufigen Gelände des Anwesens befanden sich Wasserspiele, ein Golfplatz, eine pseudoantike Tempelruine, ein Marmorpferd, das mit einer Landschaft der Toskana bemalt war, ein Straußengehege, ein Gelände zur Wildschweinjagd sowie ein fünfstöckiges Landhaus, in dem der gestürzte Präsident Wiktor Janukowytsch seiner vulgären Prunksucht frönte.

In der Ukraine wussten alle, dass Janukowytsch korrupt war, doch bis zu diesem Moment hatte sich niemand eine Vorstellung davon gemacht, wie korrupt. Zu einer Zeit, als die gewöhnlichen ukrainischen Bürger den Gürtel ein Loch ums andere enger schnallen mussten, hatten er und seine Spießgesellen Vermögen von Hunderten Millionen von Euro angehäuft. Er hatte mehr Geld, als er jemals würde ausgeben können, und mehr Schätze, als er in seinem Palast zur Schau stellen konnte.

Alle Staatsoberhäupter haben ihre Paläste, doch in der Regel befinden sich diese im Eigentum des Staats. Wenn sie sich denn einmal in Privateigentum befinden, wie der Trump Tower von Donald Trump, dann wurden sie meist vor Amtsantritt erworben. Janukowytsch hatte sich seinen Palast jedoch erbaut, während er von Steuergeldern lebte, und deshalb wollten ihn die Demonstranten sehen. Staunend liefen sie um das Hauptgebäude, die Brunnen, die künstlichen Wasserfälle, die Statuen und die exotischen Fasane. Es war ein Tempel der Geschmacklosigkeit, eine Kathedrale des Kitschs, der Inbegriff der Extravaganz. Geschäftstüchtige Anwohner vermieteten Fahrräder an die Besucher, denn das Gelände war so groß, dass man es zu Fuß gar nicht erkunden konnte, und die Revolutionäre brauchten Tage, bis sie auch in den letzten Winkel vorgedrungen waren. Die Garagen erinnerten an eine Räuberhöhle aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, hier türmten sich Goldschätze von unvorstellbarem Wert. Die Revolutionäre ließen die Schätze später von Experten des Nationalen Kunstmuseums von Kiew abtransportieren, damit sie keinen Schaden nahmen und dem Volk erhalten blieben.

Hier stapelten sich die vergoldeten Kerzenständer, an den Wänden hingen riesige Porträts des Präsidenten, neben einer aus Elefantenstoßzähnen geschnitzten Elfenbeinpagode standen griechische Götterstatuen, Dutzende orthodoxe Ikonen, dazu historische Gewehre, Schwerter und Streitäxte. Eine Urkunde feierte Janukowytsch als »Jäger des Jahres«, aus anderen Dokumenten ging hervor, dass je ein Stern nach ihm und seiner Frau benannt worden war. An einigen der Gegenstände klebten noch die Kärtchen der Günstlinge, die sie dargebracht hatten. Es waren ihre Tributzahlungen an den Herrscher, mit denen sie sich das Wohlwollen Janukowytschs erkaufen und sicherstellen wollten, dass sie sich auch weiterhin mit ihren Gaunereien bereichern durften.

Die Ukraine ist vermutlich das einzige Land der Welt, das jahrelang von raffgierigen Ganoven ausgeplündert wurde und deren Beutestücke schließlich als Konzeptkunst ausstellte: Fundstücke aus der Rumpelkammer des Präsidenten. Die Menschen, die zusammen mit mir vor dem Museum Schlange standen, schienen unschlüssig, ob sie Stolz oder Scham empfinden sollten.

In einer der Vitrinen des Museums wurde ein altes Buch ausgestellt, das auf einer Hinweistafel als kleine Aufmerksamkeit des Finanzamtes beschrieben wurde. Es war ein Exemplar des Apostol, des ersten in der Ukraine gedruckten Buchs, von dem heute in aller Welt bestenfalls hundert Exemplare existieren. Wie kam man im Finanzamt auf den Gedanken, dass es sich um ein geeignetes Präsent für den Präsidenten handeln könnte? Wie konnte sich die Behörde so etwas leisten? Wieso kam man im Finanzamt überhaupt auf den Gedanken, dem Präsidenten Geschenke zu machen? Wer hatte das bezahlt? Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.

Unter einem Berg von kitschigen Vasen befand sich eine erlesene Keramik von Picasso, Herkunft unbekannt. Unter den Ikonen war wenigstens eine aus dem 14. Jahrhundert mit der typischen zweidimensionalen Darstellung. An einer anderen Wand, neben einem Porträt Janukowytschs aus Bernstein und einem anderen aus ukrainischen Getreidesamen, hingen russische Landschaftsgemälde aus dem 19. Jahrhundert im Wert von vielen Millionen Euro. In einer Vitrine war das stählerne Symbol von Hammer und Sichel zu bewundern, das Stalin einst der Kommunistischen Partei der Ukraine überreicht hatte. Wie war es in Janukowytschs Garage gekommen? Vielleicht hatte der Präsident keinen anderen Platz mehr dafür gefunden?

Die Menge schob mich durch die Räume. In einem hingen überall Gemälde von mehr oder weniger unbekleideten Frauen, die im Freien herumstanden und von bekleideten Männer umringt waren. Am Ende hatte ich nicht mehr die Kraft, die Krokodilshaut an der Wand genauer in Augenschein zu nehmen oder die Gewehre, Schwerter, Pistolen und Speere in den Schaukästen zu bestaunen. Meist sind es meine Füße, die mich bei Museumsbesuchen im Stich lassen; diesmal war es mein Gehirn.

Doch die Massen strömten unaufhörlich weiter ins Museum, tagelang standen lange Schlangen vor dem Eingang. Heiter schoben sich die Wartenden voran und verschwanden schließlich durch das Tor im Museum. Mit fahlen Gesichtern kamen sie am anderen Ende wieder heraus. Am Ausgang lag ein Gästebuch, in dem sie ihre Kommentare hinterlassen konnten. Jemand hatte geschrieben: »Wie viel Zeug braucht ein einzelner Mensch? Entsetzlich. Mir ist schlecht.«

Und das war erst der Anfang. Die Tage nach der Revolution waren im besten Sinne eine gesetzlose Zeit, keine Uniformierten hinderten die Bürger daran, ihre Neugierde zu befriedigen. Ich nutzte die Situation, um mich in möglichst vielen der abgelegenen Paläste der früheren Elite umzusehen. Eine Fahrt führte mich nach Sucholutschtschja inmitten eines Waldes vor den Toren Kiews. Die Sonne stach vom Himmel herab, die Luft waberte über dem Teer, während die Straße immer tiefer in den Wald hineinführte. Mein Begleiter Anton, der selbstständiger IT-Unternehmer gewesen war, ehe er sich der Revolution angeschlossen hatte, hielt an einem Tor, stieg aus und verschwand im Unterholz. Kurz darauf kam er zurück und hielt etwas in die Höhe: »Der Schlüssel zum Paradies!«, rief er grinsend. Er schloss das Tor auf, setzte sich wieder ans Steuer, und wir fuhren weiter.

Zu unserer Rechten glitzerte ein See, hier wurde das Wasser des Dnjepr aufgestaut. Wir fuhren über einen Damm, vorbei an einem Steg mit einem kleinen Bootshaus. Auf schwimmenden Inseln hockten Enten vor ihren Holzhäuschen. Schließlich hielten wir vor einem zweistöckigen Jagdhaus. Hierher war Janukowytsch mit alten Freunden und neuen Freundinnen gekommen, um auszuspannen.

Anton war zum ersten Mal im Februar 2014 hierhergekommen, wenige Stunden nachdem der Präsident aus der Hauptstadt geflohen war. Er hatte vor dem Tor gehalten und den Wachleuten gesagt, die Revolution habe ihn geschickt. Sie hatten ihm den Schlüssel ausgehändigt und ihn durchgewunken. Dann hatte er das Anwesen mit seinem alten Baumbestand erkundet. Es gab eine Kapelle und ein Sommerhaus mit überdachtem Grillplatz. Das Gelände neigte sich sanft hinunter zum Seeufer und einer Anlegestelle für Jachten. Die Angestellten waren herausgekommen und hatten Anton gefragt, was er im Jagdschloss des Präsidenten zu suchen habe. Anton hatte erwidert, die Revolution habe gesiegt, und das Jagdschloss gehöre jetzt dem Volk.

Anton öffnete mir die Tür und führte mich hinein. Er hatte nichts angerührt: Der lange Esstisch mit seinen achtzehn Polsterstühlen stand noch so da, wie er ihn vorgefunden hatte, genau wie der beheizbare Massagetisch aus Marmor. An den Wänden hingen pseudo-impressionistische Aktgemälde, wie sie Renoir hätte malen können, wenn er in Softporno gemacht hätte. Der Fußboden war ein Parkett aus tropischen Harthölzern, die Wände waren mit rustikalen Brettern verkleidet. Bücher waren keine zu sehen.

Anton führte mich durch die Räume und zeigte mir eine Karaoke-Maschine, ein Schwimmbad und Kinoräume. Den tiefsten Eindruck hinterließen allerdings die Toiletten. Gegenüber den Kloschüsseln waren in Sitzhöhe Fernsehapparate angebracht. Es war eine persönliche Note der ganz besonderen Art: Präsident Janukowytsch war ein passionierter Fernsehkonsument und offenbar hatte er einige Zeit auf der Schüssel verbracht. Während die Bürger seines Landes für miserable Gehälter malochten und jung starben, und während die Infrastruktur des Landes verfiel und sich Beamte und Politiker die Taschen vollstopften, hatte der Präsident Sorge getragen, dass seine Verstopfung ihn nicht am Fernsehgenuss hinderte. Für mich wurden diese Fernsehapparate zum Sinnbild all dessen, was schiefgelaufen war, und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern in sämtlichen ehemaligen Sowjetrepubliken, in denen ich als Journalist gearbeitet habe.

Als die Sowjetunion zerfiel, war ich dreizehn und neidisch auf alle, die diesen Moment miterleben durften. Im Sommer 1991, während die Hardliner in Moskau einen letzten Versuch unternahmen, ihrem Land die alte Sowjetordnung aufzuzwingen, verbrachte ich mit meiner Familie die Ferien in den schottischen Highlands und versuchte verzweifelt, im Funkschatten der Hügel einige Radiosignale zu erhaschen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Als die Ferien zu Ende waren, war der Putschversuch gescheitert und ein neues Zeitalter war angebrochen. Der an sich eher zurückhaltende Historiker Francis Fukuyama rief das Ende der Geschichte aus. Die Welt war frei. Die Guten hatten gesiegt.

Ich interessierte mich brennend dafür, was in Osteuropa vor sich ging, und verschlang Hunderte Bücher von Autoren, die vor mir da gewesen waren. Während meines Studiums streifte ich jeden Sommer durch die Länder des früheren Warschauer Paktes, die einst unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang gelegen hatten, und freute mich an der Vereinigung Europas. Nach dem Studium wartete eine Anstellung auf die meisten meiner Kommilitonen, doch ich hatte anderes vor. Im September 1999 zog ich nach St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Russlands, überwältigt von Begeisterung, trunken von den Möglichkeiten des demokratischen Wandels und der Blüte einer neuen Gesellschaft. In meinem Freudentaumel bemerkte ich gar nicht, dass ich den Moment verpasst hatte, und dass er längst vorüber war, wenn es ihn denn jemals gegeben haben sollte. Drei Wochen vor meiner Ankunft auf dem Flughafen Pulkowo war ein undurchschaubarer ehemaliger KGB-Agent namens Wladimir Putin zum Premierminister ernannt worden. Statt über Freiheit und Freundschaft zu schreiben, berichtete ich während der nächsten zehn Jahre über Kriege und Missbrauch, erlebte Paranoia und Schikane. Die Geschichte war keineswegs zu Ende. Im Gegenteil, sie nahm gerade an Fahrt auf.

Als ich 2014 den präsidialen Abort in Augenschein nahm, hatte ich bereits zwei Bücher über die ehemalige Sowjetunion veröffentlicht. Der Anstoß für das erste war das Elend, das ich in und um Tschetschenien gesehen hatte, und handelte von den Kaukasusvölkern und ihren wiederholten und wiederholt fehlgeschlagenen Bemühungen um Selbstbestimmung. Das zweite Buch beschrieb die Russen und die Aushöhlung ihres Landes durch Alkoholismus und Verzweiflung. Auch wenn es mir damals nicht ganz klar war, stand hinter beiden Büchern die unausgesprochene Frage: Was ist da nur schiefgegangen? Warum ist der Traum des Jahres 1991 nicht Wirklichkeit geworden? Vor dem Thron des gestürzten Präsidenten der Ukraine drängte sich mir diese Frage mit Macht auf: Warum hatten diese Staaten nicht Freiheit und Wohlstand bekommen, sondern Politiker, denen mehr an einem gepflegten Stuhlgang gelegen war als am Wohl ihrer Bürger?

Ein wenige Hundert Meter vom Kreml entfernt gelegener Bentley-Händler verkauft Karossen im Wert von vielen Hunderttausend Euro, und die russischen Zeitungen prahlen damit, dass diese Filiale mehr von diesen Luxusschlitten verkauft als jede andere auf der Welt. Wenige Stunden entfernt lernte ich – wohlgemerkt mitten im iPhone-Zeitalter – einen Mann kennen, der mir für mein altes Nokia-Handy sein gesamtes Vermögen anbot. In Aserbaidschan beauftragte Präsident Ilham Alijew die Stararchitektin Zaha Hadid – seinerzeit die glamouröseste Vertreterin ihrer Branche – mit dem Bau eines spektakulären Museums zu Ehren seines verstorbenen Vaters (und Amtsvorgängers), und zwar in teuerster Lage in der Hauptstadt Baku. Tausende seiner Bürger leben seit dem Krieg gegen Armenien vor zwei Jahrzehnten in improvisierten Flüchtlingslagern. In Kirgisistan ließ sich der Präsident eine dreigeschossige Luxusjurte bauen (Jurten sind Zelte und haben als solche nur eine Etage), um dort als Reiternomade des Goldenen Zeitalters zu posieren, während viele Hauptstadtbewohner ihr Wasser noch am Gemeindebrunnen holen.

In der Ukraine zogen Janukowytsch und seine Clique einen Parallelstaat auf. Sie regierten nicht, sie stahlen. Wo Steuern zu zahlen waren, konnte man sich per Bestechung bei ihnen freikaufen. Wo Genehmigungen erteilt wurden, hielten sie die Hand auf. Wo Unternehmen florierten, schickten sie Polizisten, um Schutzgeld zu kassieren. Beamte und Politiker gingen ihrer lukrativen Tätigkeit in diesem Parallelstaat nach und vernachlässigten darüber ihre eigentlichen Aufgaben. Die Ukraine beschäftigte sage und schreibe 18.500 Staatsanwälte, die nichts anderes waren als die Schlägertruppe eines Mafiapaten. Wenn sie Anklage erhoben, kamen die Richter ihren Wünschen nach. Mit der Justiz auf ihrer Seite konnten die Politiker nach Belieben absahnen.

Zum Beispiel im Gesundheitswesen. Der Staat war laut Verfassung verpflichtet, bedürftige Bürger kostenlos mit Medikamenten zu versorgen, und diese Medikamente kaufte er auf dem freien Markt ein. Dabei konnte er Aufträge an jeden Anbieter vergeben, der die entsprechenden Voraussetzungen erfüllte. Tatsächlich jedoch fanden Politiker endlose Möglichkeiten, Anbieter auszuschließen, die kein Schmiergeld zahlen wollten. Mal waren die Angebote in der falschen Schriftart eingereicht worden, mal war die Unterschrift auf dem Dokument zu groß oder zu klein – was immer den Beamten gerade einfiel. Ausgeschlossene Anbieter konnten zwar Widerspruch einlegen, doch dazu mussten sie vor ein Gericht gehen, aber das war natürlich Teil des korrupten Systems und forderte ebenfalls Tribut, sodass sich die Unternehmen erst gar nicht um die Aufträge bemühten. Wenn sie Ärger machten, liefen sie Gefahr, bis ans Ende aller Zeiten von einer der ungezählten Behörden schikaniert zu werden, die Betriebsinspektionen durchführen konnten, zum Beispiel von der Brandschutzbehörde oder dem Gesundheitsamt. Daher wurde der Markt von zwielichtigen und im Ausland registrierten Briefkastenunternehmen der Freunde der Politiker beherrscht, die sich absprachen, um die Preise nach Gutdünken in die Höhe zu treiben. Der Handel hielt sich an das Gesetz, und die beteiligten Unternehmer und Politiker machten satte Gewinne.

So kam es, dass der Staat für Aids-Medikamente mehr als das Doppelte des Weltmarktpreises bezahlte, und das obwohl die Aids-Epidemie in der Ukraine schneller um sich greift als irgendwo sonst in Europa. Als nach der Revolution internationale Organisationen den Einkauf übernahmen, konnten sie die Ausgaben für Krebsmedikamente um fast 40 Prozent senken, ohne minderwertige Produkte einzukaufen. Das Geld, das sie einsparten, war früher in die Taschen der Politiker und Beamten geflossen.

Und das war nur ein winziger Ausschnitt. Der Staat musste schließlich alles von irgendjemandem kaufen, und jedes Geschäft eröffnete einem Staatsdiener die Möglichkeit zur Selbstbereicherung. Man geht davon aus, dass Betrug dieser Art den Staat bis zu 12 Milliarden Euro pro Jahr gekostet haben könnte. Im Jahr 2015 erkrankten zwei ukrainische Kinder an Kinderlähmung, obwohl diese Krankheit in Europa als ausgerottet gilt. Schuld war ein mangelhaftes Impfprogramm, ausgehöhlt von korrupten und zynischen Politikern. Was ist da nur schiefgegangen?

Glauben Sie nicht, dass diese Frage allein für die Ukraine und die übrigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion gilt. Die groß angelegte Korruption, die Janukowytsch reich gemacht und sein Land in den Ruin gestürzt hat, provoziert in vielen Teilen der Welt Wut und Unruhen, von den Philippinen im Osten bis nach Peru im Westen. In Tunesien nahm die Raffgier der Beamten und Politiker solche Ausmaße an, dass sich ein Straßenhändler selbst verbrannte und damit den Arabischen Frühling auslöste. In Malaysia plünderten junge Investoren einen staatlichen Gesundheitsfonds und verprassten das Geld für Drogen, Sex und Hollywoodstars. In Äquatorialguinea kaufte sich der Sohn des Präsidenten von seinem offiziellen Monatsgehalt von 4000 Dollar eine 35 Millionen Dollar teure Villa in Malibu. In aller Welt greifen Staatsdiener in die öffentlichen Kassen, horten das gestohlene Geld im Ausland und finanzieren damit ihren ausschweifenden Lebenswandel, während ihre Heimatländer kollabieren.

Als wir das Jagdhaus von Sucholutschtschja verließen, grübelte ich noch immer über die Toiletten, die Fernsehapparate und die schmerzlichen Fragen, die sie aufwarfen. Wie hatten Anton und seine Mitbürger das zulassen können? fragte ich ihn. Hatten sie denn nicht bemerkt, was ihre Politiker anstellten? »Von den Einzelheiten hatten wir keine Ahnung«, erwiderte er frustriert. »Das Land, auf dem wir stehen, gehört nicht mal der Ukraine. Es gehört England. Schau’s nach.«

Er hatte recht. Wenn Sie hätten wissen wollen, wem dieses 30.000 Hektar große ehemalige Naturschutzgebiet gehörte, und warum es überhaupt privatisiert wurde, hätten Sie dies einfach im Katasteramt nachschlagen können. Dort hätten Sie dann erfahren, dass der Eigentümer ein ukrainisches Unternehmen namens Dom Lesnika war. Wenn Sie nachgeforscht hätten, wem Dom Lesnika gehörte, wären Sie in einem anderen Archiv auf den Namen eines britischen Unternehmens gestoßen, und ein Blick in ein weiteres Archiv hätte Ihnen verraten, dass dieses Unternehmen einer anonymen Stiftung in Liechtenstein gehörte. Für Außenstehende hätte dies wie eine unschuldige ausländische Investition gewirkt, wie sie in allen Ländern der Welt gern gesehen werden. Wenn Sie besonders hartnäckig gewesen wären und diese Investition selbst in Augenschein hätten nehmen wollen, dann wären Sie am Schlagbaum im Wald von Polizisten angehalten worden. Das hätte Sie vielleicht stutzig gemacht, doch das war noch lange kein Beweis, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Der Diebstahl war gut getarnt.

Die Ermittler hatten Glück, denn Janukowytsch hatte genauestens Buch über seine Gaunereien geführt. Sein Palast Meschyhirja stand in einer Parklandschaft am Dnjepr, am Ufer des Flusses befanden sich ein Jachthafen und eine Bar in Form einer spanischen Galeone. Auf der Flucht hatten die Schergen des Präsidenten zweihundert Aktenordner mit Finanzunterlagen in den Hafen geworfen, in der Hoffnung, dass sie untergehen würden. Den Gefallen hatten sie ihnen allerdings nicht getan. Die Demonstranten hatten die Papiere aus dem Wasser gefischt und in der Sauna getrocknet. Damit erhielten sie einen Einblick in die Finanztricks, mit denen Janukowytsch das Land ausgeplündert hatte.

Nicht nur Janukowytschs Jagdhaus lief auf den Namen von im Ausland registrierten Firmen, sondern auch dieser Palast. Genau wie seine Kohleförderunternehmen im Donbass und seine Villen auf der Halbinsel Krim, deren Eigentümer in der Karibik registriert waren. Janukowytsch war auch nicht der Einzige, der von solchen Offshore-Konstrukten Gebrauch machte: Die Medikamentendealer saßen in Zypern, die Waffenschieber wurden bis nach Schottland zurückverfolgt, und der größte Händler mit gefälschten Markenartikeln operierte von den Seychellen aus. Ermittler, die den Filz der offiziellen Korruption durchkämmen wollten, mussten sich daher mit Anwälten und Politikern in zahllosen Steueroasen und mit Kriminalbeamten in Dutzenden Ländern herumschlagen.

»Diese Politiker sind alle im Ausland gemeldet, in Monaco, Zypern, Belize oder den Britischen Jungferninseln«, erklärte mir der ukrainische Ermittler, der die gestohlenen Vermögen zurückholen sollte. »Wir schreiben diese Länder an, und dann müssen wir uns drei oder vier Jahre gedulden, wenn wir überhaupt etwas hören. Die Britischen Jungferninseln rühren sich grundsätzlich nicht, mit denen haben wir kein Abkommen. Und das war’s, damit ist der Fall erledigt. Während wir auf eine Antwort warten, wird das Vermögen fünfmal umgemeldet. Inzwischen läuft alles auf andere Namen, und das ist unser Hauptproblem, wir müssen diese Dokumente sämtlich durchgehen und überprüfen.«

Mir wird schwindelig wie vor einer komplizierten Mathematikaufgabe, und ich spüre, wie sich zu meinen Füßen ein Abgrund auftut. Diese Immobilien und Unternehmen gehören der Ukraine, aber rein juristisch gehören sie dem Ausland, wohin man ihnen nicht folgen kann. Kein Wunder, dass die Ganoven diese komplizierten Strukturen so lieben: Sie sind undurchschaubar. Und die Ukraine ist nicht das einzige Land, das betroffen ist.

Auch Politiker aus Nigeria, Russland, Malaysia, Kenia, Äquatorialguinea, Brasilien, Indonesien, den Philippinen, China, Afghanistan, Libyen, Ägypten und Dutzenden anderen Ländern haben ihr Vermögen im Ausland versteckt, wo die Bürger ihres Landes keinen Einblick und keinen Zugriff haben. Schätzungen gehen davon aus, dass in Entwicklungsländern märchenhafte Summen gestohlen werden: Die Rede ist von 20 Milliarden bis einer Billion Dollar pro Jahr. Über verschwiegene Offshore-Verbindungen landet dieses Geld schließlich in einigen wenigen Städten des Westens: Miami, New York, Los Angeles, London, Monaco, Genf.

Es gab eine Zeit, da hätte ein Beamter oder Politiker nicht viel mit dem Geld anfangen können, das er in seinem Heimatland gestohlen hatte. Er hätte sich ein neues Auto kaufen oder das Geld unter Freunde und Verwandte verteilen können, aber das war es auch schon. Zu Hause konnte er keine unbegrenzten Summen ausgeben. Irgendwann hätten sich die Geldscheinbündel einfach bei ihm zu Hause gestapelt, bis sie zu den Fenstern hinausquollen.

Mit Offshore-Banken ändert sich das. Briefkastenfirmen werden gelegentlich als Fluchtautos für Schwarzgeld bezeichnet, doch im modernen Finanzwesen sind sie eher so etwas wie magische Teleporter. Wer Geld stiehlt, muss es nicht mehr im Safe verstecken, wo es die Mäuse auffressen. Mithilfe des Teleporters kann er es per Knopfdruck außer Landes schaffen und an jedem beliebigen Ort deponieren. Das ist so, als könnte man so viel in sich hineinfressen wie man will, ohne sich jemals satt zu fühlen. Kein Wunder, dass Politiker unersättlich geworden sind: Sie können Geld unbegrenzt stehlen und ausgeben. Wenn sie eine Jacht wollen, dann überweisen sie das Geld nach Monaco und kaufen sich dort eine auf der jährlichen Messe. Wenn sie eine Villa wollen, dann überweisen sie das Geld nach London oder New York und suchen einen Makler, der keine Fragen stellt. Wenn sie Kunstwerke wollen, dann überweisen sie das Geld an ein Auktionshaus. Offshore heißt, dass man nie genug haben muss.

Aber das ist längst nicht alles. Wenn der wahre Eigentümer eines Vermögenswerts (zum Beispiel einer Villa, eines Flugzeugs, einer Jacht oder eines Unternehmens) geschickt hinter zahlreichen verschachtelten Konstruktionen und in verschiedenen Ländern versteckt wird, lässt er sich kaum noch ausfindig machen. Selbst wenn, wie in der Ukraine, die korrupte Regierung gestürzt wird, ist es schwierig bis unmöglich, die gestohlenen Summen zu finden, zu konfiszieren und zurückzuholen. Vielleicht haben Sie gelesen, dass Abermillionen nach Nigeria, Indonesien, Angola oder Kasachstan zurücküberwiesen wurden, doch in jedem dieser Fälle kommt auf jeden gestohlenen Euro bestenfalls ein zurückgezahlter Cent. Die korrupten Herrscher verstecken ihr Vermögen inzwischen derart geschickt, dass einmal gestohlenes Geld für immer verloren ist. Selbst wenn sie ihre Ämter verlieren, behalten sie ihre luxuriösen Anwesen im Westen von London, ihre Superjachten in der Karibik und ihre Villen in Südfrankreich.

Der Schaden für die betroffenen Länder ist enorm. Die Regierung von Nigeria hat die Kontrolle über den Norden des Landes verloren und Millionen Menschen sind auf der Flucht. Libyen ist als Staat kaum noch zu erkennen, bewaffnete Banden kämpfen um die Vorherrschaft und lassen den Menschenschleppern freie Bahn. Die Korruption der afghanischen Politiker verhindert den Kampf gegen den Opiumanbau, die Schmuggler können das billige Heroin nach Belieben ins Ausland verfrachten. In Russland, einem der Hauptabnehmer des Heroins, sind mehr als eine Million Menschen mit dem HI-Virus infiziert, doch das Gesundheitswesen hat kein Geld, und die Regierung interessiert sich mehr für kurzfristige Propagandaerfolge als dafür, ihren Bürgern zu helfen.

Und die Ukraine ist eine Ruine. Die Landstraßen zwischen den größeren Städten befinden sich in miserablem Zustand, während die zwischen den Dörfern kaum noch instand gehalten werden. Eine Fahrt durch das Land ist eine Qual, die noch unerträglicher wird, weil man ständig von Verkehrspolizisten angehalten wird, die nach kleinsten Verstößen gegen die komplizierte Straßenverkehrsordnung Ausschau halten oder sie wenn nötig auch erfinden.

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahr 1991 waren die Einwohner der Ukraine mehr oder weniger gleich arm oder reich, da die Sowjetunion ihre Misswirtschaft gerecht auf alle verteilt hatte. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten hat sich die Situation vollkommen verändert. Am Vorabend der Revolution des Jahres 2013 befand sich die Hälfte der Volkswirtschaft in der Hand von nur 45 Personen. Auch dies hat die Ukraine mit zahlreichen von der Korruption zerfressenen Entwicklungsländern gemeinsam. Die Tochter des langjährigen Präsidenten Angolas ist die reichste Frau Afrikas und stöckelt durch den Westen wie ein Filmstar, während der Rest der Bevölkerung in einem gescheiterten Staat ums Überleben kämpft. Die Tochter des Präsidenten von Aserbaidschan produziert Filme und verlegt Hochglanzmagazine, und die Söhne des Notstandsministers unterhielten bis vor Kurzem ein Lobbyunternehmen in der Londoner City. Es ist kaum vorstellbar, wie Länder mit einer derart zerrütteten Wirtschaft ein gesundes Gemeinwesen und eine funktionierende Demokratie auf die Beine stellen sollen, von der Landesverteidigung ganz zu schweigen.

Was das heißt, wurde kurz nach der ukrainischen Revolution auf der Krim deutlich. Die Krim gehört zur Ukraine, doch als russische Truppen – in nicht gekennzeichneten Uniformen, aber in Fahrzeugen mit russischen Militärkennzeichen – in die Städte der Halbinsel einfuhren und Militärstützpunkte blockierten, waren die Verantwortlichen derart demoralisiert, dass sie keine ernsthafte Gegenwehr leisteten. Ein Admiral ergab sich den Russen nicht nur, sondern händigte ihnen auch gleich die ukrainische Flotte aus, obwohl er angeblich seinem Land den Treueeid geschworen hatte. Im Flughafen stempelten die Grenzbeamten den ukrainischen Dreizack in meinen Pass, doch das Land, dem sie dienten, war verschwunden. Im Osten der Ukraine wiederholte sich das Spiel: Kaum jemand war bereit, die Ukraine gegen die von Russland unterstützten, gut bewaffneten und gut ausgebildeten Separatisten zu verteidigen. Die Korruption hatte den Staat derart ausgehöhlt, dass er zu einem Apparat der kriminellen Selbstbereicherung der Politiker verkommen war. Warum sollte jemand etwas verteidigen, das nur dazu da war, ihm das Leben schwer zu machen? Die Korruption hatte dem Staat jegliche Legitimität genommen.

Der Zorn darüber zerfrisst nicht nur die Ukraine, sondern auch viele andere Länder. In Afghanistan, Nigeria und dem Nahen Osten treibt er die Menschen in die offenen Arme der Terrorbanden. »Die große Gefahr für die Zukunft Afghanistans sind nicht die Taliban, nicht ihre Verstecke in Pakistan und auch nicht die aufkeimende Feindseligkeit Pakistans. Wirklich existenzbedrohend ist die Korruption«, sagte der amerikanische General John Allen, ehemaliger Befehlshaber der internationalen Mission in Afghanistan, im April 2014 in einer Anhörung vor einem Ausschuss des amerikanischen Senats. »Religiöse Aufständische, kriminelle Netzwerke und Drogenhandel sind ein gefährliches Bündnis eingegangen, das auf die Übernahme staatlicher Funktionen auf allen Ebenen zielt. Zu lange haben wir die Taliban als alleinige Existenzbedrohung Afghanistans gesehen. Aber im Vergleich mit dem Umfang der Korruption, mit der wir zu kämpfen haben, sind sie nicht mehr als ein lästiges Ärgernis.«

Ich verspüre das Bedürfnis, allen dieselbe Frage zu stellen, die ich Anton gestellt habe: Wie kann es sein, dass sie nicht wussten, was da los war? Es ist doch offensichtlich, oder? Aber nein. Anton hat recht. Es ist nicht offensichtlich. Das Geld ist nur dann leicht zu finden, wenn man schon weiß, wo es ist. Und das Problem ist nur dann offensichtlich, wenn man schon weiß, dass es existiert.

Am Morgen nach Halloween 2017 lag auf den Stufen eines hübschen Backsteingebäudes in der Union Street 377 im Süden des New Yorker Stadtteils Brooklyn Heights ein kunstvoll geschnitzter Kürbis. Bei genauerem Hinsehen hatte der Kürbis gewisse Ähnlichkeit mit Robert Mueller, dem ehemaligen FBI-Direktor und nun Sonderermittler, der herausfinden sollte, ob Russland in illegaler Weise in den Präsidentschaftswahlkampf der Vereinigten Staaten eingegriffen und die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten unterstützt hatte. Der Kürbis stammte von der Fotografin Amy Finkel, die an der Fassade eine Gedenktafel angebracht hatte, auf der stand: »Dieses Haus brachte einen Präsidenten zu Fall.« Die Anwohner, die bei der Präsidentschaftswahl 2016 überwiegend für Hillary Clinton gestimmt hatten, freuten sich.

Zwei Tage zuvor hatte Mueller Anklage gegen Trumps ehemaligen Wahlkampfmanager Paul Manafort erhoben, und aus der Anklageschrift ging hervor, dass dieses Haus Teil einer weit gespannten Geldwäscheoperation war. Manafort hatte das Haus 2012 für 3 Millionen Dollar gekauft, die von einem zypriotischen Konto stammten, dann hatte er es mit einer Hypothek von 5 Millionen belastet und schließlich mit diesem Geld weitere Immobilien erworben und Schulden getilgt – ein kompliziertes Manöver zur Steuerhinterziehung.

Bevor Manafort für Trump tätig wurde, hatte er Janukowytsch beraten und für beide Politiker ähnliche Wahlkampfstrategien entwickelt. Unter Manaforts Anleitung verkaufte sich Janukowytsch als Mann der Praxis, der Klartext redete und für die Vergessenen und Benachteiligten eintrat. Muellers Anklage bezog sich auch auf seine Arbeit in der Ukraine und darauf, was er mit seinem Honorar angefangen hatte. »Seine Lobbyarbeit richtete sich an Abgeordnete des amerikanischen Kongresses und zielte auf eine Aufhebung der Sanktionen gegen die Ukraine, die Anerkennung des Ergebnisses der ukrainischen Wahlen sowie der Rechtmäßigkeit der Verhaftung politischer Gegner Janukowytschs«, hieß es in der Anklageschrift.

Der ausführlichen Aufschlüsselung seiner Ausgaben nach zu urteilen, stand Manafort in seiner Liebe zum Luxus Janukowytsch kaum nach. So finden sich unter seinen Ausgaben zum Beispiel 934.350 Dollar für Perserteppiche, 849.215 Dollar für Kleidung, 112.825 Dollar für Stereoanlagen und Fernseher (vielleicht hatte er ja auch einen Apparat in Augenhöhe vor der Kloschüssel). Der größte Posten waren allerdings Immobilien. Für ein Apartment in New York blätterte er 1,5 Millionen Dollar hin, für ein Haus in Virginia 1,9 Millionen. (Wie Janukowytsch und natürlich auch Trump dankte Manafort den wirtschaftlich Benachteiligten am Wahltag für ihre Stimmen, doch als Nachbarn wollte er sie nicht haben.) Das Geld dafür kam vom ukrainischen Staat.

An diesem Punkt drängen sich einige unangenehme Fragen auf. So amüsant es ist, dass Manafort von seinen Nachbarn in Brooklyn mit einem Kürbis und selbst gemalten Protestschildern an den Pranger gestellt wurde, so besorgniserregend ist es auch, dass die amerikanischen Bürger vorher genauso wenig gewusst hatten, was da vor sich ging, wie die Ukrainer von Sucholutschtschja gewusst hatten. Aber wie sollten sie auch? Wenn sie im Katasteramt von New York den Käufer des Hauses in Brooklyn gesucht hätten, dann wären sie auf ein Unternehmen namens MC Brooklyn Holdings LLC gestoßen, aber nicht auf den wahren Eigentümer. Das Unternehmen kam offenbar aus der Region, doch es tarnte den Eigentümer des Hauses genauso wirkungsvoll, wie die Briefkastenfirmen in Liechtenstein und den Britischen Jungferninseln Janukowytsch tarnten. Wenn die amerikanischen Bürger gefragt hätten, woher das Geld stammte, mit dem Manafort diese Immobilien kaufte und renovierte oder seine eleganten Anzüge, Stereoanlagen und Perserteppiche erwarb, dann wären sie auf Namen von Unternehmen aus Zypern, Großbritannien oder St. Vincent und den Grenadinen gestoßen. Wenn man sich die Ermittlungsergebnisse von Muellers Team ansieht, tut sich einmal mehr ein Abgrund auf und es erfasst einen ein Schwindelgefühl.

Die Spur führt nicht von ungefähr nach New York, denn dieser Abgrund tut sich nicht in der Ukraine, dem südlichen Afrika oder Malaysia auf, sondern im Herzen des Westens. Reiche Menschen haben seit jeher ein Interesse daran, ihr Geld dem Zugriff des Staates zu entziehen, und dazu haben sie im Laufe der Jahrhunderte raffinierte Instrumente erfunden. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten richten Anwälte zum Beispiel Treuhandgesellschaften ein, mit deren Hilfe ihre reichen Klienten ihr Geld scheinbar für wohltätige Zwecke spenden, während sie es in Wirklichkeit weiter für sich arbeiten lassen und an ihre Kinder vererben können. In Europa gibt es dafür Stiftungen.

In den Gesellschaften des Westens (vor allem in den Vereinigten Staaten) ist die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen seit den Siebzigerjahren immer größer geworden. Wirtschaftswissenschaftler wie Thomas Piketty sehen die Ursache darin, dass Kapitalerträge langfristig größer sind als das Wirtschaftswachstum. Solange es also nicht zu einer globalen Katastrophe kommt, öffnet sich die Schere im Westen immer weiter, es sei denn, der Staat wirkt dem entgegen. Damit könnte Piketty recht haben, aber darum geht es in diesem Buch nicht. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler und kann mich daher nicht kompetent zu Strukturproblemen äußern, die Kapitalerträge gegenüber der Arbeit begünstigen. Ich bin Journalist, und als solcher interessiere ich mich für Gauner. In diesem Buch geht es daher um Ganoven und Menschen der Art, die das Land, in das ich 1999 gezogen bin, in den Abgrund gestürzt und die Welle der Hoffnung abgewürgt haben, auf der ich in die glorreiche russische Zukunft surfen wollte.

Dass Reiche in eine Trickkiste greifen können, die dem Rest der Bevölkerung nicht offensteht, ist übrigens eine weitere Erklärung für die größer werdende Ungleichheit unserer Gesellschaften, und zudem eine, über die viel zu wenig gesprochen wird. Westliche Behörden haben ihre liebe Not, diese juristischen Kniffe zu unterbinden, doch sie haben immerhin die Institutionen und Traditionen, die nötig sind, um selbst einigermaßen ehrlich zu bleiben. In den neueren und ärmeren Staaten gibt es diese Institutionen und Traditionen jedoch nicht. Beamte und Politiker wurden von einer Flutwelle des Geldes fortgerissen. Wie mir ein ukrainischer Rechtsanwalt erklärte: »Sie haben die Wahl, die Bestechung anzunehmen oder nicht. Entweder Sie nehmen das Geld, oder die bringen Ihre Kinder um. Natürlich nehmen Sie das Geld.« Seine mexikanischen Kollegen bringen diese Wahl mit einer knackigeren Formulierung auf den Punkt: »Silber oder Blei?« Die Korruption ist derart verbreitet, dass viele Länder nicht mehr in der Lage sind, Steuern von ihren reichsten Bürgern zu kassieren, weshalb nur diejenigen den Staat finanzieren müssen, die es sich am wenigsten leisten können. Das zersetzt die demokratische Legitimität und verärgert die Bürger, die mit einem solchen Staat leben müssen. Wer an eine freiheitliche und demokratische Weltordnung glaubt, kann dieser Situation nichts abgewinnen.

Beobachter aller politischen Richtungen warnen vor den Auswirkungen der immer größer werdenden Ungleichheit auf die Gesellschaft der Vereinigten Staaten, wo der Anteil des reichsten Hundertstels der Bevölkerung am Gesamtvermögen von 1990 bis 2012 von einem Viertel auf zwei Fünftel gestiegen ist. Wenn Sie das schon für bedenklich halten, dann sollten Sie einmal einen Blick auf den Rest der Welt werfen: Allein im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stieg der Anteil des reichsten Hundertstels am Weltvermögen von einem Drittel auf die Hälfte. Einer der Motoren dieser Entwicklung sind Länder wie Russland. Zwischen 2000, dem Beginn der ersten Amtszeit von Präsident Putin, und 2015 wuchs das Gesamtvermögen der russischen Mittelschicht – rund 4 Prozent der Bevölkerung – um 137 Milliarden Dollar. (Der Global Wealth Report der Credit Suisse definiert als Angehörige der Mittelschicht Menschen mit einem Vermögen von 18.000 bis 180.000 Dollar.) Das klingt ganz ordentlich, bis man das mit dem Vermögenszuwachs der Reichen vergleicht. Die Oberschicht mit einem Vermögen von über 180.000 Dollar – etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung – wurde im gleichen Zeitraum um insgesamt 687 Milliarden Dollar reicher. In Russland besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung 87 Prozent des Gesamtvermögens – mehr als in jedem anderen größeren Land und ein krasses Missverhältnis für eine Gesellschaft, die noch vor drei Jahrzehnten kommunistisch war.

Möglich wurde dies nur durch westliche Strippenzieher: Anwälte, Banker und andere, die dieses Geld geschickt verschieben und verbergen. Wenn Sie einem gut informierten Russen erklären wollen, dass eine Demokratie nach westlichem Zuschnitt eine prinzipientreue Alternative für das Regime von Wladimir Putin wäre, dann fragt er Sie vielleicht, warum der Westen zuließ, dass Putins Propagandachef von seinem Beamtengehalt eine Villa in Beverly Hills kaufen konnte, oder dass der stellvertretende Premierminister Russlands Eigentümer einer Wohnung im Herzen von London ist. Diese Heuchelei ist ein Geschenk für Putin, der damit seinen Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen kann, und der vor allem die westlichen Offshore-Instrumente gegen den Westen selbst verwendet: zur Finanzierung seiner Sicherheitsdienste, für antiwestliche Propaganda, und zur Unterstützung von Extremisten, die seinen Zwecken dienen. Die Korruption stärkt die Feinde des Westens, doch der Westen lässt immer weiter schmutzige Milliarden in seine Wirtschaft fließen.

Das Geld ist wie ein Strudel, der in den Abgrund zieht.

Wir sehen die Welt gern als einen Flickenteppich von Nationen. Als Junge hatte ich ein Puzzle der Welt, und die Länder mit ihren Grenzen waren die Teile. Mit diesem Puzzle setzen heute meine eigenen Kinder die Welt zusammen. Frankreich ist ein Sechseck, Italien sieht aus wie ein Stiefel, die amerikanischen Bundesstaaten Wyoming und Colorado sind Rechtecke und schwer auseinanderzuhalten, das lange und schlanke Chile ist dagegen leicht zu erkennen. Dahinter steht ein Verständnis der Welt, das den Planeten in Staaten aufteilt, und in mancher Hinsicht ist das ja auch nützlich. Wenn wir wissen wollen, wie viele Kinder im Jahr zur Welt kommen, wie viele Menschen durch Schusswaffen getötet werden, oder wie viele Menschen sich in Fußballvereinen engagieren, dann ist diese Unterscheidung nach Ländern durchaus sinnvoll.

Aber manchmal ist sie das eben auch nicht. Die Nichtregierungsorganisation Transparency International (TI), die sich die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben hat, veröffentlicht jedes Jahr ihren Korruptionswahrnehmungsindex, der Länder nach ihrer Korruption ordnet, von Dänemark und Neuseeland am sauberen Ende bis zu Nordkorea, Südsudan und Somalia am schmutzigen. TI gibt auch eine Karte heraus, auf dem die Länder je nach ihrer Korruption eingefärbt werden: Afrika, Südamerika und Zentralasien leuchten erschreckend rot, während Europa, Nordamerika und Australasien in freundlichen Gelbtönen erstrahlen. Das ist alles gut und schön, und wahrscheinlich wird man tatsächlich in Kinshasa eher von einem korrupten Beamten zur Kasse gebeten als in Kopenhagen. Doch was ist mit den raffinierteren Formen der Korruption, wie sie Wiktor Janukowytsch und nach Ansicht von Sonderermittler Mueller auch Paul Manafort verwendet haben?

Auf der Karte von TI brennt die Ukraine tiefrot, auf der Korruptionsskala steht sie auf Platz 131 und ist damit neben Russland das korrupteste Land Europas. Doch ohne britische Briefkastenfirmen hätte Janukowytsch sein Vermögen niemals auf die Seite schaffen können. Warum steht dann Großbritannien neben Deutschland und Luxemburg auf einem sauberen zehnten Platz der Liste? Paul Manafort versteckte sein Geld in Banken und Unternehmen auf Zypern und St. Vincent, doch die stehen auf den relativ guten Plätzen 47 und 35. Die Vereinigten Staaten, wo das Geld schließlich endete, stehen sogar auf dem 18. Platz.

Wenn ukrainische Politiker für ihre krummen Touren auf die Mithilfe anderer Länder angewiesen sind, warum werden ihre Betrügereien dann ausschließlich auf dem Konto der Ukraine verbucht? Wenn sich Anwälte aus Großbritannien und Zypern den ukrainischen Lumpen andienen, womit verdienen ihre Länder dann ihren Ruf als ehrliche Makler? Geld kennt keine Grenzen. Es ist lange her, seit Staatsgrenzen den Fluss des Geldes behinderten. In Kiew kann ich genauso mit meiner britischen Kreditkarte bezahlen wie in Kalifornien, Cambridge oder St. Kitts. Das heißt natürlich nicht, dass es die Grenze nicht mehr gibt. Die ukrainischen Ermittler haben ihre liebe Not, an Beweise aus dem Ausland heranzukommen, und Ermittlern in anderen Ländern geht es nicht besser. Geld kennt keine Grenzen, aber Gesetze schon. Die Reichen leben global, wir Übrigen in engen Grenzen.

Zusammen mit einigen Kollegen versuche ich aufzuzeigen, was das bedeutet. Mein Freund Roman Borisovich hat sich dazu die Londoner Kleptokraten-Tour ausgedacht: Mit einem roten Doppeldeckerbus klappern wir nicht die üblichen Touristenziele ab, sondern die Immobilien russischer Oligarchen, arabischer Diktatoren, nigerianischer Provinzfürsten und anderer korrupter Politiker, die ihr Vermögen in den Ländern am unteren Ende der TI-Liste gemacht haben und es in den Ländern am oberen Ende verstecken.

In unseren Bus passen zwar nur fünfzig Leute, doch das Ziel ist einfach: Wir wollen den Schleier fortziehen, der den Missbrauch des internationalen Finanzsystems verhüllt. Es soll niemand mehr sagen können, er habe von nichts gewusst.

Ein Ort, den wir gern besuchen, ist der Eaton Square, eine der vornehmsten Adressen Londons, ein prächtiges Rechteck cremefarbener Stadtpaläste hinter schulterhohen schmiedeeisernen Gittern. Im Januar 2017 stieg eine Gruppe von Aktivisten, die sich Autonomous Nation of Anarchist Libertarians nennen (womit sie sich das hübsche Akronym ANAL verdient haben), durch ein offenes Fenster in Eaton Square 102 ein und öffnete das Haus als Obdachlosenunterkunft. Das Gebäude ist riesig, die Säulen der Fassade erinnern an einen griechischen Tempel. Als ich ankam, flatterte an einem seiner Fahnenmasten eine schwarze Fahne, und auf dem Balkon stand ein bärtiger Anarchist und rauchte. Er rief herunter, was ich wolle, und versprach, sofort herunterzukommen.

Ein älterer Herr in violetten Cordhosen und Barbour-Jackett, der Zeuge unseres Gesprächs geworden war, überquerte mit seiner Frau die Straße, um mir mitzuteilen, dass ich »Dreck« sei. Als der bärtige Anarchist zur Tür herauskam, hörte er gerade noch den Schluss unseres freundlichen Wortwechsels und grinste mich an. Er war Ungar. Er führte mich eine Treppe hinunter in den Keller und von dort durch einen Notausgang in einen Raum, der einmal ein Kino gewesen war. Ihr Einspruch gegen den Räumungsbescheid war gerade abgewiesen worden, erklärte er mir, und er werde ausziehen. Er habe allerdings nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe. Der Fußboden war mit edlem Parkett ausgelegt, die Treppen führten hinauf zu ins Dach eingelassenen Laternen. Ein Saal führte in den nächsten. Das Graffiti an den Wänden änderte nichts an der Tatsache, dass hier jemand ein hübsches Eigenheim erstanden hatte.

Dieser Jemand war Andrej Gontscharenko, Manager einer Tochtergesellschaft des russischen Gaskonzerns Gazprom, der zwischen 2011 und 2014 eine Reihe von Immobilien im Westen Londons gekauft hatte. Mit einem Kaufpreis von 15 Millionen Pfund war das Haus am Eaton Square noch das popeligste, was vermutlich auch der Grund war, warum er es leer stehen ließ. »Uns geht es darum, auf die große Zahl der leer stehenden Häuser in London hinzuweisen und dafür zu sorgen, dass sie nicht verfallen, während immer mehr Leute auf der Straße leben«, erklärte Jed Miller, einer der Anarchisten, als er im Januar 2017 vor Gericht aussagte. »Diese Offshore-Unternehmen, die so viele leer stehende Gebäude in London besitzen, benutzen sie nur als Abschreibungsobjekte. Deswegen fehlt viel Geld für wichtige staatliche Leistungen.«

Man muss kein Freund von Hausbesetzungen sein, um zu erkennen, dass Miller recht hat, und dass er sich für einen Anarchisten noch erstaunlich gemäßigt äußert. Er verlangt lediglich, dass die Immobilien der Reichen derselben staatlichen Kontrolle unterliegen wie die aller anderen auch, was heute nicht der Fall ist. Neben Gontscharenkos Palast gehören 85 weitere Gebäude an diesem Platz anonymen Gesellschaften, die niemandem verraten, wer der wahre Eigentümer ist – auch nicht dem Finanzamt. Etwa dreißig Eigentümer sind im Handelsregister der Britischen Jungferninseln eingetragen, dreizehn auf Guernsey, sechzehn auf Jersey. Andere befinden sich in Panama, Liechtenstein, der Isle of Man, Delaware, den Kaimaninseln, Liberia, den Seychellen, Mauritius und – Manaforts Liebling – St. Vincent. Gontscharenko bevorzugte Gibraltar als Standort für sein Unternehmen MCA Shipping. In England und Wales gehören mehr als 100.000 Immobilien solchen Offshore-Unternehmen, genau wie die Besitzungen von Janukowytsch und Manafort.

Wenn irgendwann einmal jemand den Londonern die Frage stellen sollte, die ich Anton gestellt habe – Wieso haben Sie nicht bemerkt, was da vor sich ging? –, dann werden auch sie antworten, dass sie es schließlich nicht wissen konnten. Jedes dieser Gebäude könnte irgendeinem Verbrecher gehören, aber das lässt sich von außen leider nicht erkennen. Für eine Wohnung, die sich gleich über eine Etage von zwei benachbarten Gebäuden erstreckt, bezahlte Cane Garden Services Ltd., ein im Handelsregister der Britischen Jungferninseln eingetragenes Unternehmen, 13 Millionen Pfund. Diese Luxus-Briefkastenfirma nennt als Adresse ein Wettbüro an der Caledonian Road, einer schäbigen Durchgangsstraße im Norden Londons, an der man eher einen Drogendealer als einen teuren Anwalt vermuten würde. Ob da eine Alarmglocke schrillen sollte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls löst es wieder dieses Schwindelgefühl aus. Wenn man einmal auf diese Alarmglocken horcht, hört man sie überall. Die Häuser mit den Nummern 85 und 102 gehören Offshore-Unternehmen, die als Sitz dieselbe Anschrift in Hongkong angeben. Das Unternehmen aus Liberia, dem die Nummer 73 gehört, ist im Handelsregister von Monaco eingetragen. Eine Wohnung in der Nummer 86 gehört der Panoceanic Trading Corporation, einem Unternehmen aus Panama, das seinen Namen aus einem Thriller der Sechzigerjahre geborgt zu haben scheint. So dumm kann doch kein Ganove sein? Oder ist das vielleicht ein doppelter Bluff?

Auf unserer Kleptokraten-Rundfahrt besuchen wir an einem Nachmittag in der Regel sechs oder sieben Immobilien. Das heißt, wenn wir nur die Offshore-Besitzungen am Eaton Square abklappern wollten, wären wir zwei Wochen lang unterwegs. Dann würden wir uns die umliegenden Straßen vornehmen, in denen der Offshore-Anteil auch nicht kleiner ist. Alle sind sie Teil eines dichten Filzes der Irreführung und Täuschung, der ganz Großbritannien überzieht und weit darüber hinausreicht. Bevor unsere große Rundfahrt endet, müssten wir wieder von vorn anfangen. Selbst diejenigen von uns, die sich gern einreden, dass sie das alles durchschauen, tappen im Dunkeln.