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Werner J. Egli

aus Luzern, Schweiz, lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. Egli wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert, der international höchsten Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.

Werner J. Egli

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Roman

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Für Bruno,
der mir zum Titel verholfen hat.

eISBN 978-3-03864-231-2
Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin
Bildnachweis: Shutterstock: TraXXXe
Realisation: Brigitta Vasella

Inhalt

Tommy kaputt

Der Andere

Spuren der Wahrheit

Die Tat

Ein paar Sätze

Wo es geschah

Phantom

Aus der Hölle

Meine Augen, meine Hände

Udo

Tommy kaputt

„Weißt du, wie ich mir Tommys Hirn vorstelle?“, fragte mich Vater vor einigen Jahren, als ich grad mal in der fünften Klasse war und überzeugt davon, dass mir Tommys Kopf für immer ein Rätsel bleiben sollte. „Willst du es wissen?“, fragte mein Vater weiter, und ich merkte, wie wichtig es ihm war, mir seine Gedanken zu verraten. Also nickte ich, um ihn mit einer ablehnenden Antwort nicht zu verletzen.

Er hatte ein listiges Schmunzeln im Mundwinkel, eines, das ich schon ziemlich gut kannte, und es war mir klar, dass es ihm wieder einmal darum ging, mir anhand einer seiner verrückten Geschichten eine kleine Lektion zu erteilen. Da kannte er keine Gnade. Geschichten waren die Essenz des Lebens, das Elixier des Zauberers, der sie erzählte, auch wenn sie eher für einen älteren Jungen gedacht waren als für einen damals Zwölfjährigen.

Er sah sich nach Mutter um, aber sie war nicht da, und das war gut so, denn ich bezweifle, dass er mir diese Geschichte erzählt hätte, wäre sie in der Nähe gewesen. Also nahm er die günstige Gelegenheit wahr, als wir gemeinsam am Frühstückstisch saßen, er bei Kaffee und ich bei Milch und Protein-Müsli.

Auch diese Geschichte begann ganz harmlos.

„Tommys Hirn ist, wie wenn du mit deinen Freunden in den Wald gehst und ein Feuerchen machst, an dem ihr eure Würstchen braten könnt.“

Ich starrte ihn an, suchte in seinem Gesicht nach Spuren, die mir seinen gegenwärtigen Gemütszustand hätten verraten können, aber er hatte sich fest im Griff.

„Nicht diese Würstchen …“, sagte er, das Lächeln im Mundwinkel sozusagen festgefroren, so als wäre an einer ganz bestimmten Stelle der Film gerissen, aber er fuhr gleich fort: „… und die Marshmallows. Und wenn ihr das Zeug gegessen habt, wollt ihr nach Hause, aber das Feuerchen brennt noch immer, und wenn ihr es brennen lässt, brennt vielleicht später der ganze Wald.“

Lustlos in meinem Müsli herumrührend, starrte ich ihn an ohne mit der Wimper zu zucken, dachte mir, weiß er schon alles oder fällt ihm das alles fortlaufend ein.

„Was macht ihr also?“

Für eine Sekunde blieb die Frage in der Luft hängen, dann gab er sich gleich selbst die Antwort.

„Wenn ihr anständig seid, schickt ihr die Mädchen ein Stück weit weg, stellt euch ans Feuerchen und pisst hinein. Es zischt und brodelt und schäumt, und es steigt Rauch auf und Dampf und ihr könntet jetzt eigentlich nach Hause gehen, aber in der Feuerstelle bleibt was übrig, ein Brei aus nasser Asche, kleinen verkohlten Holzstückchen, halb verbrannten Wursthäuten und geschmorten Marshmallows.“ Jetzt legte er eine kurze, aber effektive Pause ein, bevor er im gleichen Tonfall fortfuhr. „Auf diesem Brei schwimmt eine Schaumkruste, die zu den Rändern der Feuerstelle hin eingetrocknet ist, in der Mitte aber noch weich und lauwarm. Und wenn du dich jetzt bückst, Jakob, und mit der Hand da reinlangst und alles durcheinander rührst, und dann eine Handvoll von dem Zeug herausholst und es dem Tommy in den Kopf drückst, hast du in etwa sein Hirn.“

Ich stand da, starrte ihn an und lachte, als hätte er mir eben den Witz des Tages erzählt, aber ich sah ihm an, dass es ihm sehr ernst war und dass er mir in seinen Worten etwas ganz anderes sagen wollte, ich wusste nur nicht genau was. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er um meine Zukunft besorgt war, weil ich mitten in die Smartphone-Generation hinein zur Welt kam, aber sein vorhin so maskenhaftes Gesicht verzog sich, und wo vorher keine Falten gewesen waren, zerfiel sein Gesicht in mehrere Dutzend von ihnen, Lachfalten an den äußeren Nasenwinkeln und um den Mund herum. Ich liebte dieses Gesicht, das in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend in mir das Vertrauen gestärkt hatte, von ihm nie im Stich gelassen zu werden. Er klopfte mir Mut machend auf die Schulter, lachte dabei. „Tommy ist kaputt, Junge. Du musst aufpassen, wenn du dich mit ihm einlässt.“

„Mich mit ihm einlassen, ah, genau das habe ich vor, Papa. Wo denkst du denn hin?“ Er nahm die Hand von meiner Schulter und gab mir einen Klaps. Ich mochte das. Hatte er früher oft gemacht, aber es wurde von Jahr zu Jahr weniger und schließlich hörte er auf damit und ich vergaß beinahe, dass es einmal dieses kleine Ritual gegeben hatte, nur die Worte seiner kleinen Geschichten oder Anekdoten, wie immer man es auch nennen will, die vergesse ich wohl nie, und sollte ich hundert Jahre alt werde.

Habe ich euch eigentlich schon gesagt, dass mein Vater nie zum Frisör geht und nichts von modischer Kleidung hält? Der dunkelblonde Haarschopf steht in zerzausten Strähnen und Büscheln von seinem Kopf ab. Kämmen tat er es nie. Für den Haarschnitt war meine Mutter verantwortlich, und die arbeitete nicht in einem Beauty Salon sondern in ihrer eigenen Zahnarztpraxis. Alles was mein Vater an Klamotten trug, hing ihm viel zu groß von den Schultern und Hüften, seine Schuhe waren ausgetretene Stiefel, seine Ringelsocken strickte für ihn eine unserer Nachbarinnen und auf dem Arm hatte er mehrere Tätowierungen mit dunklen Inschriften, die nur für ihn eine Bedeutung hatten, Zeichen die ihn an sein früheres Leben erinnerten oder an ein Leben in einer geheimnisvollen Unterwelt von Zombies.

Keine Ahnung, wann die Tätowierungen entstanden waren, aber als ich ihn einmal gefragt hatte, was diese Totenköpfe, die an einer Kette hingen bedeuteten, schaute er mich an, überlegte sich lange, was er mir sagen wollte und sagte mir dann die Wahrheit. „Es sind die fünf Leben, die ich schon gelebt habe, mein Sohn.“

Hallo, ich verstand weder was vom Leben oder was vom Sterben und hatte keine Ahnung, wie bald sich das ändern würde. Ich dachte einfach, dass das alles nichts mit dem richtigen Leben zu tun hatte, sondern mit dem in seinen Büchern. Mein Vater ist nämlich Schriftsteller. Er schreibt Fantasy Horror Geschichten, richtig cooles Zeug für die Erwachsenen, denen der Alltag nicht schon genug Horror ist. Mein Vater kann mit Worten umgehen. Das heißt, er konnte es, bis zum schlimmsten Tag seines Lebens, oder genauer gesagt, bis zum Tag, an dem er die Sprache verlor und ihm ganz einfach keine Worte mehr einfielen, und mir, als seinem Sohn, kristallklar wurde, wieviel erschreckende Wahrheit in jener Geschichte steckte, die er mir etwa drei Jahre zuvor im Zusammenhang mit Tommys Hirn erzählt hatte und die ich euch jetzt weitergegeben habe.

Der Tag, an dem mein Vater seine Sprache verlor, war der 29. Mai. Fünfzehn war ich damals. Also sind seit jenem Tag zwei lange Jahre vergangen. Tommy hatte bis zu diesem verhängnisvollen Tag bei seiner Mutter gelebt, inzwischen achtunddreißig Jahre alt, ohne einen Job und immer auf der Suche nach Geld, das ihm jemand geben würde. Er kam auch oft zu uns und manchmal gab ihm Mama oder Papa einen Zehner oder sogar einen Zwanziger. Einfach so. Sie wussten, dass Tommy ihnen das Geld nie wieder zurückbezahlen würde, obwohl Tommy beteuerte, es ihnen eines Tages zurückzugeben.

Tommy war ein merkwürdiger Kerl. Seine hellblauen Augen schienen so klar, dass sich in ihnen kein böser Schimmer verstecken konnte und auch keine Hinterlist. Immer extrem höflich und immer schnell bereit, einem Nachbarn seine Hilfe anzubieten, wenn es etwas zu erledigen gab. Häufig fragte er auch meinen Vater oder meine Mutter, ob er ihnen mit irgendetwas zur Hand gehen konnte, aber Vater ließ ihn nie ins Haus, und ehrlich gesagt glaubte ich nicht, dass es Tommy mit dem Arbeiten ernst gewesen war, denn ich hatte ihn in unserer Nachbarschaft noch nie arbeiten gesehen.

Es gab mal eine kurze Zeit, während der er nacheinander mehrere echte Jobs hatte. Von einer Kaufhauskette war Tommy für mehrere Monate als Sicherheitskraft angeheuert worden, stolzierte mit seiner Uniform im Laden herum, war den Leuten, die sich nicht auskannten, behilflich, das richtige Regal mit der richtigen Ware zu finden, scherzte mit kleinen Kindern und schien auf dem besten Weg zu sein, ein ganz anderer Tommy zu werden als der, den mein Vater in ihm sah.

Meine Mutter nahm das alles mit Gelassenheit. Sie war ganz anders als mein Vater. Nahm nicht viel richtig ernst, außer ihren Job und unsere Familie, also uns, meinen Vater und mich. Sie war Zahnärztin. Hm, habe ich schon mal gesagt, aber doppelt genäht hält besser, sagt meine Mutter oft, wenn sie mir einen ihrer Ratschläge aufs Ohr haut. Hatte eine eigene Praxis mit vier Angestellten. „Tommy könnte unsere Praxis putzen“, hatte sie einmal meinem Vater vorgeschlagen.

„Vergiss es“, hatte er ihr geantwortet.

Sie hatte gelacht. „Du magst ihn wirklich nicht, nicht?“, stellte sie dabei fest.

Er überraschte uns beide mit seiner widersprüchlichen Antwort. „Stimmt, ich mag ihn auch, aber ich mag ihn nicht in meiner oder deiner Nähe haben. Oder in Jakobs Nähe.“

Meine Mutter wurde stutzig, runzelte ihre sonst so glatte Stirn und schüttelte den Kopf. „Du tust ihm womöglich unrecht“, sagte sie. „Tommy hat seine Strafe verbüßt. Jeder verdient eine Chance, Ulm.“ So hieß mein Vater. Ulmer. Weiß der Teufel, warum er auf einen Namen wie diesen getauft worden ist. Doch Ulmer passte perfekt zu Buck. Ulmer Buck! Für seine Bücher war das schon fast wie ein Geistesblitz, der zu einem Pseudonym gereicht hätte, wäre es nicht sein richtiger Name gewesen.

Es war mir klar, dass Vater Tommy mochte. Es war mir aber auch klar, dass er sich Sorgen um seine Familie machte. Wahrscheinlich wünschte er, Tommy wäre ein anderer Mensch gewesen, einer, der sein Leben und sich selbst im Griff hatte. Aber das schien offenbar nicht mehr möglich. Seine Mutter, Helga Lohmeyer, die über achtzig Jahre alt war und manchmal ihren blauen Alfa Romeo im Schneckentempo in unserer Stadt herumkutschierte, und ehrlich, wenn man sie von vorne herannahen sah, konnte man von ihr nicht viel anderes sehen als ein paar silberne Haare, die ihr steil zu Berge standen und über das Armaturenbrett hinwegragten. In die Garage kam niemand rein, schon gar nicht Tommy, denn sie bewahrte den Schlüssel zur Garagentür und den Schlüssel zum Alfa in einem Tresor auf, den Tommy schon vergeblich zu knacken versucht hatte. Behauptete sie wenigstens.

„Tommy würde den Alfa zu Schrott fahren“, erklärte sie meinem Vater einmal, als ich daneben stand und nervös an meinem neuen Handy herumfummelte, weil ich einen Anruf von meiner Freundin Claudia erwartete. „Als guter Nachbar, hast du das ja bestimmt schon längst gemerkt, dass Tommy nicht so richtig tickt. Schade um ihn.“

Wir duzten uns in der Nachbarschaft alle. Nur Kinder und Teens siezten die Erwachsenen. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Tommys Mutter Helga zu nennen, aber bei Tommy war das was anderes. Für mich war Tommy Tommy, aber manchmal fiel es mir sogar schwer, seinen Vornamen auszusprechen, obwohl es für mich ja keinen persönlichen Grund gab, ihm nicht mit Respekt zu begegnen.

„Er trinkt vielleicht ein bisschen viel, Helga“, antwortete mein Vater. „Und wahrscheinlich kifft er, oder er schnupft Zeug.“

Tommys Mutter war eine sehr kleine zierliche Frau, die das Alter derart schlimm gekrümmt hatte, so dass sie den Kopf schräg vom Hals wegdrehen musste, um zu meinem Vater aufzusehen, der ein hoch aufgeschlossener, schlanker Mann war. „Es sind die Schmerzen“, sagte sie so leise, als fürchtete sie, ich hörte mit. Das tat ich auch.

„Schmerzen?“, sagte mein Vater. „Wusste ich gar nicht, dass Tommy Schmerzen hat?“

„Von der Kindheit an“, sagte sie. „Er stürzte mit seinem Kinderfahrrad. Schlug mit dem Kopf gegen die Bordsteinkante. Von da an war er ein anderer Junge, verstehst du, Ulm.“

Mein Vater kratzte sich im Bart, den er sich wachsen ließ. Sah jetzt schon richtig cool aus, der dunkle Bart, der am Kinn silbern glitzerte. „Das wusste ich nicht“, murmelte er.

„Siehst du, das wissen nur sein Vater und ich, das heißt, seit sein Vater gestorben ist, wusste es nur noch ich, und du weißt es nun auch.“

„Warum hast du es mir überhaupt anvertraut, Helga?“

„Weil ich dich als Nachbarn sehr schätze, Ulm, dich und deine Frau und den Jungen. Nie ein schlechtes Wort über Tommy, auch nicht, als sie ihn aus dem Gefängnis entlassen haben. Kein einziges schlechtes Wort über meinen Tommy, obwohl es genug über ihn zu reden gäbe.“

„Was sagen denn die Ärzte? Besteht noch Hoffnung, dass Tommy…“

Mein Handy ging los, Musik und Vibration.

„Deine Freundin wird’s sein, Jakob“, lachte sie und es war ein krächzendes Lachen, das haargenau zu ihrer Stimme passte. „Also, ich muss jetzt rein. Ticki wartet auf mich.“

Ticki war ihr braun-weiß gefleckter Mops, der beim Atmen rasselte, als wäre er so alt wie Tommys Mutter, aber er war erst vier. Tommy hatte mir einmal verraten, dass er Ticki mitkiffen ließ, indem er ihm den Rauch in die Nase blies, damit seine Atemwege durch den Hanfrauch gesäubert würden. Ah, ich sag’s euch, von Hunden hatte Tommy wirklich keine Ahnung, aber ich denke eh, dass er nicht mehr viel Ahnung von gar nichts hatte, weil sein Hirn nicht mehr mitmachte.

Claudia war dran. „Ich habe den Franztest verbockt“, sagte sie. „Wann treffen wir uns? Mein Vater ist stinksauer. Ich soll Nachhilfe bekommen.“

„Von mir?“

„Bist du verrückt?“

„Sag mal, glaubst du, dass in der Garage von Tommys Mutter Leichen rumliegen?“

„Leichen?“ Sie lachte auf. „Spinnst du, Jakob?“

„Fahrradfahrer“, beharrte ich.

„Fahrradfahrer?“

„Ja, weil sie doch beim Fahren nicht übers Armaturenbrett sieht“

„Du meinst, sie überfährt Fahrradfahrer, ohne dass sie es merkt?“

„Genau. Und die bleiben am Unterboden ihres Alfas hängen und sie schleift sie nach Hause und wenn sie den Alfa in der Garage parkt, fallen sie runter und sie räumt sie einfach nur weg.“

„Du denkst schon fast wie einer der Verbrecher in den Büchern deines Vaters.“

„Vielleicht verstaut Tommys Mutter die Leichen alle in einem Kasten, und dort drin mumifizieren sie sich im Laufe der Zeit und werden …“

„Hör auf“, unterbrach sie mich ziemlich scharf. „Warum sollte sie denn sowas tun?“

„Weil sie befürchtet, man würde ihr den Führerschein entziehen, wenn man drauf käme, dass sie zu alt ist zum Autofahren.“

„Du spinnst wirklich. Sag deinem Vater bitte mal, er soll dir seine Geschichten nicht mehr zum Probelesen geben.“

„Wir können uns morgen nach der Schule treffen, unten am See“, schlug ich vor. „Du weißt schon.“

Sie brach den Anruf ab. Ich dachte daran, sie zurückzurufen, ließ es aber bleiben. Dass sie die Franzprüfung verbockt hatte, konnte gar nicht so schlimm sein. Sie war das gescheiteste Mädchen unserer Klasse, der Augapfel ihres Vaters und ihrer Mutter, und der Darling unseres Franzlehrers, Thierry Prudhomme, klein und ohne ein Gramm Fett am Körper, den er durchs Marathon-Laufen bis zum Geht-nicht-mehr gestählt hatte.

Wir trafen uns beim alten Bootshaus, einem halb zerfallenen Bretterschuppen. Früher war er einmal das Clubhaus des Ruderclubs gewesen, aber der Zahn der Zeit hatte unaufhörlich an ihm genagt, mit heftigen Sturmböen, die manchmal ungebremst über den See hinwegbrausten. Das Haus stand direkt am Ufer, auf robusten Pfählen gebaut, mit einem Giebeldach und gelben Bretterwänden, ein Blickfang für Hobbyfotografen, die manchmal die Störche fotografierten, die dort auf den hohen Bäumen nisteten und ihre Jungen zur Welt brachten. Hin und wieder trafen wir uns dort unten, Claudia und ich, und redeten über alles, was uns gerade einfiel, und manchmal redeten wir überhaupt nicht, setzten uns auf die alten Planken, wo früher die Boote ins Trockene gezogen worden waren und die jetzt keinen Zweck mehr hatten, außer den, dass wir dort unsere Füße ins Wasser hängen ließen, und wenn wir still waren, ganz still, schwammen winzig kleine Fische zu uns und nibbelten an unseren Zehen. Und hin und wieder küssten wir uns und knutschen ein bisschen und ich konnte mir fast nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr zusammen zu sein. Manchmal nahm ich meine Boom-Box mit und wir hörten Musik, die ich auf dem Handy hatte, alte Songs, die ich, als ich klein war, oft zu Hause gehört hatte, AC/DC und Pink Floyd und solche Bands, die mein Vater in seiner CD Sammlung hatte und Mutter gern hörte.

Meine Eltern passten gut zusammen, meine Mutter und mein Vater. Ich nannte sie Mama und Papa. Heute noch tu ich das. Das gebot mir die Dankbarkeit, die ich ihnen gegenüber empfand, und meine Liebe. Ich kann mich nicht erinnern, dass es einmal Knatsch gegeben hätte. Sie waren beide von einer besonderen Menschlichkeit, die sie stark machte, ausgeglichen und glücklich. Nie im Leben wäre mir in den Sinn gekommen, dass einmal nur noch einer von ihnen da sein würde, aber manchmal denkt man, der Himmel könne einem nie auf den Kopf fallen und grad dann passiert es eben doch, und du kannst nichts dagegen tun, nichts machen, nicht einmal den Kopf einziehen oder sowas. Völlig überraschend trifft es dich, um es banal zu sagen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und danach ist nichts mehr so wie es einmal war, kein Himmel mehr so blau wie ich ihn in Erinnerung hatte, kein Sommer, auf den ich mich gefreut hätte und kein Traum, von dem ich mir wünschte, dass er in Erfüllung gehen würde.

Dieser Tag kam, als Tommy unser Haus abfackelte. Das war der Tag, an dem alles anders wurde und mein Vater zu schreiben aufhörte, weil er es nicht mehr fertig brachte, auch nur zwei oder drei Sätze aneinanderzureihen, so dass sie Sinn gemacht hätten. Und für mich war es der Tag, an dem es Nacht blieb, die schwärzeste Nacht meines Lebens. Mein einziger Trost war, dass es sowas nie mehr geben konnte. Nie mehr! Und das kann es auch nicht, glaubt es mir. Das ist unmöglich.

Habe ich euch schon gesagt, dass mein Sport das Rudern ist? Das können wir auf unserem See trainieren. Unser neues Bootshaus befindet sich auf der anderen Seite des Sees, in einer vor dem Nordwind geschützten Lage. Aber an diesem Tag war ich weg. Trainingslager in Italien. März. In Italien war es warm und sonnig und schön. Ich genoss dieses Trainingslager sehr und dachte nie im Leben daran, dass es so abrupt zu Ende gehen würde.

Es geschah in der Nacht. Ich hockte in meinem Zimmer, das ich mit Robin teilte, einfach eingerichtet, zwei Betten, einen Tisch, kleine Kochnische, Fernseher und ein Bild von Muhamed Ali als er noch Cassius Clay geheißen und als blutjunger Boxer eine olympische Goldmedaille gewonnen hatte. Unser Trainingslager gehörte zum damaligen Olympia Park und das war für uns eine besondere Ehre, dass wir dort auf dem Albaner See bei Castel Gandolfo trainieren durften. Zwei Wochen lang, keine Schule, weg von Zuhause, den Fokus ganz auf unseren Sport gerichtet, auf die täglichen Trainingseinheiten auf dem See, auf Ausdauertraining durch Cross-Country-Biking, und durch Muskelaufbau im Kraftraum. Anschließend trafen wir uns zu Besprechungen mit unseren Trainern, die von uns wollten, dass wir jeden Tag in wenigen Worten aufschrieben, was wir Neues an uns und unserem Sport entdeckt hatten. Nicht direkt ein Tagebuch, sondern eine Art von Reflexion, die uns auf unserem sportlichen Weg weiterbrachte und unseren ganz persönlichen Zielen näher.

Der Fernseher lief. Robin lag auf dem Bett und glotzte, und ich war eben dabei, an einem Schlusssatz herumzufeilen, als das Telefon losging. Musik und Vibration. Ich dachte, Claudia ruft an, aber es war Esther Belcher von einem der Nachbarhäuser, ziemlich coole Künstlerin, malte Bilder auf Plexiglas, von denen einige sogar im Kunstmuseum hingen.

Ich merkte sofort, dass sie sehr aufgeregt war und krampfhaft versuchte, ruhig zu bleiben.

„Jakob, bist du das?“

„Ja.“

„Gut. Alles okay bei dir?“

„Ja. Prima.“

„Jakob, sitzt du oder stehst du?“

„Was ist passiert?“

„Ah, euer Haus brennt.“

Das verschlug mir glatt die Stimme. Ich wollte das nicht glauben, überlegte mir, aus welchem Grund sie mich hätte auf den Arm nehmen wollen. Das passte nicht zu ihr.

„Jakob?“

Ich sagte lieber gar nichts mehr.

„Jakob, entschuldige bitte, aber die anderen hier haben mich darum gebeten, dich anzurufen.“ Ein paar Sekunden vergingen. „Jakob, deinem Vater ist nichts passiert. Du weißt sicher, er ist weg. Für ein paar Tage nach Weimar gefahren, Städtetour. Weimar und Lübeck. Ich habe ihn angerufen. Ich denke mal, er fährt morgen nach Hause.“

„Dann stimmt es, dass unser Haus abgebrannt ist?“

„Nein, es ist nicht abgebrannt, Jakob, es brennt noch. Willst du es sehen?“

„Ich kann’s nicht sehen. Ich bin in Italien.“

„Weiß ich doch. Aber das ist überhaupt kein Problem. Wenn du deinen Laptop einschaltest, den du bestimmt mitgenommen hast, und …“

„Er ist eingeschaltet. Ich arbeite gerade an einem Bericht über das Training heute.“

„Gut, Jakob, ich sitze mit meinem Laptop am Fenster und wenn du jetzt auf Skype gehst, zeige ich dir, wie euer Haus brennt.“

Robin merkte, dass irgendwas los war. „Was ist?“, fragte er vom Bett her. „Ist was passiert?“

„Unser Haus brennt.“

„Quatsch.“

Auf Skype kriegte Esther Belcher alles live rein. Ungläubig starrte ich auf den Bildschirm, konnte kaum etwas erkennen außer Feuer, Flammen, die durch die Nacht zu fliegen schienen wie leuchtende Tücher. Streifenwagen der Polizei, Sirenengeheul, ein klopfendes Geräusch, das nur von einem Hubschrauber stammen konnte, und Feuerwehrautos, Absperrungen und Leute, die im Vorgarten des Belcher Hauses und auf der Querstraße standen, dicht an den Absperrungen und zuschauten, wie unser Haus brannte. Alles war wie in einem Film, aber es war unser Haus, das brannte, und unter den Menschen, die an der Absperrung standen, mehr oder weniger alle nur Silhouetten vor dem Feuerschein, erkannte ich Tommy, mit dem Mops seiner Mutter auf dem Arm, und ich hörte ihn reden und als das Sirenengeheul verstummte und auch der Hubschrauber nicht mehr zu hören war, verstand ich sogar, was er sagte. Tommy versuchte unsere Nachbarn zu trösten. „Ausgerechnet bei Bucks drüben muss sowas geschehen“, hörte ich Tommy sagen. „Sowas ist bei uns in der Nachbarschaft überhaupt noch nie passiert. Zum Glück sind sie alle weg, Jakob in Italien und sein Vater an der Ostsee und seine Mutter bei einem Zahnärzte-Kongress in Frankfurt.“

„Jakob!“ Das war Esther Belcher. „Sag, Jakob, es stimmt doch, dass deine Mutter in Frankfurt ist?“

„Wo denn sollte sie sonst sein? Der Kongress dauert noch einige Tage. Sie hat mich gestern angerufen und mir gesagt, dass sie sich erkältet hat.“

„Jakob, ich weiß nicht, aber ich dachte, ich habe heute Mittag ihr Auto gesehen.“

„Ihr Auto?“

„Den Renault. Ich bin mir ziemlich sicher, es war ihr Renault, den ich auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums gesehen habe. Ich dachte mir nichts dabei, außer dass sie früher vom Kongress zurückgekommen sein muss, das dachte ich. Und dann hatte ich es auch schon wieder vergessen, aber jetzt, wo euer Haus brennt …“

„Sagen Sie bitte den Polizisten, sie sollen sich Tommy vorknöpfen“, fiel ich ihr ins Wort. „Und man soll vielleicht mal in unserer Garage nachschauen, ob das Auto meiner Mutter drin ist.“

„Bei diesem Feuer kommt da keiner ran, Jakob. Die Feuerwehr versucht den Brand von drei Seiten her unter Kontrolle zu bringen. Es ist alles weiträumig abgesperrt. Nein, ich glaube nicht, dass man an die Garage rankommt, im Moment auf gar keinen Fall. Innen drin brennt das Haus lichterloh, Jakob.“

„Dann sagen Sie der Polizei, sie sollen Tommy fragen, ob er was weiß und ob er heute meine Mutter gesehen hat.“

„Ah, ich stelle den Laptop einfach mal auf den Sims und geh schnell hinaus, Jakob. Moment. Bleib einfach dran. Ich bin gleich wieder da.“

Eine halbe Minute später sah ich Esther draußen auf einen Polizisten einreden. Und dann fragte sie Tommy, ob er meine Mutter gesehen hätte. Das hörte ich zwar nicht, weil eine neue Sirene losging, aber warum hätte sie sonst auf Tommy einreden sollen. Kurze Zeit später kehrte sie zurück.

„Tommy hat deine Mutter nicht gesehen. Es hat sie niemand gesehen. Es kann also gut sein, dass ich mich am Nachmittag geirrt habe. Jakob, ruf einfach bitte mal deine Mutter an. Vielleicht hat deine Mutter das Telefon einfach ausgeschaltet, Jakob. In der Zwischenzeit kümmert sich die Polizei um die Sache und vielleicht auch um Tommy. Ich denke zwar nicht, dass er es gewesen ist, aber ausschließen will ich es auch nicht.“

Ich nahm mein Handy von der Ablage und wählte die Nummer meiner Mutter.

Die Leitung war tot. Nichts. Kein Klingelton und keine Verbindung. Absolut nichts.

Ich starrte das Handy an, als hätte ich es durch meinen Blick zwingen können, mich mit meiner Mutter zu verbinden, aber das gelang mir nicht. Ich drückte auf Aus und wählte die Nummer meines Vaters. Er war schon auf der Autobahn. „Ich kriege keine Verbindung mit deiner Mutter, Jakob“, rief er. „Ich krieg gottverdammt keine Verbindung. Versuch es du mal! Versuch mal, sie anzurufen!“

„Hab ich schon, Papa.“

„Und. Hast du mit ihr gesprochen?“

„Nein!“

„Sie ist heute nach Hause gefahren. Ich kann mir nicht denken, dass sie im Haus ist, Jakob. Herrgott, ich bin hier in der Nähe von Bremen auf der Autobahn. Schon nach Mitternacht. Bald ein Uhr. Ich fahre durch, am Morgen bin ich daheim, Sohn.“

„Soll ich nach Hause kommen, Papa?“

„Nein. Bleib lieber wo du bist. Es ist dein Sport. Dein Trainingslager. Bestimmt wird bis morgen in der Früh alles in Ordnung sein. Ich meine nicht wegen dem Haus. Ich meine wegen deiner Mutter. Vielleicht hat sie das Telefon ausgeschaltet. Keine Ahnung. Aber ich denke nicht, dass sie im Haus ist, Jakob. Wer hat dich angerufen? Esther?“

„Ja. Sie hat mir auf Skype gezeigt, wie unser Haus brennt. Ich hab’s jetzt noch drauf. Unsere Nachbarn schauen alle zu. Ich habe ihr gesagt, dass sie der Polizei sagen soll, dass sich jemand Tommy vorknöpfen soll.“

„Tommy?“

„Ja!“

„Gottverdammt!“ Vater fluchte selten. Und nie in einem solchen Tonfall, mit nur einfach einem einzigen Wort das echt so klang, als wäre es nichts anderes als eine ganz brutale Gotteslästerung. „Jakob, ich bin am Morgen zurück und kümmere mich darum.“

„Warum ruft Mutter nicht an, Papa? Das frage ich mich. Wenn sie nach Hause gefahren ist, müsste sie ja dort sein.“

„Wer weiß denn, vielleicht hat sie sich auch nur mit einer ihrer Freundinnen getroffen. Ich weiß es nicht, Jakob, aber wir können jetzt gar nichts machen, verstehst du. Sie wird uns anrufen, sobald sie erfährt, was zu Hause geschehen ist. Ich versuche jetzt noch mal, sie anzurufen, Jakob. Geh ins Bett und schlaf.“

„Glaub ich nicht, dass ich das kann.“

„Jakob.“

„Papa?“

„Ich habe dich lieb, verstehst du. Und Mama auch.“

„Kann man ihr Handy nicht polizeilich orten lassen?“

„Das ist sicher möglich. Ich ruf die Polizei an und frag mal und wenn ich was weiß, ruf ich dich an, okay?“

„Okay.“

Ich sah mich nach Robin um. Er saß am Bettrand und seine Blicke klebten am Screen des Laptops. „Dass sie das nicht hinkriegen, die Jungs von der Feuerwehr.

„Esther, ich habe mit Vater gesprochen. Er befindet sich auf der Heimfahrt. Er fragt bei der Polizei nach, ob Mamas Handy geortet werden kann.“

„Das ist eine gute Idee, Jakob. Unsere Polizei kann das bestimmt. Es scheint auch, dass die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle hat. So wie es ausschaut, ist vom Haus leider nicht mehr viel übrig, Jakob, aber ich glaube, wir haben alle sehr viel Glück gehabt, dass das Feuer nicht auf andere Häuser übergegriffen hat. Das hätte durch die unterirdischen Gasleitungen, mit denen sie verbunden sind, leicht zu einer Katastrophe führen können.“

Ich hörte zwar ihre Worte, aber sah auf dem Bildschirm, wie Feuerwehrleute versuchten, das Garagentor aufzumachen. Mit Brechstangen und einer Kreissäge gingen sie zu Werke. Es konnte keine Minute mehr dauern, bis sie es geschafft hatten. Der Garagenanbau war der einzige Teil des Hauses, der vom Feuer wenig abbekommen hatte, aber als es den Feuerwehrleuten gelang, das Tor aufzustemmen und schließlich ganz aufzumachen, quoll dichter schwarzer Rauch aus der Garage. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, und Robin, der sich vorgebeugt hatte, hielt sich die Hände mit gespreizten Fingern vors Gesicht und starrte bange auf die Rauchwolken, die sich allmählich lichteten und uns einen Blick ins Innere der Garage freigaben. Ich spürte, wie mein Herz stehen blieb, als ich Mamas ausgebrannten Renault in der Garage stehen sah, und ich hörte Robin stöhnen. Er kannte das Auto meiner Mutter, denn oft genug hatte sie uns beide zum Training gefahren, hinunter zum Bootshaus. Ihre eigene Arbeitszeit hatte sie immer so eingeteilt, dass sie uns am Dienstag und Donnerstagnachmittag hinfahren und am Abend wieder holen konnte. Hin und wieder, wenn es bei ihr gar nicht ging, fuhr uns auch Vater oder Robins Mutter.

„Jakob“, hörte ich Esther Belcher rufen. „Mein Gott, das Auto deiner Mutter steht in der Garage.“

Ich nickte nur, brachte kein Wort über die Lippen und spürte, wie ein gewaltiger Schmerz in meiner Brust herumwühlte, so als hätte jemand meinen Körper in einem Schraubstock eingespannt.

„Jakob, es tut mir so leid.“ Esthers Stimme klang anders als sonst. Ich wusste nicht wie anders, aber ich vermutete, sie hatte die gleichen oder ähnlichen Schmerzen wie ich.

Robin rieb sich mit beiden Händen die brennenden Augen. Er konnte einfach nicht mehr hinschauen.

Esther sagte, dass sie den Laptop einfach laufen lasse, wenn ich das wolle. Und sie sagte, dass Tommy in einem Polizeiauto inzwischen verhört wurde, und dass Detektive zu seiner Mutter ins Haus gegangen seien.

Mein Handy ging an. Papa war dran. „Die Polizei hat versucht, Mamas Handy zu orten, Jakob. Ohne Erfolg. Mama muss es ausgeschaltet haben. Du weißt, dass sie das manchmal tut, wenn sie nicht gestört werden will. Vielleicht ist sie im Kino.“

„Papa, sie ist zurückgekehrt, weil sie krank geworden ist“, wandte ich ein.

„Ja, das weiß ich. Aber es heißt nicht, dass sie zu Hause geblieben ist. Es heißt nicht einmal, dass sie nach Hause gefahren ist. Vielleicht ist sie bei unserem Hausarzt.“

„Ich habe ihr Auto in der Garage gesehen, Papa“, stieß ich hervor.

„Ihr Auto steht in der Garage?“

„Ja. Feuerwehrleute haben das Garagentor aufgebrochen und sind reingegangen.“

„Und das Auto steht in der Garage?“

„Was von ihm übriggeblieben ist.“

„Das kann nicht sein!“, rief er. „Du musst dich getäuscht haben, Jakob!“

„Nein, es ist wahr. Robin sitzt neben mir. Er hat es auch gesehen.“

Er gab mir keine Antwort mehr. Wenn ich denke, dass das für eine lange Zeit das letzte richtige Gespräch war, das ich mit ihm geführt hatte, wird mir heute noch schlecht. Und wenn ich daran denke, dass er in seinem Auto saß und allein durch die Nacht fuhr, um so schnell wie möglich bei uns zu sein, bei mir und bei Mama, könnte ich einfach losheulen. Ich hatte damals keine Ahnung, wann dieses Gefühl der Hilflosigkeit und der Verzweiflung aufhören und alles wieder normal sein würde, aber bis heute ist das nicht geschehen. Die Zeit heilt Wunden, sagt man, aber meine Wunden bluten manchmal heute noch genauso wie in jener furchtbaren Nacht.

Ich machte kein Auge zu, hatte das Handy aufs Kopfkissen gelegt und wartete auf den nächsten Anruf von Papa. Robin lag im anderen Bett. Ich hörte ihn atmen. Er war eingeschlafen, aber plötzlich schrak er auf, warf die Decke zurück und setzte sich auf.

„Mann, ich habe fast ins Bett gepinkelt“, gähnte er und rieb sich die Augen aus. Dann stand er auf und verschwand im Badezimmer. Ich hörte ihn pinkeln und dann ging die Spülung und mein Handy klingelte.

„Spreche ich mit Jakob Buck?“, fragte mich eine Frauenstimme.

„Das bin ich.“

„Jakob, eine Nachbarin von euch, die Frau Belcher hat uns berichtet, dass du dich in Italien aufhältst, in einem Trainingslager des Ruderclubs.“

„Ist was mit meiner Mutter?“

„Jakob, es wäre gut, wenn du nach Hause kommst. Gibt es jemanden, dem du dich anvertrauen kannst. Deinen Trainer vielleicht? Oder einen Freund?“