Melanie Woodward
ABBEY WOODRoman
Theodor Boder Verlag
Die Geschichte spielt Mitte der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts.
ebook, Februar 2020
Erstausgabe
Copyright © 2018 by Theodor Boder Verlag, CH-4322 Mumpf
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung und Fotografie: Theodor Boder
Lektorat: Heiko Biederstaedt
ISBN 978-3-905802-89-4
www.boderverlag.ch
Und dann war alles vorbei.
Es war Donnerstagnachmittag, kurz vor Weihnachten. Sie war soeben geschieden worden und sie war frei. Sie verließ das Gerichtsgebäude, stieg in ihren Wagen, und nahm die Auffahrt zur M25; die Heimfahrt war lange, lange genug zum Weinen und Lachen, und hätte vielleicht gereicht, um mit sich ins Reine zu kommen, doch zuviel war geschehen, und während zu langer Zeit.
Als sie dann mit ihrem Wagen durch die Straßen von Abbey Wood fuhr, war sie noch immer voll schwerer Gedanken. Dabei hätte sie nun wirklich allen Grund gehabt, das Leben von der unbeschwerteren Seite aus zu betrachten: Ihr Mann und sie hatten sich keine Schwierigkeiten mehr gemacht. Sie hatte eine großzügige Abfindung erhalten, und auch das Haus in Lyme Regis, wo sie während vieler Jahre die Sommermonate verbracht hatten, gehörte nun ihr. – Das Haus in Abbey Wood hingegen hatte ihr schon vorher gehört, doch es war ihr jetzt, trotz der großzügigen Abfindung, eigentlich das Wichtigste, denn sie war darin aufgewachsen und hatte es von ihren Eltern geerbt.
Trotz der materiellen Sicherheit konnte sie aber an jenem Donnerstagnachmittag nicht recht glücklich werden; sie versuchte krampfhaft, ihre negative Stimmung zu verdrängen, und nahm sich vor, zu Hause dann einen gemütlichen Abend zu verbringen, sich einen Tee aufzubrühen, die Ruhe ihrer Wohnung zu genießen und später vielleicht noch ein wenig Musik zu hören. Sie sagte sich immer wieder, dass sie nun ein Anrecht auf die schöneren Seiten des Lebens hätte.
Sie kam zu ihrer Wohnstraße, bog ein, und ihr Herz begann immer stärker zu hämmern; sie war von panischer Angst erfüllt, in ihr eigenes Haus gehen zu müssen. Es war ein Gefühl, das sie seit über drei Jahren nicht mehr gekannt hatte. Doch nun bedrohte sie wieder dieselbe Furcht vor dem Alleinsein, wie damals, als David sie bei Nacht und Nebel verlassen hatte – sie hatte danach Monate gebraucht, um sich an die Stille im Haus gewöhnen zu können. David war aber auch während dieser Zeit, und auch danach, ein dauernder Bestandteil ihrer Gedanken geblieben, denn sie war vollkommen von der Hoffnung beherrscht worden, dass sie vielleicht doch wieder hätten zusammenfinden können.
An jenem Donnerstag vor Weihnachten aber hatte sie Gewissheit: Sie war nun geschieden – und allein, – und sie wusste, dass erst jetzt die wirklich schwere Zeit kommen würde, und es keinen Sinn mehr machte, ihren Mann noch zurückgewinnen zu wollen; sie hatte es zu oft versucht, immer dann, wenn sie sich hatten treffen müssen, um noch das Eine oder Andere zu besprechen. – Oft hatte sie seinen Wagen auch in der Nähe der Bahnstation gesehen, und sie hatte gewusst, dass er in seinem Lieblingspub mit Freunden zusammensaß. Sie hatte dann gewartet, sich herumgedrückt, in der Hoffnung, er würde herauskommen und sie ein zufälliges Zusammentreffen hätte vortäuschen können; doch dazu war es nie gekommen.
Und nun würde also eine erneute Übergangsphase kommen, in der sie sich von so vielen Erwartungen, Erinnerungen, und auch Gegenständen des gemeinsamen Lebens trennen sollte, und auch wollte, um wirklich frei zu werden, denn sie wusste genau, dass es nicht die nun endgültige Trennung war, und auch nicht die Einsamkeit, die sie wieder in Panik versetzt hatte, sondern die noch immer sehr starke Präsenz von David in ihrem Kopf. –
Sie parkte direkt vor dem Haus, stieg aber noch nicht aus; sie konnte nicht, denn ihre Füße waren wie aus Blei. Alles zog nun, wie schon so oft, wie ein Film an ihr vorüber: Sie sah Bilder vergangener Jahre. Er war ihre große Liebe gewesen und dann doch wider Erwarten beinahe ihr Untergang geworden; – warum er angefangen hatte zu trinken, hatte sie nie erfahren. Sie hätte ihm zu gerne geholfen, doch um mit ihr darüber zu reden, hatte er sich nie die Zeit genommen. Stattdessen war er lieber mit fragwürdigen Freunden in seinem Lieblingspub von Abbey Wood zusammengewesen, wie immer betrunken, oder hatte ganze Wochenenden in der Londoner City verbracht. Emily wusste noch immer nicht, wo er dort überall gewesen war. – „Ich brauche das“, hatte er oft gesagt, und, „hast du überhaupt eine Ahnung, was es bedeutet, jede Woche eine neue Geschichte schreiben zu müssen? Ich brauche Eindrücke, muss die Leute auf der Straße reden hören. – Und wann habe ich die Zeit dazu? Wohl nur abends und an Wochenenden.“ – „Wir könnten auch etwas mehr zusammen ausgehen, Eindrücke bekommst du auch dann“, hatte sie dann gesagt. Doch wie immer in solchen Situationen – wenn eine klärende Aussprache im Entstehen war –, hatte er seine Jacke genommen und das Haus verlassen.
David war seine Fernsehserie schon seit Langem über den Kopf gewachsen: Er zermarterte sich täglich sein Gehirn und trieb die Handlung Folge um Folge voran. Hilfe lehnte er ab – Co-Autoren hätte er niemals akzeptiert; zu groß war sein Ehrgeiz, alleiniger Urheber einer der erfolgreichsten Serien von ganz Großbritannien zu bleiben. Er wollte nicht teilen; die Honorare seines Erfolgs hatten ihm schon zu viele Freiheiten erlaubt und er wollte nicht mehr zurück. So schuftete er tagsüber wie ein Pferd und suchte abends Entspannung in Pubs. Und nur, um es auf diese Weise zu schaffen, jeden Freitagnachmittag pünktlich sein Manuskript abliefern zu können. Und danach, nach getaner Arbeit, begann seine wöchentliche „City-Tour“.
Emily hatte von Davids finanziellem Erfolg während ihrer späteren Ehejahre nicht viel gesehen: Er hatte sein Geld in Pubs und Nachtklubs ausgegeben und es auf geheimen Konten angelegt. Es war auch immer seltener vorgekommen, dass etwas Neues für das Haus in Abbey Wood oder für dasjenige in Lyme Regis angeschafft wurde – ein uneingeweihter Besucher hätte damals leicht der Versuchung verfallen können, es als Bescheidenheit zu deuten.
„Es war der Erfolg, der allzuschnelle Erfolg, der ihm zu Kopf gestiegen war, die alte und immer gleiche Geschichte“, hatte Emilys Anwalt ihr einmal gesagt. – „Muss ich sein Verhalten deshalb entschuldigen? Ist Erfolg ein Grund, um deshalb alles, was mit Alltag und einem normalen Leben zu tun hat, zu vernachlässigen?“, fragte sie ihn. – Seine Antwort war dann, dass zu vielen dies ebenso zum Verhängnis würde. David sei eben nicht stark genug gewesen. Wäre er weniger schnell an die Spitze gekommen, hätte er vielleicht alles besser verkraftet.
Emilys Anwalt hatte Davids einseitig eingeschlagenen Weg stets bedauert; er kannte seine ersten Arbeiten und war deshalb der Meinung, er wäre gut beraten gewesen, wenn er sich nach so vielen Jahren des Erfolgs mit der immer gleichen Sache auch wieder einem Roman oder einem Theaterstück zugewandt hätte. Aber sich an etwas anderes zu wagen, hätte vielleicht einen möglichen Misserfolg bedeutet, und ein solches Risiko einzugehen war er nicht mehr bereit. – Die neue Aufgabe wäre zwar eine Herausforderung gewesen, aber ein eventueller Fehlschlag hätte ihn wahrscheinlich nur noch mehr in Pubs und Nachtklubs getrieben.
David Whalin hatte in der Tat nie lernen können, Niederlagen verkraften zu müssen: Er war schon als sehr junger Mann sehr erfolgreich gewesen; während andere jahrelang Absagen und Enttäuschungen hinnehmen müssen, waren seine Geschichten bei Zeitungsredakteuren und Produzenten schon bald auf großes Interesse gestoßen.
Emily schaltete den Motor ihres Wagens ab und blieb dann wie erstarrt sitzen; sie brauchte noch etwas mehr Zeit, bis sie mit ihren Gedanken so weit war, um ins Haus gehen zu können. Es kam ihr so vor, als ob David vorausgeeilt wäre, um sich nun noch für weitere Wochen und Monate einmieten zu wollen. Sie saß im Wagen und hing ihren Gedanken nach und begann zu frieren. Es war schon dunkel und es begann zu schneien, zunächst nur leicht, doch dann immer mehr, und schon nach wenigen Minuten konnte sie durch die Scheiben nichts mehr erkennen. Da sass sie nun und versuchte verzweifelt, in ihr Inneres wieder eine Ordnung zu bringen. Sie konnte sich nicht mehr verstehen: Wie konnte man nur so dumm sein und sich von einer Scheidung dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen lassen? Und dies vor allem noch, nachdem sie schon seit über drei Jahren in Trennung gelebt und auch genügend Erfahrung im Alleinsein gesammelt hatte? – Es war dann wahrscheinlich die Wut über ihr eigenes Verhalten gewesen, die sie zusehends wieder etwas ins Lot brachte.
Als sie soweit war und die Autotür öffnen wollte, hörte sie Schritte, die zügig näher kamen. War sie wohl von jemandem beobachtet worden, und die- oder derjenige würde jetzt nachsehen wollen, ob ihr vielleicht etwas zugestoßen sei? Denn für einen eventuellen Beobachter muss es schon merkwürdig gewesen sein, ein Auto vorfahren zu sehen, aus dem dann niemand aussteigen wollte.
Sie wagte nicht, sich zu rühren. Das Knirschen der Schritte auf dem Schnee wurde lauter. Bestimmt würde gleich jemand eine Scheibe sauberwischen und ins Innere des Wagens starren – doch nichts dergleichen geschah. Wer immer es war, er ging vorbei.
„Hallo George! Einen schönen Abend noch!“ – „Danke Brian, dir ebenso!“, hörte sie dann. George Galsworthy war also vorbeigegangen. Ein wirklich liebenswerter Kerl. Er war wahrscheinlich auf dem Weg zu Elisabeth, seiner Freundin, vermutete Emily, denn George und Elisabeth kannten sich zwar schon einige Jahre, lebten aber noch immer in verschiedenen Häusern – man konnte deshalb mehrmals täglich ein Hin- und Herpendeln beobachten. Zuweilen konnte man auch erleben, wie sie, oder er, schnell, und nur für kurze Zeit, ins eigene Haus rannte, um etwas zu holen, das dringend gebraucht wurde – es konnte eben selbst nach all den Jahren noch vorkommen, dass im Haushalt des andern etwas fehlte, oder noch nicht wieder zum angestammten Platz zurückgebracht wurde.
Wem Emily allerdings die andere Männerstimme hätte zuordnen können, wusste sie nicht – sie konnte sich auch nicht erinnern, diese schon jemals zuvor gehört zu haben. Und zudem: Warum konnte sie die Schritte der zweiten Person nicht wie diejenigen von George wahrnehmen? – Emily horchte, doch ein soeben vorbeifahrendes Auto verunmöglichte jeglichen Versuch, diese vielleicht doch noch verfolgen zu können. Der Mann schien gleichsam über den Schnee zu schweben.
Emily war beunruhigt, zu gerne hätte sie erfahren, ob diese geheimnisvolle Person in irgend ein Haus ging oder hier lediglich eine Abkürzung nahm. Auf jeden Fall kannten sich George und der Fremde, und Emily war entschlossen, von nun an genauer darauf zu achten, wen man, zu welchen Zeiten, in dieser Straße sehen konnte; sie würde ja nun einige Tage dafür Zeit haben.
Sie wartete, bis auf der Straße wieder alles ruhig war, horchte nochmals, und wähnte sich dann endlich sicher genug, um den Wagen verlassen zu können, ohne Gefahr laufen zu müssen, noch von irgendjemandem angesprochen zu werden; es wäre für sie unerträglich gewesen, wenn sie unter Umständen noch Fragen hätte beantworten müssen. – Es war reine Wut und auch Trotz, die ihr die Kraft gegeben hatten, unter gegebenenfalls neugierigen Blicken, die hinter Fensterscheiben lauerten, ins Haus zu gehen.
Sie wusste nicht, wie lange sie wie eine Gefangene ihrer Angst im Auto blockiert gewesen war, denn da wo bei ihrer Ankunft nur einzelne Flecken Schnee lagen, war nun die ganze Straße lückenlos weiß.
Die gefundene Kraft hielt nicht lange an: Emily fühlte sich tatsächlich aus allen Fenstern beobachtet und hörte zudem im Bruchteil einer Sekunde in ihrer Fantasie alle möglichen Fragen und Kommentare der Anwohner: „Jetzt geht sie ins Haus, hast du nicht schon vor einer Viertelstunde gesagt, sie wäre vorgefahren? War sie etwa die ganze Zeit im Wagen? Das kann doch nicht sein. Aber wenn sie nicht im Wagen war, wo dann?“ – „Ron! Komm schnell, sie hat soeben das Auto verlassen. Stell dir vor, sie hat jetzt die ganze Zeit darin gesessen. Irgendetwas stimmt mit der Frau nicht. Sie hat auch keinen Freund, ich habe jedenfalls noch nie einen gesehen.“ – „Ist das nicht Emily, die eben ins Haus rennt? Sie scheint etwas verbergen zu wollen. Wie hat sie sich doch verändert, seit ihr Mann sie verlassen hat.“
Mit zitternder Hand drehte sie den Schlüssel, öffnete die Tür und schlich ins Haus. Als Erstes holte sie drinnen tief Luft, und machte dann in allen Zimmern Licht – der Schein der Lampen gab ihr Sicherheit und hatte für sie auch etwas mit Leben zu tun; die Dunkelheit, in auch nur einzelnen Räumen, machte ihr Angst, dabei hatte sie schon so oft versucht, das Licht nur dort brennen zu lassen, wo es auch wirklich gebraucht wurde; aber sie schaffte es nicht; ihre Stromrechnungen waren deshalb seit Davids Auszug rund dreimal so hoch wie vorher.
– Sie hatte Hunger, doch bevor sie eine Kleinigkeit kochte, ging sie durch das ganze Haus und machte eine Bestandesaufnahme des Mobiliars; sie notierte alles auf einen Notizblock: Diese Kommode und jener Schrank wollte sie nicht mehr behalten, und auch mit etlichem Kleinkram waren zu viele Erinnerungen verbunden und wurde deshalb auf der Negativ-Seite ihrer Liste vermerkt. – Die Bilanz sah dann sehr traurig aus: Wenn sie sich alle ungeliebten Gegenstände fortdachte, dann blieb nicht mehr viel übrig, ja das Haus war beinahe leer. Mit dem Rest würde sie sich voraussichtlich nur noch zwei Zimmer einigermaßen einrichten können, aber das störte sie nicht, denn sie nahm sich ohnehin vor, alle Räume vollkommen neu zu gestalten. Vorerst aber war das ganze Haus noch vollgestopft mit viel verseuchter Materie einer vergangenen Zeit, die sie jetzt so bald wie möglich loswerden wollte.
Die geistige Aufräumaktion tat ihr gut, sie machte Pläne; und die Erinnerungen, die mit all diesen Gegenständen verbunden waren, wühlten sie nicht mehr auf, sondern beruhigten sie eigenartigerweise mehr und mehr – vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie nun immerzu daran denken musste, wie froh sie war, dass alles vorüber war. Und als sie dann nach dem Essen im Wohnzimmer saß und die Liste noch mehrmals durchlas, und auch immer wieder um einige zusätzliche Gegenstände ergänzte, waren die ersten Weichen für eine neue Zukunft, für ein anderes Leben, gestellt.
Innerlich ruhig und in einer gewissen Weise zufrieden, saß sie auf ihrem Sofa und sah sich einen Film mit Ingrid Bergman an; er war aus den Fünfziger Jahren. Emily hatte den Streifen noch nie zuvor gesehen, obwohl Filme aus jener Zeit, und vor allem Melodramen, eine Leidenschaft von ihr waren. Es lief „Reise in Italien“ von Roberto Rossellini.
Sie folgte den Gefühlen der Personen immer aufmerksamer, und bei einer besonders dramatischen Szene musste sie weinen. Obwohl sie nur wegen der Handlung im Film weinte, löste sich bei ihr nun die ganze Anspannung des Tages. –
Irgendwann musste sie dann eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen wusste sie nicht mehr, ob sie den Film nun zu Ende gesehen hatte oder nicht; sie konnte sich als Letztes an einige Szenen in Pompeji erinnern, an leere Straßen der ausgegrabenen Stadt in der Mittagshitze, was aber schwerlich das Ende des Films gewesen sein konnte.
Sie war wegen der Geräusche ihres Nachbarn erwacht, der sein Haus verlassen hatte und zur Arbeit ging. – Nur langsam konnte sie ihre Gedanken fassen; sie hatte minutenlang Mühe, wirklich wach zu werden. Draußen knallten hier und dort Autotüren zu, Motoren wurden angelassen, Kinder rannten mit übermütigem Geschrei die Straße entlang und zur Bushaltestelle; Abbey Wood war erwacht.
‚Mein Gott, ich habe verschlafen‘, schoss es ihr durch den Kopf. Gehetzt stand sie vom Sofa auf, auf dem sie vor dem noch immer laufenden Fernseher die Nacht verbracht hatte, schaltete ihn aus, und ebenso alle Lichter im Haus, und taumelte ins Bad. Sie drehte die Dusche auf und genoss das herrlich warme Wasser, das nun über ihren Kopf lief. Und während sie so dastand, konnte sie sich erinnern, dass sie ja für eine Woche freigenommen hatte, sich also nicht beeilen musste. – Sie hatte sich bei der Beantragung ihres Blitzurlaubs vorgenommen, in den kommenden Tagen richtig auszuspannen, und auch damit zu beginnen, endlich all die langersehnten Reisen zu planen, die sie früher nicht hatte verwirklichen können; nicht weil ihr damals das Geld gefehlt hätte, sondern weil sie in jungen Jahren, und später auch in David, nicht den richtigen Partner dazu gefunden hatte. Und um alleine in die Welt zu gehen, hatte sie nie die notwendige Lust empfunden – doch ein wenig hatte ihr vielleicht auch der Mut gefehlt.
An jenem Freitag wollte sie sich einen richtig schönen Tag machen. Sie stand noch immer mit geschlossenen Augen unter der Dusche, hielt ihr Gesicht zur Brause hin, und begann, sich einen Tagesplan auszudenken. ‚Nachher werde ich ausgiebig frühstücken ..., aber nein, zuerst muss ich noch Brot holen. Also nachher werde ich Brot holen und auch gleich für das ganze Wochenende einkaufen, und dann ausgiebig frühstücken und mir noch ein Glas Sekt gönnen. Dazu dann die Zeitung lesen. Dann auf dem Sofa liegen und Pläne schmieden.‘
Sie verließ das Haus kurz vor zehn Uhr. In Abbey Wood herrschte jener trostlose ‚das wirkliche Leben spielt sich woanders ab‘-Zustand, den ein berufstätiger Mensch, der in der Londoner City arbeitet, sozusagen nie erleben kann; Wochenenden zählen nicht, denn an solchen Tagen zeigen Vororte für gewöhnlich nie ihr wahres Gesicht.
Emily erlebte Abbey Wood an jenem Morgen mit denselben Stimmungen wie damals als Kind, als ihr noch so vieles verborgen gewesen war; und genauso schwiegen die Häuser auch jetzt. Doch als Erwachsene wusste sie nun immerhin ein wenig mehr: zum Beispiel über das Haus an der Ecke zur Abbey Wood Road. Dort hatte Mandi Cornell gelebt, zuerst mit ihrem Mann und dann während zwei Jahren alleine. Emily hatte sie in den zwei Jahren nur ein- oder zweimal gesehen. Vor zwei Wochen hatte man sie dann tot aufgefunden; sie hatte sich umgebracht. Sie habe die Einsamkeit nicht mehr ertragen können, hatte man gehört, dabei hatte in den letzten Jahren, von außen betrachtet, nie etwas auf derart unüberwindliche Probleme hingedeutet. – Es war eines der gepflegtesten Häuser dieser Straße gewesen.