Jill Lepore
DIESES AMERIKA
MANIFEST
FÜR EINE
BESSERE
NATION
Aus dem Englischen übersetzt
von Werner Roller
C.H.Beck
Während die liberalen Demokratien weltweit unter Druck geraten und in den USA Präsident Trump eine zweite Amtszeit anstrebt, legt die gefeierte Historikerin Jill Lepore ein Manifest vor, das dem Rechtspopulismus eine seiner Lieblingsvokabeln streitig macht – die Nation. Die liberalen Eliten, so Lepore, haben die Nation viel zu lange den Rechten überlassen und zahlen dafür nun einen hohen Preis: Der neue Nationalismus von rechts verschlingt den Liberalismus. Es wird Zeit, die Nation zurückzugewinnen.
Jill Lepore ist Professorin für amerikanische Geschichte an der Harvard Universität und staff writer des Magazins «The New Yorker». Ihre Geschichte der Vereinigten Staaten «Diese Wahrheiten» erschien in deutscher Übersetzung im Herbst 2019 in der «Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung» bei C.H.Beck und stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste.
VORBEMERKUNG
I: GESCHICHTE UND NATIONEN
II: NATIONEN UND NATIONALISMUS
III: NATIONEN UND STAATEN
IV: DIE ENTSTEHUNG DES NATIONALISMUS
V: LIBERALISMUS UND NATIONALISMUS
VI: NATIONEN UND STAATSBÜRGER
VII: NATIONEN UND FORTSCHRITT
VIII: ZWEIERLEI NATIONALISMEN
IX: EINE NEUE NATION
X: RASSE UND NATION
XI: NATIONEN UND HERKUNFTSLÄNDER
XII: LIBERALISMUS IM KALTEN KRIEG
XIII: KANN DAS AMERIKA SEIN?
XIV: DAS ENDE DES LIBERALISMUS?
XV: DIE RÜCKKEHR DES NATIONALISMUS
XVI: EIN NEUER AMERIKANISMUS
DANK
AUSWAHLBIBLIOGRAFIE
Im Gedenken an meinen Vater,
dessen Einwanderereltern ihm 1924,
in dem Jahr, in dem der Kongress ein Gesetz verabschiedete,
das Einwanderer wie sie aussperrte,
den Namen Amerigo gaben
«Nationen taumeln und schwanken auf ihrem Weg; sie machen schreckliche Fehler; sie begehen entsetzliches Unrecht; sie tun großartige und wunderschöne Dinge. Und werden wir die Menschheit nicht am besten anleiten, indem wir die Wahrheit über all dies berichten, insoweit die Wahrheit feststellbar ist?»
W.E.B. DU BOIS,
«THE PROPAGANDA OF HISTORY»,
1935
Dieses kleine Buch widmet sich drei übergroßen Aufgaben, Dingen, die in jüngerer Zeit nicht sehr oft angegangen wurden, Dingen, deren Bearbeitung mir notwendig zu sein schien. Es untersucht die Ursprünge von Nationen. Es bietet eine kurze Geschichte des amerikanischen Nationalismus. Und es hält ein Plädoyer für die Nation und für die fortdauernde Bedeutung der Vereinigten Staaten und amerikanischer bürgerschaftlicher Ideale, indem es Argumente gegen den Nationalismus und für den Liberalismus vorbringt.
Dieses Buch ist eigentlich ein langer Essay, Argument und Appell in einem, eine Bilanz der amerikanischen Geschichte, der Nation in ihrer schlimmsten Gestalt, und ein Aufruf zu einem neuen Amerikanismus, der so unbeugsam und offenherzig sein soll wie die Nation mit ihren besten Eigenschaften.
I
Nationen bestehen aus Menschen, werden aber von der Geschichte zusammengehalten, wie Lehm und Flechtwerk oder Holzleisten und Gips oder Ziegelsteine und Mörtel. Die amerikanische Geschichte wurde eine Generation lang vernachlässigt, und die Nation zerfiel, der Lehm wurde rissig, der Gips zerfiel, der Mörtel bröckelte. Diese Tragödie wurde vorausgesehen.
Carl N. Degler, der stets mit Fliege auftretende Stanford-Historiker und Pulitzer-Preisträger, hielt 1986 einen Vortrag der besonderen Art, keine dieser gängigen Scotch-on-the-rocks-Reden für Pfeifenraucher nach dem Dinner, die das Abendprogramm bei der Jahresversammlung der American Historical Association während ihres gesamten einhundertjährigen Bestehens zu einer so öden Angelegenheit gemacht hatten. Stattdessen warf Degler, ein freundlicher und ruhig-heldenhafter Mann, seinen Kollegen nichts weniger als Pflichtverletzung vor: Vom Nationalismus entsetzt, hätten sie das Studium der Nation aufgegeben, sagte der Redner.
«Wir können eine Geschichte schreiben, die implizit den Nationalstaat ablehnt oder ignoriert, aber das wäre eine Geschichte, die sich dem widersetzen würde, was Menschen, die in einem Nationalstaat leben, verlangen und fordern», sagte Degler an jenem Abend in Chicago in einer Rede, der er den Titel «In Pursuit of an American History» gegeben hatte. Er sprach eine Warnung aus: «Wenn wir Historiker es versäumen, eine national definierte Geschichte anzubieten, werden uns andere, die nicht so kritisch und weniger sachkundig sind, diese Aufgabe abnehmen.»
Degler war besorgt wegen seiner Zeitgenossen – Intellektuellen, die das Studium der Nation eingestellt hatten, weil sie der Ansicht waren, der Nationalstaat befinde sich im Niedergang. Die Welt hatte sich globalisiert, sie wurde zusammengehalten von ausgeklügelten Handelsnetzen und immer schneller werdenden Transportsystemen und Kommunikationsformen. Die Zukunft sei kosmopolitisch, betonten sie, nicht provinziell. Warum sollte man sich die Mühe machen, die Nation zu studieren?
Viele von Deglers Zeitgenossen waren außerdem der Ansicht, eine Beschäftigung mit der Nation würde den Nationalismus stärken, den man stattdessen zugrunde gehen lassen sollte. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war der Nationalismus außerhalb der postkolonialen Staaten so gut wie tot, ein taumelndes, scheußliches Gespenst. Und viele Intellektuelle waren der Ansicht, wenn sie nicht mehr über die nationale Geschichte schrieben, würde der Nationalismus, ausgehungert, vernachlässigt und aufgegeben, wie er war, noch früher absterben, und das wäre ein angemessenes Ende für einen Kriegsverbrecher, einen Zerstörer von Welten.
Francis Fukuyamas viel gelesener Aufsatz «The End of History?» von 1989 erschien drei Jahre, nachdem Degler seine Rede gehalten hatte, aber er bleibt bis heute die bekannteste Illustration der Weisheit, die Deglers Warnung zugrunde lag. Am Ende des Kalten Krieges erklärte Fukuyama den Faschismus und den Kommunismus für tot und den Nationalismus, die vermeintlich letzte noch verbliebene Bedrohung für den Liberalismus, in Europa für gänzlich hinfällig («der europäische Nationalismus wurde entschärft»), und in den Teilen der Welt, in denen er noch Vitalität zeige, sei das kein ausgeprägter Nationalismus mehr: Das sei ein stockendes Ringen um Demokratie.
Aber der Nationalismus ging nicht zugrunde. Er verwüstete Bosnien und Ruanda. Er beförderte Nationalisten in Positionen, in denen sie Einfluss und Macht, ja sogar mörderische Macht ausüben konnten. Zu diesem Personenkreis gehörten unter anderem Wladimir Putin in Russland, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich, Jarosław Kaczynski in Polen und Rodrigo Duterte auf den Philippinen. Drei Jahrzehnte nach Deglers Warnung stimmte Großbritannien mehrheitlich für einen Austritt aus der Europäischen Union, und die Vereinigten Staaten wählten Donald Trump zum Präsidenten, der umgehend erklärte: «Ich bin ein Nationalist, okay?» Fukuyama nahm in einem neuen Buch Abstand von vielen seiner früheren Behauptungen und beharrte darauf, dass er 1989 keineswegs wortwörtlich gesagt habe, der Nationalismus werde «demnächst verschwinden». Aber Fukuyama war beileibe nicht der Einzige gewesen, der in den 1980er Jahren den Nationalismus für so gut wie tot erklärt hatte. Eine Menge anderer Leute hatte das ebenfalls getan. Das beunruhigte Carl Degler. Degler glaubte nicht, dass der Nationalismus kurz vor dem Ende stand, und ihm bereitete Sorgen, dass die Intellektuellen, sofern sie diese Einstellung beibehielten, ihn dauerhaft ignorieren und damit nicht nur versäumen würden, ihn zu bekämpfen, sondern auch die Fähigkeit zu dieser Auseinandersetzung einbüßen würden wie ein Boxer, der das Training vernachlässigt und darüber zu einem schlaffen, trägen Hasenfuß wird.
Nationalstaaten legen sich bei ihrer Gründung eine Vorstellung von der Vergangenheit zurecht. Die moderne Geschichtsschreibung entstand mit dem Nationalstaat. Dasselbe galt für den modernen Liberalismus. Das Thema der amerikanischen Geschichte war seit der Gründung der Vereinigten Staaten bis in die 1960er Jahre das Studium der amerikanischen Nation. Im gleichen Zeitraum führten die Vereinigten Staaten Eroberungskriege auf dem ganzen Kontinent, stürzten in einen Bürgerkrieg, kämpften in zwei Weltkriegen und traten in den Kalten Krieg ein. Währenddessen kämpfte ein Volk, das in Knechtschaft gehalten wurde, um seine Emanzipation und sah sich dabei einer Rechtspraxis der Rassentrennung und einem Terrorfeldzug bewaffneter Milizen ausgesetzt, was zu einem jahrzehntelangen Kampf um Bürgerrechte führte, der noch andauerte, als die Vereinigten Staaten zur Führungsmacht einer liberalen Weltordnung wurden. Auch wenn es den amerikanischen Historikern in diesen turbulenten Zeiten durchaus nicht immer gelang, sich auf eine gemeinsame Geschichte zu einigen, engagierten sie sich dennoch in diesem Streit, formulierten Zustimmung und Kritik zu nationalen Zielen und Zwecken, trugen Argumente vor, förderten die Debatte, verteidigten die Demokratie und feierten, oft in lyrischem Tonfall, die Schönheit des Landes, die Erfindungsgabe und den Einfallsreichtum des Volkes und die Vitalität der amerikanischen Ideale. Und so hielten es auch, jeweils auf ihre eigene Art, die Menschen, die in diesen nationalen Geschichtserzählungen unberücksichtigt blieben, Frauen und farbige Menschen, die sich für Freiheit und Selbstbestimmung und Staatsbürgerschaft und Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzten und sich außerdem den Zugang zu höherer, universitärer Bildung erkämpften.
In den 1970er Jahren erweiterte sich das Spektrum der Historikerzunft; ebenso verhielt es sich mit der amerikanischen Geschichte. Das Studium der Nation fiel in Ungnade. Die meisten an Hochschulen lehrenden Historiker beschäftigten sich entweder mit kleineren oder mit größeren Dingen, untersuchten Gruppen – getrennt nach Rasse, Geschlecht oder Klasse – oder wählten die Perspektive, die die Globalgeschichte verhieß. Sie lieferten ausgezeichnete wissenschaftliche Beiträge, äußerst sorgfältig recherchierte und brillant formulierte Darstellungen der Lebensläufe, Kämpfe und Triumphe von Amerikanerinnen und Amerikanern, die frühere Historikergenerationen ignoriert hatten. Sie studierten Völker innerhalb von Nationen und nationenübergreifende Bindungen. Und in ihrem Entsetzen über den Nationalismus verwarfen sie die Nationalgeschichte als Dienerin des Nationalismus. Aber als die Geschichtswissenschaft das Schreiben über die Nationalgeschichte einstellte, traten andere, von weniger Skrupeln geplagte Leute auf den Plan.
Nationen brauchen, wenn sie sich selbst einen Sinn geben wollen, eine Art von Vergangenheit, auf die man sich einigen kann. Sie können das von Wissenschaftlern bekommen, oder sie können sich an Demagogen halten, aber sie werden so etwas bekommen. Die Dauerhaftigkeit des Nationalismus beweist, dass es niemals an Fanatikern und Betrügern mangelt, die bereit sind, das Gefühl, das die Menschen von sich selbst und ihrer Bestimmung entwickeln, mit einem Gewebe von Mythen und Prophezeiungen, Vorurteilen und Hassgefühlen zu verstärken oder den Unrat aus alten Mülleimern auszuschütten, der aus ätzenden Hetzreden, Ressentiments und Aufrufen zur Gewalt besteht. Der Nationalismus stirbt nicht ab, wenn seriöse Historiker das Studium der Nation aufgeben, wenn Wissenschaftler schon vom Versuch absehen, eine gemeinsame Geschichte für ein Volk zu schreiben. Stattdessen verschlingt er den Liberalismus.
Der Liberalismus ist immer noch vorhanden. Der Trick besteht darin, ihn zu aktivieren. Dafür gibt es nur einen Weg. Man muss sich eine sehr gute Idee schnappen und an ihr festhalten: dass alle Menschen gleich und von Geburt an mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind und ein Recht auf Gleichbehandlung haben, das durch eine von Gesetzen geleitete Nation garantiert wird. Das verlangt nach einem Plädoyer für die Nation.
II
Die Vereinigten Staaten unterscheiden sich von anderen Nationen, und auch ihr Nationalismus ist ein anderer. Jede Nation unterscheidet sich von jeder anderen Nation: Nationen definieren sich über ihre Unterschiede, selbst wenn sie sie erfinden müssen. Das ist ein Teil dessen, was sie zu Nationen macht. Die Welt war nicht immer in Nationen aufgeteilt, und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dieser Zustand für immer erhalten bleiben wird, und das nicht zuletzt, weil das dringendste Problem, das es zu lösen gilt – der Klimawandel –, planetarischen Ausmaßes ist. Eine Welt ohne Nationen ist vorstellbar. Einstweilen existiert diese Welt jedoch nicht, und die bestehende Welt ist eine Welt der Nationen, deshalb ist es wichtig zu verstehen, was Nationen sind, und sich vorzustellen, was sie sein können.
Die Idee der Nation ist sehr alt, sie entstammt der Gedankenwelt der Antike. Das Wort «Nation» («natio») beruht auf der gleichen lateinischen Wortwurzel wie «nativitas» («Geburt»). Eine Nation ist, historisch betrachtet, ein Volk, das auf eine gemeinsame Herkunft verweisen kann. Nach dem 1. Buch Mose breiteten sich die Familien der Söhne Noahs «nach ihren Ländern, ihren Sprachen, Geschlechtern und Völkern» aus. Die europäischen Universitäten waren im Mittelalter nach Sprache und Herkunft in «Nationen» unterteilt. Die englischen Kolonisten des 17. Jahrhunderts bezeichneten mit dem Wort «Nation» Völker wie die Haudenosaunee, ein seit Jahrhunderten bestehendes Bündnis von Irokesen, das den Engländern als die «Five Nations» galt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts nahm «Nation» nach und nach eine Wortbedeutung an, die enger mit Souveränität und Macht verbunden war. «Unsere weisen Vorväter sorgten für Einheit und Freundschaft zwischen den Five Nations», sagte Canasatego, ein Onondaga-Häuptling, 1744 zu englischen Kolonisten. «Das hat uns groß gemacht.»
Der Nationalismus ist jedoch keine sehr alte Idee. Er ist ein Produkt der Moderne. Das Wort «Nationalismus» wurde erst Ende des 18. Jahrhunderts geprägt, der damit gemeinte Sachverhalt trat erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zutage, und dann hauptsächlich in Europa. Er stand sowohl für eine Überzeugung, dass die Welt in Nationen aufgeteilt ist und dass dies auch so sein sollte, wie auch für eine besondere emotionale Bindung an die eigene Nation.
Die Menschen verwechseln mitunter Nationalismus mit Patriotismus. Es ist nicht falsch, sondern ohne jede Einschränkung richtig, wenn man den Ort liebt, an dem man lebt, ebenso wie die Menschen, mit denen man dort lebt, und wenn man dem Ort und diesen Menschen wünscht, dass es ihnen gut geht, deshalb sind Nationalismus und Patriotismus leicht miteinander zu verwechseln, vor allem, weil sie einst mehr oder weniger dasselbe bedeuteten. Aber in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte der Nationalismus durch den Aufstieg des Faschismus in Europa eine andere Bedeutung angenommen, die ihn vom Patriotismus unterschied. Er stand jetzt für etwas Erbarmungsloses, etwas Gewalttätiges: Es hatte weniger mit einer Liebe zum eigenen Land, sondern mit einem Hass auf andere Länder und ihre Bewohner und einem Hass auf Menschen im eigenen Land zu tun, die nicht der ethnischen, rassischen oder religiösen Mehrheit angehören. Die Einwanderungspolitik ist ein Thema für politische Debatten. Vernünftige Menschen haben unterschiedliche Ansichten. Aber der Hass auf Einwanderer, als wären sie Menschen, die weniger wert sind, ist eine Form des Nationalismus, die nichts mit Patriotismus zu tun hat. Die Handelspolitik ist ein Thema für politische Debatten; vernünftige Menschen haben auch hierbei unterschiedliche Ansichten. Aber der Hass auf Globalisten, der solche Menschen verteufelt, ist eine Form des Nationalismus, die nichts mit Patriotismus zu tun hat.
Die Verwechslung von Nationalismus und Patriotismus ist nicht immer harmlos. Louis Snyder, ein Professor am City College of New York, der den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland in den 1920er Jahren miterlebte, erklärte diese Entwicklung einst in einem Buch mit dem Titel The Meaning of Nationalism. Nationalisten, stellte er fest, «haben ein ausgeprägtes Interesse an einem vagen Sprachgebrauch als Deckmantel für ihre Ziele». Weil die Menschen nur mit Mühe von einem Kurs zu überzeugen sind, der von Aggression, Gewalt und dem Streben nach Vorherrschaft geprägt ist und nach Opfern verlangt, die im Namen der Nation gebracht werden müssen, geben Nationalisten vor, ihre eigentlichen Ziele seien Schutz und Einigkeit, und ihre Motivation sei Patriotismus. Das ist eine Lüge. Patriotismus ist von Liebe beseelt, Nationalismus von Hass. Das eine mit dem anderen zu verwechseln bedeutet, Hass zur Liebe zu erheben und Furcht zum Mut.
Der Nationalismus, ein Kind des 19. Jahrhunderts, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Monster – zum Wüten, das den «Führer» und den «Duce» antrieb, fanatisch und brutal, gewalttätig und letztlich völkermörderisch. In den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts suchte der Nationalismus weite Teile Afrikas, Asiens und Lateinamerikas heim. Aber genau in diesem Zeitraum war Europa noch von dem Chaos gezeichnet, das der Nationalismus angerichtet hatte, weshalb Fukuyama 1989 die Ansicht vertreten konnte, der Nationalismus sei in Europa «entschärft» worden, und in anderen Teilen der Welt sei er weniger eine Ideologie als ein Mittel zur Erlangung der Unabhängigkeit. Nur an den äußersten Rändern des weltanschaulichen Spektrums bezeichneten sich Politiker in den westlichen Ländern jetzt noch als «Nationalisten».
Das änderte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als Nationalisten sich nicht mehr damit aufhielten, ihre Worte sorgfältig abzuwägen. «Wir setzen Amerika an die erste Stelle, was seit vielen Jahrzehnten nicht mehr der Fall gewesen ist», sagte Donald Trump im Herbst 2018 bei einer Kundgebung in Houston, Texas, vor einem 16.000 Menschen zählenden Publikum. «Wir kümmern uns zur Abwechslung um uns selbst, Leute», sagte er und nickte dazu. Seine Anhänger schwenkten Schilder und Transparente, auf denen KEEP AMERICA GREAT und FINISH THE WALL zu lesen war. Er warnte vor einer Verschwörung, die auf die «Wiederherstellung der Herrschaft der korrupten, machtgierigen Globalisten» abziele. Die Menge buhte. «Ihr wisst, was ein Globalist ist, nicht wahr? Ein Globalist ist ein Mensch, der möchte, dass es der ganzen Welt gut geht, und dem, offen gesagt, unser Land ziemlich egal ist. Und wisst ihr was? Wir können das nicht dulden. Es gibt ein Wort, das mittlerweile schon altmodisch klang – das Wort ‹Nationalist›. Und ich sage, wir sollen dieses Wort tatsächlich gar nicht mehr benutzen. Wisst ihr, was ich bin?» Er bohrte einen Finger in die eigene Brust. «Ich bin ein Nationalist, okay?» Die Menge tobte. «Ich bin ein Nationalist!» Er wurde lauter. «Benutzt dieses Wort! Benutzt dieses Wort!»
Merriam-Webster berichtete, dass im Zeitraum zwischen Trumps Rede in Houston und dem darauffolgenden Tag die Online-Wörterbuchrecherchen nach dem Wort «Nationalismus» um 8000 Prozent zunahmen und es in die Rangliste der zehn im Jahr 2018 am häufigsten nachgefragten Wörter katapultierten. Am Tag nach seiner Rede in Houston gab Trump im Weißen Haus im Gespräch mit Reportern zum Thema Geschichte des Nationalismus den Unwissenden und Gleichgültigen. Mit einem Achselzucken erklärte er: «Meiner Ansicht nach sollte er wiederkommen.» Das sollte er nicht.
III