SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7477-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5972-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
1. Auflage in neuer Gestaltung 2020 (8. Gesamtauflage)
Dieser Titel erschien zuletzt unter der ISBN 978-3-417-20873-3.
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit Stichting Corrie ten Boomhuis, Haarlem.
© der deutschen Ausgabe 2020
SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de
Originally published in English under the title: In My Father’s House
© Stichting Corrie ten Boom Fonds
This book was published in the United Kingdom by Hodder and Stoughton and by Christian Literature Crusade.
Übersetzung: Lotte Reimeringer-Baudert
Umschlaggestaltung: Nakischa Scheibe
Titelbild: Aquarell von Cees van Berkel,
© Stichting Corrie ten Boomhuis, Haarlem
Innenteilbilder: © Stichting Corrie ten Boomhuis, Haarlem
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Als meine Eltern heirateten, wählten sie Psalm 32,8 als das Wort für ihr Leben. Sie waren gewiss, dass dies Gottes Zusage war, auf die sie immer vertrauen durften.
»Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten.«
Diese Verheißung wurde auch in ganz besonderer Weise der Leitfaden für mein Leben.
Corrie ten Boom
(in: »Mit Gott durch dick und dünn«)
Über die Autorin
Vorwort
1. Ererbtes
2. Fünf Jahre ist nicht zu jung
3. Kleine Anfänge
4. Jedes Alter braucht Liebe
5. Kleine Bengel
6. Um den ovalen Tisch herum
7. Siebzehn – und noch so viel zu lernen
8. Das Beste kommt noch
9. Liebe und Besonnenheit
10. Hilfeleistung
11. Innerhalb und außerhalb des Uhrenladens
12. Alles ist in Ordnung … bis es anfängt zu regnen
13. Der Rote-Mützen-Klub
14. Auch die Geringsten unter ihnen
15. Führer und Fehler
16. Sicherheitsnadeln an Uniformen
17. Widerstand!
18. »… Er nahm mich bei der Hand«
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Niederländerin CORRIE TEN BOOM (1892–1983) wurde 1944 mit ihrem Vater und ihren Geschwistern verhaftet und kam ins KZ. Ihr Vater und die Schwester Betsie überlebten nicht, nur Corrie wurde auf wunderbare Weise freigelassen. Nach dem Krieg gründete sie ein Haus für Kriegsgeschädigte und warb mit ihrem Zeugnis auf der ganzen Welt für Vergebung und den Glauben an Jesus Christus. Ihre Bücher und Predigtserien sind Bestseller.
Für viele ist Corrie ten Boom ein Glaubensvorbild. Ihr packendes Buch »Die Zuflucht« hat schon unzählige Menschen tief berührt. Doch wie wurde sie zu der Frau, die selbst im KZ an Gott festhielt und später ihren Peinigern vergeben konnte? In »Kleines Haus mit offenen Türen« erzählt Corrie ten Boom von ihrer Kindheit und Jugend, von der prägenden Bedeutung ihres Vaters und dem geistlichen Erbe ihrer Familie, die schon zu Napoleons Zeiten den Mächtigen der Welt die Wahrheit sagte.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Heute weiß ich, dass Erinnerungen der Schlüssel sind, nicht zur Vergangenheit, sondern zur Zukunft. Ich weiß, dass unsere Erlebnisse, wenn wir sie von Gott gebrauchen lassen, die unbegreifliche, aber vollkommene Vorbereitung sind für die Arbeit, die Er uns geben wird.
Corrie schrieb dies in ihrem Buch »Die Zuflucht«, ohne sich bewusst zu sein, dass es die Einleitung zu diesem Buch werden sollte.
Als ich mit Corrie arbeitete, mit ihr durch Amerika reiste und bei ihr in Holland war, sah ich sie in den verschiedensten Situationen. Immer wieder staune ich, wie der Herr sie gebraucht. Einmal beteten mein Mann und ich mit ihr in dem kleinen Nebenraum eines großen Saales. Sie sah sehr blass aus vor Schmerzen und Müdigkeit. Als sie dann vor 4000 Menschen auf dem Podium stand, war ihre Stimme fest, und sie brachte eine packende Botschaft. Sie war – und ist – ein lebendiges Beispiel dafür, wie der Geist des Herrn durch einen Menschen wirkt, der sich Ihm zur Verfügung stellt.
Aber als dieses Buch wuchs, fesselte es mich immer mehr zu sehen, dass dies mehr war als eine Sammlung von Erinnerungen – mehr als Heimweh nach einem erfüllten vergangenen Leben. Hier waren die einzigartigen Lektionen einer Familie, die sich auf die Zukunft vorbereitete, eine Zukunft, in der sie die Stärkung durch Gottes Liebe und Kraft dringend brauchen würde.
Wenn wir in der Zeit leben, von der wir glauben, dass sich in ihr Gottes Plan für den Planeten Erde erfüllen, wo der Neuanfang, den Jesus verheißen hat, stattfinden wird – dann braucht jeder Einzelne, braucht jede Familie Leitlinien für das Leben in dieser Zeit. Nie waren sie in der Geschichte der Menschen so wichtig.
Als ich mich in diese wunderbaren »vorhergehenden Jahre« vertiefte, ging mir auf, wie sehr sich die verschiedenen Episoden in Corries Leben auf unsere heutige Lebensweise anwenden lassen. Ich habe so viel für mein eigenes Leben und für meine Familie gelernt, während ich mit Corrie im Hause ihres Vaters lebte. Wir wollen dorthin zu Besuch gehen …
Carole C. Carlson
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
»Merkwürdig, seltsam … Peter, wo hat denn die Köchin mitten im Winter Erdbeeren her?«
Der holländische Kaufmann rief seinen Diener und wies auf die Früchte in der silbernen Kompottschale. Sogar in sehr reichen Häusern war dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein erstaunlicher Luxus.
»Sie sind vom Gärtner, mein Herr, … von ten Boom. Er verrichtet wahre Wunder in seinem Treibhaus.«
»Ten Boom, sagst du? Hmm, muss ich mir merken. Großartig! Gib mir noch etwas, Peter, mit viel Sahne!«
Mein Urgroßvater ten Boom züchtete diese großen Erdbeeren in der kalten Jahreszeit, während rotbackige Kinder auf den Kanälen Schlittschuh liefen. Er war kein gewöhnlicher Obstzüchter, sondern ein Fachmann, der den Boden mit so viel Liebe pflegte, dass er Wunder hervorbrachte. Er experimentierte mit Pflanzen, bald im Eiskeller, bald im Treibhaus, bis er die Früchte bekam, die auf dem Tisch seines Herrn aufgetragen wurden, eines der reichsten Männer in Hofstede, Bronstede, Heemstede.
Diese unscheinbaren Erdbeeren bewahrten meinen Urgroßvater vor dem Gefängnis!
Es war in der napoleonischen Zeit; Europa erbebte unter dem Angriff des bösartigen kleinen Mannes von Korsika. Der französische Kaiser besiegte ein Land nach dem andern, während er durch Europa zog und die Menschen zwang, sich ihm zu unterwerfen. Die holländische Regierung wurde von Napoleons Anhängern beherrscht und unterdrückt.
Mein Urgroßvater war ein unabhängiger Mann: Er hatte Mut, aber ich fürchte, nicht viel Takt. Er weigerte sich, sich Menschen, die andern die Freiheit nahmen, zu unterwerfen. Die Holländer hatten damals zwei Möglichkeiten: Entweder sie gehorchten denen, die dem stolzen Diktator dienten, oder aber sie mussten auf Strafe gefasst sein.
In allen Epochen der Menschheitsgeschichte, in denen Tyrannei herrscht, wird von den Menschen Treue verlangt.
An einem Sonntag ging mein Urgroßvater zur Kirche. Der Pfarrer kündigte das Eingangslied an. Das Thema stammte aus dem 12. Psalm. Als jedoch die Gemeinde die Worte erfasste, schwieg einer nach dem andern. Sie erkannten, dass das Lied ihre politische Lage genau wiedergab. Niemand wagte weiterzusingen.
Aber mein Urgroßvater und der Pfarrer sangen lauter, ein trotziges Duett:
Der Böse betrachtet sich aller Bande los und geht umher und hetzt die Leute auf. Die bösen Leute sind davon überzeugt, dass sie die Zügel in der Hand haben, und sie werden zu höchsten Ehren erhoben.
Betrübte Herzen (schweigende Stimmen) bekamen durch die Tapferkeit des Pfarrers und des Gärtners neuen Mut.
Als die Nachricht von der verräterischen Herausforderung ten Booms die Behörden erreichte, musste er im Rathaus erscheinen. Gewiss war er auf die Folgen vorbereitet, als er den diensttuenden Beamten anredete.
»Was wünscht der Herr Rotznase von mir?«
Erst forderte er das Regime heraus, und dann schleuderte er seinen Anklägern diesen verächtlichen Namen ins Gesicht!
Was aber haben die Erdbeeren mit dem allen zu tun? – Ehe man den Urgroßvater verurteilen oder ins Gefängnis werfen konnte, legte sein Herr sich ins Mittel. Er war ein sehr einflussreicher Mann, und so wurde ten Boom freigesprochen. (Ein Gärtner kann im Gefängnis doch kein Obst züchten, nicht wahr?)
Mein Vater erzählte uns diese Geschichte vom Urgroßvater und dessen persönlicher Herausforderung des napoleonischen Regimes mit einigem Stolz.
»Ich bin froh, dass er ein richtiger Mann war«, sagte er.
Mehr als hundert Jahre später, als die Leute zu Vater sagten: »Hör damit auf, Juden in dein Haus aufzunehmen – du wirst ins Gefängnis kommen«, antwortete er: »Ich bin zu alt fürs Gefängnis. Sollte es aber geschehen, dann wird es mir eine Ehre sein, mein Leben für Gottes Volk, die Juden, zu geben.«
Willem ten Boom, mein Großvater, war nicht so kräftig wie sein Vater. Deshalb wählte er einen Beruf, der körperlich nicht sehr anstrengend war. Im Jahre 1837 kaufte er ein kleines Haus in Haarlem für 400 Gulden und fing ein Uhrengeschäft an.
Im Jahre 1844 besuchte Pfarrer Witteveen den Großvater. Er hatte eine Bitte. »Willem, du weißt, dass die Schrift uns sagt, dass wir für den Frieden von Jerusalem und um Segen für die Juden beten sollen.«
»Ja, sicher, Herr Pfarrer, ich habe Gottes altes Volk immer geliebt – es hat uns unsere Bibel und unsern Heiland gegeben.«
Auf dieses Gespräch hin entstand ein Gebetskreis, in dem Großvater und seine Freunde für das jüdische Volk beteten. Das war unter Christen damals etwas Ungewöhnliches. Die Juden waren über die ganze Welt verstreut. Sie hatten kein eigenes Land und keine nationale Identität. Die Stadt Jerusalem war durch jahrhundertelange Kämpfe zerrissen. Die Augen der Welt waren noch nicht auf den Nahen Osten gerichtet; aber trotzdem kamen einige wenige holländische Gläubige in einem kleinen Hause in Haarlem, einem Uhrengeschäft (später die Beje genannt), zusammen, um die Bibel zu lesen und für die Juden zu beten.
Auf Seine Weise, die unser menschliches Denken übersteigt, beantwortete Gott dieses Gebet. Es war im selben Hause, genau hundert Jahre später, als Großvaters Sohn, mein Vater, vier seiner Enkel und ein Urenkel verhaftet wurden, weil sie während der deutschen Besetzung geholfen hatten, Juden zu retten.
Ein anderer stolzer Diktator, herausfordernder und wahnsinniger als Napoleon, hatte sich vorgenommen, alle Juden in der Welt zu vernichten.
Weil sie Juden geholfen und sie versteckt hatten, starben mein Vater, der Sohn meines Bruders und meine Schwester im Gefängnis. Mein Bruder überlebte die Gefangenschaft, starb aber bald darauf. Nur Nollie, meine ältere Schwester, und ich kamen lebend heraus.
So oft fragen wir uns, weshalb Gott zulässt, dass manche Dinge in unserm Leben geschehen. Wir versuchen es zu verstehen, aber die Fragen bleiben offen. Die Torheit Gottes aber ist so viel weiser als die Weisheit der Menschen.
Von Generation zu Generation, von kleinen Anfängen und kleinen Lektionen an, gibt es einen Plan für diejenigen, die Ihn kennen und Ihm vertrauen.
Gott hat keine Probleme, nur Pläne!
Meine Mutter war eine Frau mit Sinn für Humor und eindrucksvollem Äußeren. Sie hatte schweres dunkles, lockiges Haar und schöne blaue Augen – eine ungewöhnliche Kombination für Holländer. Sie stammte aus einer großen Familie. Ihr Vater starb, kurz nachdem ihre Mutter das achte Kind zur Welt gebracht hatte. Nun mussten ihre Mutter und die älteren Geschwister für ihren Lebensunterhalt arbeiten.
Eine ihrer Schwestern, Jans, gründete einen Kindergarten, wo Cor, meine Mutter, und eine andere Schwester, Anna, ihr halfen. Gewiss hat diese Erfahrung meiner Mutter später bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder geholfen.
Als Jans neben ihrem Kindergarten noch eine Sonntagsschule anfing, begann sie mit einem jungen Theologiestudenten, Hendrik Wildeboer, zusammenzuarbeiten, der ihr besonderer Freund wurde. Cor war einem stattlichen Lehrer in der Sonntagsschule, namens Casper ten Boom, aufgefallen, und sofort entdeckten sie etwas Gemeinsames: Sie hatten am gleichen Tage Geburtstag – am 18. Mai.
Die Romanze zwischen Cor und Casper vertiefte sich; als Cor ihre Großmutter in Harderwijk besuchte, fühlte sich Casper so einsam, dass er am nächsten Tage auch dorthin fuhr.
Etwa fünfzig Jahre später besuchte ich mit Vater das alte Städtchen Harderwijk an der Zuidersee. Als wir durch die Bruggestraat gingen, sagte Vater: »Hier habe ich deine Mutter gefragt, ob sie mich heiraten wolle. Damals gingen wir noch über Kopfsteinpflaster, aber viele alte Häuser und das Tor sind noch ganz unverändert.«
Er schwieg und dachte an die vergangene Jugendzeit und an seine Liebe zu der sanften Frau mit den lachenden Augen.
»Sagte Mutter gleich ›Ja‹?«, fragte ich.
»Nein, erst am nächsten Tag. Ich habe die Nacht kaum geschlafen, als ich auf ihre Antwort wartete!«
Als ich ihn fragte, ob er jemals seinen Entschluss, Mutter zu heiraten, bereut habe, sagte er: »Nein! Bis zum letzten Tage ihres Lebens habe ich deine Mutter genauso geliebt wie an jenem Tage in Harderwijk. Wir hatten kein leichtes Leben – wir hatten viel Leid zu tragen –, aber Gott hat uns ganz besonders wunderbar geführt.«
Großmutter starb kurz vor Caspers und Cors Hochzeit. Vater hatte inzwischen ein Uhrengeschäft in einem kleinen Haus mitten im Judenviertel von Amsterdam eröffnet.
Eines Tages kam ein Kunde zu ihm. Er war Pfarrer in Ladysmith in Südafrika. Er bat Vater, eine Uhr und eine Glocke für den Turm seiner Kirche zu liefern. Das war etwas Großartiges für den jungen Kaufmann! Der Auftrag war leicht auszuführen. Vater brauchte nur nach der Fabrik im Süden des Landes zu reisen und Uhr und Glocke auszusuchen. Der Fabrikant sorgte für alles Weitere. Aber die Vergütung für diesen Verkauf war groß genug, dass die Eltern heiraten konnten.
Onkel Hendrik, der Mann von Tante Jans, war Pfarrer in einem kleinen Dorf nicht weit von Amsterdam. In diesem Dorf gingen die Eltern zuerst zum Standesamt, wo sie bürgerlich getraut werden sollten. Der Standesbeamte war der Meinung, dass sie vornehme Leute seien, weil sie aus Amsterdam kamen. Er versuchte sich recht würdevoll auszudrücken, wie es sich für dieses vornehme Paar gehörte, und fing seine Rede folgendermaßen an: »Geehrtes Brautpaar … Sie sind jetzt … Sie sind jetzt zusammen … Sie sind jetzt zusammen hier …« Er schwieg, blickte umher und brach in Tränen aus.
Vater sagte: »Ich bin sehr durch Ihre Worte und Ihre Tränen gerührt, aber wir möchten getraut werden!«
Der Arme brachte die Sache irgendwie zu einem Ende. Onkel Hendrik traute sie in seiner Kirche – ohne Tränen.
Die Jungverheirateten bezogen nach der Hochzeit ein ärmliches, kleines Haus in Amsterdam. Es war wohl gut, dass der rührselige Beamte im Rathaus nichts von ihren bescheidenen Verhältnissen wusste!
Mutter hatte von einem Häuschen mit einem kleinen Garten geträumt, denn sie liebte Blumen und Farben.
»Ich sehe so gern ein großes Stück Himmel«, sagte sie oft.
Der Himmel war da. Wenn sie sich nur weit genug aus dem Fenster beugte, konnte sie ihn in der engen Straße sehen. Das Haus hatte ein einziges Zimmer in jedem Stock, und es war möbliert mit den alten Möbeln, die meine Großmutter hinterlassen hatte.
Es war wenig Geld da, aber sehr viel Glück.
Die jüdische Nachbarschaft ermöglichte es Vater, an ihren Sabbatfeiern und andern Festtagen teilzunehmen. Er studierte das Alte Testament, ihren Talmud, mit ihnen und bekam Gelegenheit, über die Verheißungen des Alten Testamentes und ihrer Erfüllung im Neuen Testament mit ihnen zu sprechen.
Die Liebe meines Vaters für das jüdische Volk wuchs während dieser ersten Ehejahre.
Die Eltern lebten am Rande der Armut, aber ihre Zufriedenheit wurde nicht durch die äußeren Umstände bedingt. Ihr Verhältnis zueinander und zum Herrn gab ihnen Kraft.
Als sie ihr erstes Kindchen erwartete, war Mutter froh, dass sie nähen gelernt hatte. Sie hatte eine alte Nähmaschine von ihrer Mutter geerbt, und jeden freien Augenblick nähte sie kleine Kleidungsstücke für ihr Kind. Eine Jüdin, die oben im Hause wohnte, war sehr neugierig und fragte Mutter, ob sie Näherin sei.
»Nein«, antwortete Mutter stolz, »aber ich erwarte mein erstes Kind. Sehen Sie mal, das habe ich selbst gemacht!« Und sie hielt liebevoll ein niedliches Kleid hoch.
Die Jüdin war erstaunt. »Sie nähen die Kleider doch nicht, ehe das Kind da ist? Das heißt Gott versuchen!«
Mutter wunderte sich, aber sie sorgte weiter für ihr Baby. Sie fing jedoch an zu verstehen, weshalb Maria nur Windeln für das Jesuskind hatte. Es war nicht aus Geldmangel, sondern weil es jüdische Sitte war, vor der Geburt des Kindes keine Kleidung herzustellen. Die portugiesischen Juden halten bis auf den heutigen Tag noch an dieser Tradition fest.
Nachdem Betsie, das erste Kind, geboren war, wurde Mutter sehr krank. Sie bat ihre jüngste Schwester, Anna, ihr ein paar Wochen zu helfen. Aus den paar Wochen wurden vierzig Jahre.
Mutter und Tante Anna hatten sich immer gut verstanden. Als Mutter heiratete, zog Tante Anna zu Tante Jans und Onkel Hendrik. Sie hatte aber immer Sehnsucht nach ihrer Schwester und war sehr dankbar, als die Eltern sie baten, bei ihnen in Amsterdam zu bleiben.
Innerhalb der nächsten sieben Jahre wurden noch vier Kinder geboren, aber eins blieb nicht am Leben. Nun musste Vater seiner wachsenden Verpflichtungen wegen ein billigeres Haus suchen.
Als ich geboren wurde, wohnten wir an der Korte-Prinsegracht, in einem Hause, das sich ganz am Ende des Kanals befand, wo nur wenige vorbeikamen. Das Geschäft hatte seinen Tiefpunkt erreicht.
Ich war ein zu früh geborenes Kind mit einem bläulichen Runzelgesichtchen. Als Onkel Hendrik mich sah, schüttelte er den Kopf. »Ich hoffe, dass der Herr das arme kleine Wesen bald zu sich in den Himmel nehmen wird«, sagte er.
Zum Glück dachten meine Eltern nicht wie er. Sie umgaben mich mit viel Liebe und Fürsorge. Es gab damals keine Brutapparate, und eins der größten Probleme war, mich warm zu halten. Ich weinte so bitterlich vor Kälte, dass Tante Anna mich in ihre Schürze wickelte und gegen ihren Leib band. Da wurde ich warm und still.
Viele Jahre später war ich in Afrika bei einer Missionarsfamilie. Sie hatten ein Baby, das immerzu weinte, bis eine eingeborene Frau das Kind in einem Tuch auf ihren Rücken band. Das Baby wurde still; es fühlte sich bei jemand, der es lieb hatte, geborgen.
Ich spürte wohl dasselbe, als ich so behaglich in Tante Annas Schürze gewickelt war.
Während meines ersten Lebensjahres war ich ein armseliges, kränklich aussehendes Geschöpf. Mutter erzählte mir, dass sie einmal mit einer Freundin im Zug saß, die ein hübsches, molliges Baby auf dem Schoß hatte. Das Kind hieß Rika, und die Leute im Abteil sahen sie bewundernd an und machten freundliche Bemerkungen. Sie sahen auch mich im Arm meiner Mutter an und blickten dann weg, weil sie nichts Nettes zu sagen wussten.
Mutter erzählte mir, dass sie das zuerst etwas gestört hätte; aber dann hätte sie mich geliebkost und geflüstert: »Ich möchte dich für nichts in der Welt tauschen, du süßes, hässliches, kleines Baby mit den schönen Augen.«
Als Rika zwei Jahre alt war, bekam sie epileptische Anfälle. Ich spielte oft mit ihr als Kind, aber ich erinnere mich, dass ich bemerkte, wie ihr Gesicht sich veränderte, wenn sie einen Anfall bekam. Mutter war immer bereit, für Rika zu sorgen. Ihr ganzes Leben lang hat Mutter uns gelehrt, denen, die schwach oder nicht ganz normal waren, zu helfen und freundlich zu ihnen zu sein.
Großvater Willem starb, als ich sechs Monate alt war. Vater erbte sein Geschäft in Haarlem. Wir zogen in das Haus, das nicht sehr groß war. Die arme Mutter – sie hatte immer noch nicht ihren Garten! Sie stellte ein paar Blumentöpfe auf das flache Dach und nannte das ihren Garten. Sie hatte Geranien in Tontöpfen, hängende Fuchsien und etwas Efeu, der an der Mauer hochkletterte. Sie stellte einen Dachgarten her, lange bevor die Bewohner der modernen Häuser an so etwas dachten.
Auch in dem »neuen« Haus in Haarlem konnte sie nur ein kleines Stück vom geliebten Himmel sehen. Das Dach wurde ihr »Ausflugsort«, als sie zu schwach wurde, ihren täglichen Spaziergang zu machen.
In den ersten Ehejahren muss die finanzielle Lage oft sehr schwierig gewesen sein. Tante Anna arbeitete Tag und Nacht, um Mutter zu pflegen, wenn sie krank war, und für die vier Kinder zu sorgen. Sie verdiente die Riesensumme von einem Gulden (etwa 1,50 Mark damals) in der Woche. Vater gab ihr dieses großartige Gehalt jeden Samstag, aber oft stand es am darauffolgenden Mittwoch um die Finanzen so schlecht, dass Vater in die Küche ging und fragte: »Anna, hast du deinen Gulden noch?«
Immer hatte Tante Anna ihn noch, und oft wurde dafür an dem Tag das Essen für die Familie gekauft. Das war ganz gewiss »gesegnetes Geld«.
Dies war der Anfang meines reichen Erbes. Wenn ich an unser Familienleben denke, wird es mir klar, dass meine Eltern und die Tanten echte Lebenskünstler waren. Sie freuten sich des Lebens, und sie liebten Kinder.
»Wir haben nie so viel gelacht wie in der Zeit, als ihr Kinder klein wart«, sagte Tante Anna später oft.
Wir müssen in unsern Herzen etwas von diesem Lachen aufbewahrt haben, sodass es später wieder hervorkommen konnte, als man nicht viel Lachen in unserm armen, kleinen Lande hörte.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Im Jahre 1892, dem Jahr, als ich geboren wurde, traten die Niederlande in eine interessante und wichtige Epoche ein. Einige Jahre später sollte Wilhelmina als Königin gekrönt werden. Sie war damals erst 18 Jahre alt. Manches wies darauf hin, dass die Stabilität dieser letzten Jahre des 19. Jahrhunderts durch das Säbelrasseln der Deutschen schon bald ins Wanken kommen würde. Anfänge ausländischer Machtpolitik zeigten sich bereits, als der junge Kaiser Wilhelm II. das Land regierte, das später eine so große Rolle in meinem Leben spielen sollte.
Geschichte bedeutet einem Kinde nichts. Es war aber ein gewaltiges Ereignis, wenn es Mutter oder Tante Anna gelang, so viel Zucker und Butter aus einem Gulden zu holen, dass das herrliche Buttergebäck hergestellt werden konnte, das ich so gern mochte. Der Duft dieses Gebäcks drang wahrscheinlich bis in den Laden, und den Kunden lief dann wohl das Wasser im Munde zusammen, während wir in fröhliche Aufregung gerieten.
Als ich fünf Jahre alt war, lernte ich lesen; ich liebte besonders die Geschichten vom Herrn Jesus. Er gehörte für mein Gefühl zur Familie ten Boom – man konnte ebenso mit Ihm reden wie mit den Eltern, den Tanten oder Geschwistern. Er war da.
Eines Tages beobachtete Mutter mich, als ich in meiner kindlichen Fantasiewelt tat, als ob ich eine Nachbarin besuchen wolle. Ich klopfte an eine Tür und wartete … es kam niemand.
»Corrie, ich kenne jemand, der an deiner Tür steht und in diesem Augenblick anklopft.«
Spielte sie mit mir? Jetzt weiß ich, dass mein Herz schon für diesen Augenblick zubereitet war; der Heilige Geist macht uns bereit, Jesus Christus anzunehmen und unser Leben ihm zu übergeben.
»Jesus hat gesagt, dass er vor der Türe steht und anklopft, und wenn du ihn darum bittest, wird er in dein Herz kommen«, sagte Mutter weiter. »Möchtest du Jesus nicht bitten hereinzukommen?«
»Ja, Mama, ich möchte Jesus gern in meinem Herzen haben.«
Sie nahm meine Hand in ihre Hände, und wir beteten zusammen. Es war so einfach, und doch sagt Jesus Christus, dass wir alle wie Kinder kommen sollen, gleichgültig, wie alt wir sind und welches gesellschaftliche oder geistige Niveau wir haben.
Als mir Mutter später von diesem Erlebnis erzählte, konnte ich mich deutlich daran erinnern.
Weiß ein fünfjähriges Kind wirklich, was es tut? Manche Leute sagen, dass ein Kind geistliche Dinge nicht verstehen kann – dass man warten soll, bis es »selbst entscheiden kann«. Aber ich bin sicher, dass ein Kind Hilfe braucht und geführt werden muss.
Von jenem Augenblick an wurde Jesus eine größere Realität für mich. Mutter erzählte mir später, dass ich, so jung ich war, für andere zu beten begann.
Die Straße hinter unserem Haus war die Smedestraat. Es gab dort viele Lokale, und manches von dem, was dort geschah, machte mir Angst. Wenn ich draußen spielte, Seil sprang oder mit Nollie, meiner Schwester, knöchelte, sah ich oft, dass die Polizei die herumlungernden, betrunkenen Männer mitnahm.
Ich stand manchmal vor dem Polizeiamt hinter der Beje und sah, wie die betrunkenen Männer hineingeschoben wurden. Dann zitterte ich. Das Gebäude war aus dunkelrotem Backstein gebaut, und im Dachgeschoss waren Mansardenfenster mit kleinen Scheiben. Ob das wohl die Zellen waren?
Viele Jahre später wurden mein Vater, alle seine Kinder und ein Enkel in dasselbe Polizeiamt gebracht, weil wir Juden geholfen hatten, der Gestapo zu entkommen.
Als Kind hatte ich großes Mitleid mit den Verhafteten und lief dann schluchzend nach Hause: »Mutter … ich habe so Angst, dass man den armen Männern wehtut …, sie sind so unglücklich!«
Wie verständnisvoll war doch Mutter! »Bete für sie, Corrie!«, sagte sie.
Und dann betete ich für die Betrunkenen. »Lieber Herr Jesus, bitte, hilf den Männern … und, Herr Jesus, hilf allen Menschen in der Smedestraat.«
Viele Jahre später sprach ich im Fernsehen in Holland. Daraufhin bekam ich einen Brief, in dem stand: »Es interessierte meinen Mann ganz besonders, als Sie erzählten, Sie hätten in Haarlem gewohnt. Er wohnte in der Smedestraat. Vor drei Jahren hat er den Herrn als seinen Heiland angenommen.«
Ich las den Brief und dachte an die Gebete der kleinen Corrie. Dieser Mann, dessen Frau mir schrieb, war einer von denen, für die ich vor 76 Jahren gebetet hatte.
In späteren Jahren hatte ich einmal eine Freizeit mit Mädchen aus Haarlem. Eines Abends, als wir am Lagerfeuer saßen, sprachen wir von Jesus und unterhielten uns darüber, wie schön der vergangene Tag gewesen sei.
»Wissen Sie, dass ich eine Ihrer Nachbarinnen bin?«, fragte mich eins der Mädchen. »Ich wohne in der Smedestraat.«
»Ich habe bis vor fünf Jahren dort gewohnt«, sagte ein anderes Mädchen.
»Meine Mutter hat dort gewohnt«, sagte wieder ein anderes.
Wir mussten lachen, als wir entdeckten, dass alle 18 Mädchen, die in dem großen Zelt schliefen, entweder selbst oder dass ihre Eltern dort gewohnt hatten. Sie hielten das für einen amüsanten Zufall.
»Hört mal zu!«, sagte ich. »Ich erinnere mich jetzt an etwas, was ich fast vergessen hatte. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, betete ich jeden Tag für die Menschen in der Smedestraat. Dass wir nun von Jesus gesprochen haben und Gott mich sogar gebraucht hat, einige eurer Eltern zu erreichen, ist die Antwort auf ein Kindergebet. Zweifelt doch nie daran, dass Gott unsere Gebete hört, und wenn sie noch so ungewöhnlich sind.«
Wie oft denken wir, wenn ein Gebet nicht erhört wird, dass Gott »Nein« gesagt hat. In vielen Fällen hat Er einfach »Warte« gesagt.
Wenn wir sehr jung sind, ist die Zukunft so schwer zu begreifen. Mein Vater nannte in jedem Gebet ein und dasselbe zukünftige Ereignis. Das war mir rätselhaft. Ich wollte aber nicht danach fragen, wenn alle dabei waren. Deshalb wartete ich, bis Vater am Abend zu mir kam, um mich zuzudecken; nun konnte ich alles fragen.
»Vati, in jedem Gebet betest du: ›Lass den großen Tag bald kommen, wo Jesus Christus, Dein geliebter Sohn, auf den Wolken des Himmels wiederkommt.‹ Weshalb sehnst du dich nach diesem Tag?«
»Correman, weißt du noch, wie die betrunkenen Männer in der Smedestraat, die sich rauften, von der Polizei mitgenommen wurden? Die ganze Welt ist voller Streit. Vielleicht wirst du noch schlimmere Kämpfe in deinem Leben erleben als die, die du auf der Straße gesehen hast.«
Das hoffte ich nicht. Streitereien brachten mich ganz durcheinander.
»In der Bibel lesen wir, dass Jesus versprochen hat, auf diese Erde zu kommen, um alles neu zu machen«, fuhr Vater fort. »Die Welt ist jetzt von Hass erfüllt, aber wenn Jesus wiederkommt, wird die Erde von der Erkenntnis Gottes bedeckt sein wie der Meeresboden vom Wasser.«
Als ich mir diesen wunderbaren Tag vorstellte, verstand ich, weshalb Vater so oft darum betete. »O Papa, dann werden alle Menschen Jesus kennen! Wie froh werde ich sein, wenn Er kommt!«
Jahrzehnte später sprach ich in einer Versammlung und forderte die Eltern dazu auf, ihre Kinder zum Herrn Jesus zu führen. »Er hat gesagt: ›Lasst die Kinder und wehret ihnen nicht zu kommen; denn ihnen gehört das Himmelreich‹« (Matth. 19,14).
Dann erzählte ich, wie ich Jesus mit fünf Jahren angenommen hatte.
Nachdem ich gesprochen hatte, verließ ich das Podium und ging in ein Zimmerchen, wo ich einen Vater mit zwei kleinen Jungen auf den Knien sah. Der Vater hatte die Arme um die Schultern der Kinder gelegt. Ich zog mich leise zurück, während der Mann voller Liebe zu den Jungen sagte, dass sie nicht zu jung seien, um Jesus zu bitten, in ihr Herz zu kommen.
Später bekam ich einen Brief von einer Mutter, die mir erzählte, was jener Abend in ihrem Leben bewirkt hatte.
»Ich ging nach der Versammlung nach Hause und sofort zu meinem Töchterchen Mary. Sie lag im Bett. Sie wusste schon viel vom Herrn, denn sie ging in die Sonntagsschule. Aber an jenem Abend gab sie Jesus ihr Herz.
Am nächsten Morgen sagte sie: ›O Mutti, ich bin so froh, dass Jesus nun in meinem Herzen wohnt. Er hat mich zu einem Kind Gottes gemacht.‹ Sie sang fortwährend, ehe sie zur Schule ging, und ich wunderte mich, dass sie so viele Lieder über den Himmel sang.
Bei Marys Begräbnis kamen viele Kinder aus ihrer Klasse zum Glauben.«