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Yvette Z’Graggen

Kurz vor dem Regen

Aus dem Französischen
von Yla M. von Dach

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Die Autorin

Yvette Z’Graggen (1920–2012), aufgewachsen in Genf. Nach langjähriger Tätigkeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz war sie als Übersetzerin und als Mitarbeiterin von Radio Suisse Romande tätig. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. In der Folge publizierte sie zahlreiche Werke – Romane, Erzählungen und Hörspiele –, von denen etliche ins Deutsche übersetzt wurden. Für ihr Werk wurde Yvette Z’Graggen mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt sie 1951 für ihren Roman L’Herbe d’octobre (Oktobergras) und 1996 für ihr Gesamtwerk den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung sowie für die Erzählung Les Années silencieuses (Die Jahre des Schweigens) 1982 den Preis der Genfer Schriftstellergesellschaft. Ihr Roman La Punta wurde 1992 mit dem Prix des Auditeurs de la Radio Suisse Romande gewürdigt.

Die Übersetzerin

Yla M. von Dach, geboren 1946, lebt als freischaffende Übersetzerin und Schriftstellerin in Paris und Biel. Sie hat u. a. Nathacha Appanah, Nicolas Bouvier, Sylviane Chatelain, Catherine Colomb, François Debluë, Marie-Claire Dewarrat, Sandrine Fabbri, Alice Ferney, Janine Massard, Sylviane Roche, Catherine Safonoff, Henri Troyat und Alexandre Voisard übersetzt. Ihre Übersetzungen wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. erhielt sie 2000 den Prix lémanique de la traduction, 2016 den Terra Nova Preis Übersetzung der Schweizerischen Schillerstiftung und 2018 den Spezialpreis Übersetzung des Bundesamts für Kultur.

Titel der französischen Originalausgabe:

Juste avant la pluie

Copyright © 2011 by Editions de l’Aire, Vevey

E-Book-Ausgabe 2020

Copyright © der deutschen Übersetzung

2020 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverabbildung: Ferdinand Hodler, Der Genfersee von Chexbres aus (1905). Kunstmuseum Basel

eISBN 978 3 85787 980 7

Für meine Mutter, für meine Tochter,
für alles, was sie mir gegeben haben

Inhalt

Vorbemerkung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Marilou (L’Appel du rêve, 1939)

Michèle (La Vie attendait, 1944)

Françoise (L’Herbe d’octobre*, 1950)

Anne (Le Filet de l’oiseleur*, 1957)

Christine (Un été sans histoire*, 1962)

Cornelia (Cornelia*, 1985) und Florence (La Punta*, 1992)

Marie (Matthias Berg*, 1995)

Agnès (Un étang sous la glace*, 2002)

Vorbemerkung

Die weiblichen Figuren, an die ich mich im dritten Teil dieses Textes wende, stammen aus Büchern, die seit 1980 bei den Editions de l’Aire erschienen oder neu aufgelegt worden sind. Einzig Marilou, die Heldin aus L’Appel du rêve, ist nicht verfügbar, und dazu bedarf es einer kurzen Erklärung.

Ich habe diesen kleinen Roman mit neunzehn Jahren geschrieben, im Juli und August 1939, während der letzten grossen Ferien. In den Jahren danach bot ich, ermutigt vom Dichter Albert Rheinwald, der mir einst Literaturunterricht erteilte, dieses Manuskript mehreren Verlagen an, von denen es abgelehnt wurde. Schliesslich habe ich es in eine Schublade gesteckt und sozusagen vergessen. Denn ich hatte mit der Niederschrift von La Vie attendait begonnen: Im Gegensatz zum ersten Roman wurde dieser auf Anhieb vom damals populärsten Verlag, den Editions Jeheber, angenommen, bei dem er im März 1944 erschien.

Doch Fabien Perret-Gentil, der Gründer des Théâtre de Poche in Genf, bekam durch Zufall L’Appel du rêve in die Hände, und der Text gefiel ihm. Er beschloss, in einer kleinen Reihe, die er soeben ins Leben gerufen hatte, hundert Exemplare davon zu drucken. Der Roman erschien unter dem Pseudonym Danièle Marnan ein paar Monate nach La Vie attendait, das für mich mein erstes Buch bleibt. Von Marilous Geschichte gibt es vermutlich nur noch ein oder zwei Exemplare.

Dennoch bleibt diese allererste Romanheldin für mich repräsentativ für die Geistesverfassung, in der ich mich im Sommer 1939 befand, und für die Mentalität einer schon so weit zurückliegenden Epoche: Darum habe ich sie auf die gleiche Ebene gestellt wie meine anderen »papierenen Schwestern«, ohne dass dieser kleine und wirklich unzureichende Roman wieder neu aufgelegt worden wäre.

An dieser Stelle möchte ich mich bei Michel Moret, der meine schriftstellerische Arbeit seit mehr als dreissig Jahren kompetent und freundschaftlich begleitet, und bei Françoise Fornerod, die diesen Text mit wacher Aufmerksamkeit gelesen und wiedergelesen hat, in aller Herzlichkeit bedanken.

Y. Z.

1

September 2009. Europa erinnert sich. Im Fernsehen, am Radio folgen zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns Dokumentarfilme, Debatten und Gedenksendungen aufeinander. Die Augenzeugen jener Epoche, die den jungen Erwachsenen vorsintflutlich erscheint, werden immer seltener. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass ich damals schon da war, nicht einmal ein Kind, nein, ich war achtzehn, neunzehn Jahre alt und hatte das Leben noch vor mir, wie man gern sagt. Tatsächlich glaubte ich nicht, dass es Krieg geben würde: Der Krieg war eine Sache der Alten, und sie hatten geschworen, dass derjenige, den sie erlebt hatten, der allerletzte sein würde, la der des der*, wie sie sagten … Mistinguett und Josephine Baker tanzten, Chevalier sang, und trotz der Wirtschaftskrise, die wir durchgemacht hatten, stand die Zeit im Zeichen der Unbekümmertheit. Jenseits des Rheins liess Hitler sein Drohgebrüll vernehmen, doch wie schön, wie lieblich waren die Lieder, die der deutsche Rundfunk ausstrahlte!

Die Sendung, die ich vorhin gehört habe, illustriert jenen trügerischen Optimismus: In der Reihe Histoire vivante (Lebendige Geschichte) von Radio Suisse Romande wurde das Jahr 1938 in Erinnerung gerufen und das Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei ohne Skrupel den Nazis auslieferte. Chamberlain streckte jubelnd ein von »Herrn Hitler« unterzeichnetes Dokument in die Höhe, während Churchill, bereits allein gegen viele, sein berühmtes »You chose dishonour, and you will have war« in die Runde warf. (Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen.)

Wenn ich die Augen schliesse, beginnt in meiner Erinnerung ein kleiner Film zu laufen, ich sehe Schwarzweissbilder, die ich längst ausgelöscht glaubte.

Genf 1938, die Strassen, auf denen nur wenige Autos verkehrten, die Trams vorn mit einer offenen, Wind und Wetter ausgesetzten Plattform. Die Männer im dreiteiligen Anzug, Hut, steifer Kragen, die Frauen ebenfalls mit Hut, in einem von einer kleinen Damenschneiderin angefertigten Kleid, im strengen Tailleur. Die Kurzwarenhandlungen, wo man Faden, Nadeln und alle Arten von Knöpfen verkaufte. Läden, in denen man Stoffe auswählte, andere, in denen man Wollknäuel und Anleitungen fand, um Pullover, Handschuhe, Mützen selbst zu stricken. Die Restaurants, in die sich die Frauen selten allein hineinwagten, sogar am Morgen, um einen Kaffee zu trinken und das Journal de Genève oder La Suisse zu lesen. Kinos, es gab ihrer viele, vor denen man zu gewissen Zeiten mühelos sein Auto parken konnte.

Die Arbeiterviertel am rechten Rhoneufer und rund um die Kirche Saint-Gervais, dann, auf dem Hügel der Kathedrale Saint-Pierre zusammengedrängt, die schönen Wohnsitze der guten Gesellschaft. Das Collège Calvin, die Sekundarschule für die Knaben, und am anderen Ende der Stadt, an der Rue Voltaire, die Sekundarschule für die Mädchen und die Höhere Töchterschule.

Und dann die grossen Parks, die Quais und die beiden Strandbäder: jenes von Les Pâquis mit seinen drei Schwimmbecken, wo männliche und weibliche Badende voneinander getrennt waren, und am anderen Ufer Genève-Plage, das ein paar Jahre zuvor eingeweiht worden war, sein Sprungturm, seine Rasenflächen, seine noch schmächtigen Bäumchen, seine Sonnenschirme. Hier lernte man die Freiheit und die Unbeschwertheit kennen, die neue Lust, Wasser und Sonne auf der Haut zu spüren.

Auf den Strassen und in den Innenhöfen zu bestimmten Zeiten die Karren der Milchmänner, die die Milch nach Hause brachten, Messer- und Scherenschleifer, Wollkämmer für die Matratzen, durch Jutesäcke geschützte Männer, die die Hausfrauen mit grossen Eisblöcken belieferten, Liedersänger und Akkordeonisten, die darauf warteten, dass man ihnen vom Fenster aus ein in Seidenpapier eingewickeltes Geldstück zuwarf. Am Himmel kurvten kleine Flugzeuge – man hob den Kopf, um ihnen zuzusehen, und bedauerte, dass man den Zeppelin Hindenburg nicht mehr vorbeiziehen sah, der 1937 verbrannt war. Natürlich, sagten die alten Leute, heutzutage geht alles viel zu schnell.

Dabei war das Leben doch langsam, man hatte Zeit, zu reden, innezuhalten, Briefe zu schreiben, in denen man in allen Einzelheiten seinen Tag erzählte, lange Spaziergänge über Land zu machen, auf die Gefahr hin, unbemerkt die Grenze zu überqueren und sich plötzlich in Frankreich zu befinden.

Es war angenehm, so nah bei Frankreich zu leben und zugleich in einem Land, das der Sitz des Internationalen Roten Kreuzes und durch seine Neutralität geschützt war und dessen Berge ein unüberwindliches Hindernis bildeten. Selbst wenn der Krieg ausbrach, wie man es in diesem Sommer 1938 befürchtete, würden wir bestimmt von ihm verschont bleiben wie 14–18. Und das war nur gerecht, dachten wir: Die Schweiz hatte nie Kolonien gehabt, sie hatte keine Sklaverei betrieben, hatte sich aus allen Konflikten herausgehalten. Sogar Hitler würde jedes Interesse daran haben, unsere Grenzen zu respektieren, wenn es den Alliierten unglücklicherweise nicht gelingen sollte, seine Eroberungsgelüste zu dämpfen. Natürlich war das Leben in der Schweiz ein bisschen langweilig vor lauter Geruhsamkeit, es passierte nicht viel, ein Tag glich dem anderen, die jungen Leute hatten kaum Abwechslung und manchmal das Gefühl zu ersticken.

Was mich betraf, so hatte ich mich während meiner ganzen Kindheit und Jugend ins Schreiben und Lesen geflüchtet. Ich hatte mir Geschichten ausgedacht, die sich im Busch abspielten, in der Wüste, auf fernen Meeren; da war von der Jagd auf wilde Tiere, von Banditen und Schiffbrüchigen die Rede. Später hatte ich Colette, die englischen Romanautorinnen, Aldous Huxley, Roger Martin du Gard, Alain-Fournier, Lautréamont und viele andere gelesen. Wenn ich in die Hefte mit den schwarzen Wachstuchumschlägen Geschichten schrieb, in denen ich das Thema Liebe anzuschneiden wagte, dachte ich nie daran, sie in meinem Land anzusiedeln. In Frankreich, in Deutschland, gleichgültig wo, bloss nicht in der Schweiz. Gab es überhaupt Schweizer Schriftsteller? Ramuz natürlich, doch das war ein Sonderfall, man konnte ihn nicht zum Vorbild nehmen: Den Genfersee zu beschreiben, die Rebhügel, die Berge, die Sprache der Leute von hier nachzuahmen, das schien mir ausserhalb meiner Reichweite zu liegen, und ich sah keinen Sinn darin. Eigentlich war mir, das muss ich einfach zugeben, das Land, in dem ich lebte, gleichgültig. Vielleicht weil ich einen österreichisch-ungarischen Grossvater und Deutschschweizer Grosseltern hatte, die in einem entlegenen Dorf im Kanton Glarus wohnten und deren Sprache ich nicht verstand.

Auf meinem kleinen Bildschirm löst ein Bild das andere ab.

August 1938. Genève-Plage. Mama, noch sehr jung, mit Freundinnen im Gras sitzend, plaudernd, fröhlich, für ein paar Augenblicke von ihren Sorgen befreit. Und ich, achtzehn, glücklich, Ferien zu haben, bevor ich mein letztes Schuljahr und gleich danach das Leben, das wirkliche Leben in Angriff nehme. Ich habe einen Roman im Kopf, den ich schreiben will, sobald die Matura hinter mir liegt, und der sicher besser sein wird als die, die ich bisher entworfen habe. Ich fühle mich reif für die Liebe, für ein Abenteuer, selbst ein gefährliches.

Und da ist eben gerade Alex. Er ist zwanzig. Gross, athletisch, braungebrannt, blondes Haar, blaue Augen. Schön wie der Legionär, von dem Marie Dubas singt. Ich betrachte ihn von ferne, überzeugt, dass er mich nicht beachten wird. Ich finde mich nicht hübsch, ein bisschen zu dick, mit einem etwas zu starken Hohlkreuz, etwas zu kurzen Beinen. Es gibt viele bezaubernde junge Mädchen am Strand, aber – durch welches Wunder, ist mir ein Rätsel – ich bin es, mit der er die paar Tage bis zu seiner Rückkehr nach Berlin zu verbringen gedenkt. Wir schwimmen zusammen, sitzen stundenlang auf dem Floss, mit Blick zum Jura hinüber, Füsse im Wasser, Schulter an Schulter, liegen Hand in Hand auf dem Rasen. Seine Haut ist zart, warm, ich fühle mich gut. Er erzählt mir auf Deutsch von seinem Studium in Potsdam, er will Berufsoffizier werden. Ich sage, ich hoffte, weiterhin zu schreiben, meinen Lebensunterhalt vielleicht mit dem Verfassen von Romanen zu verdienen. Wir sprechen nicht vom drohenden Krieg, vor allem nicht von Hitler und vom Nationalsozialismus.

Die Deutschen sind zurzeit bei fast allen verhasst und gefürchtet. Ich bin stolz, gegen den Strom zu schwimmen.

Eines Nachmittags, kurz vor Alex’ Abreise, gehen wir auf der Kursaalterrasse tanzen. Die Fontäne, die Rade, die Savoyer Alpen sehr nahe, denn es herrscht Föhn. Der zu blaue Himmel. Das kleine Orchester. Alex, elegant, graue Hose, weisses Hemd, Blazer. Ich in meinem von unserer Schneiderin abgeänderten Kommunionkleid. Die Entdeckung des Begehrens. Kummer bereits über den so nahen Abschied.

Der Pont du Mont-Blanc am späten Nachmittag. Alex hält meine Hand, er ist mein erster Verehrer, aber auch der grosse Bruder, der starke Beschützer, von dem ich oft geträumt habe, als ich noch klein war.

In der Nacht nach diesem »Tanztee« kann ich nicht schlafen. Ich stütze mich mit den Ellenbogen aufs Balkongeländer. Zu dieser Zeit kommt kein Tram mehr, dieses Tram, auf das wir abends oft warten in der Hoffnung, meinen Vater aussteigen zu sehen. Es sind auch fast keine Autos mehr unterwegs. Alles ist ruhig, still. Trotz der Stadtnähe duftet die Luft nach Erde, nach Gras. Der Föhn, der Regen ankündete, hat sich gelegt, Sterne blinken am Himmel, vielleicht wird das Wetter morgen schön, an Alex’ vorletztem Ferientag. Wenn nicht, wie werden wir uns treffen? Wir haben unsere Genfer Adressen noch nicht ausgetauscht. Der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, ist unerträglich. In der Phantasie wage ich, was ich in Wirklichkeit noch nie getan habe. Ich liebkose seine Wangen, seinen Hals, seine Brust, ich nehme mir Zeit, um die Wärme und Zartheit seiner Haut besser zu spüren. Auch er liebkost mich langsam, zum ersten Mal die Hände eines Mannes auf meinem Körper, ich wusste nicht, dass man dabei eine solche Lust empfinden kann. Ich klammere mich fester ans Balkongeländer, schliesse die Augen. Er ist da, legt mir den Arm um die Schultern, er sagt leise, dass er mich liebt. Und dann, wie vorhin auf der Kursaalterrasse, drückt er mich an sich. Meine Wange liegt an seinem Hals, ich spüre eine Ader pochen, er ist da, lebendig, und vielleicht wird er in einigen Wochen an der Front sein, mit seiner Division, wie sagte er noch, Panzerdivision, das ist es, Panzer, das Wort habe ich noch nie gehört, und es kommt mir bedrohlich vor. Doch warum hat er sich zu einer Militärkarriere entschlossen? Auf meine Frage hat er lakonisch gemeint, das sei in seiner Familie wie in so vielen Familien aus dem preussischen Adel Tradition.

Die Genfer Nacht, so friedlich. Rings um mich das schlafende Europa. Ich öffne die Augen und merke, dass sie voller Tränen sind, mein Gott, beginne ich diesen Jungen, von dem ich kaum etwas weiss, wirklich zu lieben?

Am nächsten Tag ist das Wetter nochmals schön. Der Wind hat wieder zu blasen begonnen, das Blau des Himmels wird immer aggressiver, und ein paar weisse Streifen, fast unsichtbar, künden Regen an. Natürlich ist Alex da. Wir strecken uns wie gewohnt auf dem Rasen aus, um uns summen die Bienen. Dann schwimmen wir um die Wette, ich freue mich, denn ich lasse mich nicht abhängen und kann wie Alex unter der Wasseroberfläche verschwinden und mit langen Stössen weiterschwimmen, um an einer Stelle wieder aufzutauchen, an der mich niemand erwartet. Schwimmen und Schreiben, das immerhin kann ich.

Als wir am Strand wieder festen Fuss fassen, schlägt Alex mir vor, uns anderswo niederzulassen. Wo denn? Du wirst sehen. Er führt mich sehr weit weg, dorthin, wo die Kabinenreihen enden und kieloben ein paar frisch gestrichene Boote trocknen. Hier, sagt Alex und zeigt auf ein kleines sandiges Plätzchen hinter den Booten. Er breitet sein Badetuch aus. Ich mache es ihm folgsam nach.

Ich bin neugierig auf das, was kommt, mein Herz pocht heftig, und ich habe Mühe zu atmen. Wir bleiben einen Moment nebeneinander liegen, ohne zu sprechen. Der Geruch eines Gartenfeuers von der anderen Strassenseite, das entfernte Brummen fahrender Autos auf dem Quai. Der Strand scheint verschwunden zu sein, wir sind allein in einem Niemandsland, das nur uns gehört. Ich schliesse die Augen, ich denke an meinen Balkon von gestern Abend, an mein Verlangen nach Liebkosungen. Alex beginnt mich auf den Mund zu küssen, sanft zunächst, dann mit einer Heftigkeit, die mir sogleich Angst macht. Seine Zunge versucht mit Gewalt, die Sperre meiner Zähne zu durchbrechen, in meinen Mund einzudringen. Geht das wirklich so, küssen sich Männer und Frauen wirklich auf diese widerliche Art und Weise?

In mir ist jede Spur von Begehren, ja sogar von Zärtlichkeit verschwunden. An ihrer Stelle wächst eine irrationale Angst, die sich in eine regelrechte Panik verwandelt.

Ich bin unfähig zu denken.

Fast unbeabsichtigt, brüsk, mache ich mich frei und sage irgendwas, eine wichtige Verabredung, die ich vergessen hätte, meine Mutter warte auf mich, Verzeihung, tut mir leid.

Ich renne fast beim Weglaufen.

Mama ist am anderen Ende des Strandbads, sie sitzt wie gewohnt im Kreis ihrer Freundinnen. Mich dünkt, sie grinsen alle, wie sie mich näher kommen sehen, bleich und zerzaust wahrscheinlich, völlig durcheinander.

»Ich möchte nach Hause, bitte.«

»Wart einen Augenblick, setzt dich, es wird sowieso bald regnen.«