Dieser Vortrag ist gleich, nachdem er gehalten war, in der "Beilage zur Allgemeinen Zeitung", Nummer 105-107, veröffentlicht worden. Die mündliche Rede ist in der gedruckten wortgetreu wiedergegeben, aber diese enthält einige Ausführungen (darunter sämmtliche unter dem Text befindliche Bemerkungen), die in jener um der Kürze willen weggeblieben sind.
Ich habe eine falsche Vorstellungsart darzuthun, zu erklären und zu entkräften gehabt und diese Aufgabe mit völliger Sachlichkeit, ohne jede persönliche Polemik erfüllt, sogar in der mündlichen Rede geflissentlich keinen der Namen genannt, welche der deutschen Gegenwart angehören.
Der jüngste und in gewissem Sinn gründlichste Vertreter der "Bacon- Theorie" hat am Schlusse seines Buchs erklärt, daß ich zwar ein rühmliches Werk über Bacon geschrieben, aber "ohne eine Ahnung zu haben, daß «die Vermehrungen der Wissenschaften» im «Shakespeare» zu finden sind". Durch ein solches Urteil durfte ich mich wohl herausgefordert fühlen, entweder diese "Ahnungen" mir anzueignen oder nachzuweisen, daß sie nichts sind als eitle Träumereien. Dies ist in einem der letzten Theile meines Vortrags geschehen.
Heidelberg, im Mai 1895.
Als mir die ehrenvolle Aufforderung zu Theil wurde, in der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft zu Weimar am heutigen Tage die Festrede zu halten, war jüngst ein stattliches, bilderreiches, kostbares Werk erschienen, das unter den litterarischen Tagesereignissen viel von sich reden machte und, obwohl seitdem fast ein Jahr verflossen ist, doch in unserer raschlebigen Zeit noch keineswegs zu den Verschollenen gehört. Es trug die Aufschrift "Das Shakespeare-Geheimniß" und darunter das Brustbild eines Mannes, das allen Lesern sogleich das Geheimniß verkünden und zurufen sollte: "Ich bin es! So sah der Mann aus, der Romeo und Julia, Hamlet, Lear und Othello, Julius Cäsar, Coriolan u. s. w. gedichtet hat!" Das Bild aber war der Kopf Bacons nach einem Portrait, welches ein niederländischer Maler im Jahre 1618 von dem damaligen Großkanzler Englands gemalt hat. [Fußnote: Edwin Bormann. Das Shakespeare-Geheimniß. Leipzig, E. Bormanns Selbstverlag. 1894.]
Wie die Wahrheiten, so müssen auch die menschlichen Irrthümer, sobald sie einmal die öffentliche Bahn betreten haben, alle Stadien der Begründung durchlaufen, bis jene ihre Sache völlig gewonnen, diese aber die ihrige völlig verloren haben. Die sogenannte "Bacon-Theorie", nämlich die Ansicht, daß der Verfasser der nach Shakespeare genannten weltberühmten Dichtungen nicht William Shakespeare, sondern Francis Bacon sei, blickt heute auf eine fast vierzigjährige litterarische Laufbahn zurück. Keine litterarische Controverse hat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein breiteres Aufsehen erregt und mehr Federn in Bewegung gesetzt, als diese Streitfrage, von der früher wohl niemand geglaubt hätte, daß sie jemals ernstlich gestellt werden könnte.
Freilich soll A. Gfrörer, damals Bibliothekar in Stuttgart, schon vor mehr als fünfzig Jahren mündlich geäußert haben, daß nach einem halben Jahrhundert von William Shakespeare die Rede sein werde, wie in der neueren Geschichtsforschung von Wilhelm Tell. Indessen war Gfrörer kein Prophet und ein Mann von äußerst wandelbaren Meinungen. Aus einem sehr ungläubigen Protestanten, wie er damals war, wurde er zehn Jahre später ein sehr fanatischer Katholik (1853).
Schon im Jahre 1884 hatte sich über die Bacon-Shakespeare-Controverse eine solche Masse von Litteratur in größeren und kleineren Schriften angehäuft, daß ihre Zahl auf 255 gestiegen war. Davon waren 161 amerikanischen, 69 englischen Ursprungs; 117 hatten sich für die Autorschaft Shakespeares erklärt, 73 dawider. Im Jahre vorher (1883) waren allein 61 Schriften über die Frage erschienen [Fußnote: Bibliography of the Bacon-Shakespeare Controversy. By W. H. Wyman. Cincinnati, P. G. Thomson. 1884.]
Es ist kein uninteressantes, auch kein der Aufmerksamkeit der Shakespeare-Freunde und -Forscher unwürdiges Thema, den Ursprung, die Art der Entstehung und Fortpflanzung einer so seltsamen, so irrigen und gegenwärtig so verbreiteten Vorstellungsweise näher ins Auge zu fassen und auf ihren Grund, ihre Beweisarten und ihre Resultate zu prüfen. Wie ist es gekommen, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts der Kritik, wie man das unsrige mit Recht genannt hat, mit einem Male die Idee von einem "Shakespeare- Mysterium" auftaucht, daß man Bücher über den "Shakespeare-Mythus" schreibt, welche beweisen wollen, daß der Dichter William Shakespeare eine mythische Figur sei, die als "den süßen Schwan vom Avon" Ben Jonson nur zum Schein besungen und verherrlicht habe? In Wahrheit sei dieser William Shakespeare ein Bauernjunge aus Warwickshire, ein roher und gemeiner Fleischergeselle in Stratford gewesen, der nach einer Reihe thörichter und schlechter Jugendstreiche, nach einer eiligen und unglücklichen Heirath, nach Wilddiebereien und boshaften Pamphleten gezwungen war, seine Vaterstadt zu verlassen; flüchtig, arm und verlumpt sei er nach London gekommen, bei den Theatern an der Themse erst Pferdejunge, dann Theaterdiener, Statist, Schauspieler, zuletzt Theaterdirector oder Unternehmer geworden und habe als solcher die Stücke anderer bearbeitet, in Scene gesetzt und aufgeführt. Als ein kluger und betriebsamer Geschäftsmann, der er war, habe er auf diesem Wege viel Geld verdient, seinem heruntergekommenen Vater und dadurch sich selbst ein Wappen erworben, seine Capitalien in Grundbesitz, namentlich in Stratforder Häusern, Ländereien und Renten angelegt. Der Name Shakespeare bedeute demnach nicht den Autor, sondern den Bühnenbearbeiter und Regisseur, den Eigenthümer und Herausgeber, gewissermaßen die Firma jener hochberühmten Schauspiele, welche die Shakespeare-Dramen heißen, und deren erste Gesammtausgabe sieben Jahre nach dem Tode Shakespeares erschien.
Dies ist kurz gefaßt der Kern des sogenannten Shakespeare-Mythus, wie denselben Appleton Morgan, ein amerikanischer Advocat, in seinem Buche darüber auszuführen gesucht hat (1881). Wer waren nun die Verfasser der Stücke? Einer oder Viele? Bekannte oder unbekannte Männer? Nach Morgans Ansicht waren es viele, bekannte und unbekannte. Es mag manche dunkel gebliebene Gelehrte gegeben haben, deren Feder der findige Unternehmer gebraucht hat. Wer weiß, wie sie hießen und in welchen Dachstübchen Londons sie verkümmern mußten! Einer der Verfasser von bekannter Größe sei Bacon gewesen.
Weil aber ein Orchester die Symphonie nicht macht, sondern das Werk ausführt, welches ein Einziger erzeugt hat, so könne der Verfasser der Shakespeare-Dramen auch nur einer gewesen sein. Dieser eine war Bacon: so lautet die ausgemachte Bacon-Theorie.
1. Der Beweis aus dem Mangel aller Beweise.
Da nun alle urkundlichen Zeugnisse irgend eines Zusammenhanges zwischen Bacon und Shakespeare gänzlich fehlen, so haben die Baconianer, wie man sie nennt, aus der Noth eine Tugend gemacht und den völligen Mangel aller sachlichen Beweise für den Beweis der Sache ausgegeben: so geflissentlich und so gründlich habe Bacon alle Spuren vertilgt, die seine Autorschaft hätten verrathen können! Da er von einer gleichzeitigen Größe, wie Shakespeare, hätte reden müssen, nirgends aber geredet hat, so habe er absichtlich aus tief versteckten Gründen geschwiegen, welche letztere sich der eindringenden Nachforschung daraus erklären, aber auch nur daraus: daß er selbst Shakespeare war! Alle urkundlichen Gegenbeweise aber, deren es viele und unumstößliche giebt, gelten für Schliche und Machinationen, um die Autorschaft Bacons zu verbergen und die Welt zu dupiren.
Niemals, solange es eine historische Kritik giebt, hat man dem Mangel aller Urkunden und Zeugnisse eine solche Beweiskraft zugeschrieben. Ueber Bacon, den Dichter der Shakespeare-Dramen, herrscht ein absolutes Schweigen, er ist in den Schleier des tiefsten Geheimnisses gehüllt: darin besteht das Bacon-Geheimniß. Wo sich aber ein Mysterium findet, da werden wohl auch die Mythen nicht ausbleiben.
2. Bacon und Shakespeare.