Deutsch von Maria von Borch
Man nannte Ella gewöhnlich „die mit dem Zopf“. Aber wie dick der Zopf auch war, — hätte ihn eine getragen, die minder hübsch, minder freundlich und unbefangen gewesen, so würde kaum jemand ihn bemerkt haben; das muntere Leben, das er da hinten für sich allein lebte, wäre dann mit Schweigen übergangen worden. Und das, trotzdem er der dickste Zopf war, den irgend jemand dort in der kleinen Stadt je getragen hatte. Vielleicht nahm er sich auch stärker aus, als er war, weil Ella selbst klein war. Wie weit er hinunter reichte, kann man nicht gut sagen; er reichte ein gutes Stück bis unter die Taille, ein sehr gutes Stück sogar. Seine Farbe war unbestimmt, und folglich auch unnennbar. Sie fiel ein wenig ins Rötliche; aber dort in der Stadt pflegte man zu sagen, er sei blond, und dabei können wir ja bleiben, da wir die Mittelfarben nicht besonders zu bezeichnen pflegen. Das Gesicht zeichnete sich durch seine weiße Haut aus, war hübsch geformt mit geraden Zügen von der Stirn bis zum Kinn, hatte einen kurzen, aber vollen Mund und selten unbefangene Augen. Sie hatte bei ihrer Kleinheit eine starke Figur, aber etwas zu kurze Beine; um so schnell vorwärts zu kommen, wie sie ihrer Natur nach mußte, hatte sie sich einen raschen Trab angewöhnen müssen. Dies Rasche hatte sie übrigens bei allem, was sie vornahm, und daher hatte der Zopf es auch wohl eiliger, als Zöpfe es gewöhnlich haben.
Ihre Mutter war die Witwe eines Beamten, hatte ein kleines Vermögen neben ihrer Pension und wohnte in ihrem eigenen kleinen Hause, dem Hotel gegenüber, gleich am Marktplatz der Stadt. Sie war eine von den Stillen; der Mann war ihre Bestimmung, ihr Stolz, ihr Licht gewesen. Als sie ihn verlor, wich der Lebensmut von ihr; sie kroch in religiösen Grübeleien in sich zusammen. Da sie aber nicht herrschsüchtig war, ließ sie ihr einziges Kind der eigenen Natur folgen, welche der des Vaters glich. Die Mutter verkehrte mit niemandem, als mit einer älteren Schwester, die auf einem großen Gute, ein Stück von der Stadt entfernt, ansässig war; aber Ella durfte Gefährtinnen von der Schule, von Bootfahrten, vom Schlittschuhlaufen, Skifahren, ins Haus bringen; diese blieben übrigens beständig dieselben. Ihrer Wahl haftete eine angeborene Vorsicht an, ihre Lebhaftigkeit wurde durch den Umgang mit der Mutter und die Stille des Hauses gedämpft. Es lag also in ihr, daß sie munter und leicht, ohne Lärmen, war — ziemlich unbefangen, aber mit Herrschaft über sich, und daher achtsam.
Um so wunderlicher war das, was ihr passierte, als sie im Heranwachsen war, so ungefähr vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Sie begleitete ein paar Freundinnen in ein Konzert, das der Gesangverein der Stadt und ein paar Dilettanten zu Weihnachten für die Armen gaben. In diesem Konzert sang Axel Aarö „Schlaf in Ruh!“ von Möhring. Wie allgemein bekannt, leitet ein gedämpfter Männerchor den Gesang ein; er breitet Mondenschein vor ihm aus, und immer mehr Mondenschein, und darin kam Aarö’s Stimme mit langen Ruderschlägen daher. Die Stimme war ein voller, runder Baßbaryton, an dem die Leute großes Behagen fanden. Ohne Riß und ohne Fehl, hätte man ihn gerade wie eine Schnur von dort nach Wien spannen können. Aber Ella hörte aus dieser gleichmäßigen Stimme noch eine zweite heraus, einen Nebenklang von Schwäche oder Schmerz, und sie meinte, alle müßten ihn hören. Eine Bewegung im innersten Innern, eine rührende Vertraulichkeit, die sie ums Herz faßte und sagte: „Trauer! O Trauer ist das Los meines Lebens! Ich kann nicht dafür, ich bin verloren!“ Ehe sie sich’s versah, war sie nahe am Weinen. Etwas Eindringlicheres als diese Stimme war ihr noch nicht vorgekommen. Von Ton zu Ton stieg es: sie verlor die Macht über sich und merkte es nicht. Er stand dort so hochgewachsen, schlank, der blonde, weiche Bart fiel auf die Brust herab; der Kopf war klein mit großen, schwermütigen Augen, Geschwistern der Stimme; auch auf dem Grunde der Augen lag etwas, das sagte: „Trauer, Trauer!“ Diese Schwermut in den Augen hatte sie vorher schon gesehen, hatte aber nicht gewußt, was sie sah, bis jetzt, wo sie die Stimme hörte. Und die Thränen wollten heraus. Sie durften nicht. Sie sah sich um; sonst weinte niemand; sie preßte die Zähne zusammen, drückte die Arme an den Körper und die Kniee zusammen, so daß es schmerzte, ja, sie bebte. Weshalb in aller Welt mußte dies gerade ihr und keinem andern geschehen? Sie drückte das Taschentuch an den Mund und jagte ihre Gedanken hinaus bis an die äußerste Scheereninsel, wo sie den Leuchtturm hatte aufleuchten und wieder verlöschen und die See jedesmal voll Gespenster gesehen hatte. Aber nein! Sie kehrten wieder zurück zu ihr, dort wollten sie nicht bleiben. Das Taschentuch, die Hände, warnende Augen vermochten das erste Schluchzen nicht aufzuhalten, das hervorbrach! Vor den entsetzten Augen aller stand sie auf, kam schnell und behende hinaus und ließ sich dort gehen. Niemand folgte ihr, niemand wagte, sich zu ihr zu bekennen.
Du, der du dies liest, begreifst du, wie entsetzlich es war? Warst du einmal in solch einem — beinahe hätte ich geschrieben, „stillen“ Konzert in einer norwegischen Küstenstadt von halb pietistischer Zucht? Männer sind beinahe keine da; entweder liegt die Musik den Männern in den Küstenstädten nicht, oder sie sind hier im Klub in einem andern Raum — am Billard, am Kartentisch, in der Restauration, bei Punsch und Zeitungen. Einige von ihnen sind einen Augenblick heraufgekommen und stehen hinten an der Thür; stehen wie Leute, die zum Hause gehören und sich die Gäste ein wenig ansehen wollen. Oder es sitzt wirklich hie und da eine Mannsperson auf der Bank, und ist zwischen die buntscheckige Unterrocks-Rinde eingeklemmt wie ein abgebrochener Zweig; oder es sind ein paar Exemplare an der Wand entlang festgeklebt wie vergessene Paletots.
Nein, was sich zum Konzert einstellt, das sind die Harems der Stadt. Die älteren Einwohnerinnen der Harems, um unter holdem Text und beweglicher Musik noch einmal wieder zu träumen, was sie einst selbst zu sein geglaubt, und was sie damals glaubten, daß ihrer harrte. Dort oben kennt man sie eigentlich besser, als hier unten; wenn auch ein bißchen Küchengeruch, ein wenig Hauslärm in die Träume hineinschlägt — das stört nicht.
Die jüngeren Bewohnerinnen des Harems träumen, daß sie so sind, wie die älteren gewesen zu sein glauben und daß sie sicher ein wenig von dem erreichen werden, was die älteren nicht erreichten. Sie wissen gut Bescheid über das Leben. In einem gleichen sich beide Alter, sie sind von praktischer Abstammung in kleinen Verhältnissen; sie trauen sich nicht zu weit fort. Sie sind so vollkommen darüber im Reinen, daß das Leuchten, welches aus dem Text und den Tönen größerer Geister auf sie herabfällt, nicht vollständig Ernst ist, sondern ein bißchen „von allem möglichen“.
Wenn daher eine einzelne es allzu ernst nimmt und anfängt zu flennen — du lieber Gott, im frivolen Leben nennt man es Albernheit, im öffentlichen heißt es, sich bloßstellen.
Ella hatte sich bloßgestellt.
Ihr eigener Schrecken kannte kaum irgendwelche Grenzen. Von allen Mädchen, mit denen sie verkehrte, war sie diejenige, der die Tränen am schwersten kamen, davon war sie überzeugt. Sie fürchtete es wohl so gut wie irgend eine, daß man sie ansah und besprach. Was in aller Welt war daher dies? Sie liebte Musik, sie spielte Klavier; aber für besonders musikalisch begabt hielt sie sich nicht. Weshalb mußte denn gerade sie so seltsam von einem Gesang gepackt werden?
Was mußte er von dem halberwachsenen Mädel denken? Dies letztere quälte sie am meisten. Hierüber wagte sie sich zu keiner lebenden Seele auszusprechen. Das Erstaunen der meisten begnügte sich damit, daß sie krank gewesen sei; sie blieb eine Zeitlang nachher auch zu Hause und war bleich, als sie wieder ausging. Die Freundinnen neckten sie, aber sie ließ es unbeachtet.
In diesem Winter wurden mehrere Kinderbälle abgehalten. Der vierte in der Reihe war bei „Arnesens an der Ecke“, und Ella war auch dort. Der Ball war bis zum Ende der zweiten Française gekommen, als sie flüstern hörte: „Axel Aarö! Axel Aarö!“ Und da stand er in der Thür mit drei andern jungen Herren hinter sich. Die Hausfrau war seine ältere Schwester. Die vier jungen Herren kamen von einer Spielgesellschaft; sie wollten zusehen.
Ella fühlte, daß sie wie mit Glut übergossen war; zugleich fühlte sie eine Schwäche in den Knieen, als wollten sie zusammenknicken. Sie begriff es nicht recht, fühlte aber große Augen auf sich gerichtet. Sie war ganz in eine Falte ihres Kleides vertieft, die nicht in derselben Linie fiel wie die anderen, da stand er vor ihr und sagte: „Sie haben doch einen herrlichen Zopf.“ Die Stimme überschüttete diesen gleichsam mit Goldstaub. Er hob die Hand, als wolle er ihn berühren, statt dessen aber führte er sie an seinen Bart. Als er ihre tiefe Verlegenheit bemerkte, wollte er nicht länger stehen bleiben und wandte sich ab.
Später fühlte sie seine Blicke noch mehreremal; aber er kam nicht mehr zu ihr. Die andern Herren nahmen teil am Tanz, Aarö tanzte nie. Er hatte etwas im Wesen an sich, das in seiner Weise das Angenehmste war, was sie kannte. Eine zurückhaltende Vornehmheit, ein Stil im Auftreten, eine rücksichtsvolle, langsam zögernde Art, wohl auch die einzige Art, die sie verstanden haben würde. Sein Gang machte den Eindruck, als halte er die Hälfte seiner Kraft zurück, und so war es in allem. Er war hochgewachsen; der kleine, etwas schmale Kopf saß auf einem ziemlich hohen Hals, die Schultern waren nicht breit; aber bis jetzt hatte sie nie die Weise beachtet, wie er Kopf und Oberkörper drehte, noch hatte sie gewußt, daß etwas beinahe Musikalisches darin liegen könne.
Was hiernach geschah, und das Zimmer, in dem es geschah, alles floß zusammen in Licht. Aber mit einem Mal war es nicht mehr so. Gleich darauf hörte sie auch: „Wo ist Axel Aarö? ist er fortgegangen?“
Er war in diesem Winter nicht lange zu Hause. Er war zwei Jahre in Havre gewesen und kam gerade von dort; nun wollte er auf zwei Jahre nach Hull.
Bis jetzt war die Musik eine liebe Beschäftigung für Ella gewesen; besonders hatte sie Harmonieen geliebt und sie gesucht. Jetzt gab sie sich den Melodieen hin. Sie hatte dem Klange gelauscht und sich darin versucht. Jetzt wurde die Musik zur Sprache. Sie selbst sprach darin, oder jemand sprach zu ihr.
Außer all den Leuten, die in einer Gesellschaft waren, war von jetzt ab immer noch einer da. Nie mehr allein, nicht auf der Straße, nicht zu Hause. Und der Zopf war das heilige Zeichen geworden.