Die Mannschaft in Gallaghers Lager war nur klein. Acht Paar Fäuste außer Boß und Koch.
Die weitabgelegene und eng begrenzte Waldfläche, die sie abzuholzen hatten, lag in dem Tal, in dem der wilde Ottanoonstrom aus einem Teich entspringt. Aus unerforschlichen Gründen haben die Holzfäller es das »Zwei-Seen-Tal« genannt. Heute, es war heiliger Abend, war viel Unzufriedenheit im Lager, die der große Tim Gallagher, der wohlwollende Boß, nicht beruhigen konnte. Selbst Jimmy Dillyhunt, der findige Koch, wurde ihrer nicht Herr, so beredt er auch den Plumpudding schilderte, den er für morgen vorbereitete. Einen Plumpudding mit viel Rosinen, der in heißer, würziger Sauce dampfte! Was die Jungens brauchten, war frisches Fleisch. Das ewige: Salzfleisch, Pökelfleisch, Salzfleisch, Pökelfleisch hatten sie satt bis zum Hals. Sie hatten für Weihnachten auf Gänsebraten gerechnet und zwar auf viel. Und wenn es nicht Gans war, dann frischen Rostbraten, recht blutig und saftig und braune Sauce dazu, soviel, daß die Kartoffeln drin schwammen.
Und jetzt wieder Pökelfleisch! Anscheinend gab es davor kein Entrinnen.
Der kleine Pat Nolan brachte das Empfinden Aller zum Ausdruck, als er brummte:
»Wenns nicht eine Sünde wär', möchte ich sagen, daß ich Schweine hasse! Ich habe soviel davon im Bauch, daß ich im Schlafen schon grunze!«
Der Boß hatte keine Schuld, noch viel weniger Jimmy Dillyhunt. Ein ganz unerwarteter Schneefall, Sturm auf Sturm, Orkan auf Orkan hatten die Waldwege plötzlich so tief vergraben, daß man aus den weitabgelegenen Bauernhöfen keine frischen Vorräte beziehen konnte. Wann diese Vorräte, frisches Fleisch und Gemüse, die Zufriedenheit und gute Laune in den Holzfällerlagern erhalten, zu beschaffen waren, wußte niemand.
Um die Geschichte noch schlimmer zu machen, waren die großen Seeforellen, die das Jahr zuvor noch den Zwei-Seen-Teich bevölkerten, durch eine Bande von Dynamitwilderern glatt ausgerottet worden. Um allem die Spitze aufzusetzen, waren Elen und Renntier anscheinend in Geschäfte verwickelt, die sie irgendwo anders festhielten. Während der letzten vier oder fünf Tage waren zwei der Männer immer unterwegs, um ein Elen oder Renntier zu schießen oder vielleicht einen Bären im Winterschlaf zu erlegen. Aber nicht ein armseliges Kaninchen hatten sie nach Hause gebracht.
An diesem Nachmittage also hatten die Burschen zeitig aufgehört zu arbeiten, um den heiligen Abend zu feiern und sich recht bequem und behaglich ihrem Mißvergnügen zu überlassen. Um den warmen Ofen gelagert, oder schlemmerhaft in die Koje verkrochen, verwandten sie alles was sie an Geist besaßen, darauf, Tim Gallagher, den Boß, zu necken, oder auf dem fleißigen und vielgeplagten Jimmy Dillyhunt herum zu hacken.
Mit dieser Art Zeitvertreib schafften sie sich ein bißchen Aerger vom Herzen. Es war wirklich unterhaltend, zu sehen, wie Jimmy sich beim Brotkneten in Hitze bringen ließ, wie er endlich sein mehlverkleistertes Gesicht zeigte und schreckliche Beleidigungen gegen die Vorfahren seiner Gegner ausstieß, oder wie er die beiden teigigen Fäuste hob, auf und ab sprang und jeden seiner Quäler zum blutigen Boxkampf herausforderte. Da Jimmy nicht nur ein erstklassiger Boxer, sondern vor allem ein mehr als vorzüglicher Koch war, wurden diese Kämpfe aber immer in elfter Stunde durch eine Entschuldigung verhindert. Man durfte es nicht zulassen, daß ein Koch wie er sich ernsthafter Gefahr aussetzte.
Der Boß seinerseits wurde aus zwei gewichtigen Gründen niemals wütend. Erstens war er verträglich und liebte es, wenn die Jungens ihren Spaß hatten, selbst auf seine Kosten. Außerdem hatte kein Mensch die Absicht, ihn wirklich zu ärgern. Es war eine weit verbreitete und tief begründete Ueberzeugung: wenn Tim Gallagher wirklich einmal wütend würde, wäre es für jemand sehr unangenehm – und dieser jemand würde nicht Tim sein.
Wenn also wirklich einmal (es geschah nicht oft) die Neckerei der Jungens ihm unangenehm wurde, legte der Boß sein verwittertes Gesicht in gewisse Falten, und sofort verlor selbst Eph Babcock jeden Stachel. So sehr auch Tim Gallaghers Autorität angetastet werden konnte: es genügte, daß er ein ernsthaftes Gesicht machte, sie wieder aufzurichten. An diesem heiligen Abend aber fanden die Burschen, obwohl sie nur ins Lager gekommen waren, um zu schimpfen, daß selbst Schimpfen und Jimmy ärgern seinen Reiz verlor. Der lange Eph und Evan Morgan, die an diesem Morgen gejagt hatten, waren mit leeren Händen zurückgekommen. Alles versank in Melancholie. Sie fingen an, zu besprechen, was sie gern zu essen hätten, wenn Tim Gallagher sie nicht so kurz hielte, und wenn sie einen Koch hätten, dessen Kopf keine Teigkugel wäre.
»Der Teufel hole deinen Plumpudding, Jimmy,« sagte der lange Eph, und dann fiel ihm ein, daß Jimmy Dillyhunt französischer Abstammung war.
»Gib uns was von deiner patty dee foy grass, oder Froschragout.«
»In dem Topf, den ihr kriegt, ist sowas drin,« antwortete Jimmy in einem Englisch, das kein bißchen ausländisch klang.
»Was ich möchte,« murmelte Pat Nolan in einem Ton von Verklärung, »das wäre gebratener Truthahn mit Trüffeln und Austern, wie wirs damals in Frederikstown hatten. Ob ich sowas je wieder in die Futterlade bekomme?«
Bei dieser Vorstellung litt jeder Tantalusqualen, und sogar der Boß schimpfte: »Hör auf, Pat!«
»Jungens,« schrie Evan Morgan mit einem seligen Blick in den Augen, so wie seine Waliser Vorfahren dreingeschaut haben müssen, wenn sie unter den Türmen von Harlech dem Klang der Harfen lauschten – »Jungens, hat je einer von euch so einen saftigen Bärenschinken gegessen, einen Bärenschinken mit Blaubeeren?«
»Meinst du, du allein,« schimpfte Sam Oulton aus seiner Koje mit einer Stimme, die unter den Qualen der Erinnerung giftig klang.
»Sei gut, Sammy,« ulkte Eph Babcock, der lange Mann aus Androscoggin, »häng heut Nacht deine Strümpfe 'raus. Wenn sie nicht schmutzig sind, kommt vielleicht der heilige Nikolaus und wirft dir ein Stück Bärenschinken 'rein.«
Der schwere Körper des Boß, der gleichgültig auf der Ofenbank lungerte, saß plötzlich kerzengerade da. Gallagher hatte ein scharfes Ohr, und er hörte nicht auf das Geschwätz seiner Leute.
»Aufgepaßt, Jungens,« sagte er, »irgend jemand kommt!«
Durch den Schnee vor dem Tor kamen Schritte, schwer, aber schlürfend und unsicher.
Daß ein Besucher, ein einsamer Fußgänger in dieser Jahreszeit den Weg zu einem so abgelegenen und einsamen Lager wie dem Gallaghers fand, war etwas Unerhörtes. Die Holzfäller sind meistens abergläubisch. Sie dachten sofort an den Klabautermann oder an ein schreckliches Schneegespenst. Das Haar stand ihnen zu Berge, totstill wurde das Lager.
Aber Eph Babcock war in erster Linie neugierig. Obwohl auch er abergläubisch war, hätte er der Abwechslung halber selbst Beelzebub willkommen geheißen. Er tat einen Schritt auf die Tür zu. Pat Nolan lag es auf den Lippen, zu schreien: »Geh' nicht!« Aber er beherrschte sich.
Eph stieß die Tür weit auf.
Im nächsten Augenblick lief er mit einem halbunterdrückten Schrei zurück und langte nach seinem Gewehr, das an seiner Bettstelle lehnte, gerade hinter dem Sitz des Boß.
Schnurstracks in den Raum, geblendet vom Lampenlicht, aber nicht erschreckt durch den Anblick menschlicher Gesichter, kam mit wiegendem Schritt ein riesiger schwarzer Bär.
Als er das Ende des langen Tisches erreicht hatte, hob sich der seltsame Gast auf die Hinterfüße und so stand er da, eine mächtige Gestalt wie Tim Gallagher, die großen Pelzpfoten demütig über der breiten Brust gekreuzt. Flehend blickte er um sich, dann begann er zu keuchen wie ein Motor, denn in der rauchigen Luft fing seine Nase einen rätselhaften, aber im ganzen höchst erfreulichen Duft auf.
Jimmy Dillyhunt ließ sein Taschenmesser einschnappen und kroch bescheiden hinter seinen Kochherd. Er empfand, wie wertvoll das Leben eines Kochs war. Die übrigen Burschen, die natürlich nicht erschrocken, aber beim Erscheinen eines gänzlich Fremden in ihrer Mitte etwas verlegen waren, hatten sich im Augenblick höchst bescheiden in ihre Kojen zurückgezogen. Alle, außer Evan Morgan. Der konnte sie nicht erreichen und stand deshalb sehr aufrecht und respektvoll, kein bißchen herausfordernd, in der nächsten Ecke – das heißt, in der Ecke, die für ihn die nächste war, nicht für den Bären. Alle Aexte waren draußen, und die einzigen Flinten, außer der Eph Babcocks, standen in der Tür unmittelbar hinter dem Bären. Evan Morgan sah sie nachdenklich an, aber sie schienen ihm zu weit weg. Nur der Boß war nicht überrascht. Er behielt seinen Platz und betrachtete kaltblütig den Gast.
Vielleicht zehn Sekunden lang stand der Bär bewegungslos und schien den überraschten Augen in diesem Kreis größer als ein Elefant. So still war es, daß das Rascheln einer Maus im Dach wie Gepolter klang. Einen Augenblick sah der Bär bestürzt aus. Dann fielen seine Augen auf einen großen Blechtopf, der nahe vor ihm auf dem Tisch stand. Vor zwei Minuten noch war der Topf voll dampfender Bohnen gewesen, die Jimmy gerade in ein anderes Gefäß geleert hatte. Jetzt war außer ein paar Bohnen nur der verführerische Duft zurückgeblieben.
Gierig, aber doch mit einer gewissen Schüchternheit, streckte der Bär seine mächtige Pfote aus, zog den Topf zu sich und begann ihn auszulecken, wobei er ein höchst unmanierliches Geräusch machte. In diesem Augenblick hatte Eph Babcock sein Gewehr erreicht, riß es vom Haken und hob es an die Schulter. Aber bevor er den Drücker berühren konnte, fiel ihm eine gewichtige Hand auf den Arm.
»Halt, wart!« befahl der Boß in einem leisen, aber sehr bestimmten Ton. Er glaubte, daß der enge Raum kein gutes Feld für einen Kampf auf Tod und Leben sei.
Babcock hielt an und wartete, obwohl er der Meinung war, der Boß sei närrisch geworden. Er nahm das Gewehr von der Schulter, sah in das Magazin und machte ein Gesicht wie ein Schaf.
»Nicht geladen!« murmelte er in einem Ton von Entschuldigung, aber ohne zu sagen, ob sie dem Boß oder dem Bären galt.
»Wir sollen wohl den schönen fetten Schinken verlieren, den Evan gemeint hat!« protestierte Sam Oultons Reibeisenstimme aus einer Koje heraus. Aber ein verhaltenes Brummen kam aus der ganzen Reihe von Betten, denn alle stellten fest, in welch peinlicher Lage Eph Babcock war. Er hatte keine Patronen, und jeder konnte sehen, wo die Patronen waren. Wohl gefüllt hingen zwei Gürtel an einem Haken.
Auf Oultons Widerspruch gab der Boß keine Antwort. Anscheinend war er durch den Bären zu abgelenkt, um auf irgend etwas anderes zu achten. Die meisten der Burschen in ihren Betten konnten sich jetzt nicht mehr verhalten, ihre Ratschläge zu geben, wie irgend ein anderer die Patronen greifen und sie Eph Babcock hinüberreichen könnte. Aber keiner der zweifellos guten Ratschläge wurde ausgeführt. Denn gerade in diesem Augenblick wurde das Verhalten des Gastes so bemerkenswert, daß jeder vergaß, was er selbst hatte sagen wollen.
Als er den Topf leergeschleckt hatte, sah der Bär auf und winselte. Es war klar, daß er Bohnen gern fraß und mehr davon wünschte. Er schien schlichte Hausmannskost zu schätzen, und das entlockte den Helden in den Kojen lange Seufzer der Erleichterung.
Der Bär schwankte unruhig von einem Fuß auf den andern, dann nahm er den Topf in seine Vorderpfoten, machte Kehrt und marschierte geradeswegs auf Jimmy Dillyhunt zu. Es war eine rührende Bitte, aber Jimmy schien sie absolut nicht zu verstehen. Mit dem Messer um sich fuchtelnd, protestierte er laut gegen die besondere Beachtung, die er unter seinen Kameraden nicht verdiene. In fliegender Eile gab er seinen Platz hinter dem Kochherd auf und erreichte die Gesellschaft Evan Morgans in dessen Ecke. Evan, der gerade im Begriff war, seine Selbstbeherrschung wieder zu erlangen, grunzte unliebenswürdig: »Warum so eilig, Jimmy?« Aber Jimmy brachte keine Antwort heraus.
Enttäuscht über das plötzliche Verschwinden eines Menschen, von dem er so viel erwartet hatte, ließ der Bär seine allzu leere Schüssel auf den Boden fallen. Das laute Klirren erschreckte ihn, und er sprang mit einem Hops zur Seite, wie ein Mädchen, das beinahe in eine Pfütze getreten wäre. Dabei aber bekam er den großen Topf mit Bohnen zu sehen, den Jimmy zum Aufwärmen vorn auf den Herd gestellt hatte. Wie gut sie rochen! Mit einem Brummen tiefer Befriedigung nahm er ein Maul voll.
Nun waren die Bohnen, ganz gewiß ein vorzügliches Gericht, nicht für ihn angerichtet. Sie waren heiß. Der Bär war erschreckt und schmerzlich berührt, als er merkte, wie heiß sie waren. Die Augen geschlossen und die Kinnbacken verkrampft, versuchte er, sie im Maul zu behalten. Aber es war zuviel für ihn. Mit einem lauten »uuh« spuckte er sie auf den Boden. Und dann warf er einen erbärmlichen Blick rund um sich, während er bald mit der einen, bald mit der anderen Tatze wehleidig seine Nase rieb. Sein Blick rührte Pat Nolan, dem gutherzigen kleinen Iren schien er ein berechtigter Vorwurf.
»Ich hab das nicht gemacht, ich nicht!« murmelte er im Ton herzlichen Bedauerns. »Es war ein gemeiner Witz, natürlich von Jimmy. Mindestens hätt' er dich warnen sollen.«
Irgend etwas in Pats Stimme schien dem Bären zu sagen, daß er bei ihm die Teilnahme finden würde, die bei dem ganzen Empfang bisher gefehlt hatte. Halb im Zweifel, aber nicht ohne Hoffnung, watschelte er quer durch den Raum auf Nolans Koje zu.
»Hab ich dir nicht gesagt, daß ich's nicht war!« protestierte Nolan leidenschaftlich. »Heiliges Ofenrohr, kann keiner von euch Kerls was tun, daß er mich in Ruhe läßt?«
»Das Gewehr rüber, Eph!« zischte Sam Oulton, der in seiner Koje krampfhaft herumgestöbert hatte. »Ich hab ein paar Patronen gefunden!«
Der Boß wollte dazwischen treten und ebenso Evan Morgan, der von Bären mehr verstand als die übrigen Holzfäller zusammen. Aber Eph Babcock hatte das Gewehr schon ergriffen, und eifrige Hände reichten es hinüber in Oultons Koje. Doch auch der Bär hatte es gesehen, und unter einem Chorus von Rufen des Staunens sprang er sofort danach. Gerade als die Flinte in Oultons Koje ankam und Oulton die Hände ausstreckte, um sie zu greifen, kam auch der Bär. Er war schneller, streckte seine schwere, schwarze Pfote aus und packte die Flinte. Oulton verschwand wieder in seinem Bette wie der Kopf einer Schildkröte in ihrer Schale. Der Bär aber nahm das Gewehr mit einem Ausdruck von Triumph über die Schulter und salutierte, stramm wie ein Soldat.
»Gott sei Dank, daß sie nicht geladen ist, Sammy,« piepste Shorty Johnson mit Fistelstimme aus dem Bett nächst der Tür. »Der Herr Oberst hätt' uns alle damit aus dem Lager 'rausgejagt.«
Der Boß und Evan Morgan – und auch der kleine Pat Nolan, der allmählich gemerkt hatte, daß mit diesem Bären was Besonderes los war, erlaubten sich, zu lachen. Die anderen aber blickten völlig verblüfft auf die unbegreifliche Vorstellung, die der schreckliche Gast ihnen gab. Für sie war es nur Zeichen einer übernatürlichen, also natürlich teuflischen Intelligenz. Sie hätten sich nicht mehr gewundert, wenn der Bär jetzt zur Tür gegangen wäre, den Patronengürtel heruntergenommen und die Waffe geladen hätte, die er so geschickt über der Schulter trug. Aber als er nicht aufhörte zu salutieren, den Rücken zur Tür, fingen sie an, zu Verstand zu kommen. Auch Sam Oulton erschien wieder auf der Bildfläche. Ohne zu bemerken, daß der Boß und Evan Morgan grinsten, steckte er den Kopf vor und schrie:
»Jetzt, Jimmy! Jetzt ist der Moment! Rasch, Mensch, setz' den Topp Bohnen draußen in den Schnee! Er geht hinterher. Dann können wir ihn draußen umbringen.«
Aber Jimmy hatte keine Eile, in die Bresche zu springen, obwohl die Bohnen eigentlich sein Ressort waren.
»Geh du und setz den Topf 'raus, Kleiner,« schlug er hinter dem Rücken des Boß vor, »du bist der nächste!«
»Halt den Mund, Jimmy,« unterbrach Pat Nolan, »wozu ein so freundliches Biest umbringen? Schau, was er sich für Mühe gibt. Er macht Kunststücke!«
»Der Teufel soll die Kunststücke holen!« schnarrte Sam, »der gibt frisches Fleisch für einen ganzen Monat!«
Aus mehr als einer Koje kam Widerspruch gegen Oultons blutdürstige Aeußerung, so plötzlich schlug die Stimmung im Lager um. Evan Morgan widersprach sogar sehr deutlich.
»Kannst du immer nur an deinen verdammten Bauch denken?« fragte er.
Sam Oulton wurde wütend.
»Was ihr Kerls braucht, ist 'ne Saugflasche,« schimpfte er. »Wenn das Lager ein verdammter Kindergarten geworden ist, dann werd ich das Biest allein umbringen!«
Und er tauchte, aber noch mit einer gewissen Vorsicht, aus dem Versteck seiner Koje auf.
Jetzt schien dem Boß, der die Situation allmählich verstanden hatte, sein Augenblick gekommen. Das Gewehr über der Schulter, stand der Bär noch immer da und salutierte. Aber es sah aus, als wartete er auf etwas.
»Marsch!« sagte der Boß mit scharfer Stimme.
Sofort marschierte der Bär vorwärts, mit strammen, aber vorsichtigen Schritten, quer durch den Raum und direkt durch die Gruppe, die der Boß, Evan Morgan, Eph Babcock und Jimmy Dillyhunt bildeten. Der Boß und Evan erwarteten ihn ruhig. Aber Eph und Jimmy drückten sich ängstlich auf die andere Seite des Tisches.
»Halt!« kommandierte der Boß, ehe der Bär zu nahe gekommen war.
Der Bär machte Halt und jeder stieß einen Seufzer aus.
»Jetzt, Sammy,« begann der Boß im Ton eines Orakels. »Jetzt laß das Geschwätz von Umbringen. Hast du keine Augen im Kopf? Es ist ein zahmer Bär, das ist er! Und glückselig, daß er zu Freunden kommt. Der ist lang genug im Wald 'rum geirrt. Gib acht, was für ein famoser Kerl das ist. Achtung!«
Auf das plötzliche, scharfe Kommandowort hin stand der Bär stramm. Aber er versuchte es zu rasch. Die Flinte fiel aus seiner breiten Pelzpfote und ratterte auf den Boden. Er zuckte nervös und klemmte die Augen zusammen, als erwartete er einen Hieb.
Zweifellos hatte Tim Gallagher recht. Es war ein dressierter Bär, der gekommen war, um Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Entzückt wie Kinder, sprangen die Männer aus ihren Betten.
»Famos ist der Oberst! Tu ihm nichts, weil er die Flinte hingeworfen hat, Tim!« schrie Johnson.
»Vielleicht studier' ich einen Ringkampf mit ihm ein,« sagte Eph, »das wär' was für den heiligen Abend!«
Oulton kroch verdrießlich in die Tiefe seiner Koje zurück und biß ein extra großes Stück Kautabak ab, um seine Zunge zu bändigen. Er sah ein, daß er zu sehr in der Minorität war.
Mittlerweile war Jimmy, dem sein Mißtrauen leid tat, in seinen Kochraum zurückgekehrt. Jetzt trat er vor und trug in der Hand ein langes Stück herrlicher Speckrinde. Der Bär roch es und öffnete die Augen. Er merkte, daß er für den Unfall mit dem Gewehr nicht bestraft werden sollte. Erst starrte er den Leckerbissen an, danach Jimmys dunkles Gesicht, und dann streckte er hoffnungsvoll, aber noch ungewiß die Pfote aus. Als Jimmy seiner Bitte nicht nachkam, glaubte der Bär, er müßte etwas ganz Besonderes tun, um den Preis zu bekommen, etwas sehr Schwieriges und Ungewöhnliches. Mit Gewinsel ließ er sich nieder, legte die Nase zwischen seine Beine, dann hob er langsam sein breites Hinterteil und stand endlich schön und elegant auf dem Kopf. Ein paar Sekunden lang balancierte er so; dann kam er langsam und grunzend auf allen Vieren zurück, nahm die aufrechte Haltung wieder ein und wandte sich schmeichelnd an Jimmy.
Das ganze Lager jubelte vor Entzücken.
»Gib's ihm, Jimmy! Du kannst es selbst nicht besser! Er hat's weiß Gott verdient! Mach' ein friedliches Gesicht, Jimmy, er hat Angst! Guter alter Oberst!« kamen Beifallsrufe von jedem einzelnen, ausgenommen Sam Oulton.
Jimmy gab die Speckrinde, und der Bär nahm sie vorsichtig in seine Krallenpfote.
»Leicht wie ein Damenhändchen!« schrie Pat Nolan in seiner Begeisterung.
Von diesem Augenblick an gestaltete sich der Abend zu einem Ehrenbankett. Gallaghers Lager bereitete dem Oberst – denn dieser Name, den Johnson gewählt hatte, blieb – einen Gala-Empfangsabend. Der Oberst war ein Bär von seltsamen und vielfachen Talenten und dabei von einem kindlichen Glauben an die Menschheit. Dies rührende Vertrauen in jedermanns Wohlwollen rührte die großherzigen und rasch bewegten Holzfäller, daß sie den Bären bald vergötterten, wie Kinder ein Baby. Es wurde ein schwerer Vorwurf gegen Eph Babcock, daß er im ersten Augenblick ungerechtfertigten Entsetzens nach seinem Gewehr gerannt war.
»Eph,« sagte Pat Nolan, »hättest du nur ein Haar auf seinem Kopf gekrümmt, es täte mir leid, aber dann hätt' ich dir mit dieser Hand hier die Därme aus dem Bauch gerissen!«
»Und das hätt' ich auch verdient, Pat,« gab liebenswürdig der Mann aus Androscoggin zu. Außer Oulton waren alle vergnügt. Der aber, beleidigt und zornig, sprach den Abend über nicht ein Wort; er schenkte den schönsten Kunststücken des Bären kaum einen Blick. Daß er trotzdem voll Interesse war, wußte das ganze Lager.
Das war eine große Sache für Gallaghers Lager!
Der Oberst war der erste, der das Fest abbrach. Jeder mußte zugeben, daß er das Recht dazu hatte, denn er allein hatte ja die Kosten getragen. Er wollte schlafen und zeigte das an, indem er rings in den Ecken einen Platz suchte, um sich niederzulegen.
Im dicken Fell an seinem Hals zeigte eine abgeschabte Stelle, daß er früher ein Halsband getragen hatte. Aus einem alten Geschirr-Riemen machte der Boß ihm ein neues und führte ihn, der sanft gehorchte, zu einem Schuppen, der dem Lager als Schmiede diente. Ein großer Arm voll Stroh wurde aus der Scheuer gebracht, und der Oberst ließ sich darin nieder, mit einer Miene wie der verlorene Sohn, der heimkehrt und sich dessen freut.
Am nächsten Morgen verordnete der weise Boß, daß der Oberst vor dem Mittagessen das Haus nicht betreten dürfe. Seine Absicht dabei war, eine gewisse Frische des Interesses für das Fest zu bewahren, daß die Männer sich amüsierten und nicht wieder anfingen, über den Mangel an frischem Fleisch zu schimpfen. Den ganzen Morgen lang, wie gewöhnlich an Sonn- und Feiertagen, beschäftigten sie sich irgendwie im Lager. Wuschen, flickten, rauchten im Haus oder balgten sich draußen im Schnee herum.
Als der Oberst gleich nach dem Frühstück herausgelassen wurde, war noch niemand im Freien, sonst wäre er zweifellos »zuhause« geblieben, um mit seinen Freunden zu spielen. Da er niemanden traf und keine Erlaubnis bekam, das Haus zu betreten, durchforschte er sorgfältig das ganze Gehöft, erschreckte die Pferde, indem er an der Stalltür herumschnüffelte, und dann watschelte er gemächlich in den Wald.
»Er wird bald zurückkommen,« sagte Gallagher, »der Oberst ist ein braver Kerl, wenn man ihn richtig behandelt.«
Und Gallagher hatte recht. Er verstand Menschen und Obersten. Etwa um halb zehn Uhr morgens, als Eph Babcock und Johnson vor der Tür des Lagers einen Ringkampf aufführten, sah man den Bären oben am Waldrand auftauchen. Darin war sonst nichts Auffallendes. Aber seine Bewegungen waren so merkwürdig, daß die beiden Kämpfer gleichzeitig voneinander ließen und hinauf starrten. Ihr Ruf brachte das ganze Lager vor die Tür.
»Er scheint sich gut zu amüsieren, ganz allein!« bemerkte Evan Morgan von der Schwelle her.
»Durchaus nicht allein,« verbesserte der Boß.
»Also wahrhaftig, der Teufel soll mich frikassieren, wenn er nicht ein großes Stachelschwein bei sich hat!« rief Babcock.
»Und das Stachelschwein jagt ihn,« schrie Pat Nolan voll Staunen.
Er hatte recht, wenigstens in gewissem Sinne. Der Oberst torkelte und kullerte von einer Seite auf die andere, wie ein riesiger, neugeborener Hund, vor dem wütenden Stachelschwein, das ihm nachrückte, jeden Stachel aufgerichtet, daß es wie ein großer Binsenkorb aussah. Der Oberst kam rückwärts aufs Lager zu, als wünschte er, daß seine Freunde das neue Spielzeug sähen, dies drollige, böse, kleine Tier, das er im Wald aufgegabelt hatte.
»Er wird sich die Pfoten voll Stacheln machen,« rief Johnson, »und wir haben dann eine Satansarbeit, bis wir sie 'rauskriegen, Tim; ich bin froh, daß es dein Bär ist und nicht meiner!«
Sam Oulton machte ein Gesicht, als ob die eben eröffnete Aussicht ihm nicht unangenehm wäre.
»Reg' dich nicht auf, Kleiner,« raunte der Boß, »er macht sich nicht zum Narren, er weiß, wie man mit einem Stachelschwein umgeht.«
Tatsächlich gab der Oberst wohl acht, daß er den gefährlichen Stacheln nicht zu nahe kam. Wie zum Spaß streckte er bald die eine, bald die andere Pfote aus und stieß gegen das kleine Tier, aber niemals so, daß es zu einer Berührung kam.
Das Stachelschwein war sichtbar in unglaublicher Wut über diesen Quälgeist. Ein Stachelschwein ist nicht nur furchtlos, sondern auch sehr dumm, und wenn es sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, läßt es sich nur durch den Tod oder ein gutes Fressen davon abbringen.
In diesem Falle hatte das Stachelschwein sich entschlossen, den Oberst zu verfolgen. Zweifellos in der Hoffnung, ihm die Haut mit seinen Stacheln zu zeichnen. Da der Oberst sich auf das Lager zurückzog, kam auch das Stachelschwein ins Lager, gleichgültig, was daraus wurde. Ein altes Stachelschwein, das in seinem Leben schon einiges mitgemacht hat, würde in seinem Zorn ein verschanztes Heer angreifen.
Jimmy Dillyhunt fand seinen Augenblick gekommen. Als des Obersten Flucht das Stachelschwein schon auf fünfzig Meter ans Lager herangebracht hatte, sprang er plötzlich, mit einem Schüreisen bewaffnet, vor. Er stieß den erstaunten Oberst zur Seite und traf das Stachelschwein auf die Spitze seiner stumpfen Nase. Der Wald aufgerichteter Stacheln sank zurück. Mit einem Zucken seiner stämmigen, kurzen Beine überrollte es sich und war mausetot.
Der Oberst setzte sich auf seine Keulen und starrte Jimmy bewundernd an. Die übrigen Zuschauer brüllten Beifall, in ausgewählten Worten, die sich aber nicht wiedergeben lassen. Jimmy nahm das leblose Tier vorsichtig an seinen unbewaffneten Vorderpfoten und trug es fort.
»Großartiges Essen, ein Stachelschwein, wenn's richtig gekocht wird!« sagte er, grinste triumphierend und verschwand in seinem Heiligtum.
Es war allerdings nur ein Stachelschwein, aber ein extra großes und fettes, und Jimmy verstand die Kunst, zu »strecken«. Mit einer Menge von Klößen machte er ein Gulasch daraus, in dem er – es muß zugegeben werden – auch ein gewaltiges Stück Salzfleisch, kleingehackt, unterbrachte. Da schon sehr wenig Stachelschwein sehr viel Geschmack gibt, schmeckte auch das Schweinefleisch im Gulasch danach, und niemand hatte Grund, sich zu beschweren. Das Mittagessen wurde ein nie dagewesener Erfolg.
Bei diesem Festmahl wanderte der Oberst hinter den Gästen auf und ab und dankte feierlich für die Leckerbissen, die jeder ihm eifrig zusteckte. Endlich kam er zu Sam Oulton, dem er bisher, wegen Mangel an Entgegenkommen, aus dem Wege gegangen war. Es entstand eine Pause, jeder wartete ab, was der unberechenbare Sammy tun würde.
Oulton blickte auf des Obersten vertrauensvollen Kopf, der neben seinem Ellbogen erschien. Er zögerte, grinste liebenswürdig, aber etwas dämlich, dann wischte er sich mit dem Aermel seinen Mund, hob seine große, blecherne Kaffeetasse und sprang entschlossen auf.
»Herr Bä … ich wollte sagen, Herr Oberst!« rief er. »Das ist ein richtiges Weihnachten für Sie und Viele! Sie sind der einzige wirkliche Kavalier in diesem Lager, denn Sie sind der Einzige in der Gesellschaft, der Bildung genug hat, seinen Freunden ein Weihnachtsgeschenk zu machen!«
Und dann leerte er seine Blechtasse aufs Wohl des Obersten!