Wolfgang Schmidbauer
KALTES Denken,
WARMES Denken
Über den Gegensatz von Macht und Empathie
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Copyright © 2020 Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, Hamburg
kursbuch.edition
Herausgeber: Peter Felixberger, Sven Murmann, Armin Nassehi
ISBN 978-3-96196-135-1
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Inhalt
Einleitung:
Zwischen seelischer Kraft und seelischer Not
1. Gefährdete Gesundheit
Kaltes und warmes Denken in Medizin und Psychotherapie
2. Vergebene Liebesmüh
Kaltes und warmes Denken in Partnerschaft, Familie und Natur
3. Großstadtstämme
Kaltes und warmes Denken in gesellschaftlichen Gruppen
4. Habe nun, ach!
Kaltes, warmes und heißes Denken vor Gericht und in Medien
5. Idealisierungen und Verfehlungen
Kaltes Denken von Helfern und über Helfer
6. Trauma und Normalisierung
Kalte Urteile gegen das Unbehagen, sich einzufühlen
7. Schmutzige Wäsche vor Gericht
Kaltes Denken aus Angst
8. Phallisch versus genital
Kalte und warme Kommunikation
9. Die Flucht ins Gehirn
Kalte Neurowissenschaft
Schluss:
Jenseits des Machtapparats
Über den Autor
Einleitung:
Zwischen seelischer Kraft und seelischer Not
»Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte,
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist, leider! nie die Frage.« 1
Das warme Denken unterscheidet sich von dem kalten dadurch, dass es auf dem Weg »ins Wort« nicht allein der starren Durchsetzung des Gedankens und der geistigen Macht über die Angesprochenen dient, sondern die ganze Bandbreite der Welt der Gefühle mitnimmt. Es spaltet das eigene Empfinden nicht von der Logik des Gedachten ab, sondern hält den Zugang zu ihm ebenso offen, wie es Nebengedanken im Sinn empathischer Phantasien zulässt, die sich mit den bei den Angesprochenen ausgelösten Gefühlen beschäftigen.
Prototyp des kalten Denkens ist die Jurisprudenz, weit mehr als Mathematik und Naturforschung. Das juristische Denken gebietet ausdrücklich Versachlichung, Objektivierung und Ferne zu Subjektivität und Einfühlung. Mathematik und experimentelle Wissenschaften hingegen sind nach allen Richtungen neutral und entwickeln keine Widerstände, wenn es darum geht, Gefühle zu erforschen.
Den besten Zugang zum warmen Denken, auf der anderen Seite, hat die Kunst behalten, aber auch Medizin und Psychologie haben reiches Wissen in diesem Feld gesammelt. Neben dem chemischen und physikalischen Effekt von Medikamenten wirkt die »Droge Arzt«, wie Michael Balint diesen Faktor nennt – die persönliche Beziehung. In dem Grenzgebiet von Medizin, Psychologie, Pädagogik und Religionswissenschaft, in dem die Psychotherapie angesiedelt ist, gilt warmes Denken als unverzichtbar.
Psychotherapeuten sind wohl auch die Berufsgruppe, die besonders intensiv miterlebt, wie viel Schaden kaltes Denken anrichtet. Wie wir sehen werden, schwächeln die Disziplinen, denen am meisten daran gelegen sein müsste, Menschen vor geistigen Kälteschäden zu schützen. In Medizin und Psychotherapie werden juristisch denkende Söldner angeworben, die das vom warmen Denken geprägte Territorium verteidigen sollen. Wie die Geschichte lehrt, neigen solche Söldner aber dazu, Macht an sich zu reißen und jene zu unterwerfen, die sie als Beschützer und Helfer eingeladen haben.
Parallel dazu beobachten wir in der Öffentlichkeit ein Streben nach narzisstischem Gewinn durch Moralisieren, das ich vor einigen Jahren als Helikoptermoral beschrieben habe.2 Eine kalte Verallgemeinerung moralischer Erregung wird missionarisch propagiert; die sogenannten »seriösen« Medien sind hier kaum vorsichtiger als die Boulevardpresse. Ein kleines Beispiel: 3
Am 1. Dezember 2018 interviewt der Redakteur Martin Wittman den 64-jährigen Schauspieler Rainer Bock, einen Mann, der als bescheiden und selbstkritisch dargestellt wird, viele Nebenrollen sehr gut gespielt hat und jetzt allmählich Hauptrollen – auch in Hollywood – bekommt.
»Interviewer: Vor ein paar Jahren hieß es, Sie seien der Autoritätspersonen müde. Sie sagten: ›Es sei denn, Woody Allen wollte mich als Polizist.‹ Gilt das heute noch?
Schauspieler: Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder?
Interviewer: Durchaus.
Schauspieler: Weil Allen in Zusammenhang mit Missbrauch steht? Ich kann nicht beurteilen, was da in dieser Familie abgelaufen ist.
Interviewer: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass es der Karriere seit der ›MeToo‹-Debatte nicht mehr zuträglich sein dürfte, in einem Film von Allen mitzuspielen.
Schauspieler: Ich habe noch nie darüber nachgedacht, was meiner Karriere hilft.
Interviewer: Sie kokettieren.«
Der Schauspieler hat irgendwann einmal einen Scherz gemacht, in dem sein Respekt vor dem Filmemacher Woody Allen deutlich wird. Der Reporter will ihn in seinen Empörungshelikopter holen, während der Schauspieler an die realistischen Möglichkeiten denkt, interessante Rollen zu spielen. Rainer Bock ist zu höflich, um sich gegen den moralisierenden Übergriff zu wehren. In Zeiten der Helikoptermoral müssen anständige Menschen, die ihre Arbeit gut machen möchten, um ihren Ruf fürchten, wenn sie sich der Empörung verweigern.
In der Tat scheint es der Reporter für selbstverständlich zu halten, dass niemand mehr Woody Allen für einen interessanten Filmemacher halten darf. Es ist eine Welt, in der sich Menschen zur Geltung bringen, indem sie möglichen Opfern ihr Leid wegnehmen und als Anwälte dieser Opfer gegen mögliche Täter vorgehen.
Dieses Manöver unterstützt seine Konsumenten, die Scham abzuwehren, die ein mitfühlender Betrachter empfindet. Solange ein wenig wehrhaftes Geschöpf misshandelt, bedroht und ausgebeutet wurde, haben die Zeugen dieses Geschehens den Blick abgewandt und sich der Aufgabe entzogen, den sexuellen Übergriff zu benennen. Ritterliches Verhalten ist rar. Dieses würde weder die Machtposition des Täters noch seine mögliche Rache fürchten.
Wenn der Drache zahnlos geworden ist und in Schlingen zappelt, kostet es keinen Mut, die Attacke zu reiten. Jetzt ist das Mitgefühl mit den Opfern gespielt. Es dient einzig dazu, die Rache an Tätern oder Verdächtigen auszuleben und sich angesichts ihrer Erniedrigung aufzuwerten. Der Fragestil des Reporters ist ein trüber Abglanz dieser Dynamik. Indem er weder zu Woody Allen noch zur Person des Interviewten das Geringste beiträgt, jedoch als »Information« auftritt, erkennen wir die grausame Banalität einer Reportage, die Vorurteile bedient.
Empathie in die mögliche Unschuld von Geächteten, die in so vielen Literaturen präsente Erzählung von den zu Unrecht angeklagten und ohne Urteil bestraften Opfern von Verleumdung kommt in dem erregten Moralisieren der Gegenwart nicht vor. Moralisten interessieren sich weder für Opfer noch für Täter, sondern nur für sich selbst. Sie haben sich zu Anwälten der Opfer ernannt. Sie verkünden nun jenseits aller ordentlichen Prozessführung ihr Urteil und rufen nach dem Henker.
Menschen sind keine Sachen. Sie sind Subjekte, atmende, erlebende Wesen mit einer komplizierten Innenwelt, die sich mit anderen Wesen verbinden. Jeder von uns lebt in einer ganz eigenen Welt. Die für unser Lebensgefühl besonders bedeutsamen Liebesbeziehungen sind durch die subjektive Überzeugung charakterisiert, dass wir einander mit einer Liebe lieben – während die Realität der Beziehungskonflikte doch lehrt, dass es auch bei Eheleuten, Geschwistern, Eltern und Kindern immer zwei Lieben gibt, deren oft krasse Differenzen erst im Konfliktfall bewusst werden.
Subjektive Überzeugungen und innere Bilder der Wirklichkeit sind Gegenstand der Psychologie, während sich die Rechtsprechung auf die Verhältnisse zwischen Sachen und Subjekten konzentriert und – um zu funktionieren – jedes Geschehen zwischen Menschen erst einmal versachlichen muss. Die Sozialisation in den Juristenberuf gleicht in vieler Hinsicht der medizinischen Sozialisation.
Angehende Ärzte 4 erfahren im Anatomiekurs, dass sie sich über ihre empathischen Hemmungen hinwegsetzen müssen, mit Skalpell und Pinzette einen menschlichen Körper zu präparieren.5 Die Pioniere der psychosomatischen Medizin, Georg Groddeck und Alexander Mitscherlich, haben beide diesen Beginn des Studiums an der Leiche erwähnt und als Wurzel der Probleme von Medizinern mit Psychotherapie und Psychologie thematisiert.
Eine Parallele in der juristischen Sozialisation findet sich im Scherz über den Jurastudenten, der mit seinem Professor auf einen Turm steigt. Beide betrachten das vielfältige Geschehen auf Straßen und Plätzen. Der Professor fragt: »Was sehen Sie?« Der Student beginnt, eifrig aufzuzählen: »Männer, Frauen, Kinder, Autos, Radfahrer, Häuser, Bäume, Hunde, Straßenlaternen …«
»Falsch!«, sagt streng der Professor. Der Student ist perplex, der Professor gibt die richtige Antwort: »Rechtsobjekte und Rechtssubjekte! Mehr nicht!«
Die Rechtswissenschaften sind das Esperanto der Moderne. Je komplexer Wirtschaft und Staat werden, desto mehr bürokratische Regelungen werden entworfen; wer solche Regeln konzipiert und zu Papier bringt, orientiert sich automatisch an der juristischen Sprache. Wenn ich einen Verein gründe, um einem Anliegen einen formalen Hintergrund zu geben, muss ich die Satzung einem Juristen vorlegen. Ich werde mich im Vorgriff auf diese Situation bemühen, so zu schreiben, wie er es erwartet.
Größere Organisationen haben für diese Aufgaben ihre eigenen Juristen an Bord. Wo verwaltet wird, wo Gesetze angewendet oder neue Gesetze entworfen werden, sind Juristen tätig. Längst haben auch die Standesvertretungen der Psychotherapeuten, die primär in einer ganz anderen Denkweise geschult wurden, neben dem ehrenamtlichen Vorstand einen angestellten Juristen in ihrer Geschäftsführung. Das Gleiche gilt selbstverständlich für politische Parteien, die – wie einst die Grünen – in kritischer Distanz zur verwalteten Politik begonnen haben.
Wo auch immer wir den intimen Bereich der emotionalen Regulierung von Aufgaben und Beziehungen verlassen, beginnt die verwaltete Welt. Wer in sie eindringt, kommt fast unweigerlich an den Punkt, wo er entweder umkehren oder sich juristisch rüsten muss, um nicht von anderen, die das schon getan haben, überwältigt zu werden. Das funktioniert meist problemlos – der Handwerker kann in Ruhe arbeiten, weil sein Steuerberater die finanziellen Angelegenheiten überwacht und ihn notfalls gegen das Finanzamt verteidigt.
Wer sich aber neben seinem Handwerk auch für gesellschaftliche Prozesse interessiert und die Entwicklung der verwalteten Welt beobachtet, kann einen relativ kontinuierlichen und nur in eine Richtung gehenden Entwicklungsprozess konstatieren: Dieser führt von weniger Regelung und mehr Freiräumen zu mehr Regelungen und weniger Freiräumen; von einer kritischen Distanz zu Verwaltung und Bürokratie zu Forderungen, die auf engmaschigere Kontrolle und »Sanierung« der »Tabuzonen« hinauslaufen; von Bereichen, in denen warmes Denken überwog, hin zum kalten Denken.
Im Süden ist der Wandel von großen Freiräumen, in die sich der Staat kaum einmischte, zu engmaschiger Aufsicht noch viel stärker ausgeprägt als in Mittel- und Nordeuropa. Die Einheimischen äußern den Verdacht, dass die großen Gauner die Kontrollen umgehen, mit denen beispielsweise den kleinen Händlern durch die Pflichtregistrierkassen die Schattenwirtschaft schwer gemacht wird. Sie haben eben eigene Juristen.
Während in wirtschaftlichen Dingen die Grenzen des juristischen Denkens meist nachvollziehbar sind und die Lebenspraxis nicht stören, wird die Wohltat einer funktionierenden Verwaltung und einer ordentlichen Finanzierung der staatlichen Aufgaben zur Plage, sobald dieses Denken in unsere emotionale Welt eindringt und sich ihrer zu bemächtigen sucht. Während unsere gefühlsbestimmten Entscheidungen, Erlebnisse und Verhaltensweisen am besten funktionieren, wenn wir fest an das gute Gelingen unserer Entwürfe glauben, orientiert sich die Justiz grundsätzlich am Scheitern, an der Frage, wie Konflikte zwischen dem Einzelnen und dem Gesetz geregelt und – falls das nicht gelingt und ein Vertrag gebrochen, gegen ein Gesetz verstoßen wird – die entstandene Schuld verteilt wird.
Obwohl Paartherapie eine sehr praktische Angelegenheit ist, führt die Begegnung mit den Vorwurfswelten unversöhnlicher Paare geradewegs zu der philosophischen Frage, wie aus dem heißen Anfang einer Ehe die eisige Welt von Scheidungskriegen werden kann. Die Analyse zeigt, dass diese heißen Anfänge in solchen Fällen nicht zu einer gemeinsamen Wärme des Denkens übereinander fortgeführt und abgemildert wurden. Sie schlugen in Kälte um, als Illusionen zusammenbrachen, die dauernde Glut versprachen, und sich die Anwälte der Hitze in Henker verwandelten, die einander mit Kälte bestrafen mussten, weil es keinen anderen Ausweg zu geben schien.
Ich habe lange passende Metaphern für den Unterschied zwischen dem juristischen, dichotomen und dem empathischen, kreativen Denken gesucht. Kaltes Denken, warmes Denken erinnert an das schöne Buch von Daniel Kahneman Schnelles Denken, langsames Denken.6 Nun wird oft Denken schlechthin mit Kälte verknüpft und etwa die »kalte« Mathematik der »warmen« Empathie gegenübergestellt. Der Psychologiestudent wird in den ersten Semestern seines Studiums erst einmal durch eine ausgiebige Dusche mit Statistik in seinem Streben abgekühlt, sich in Menschen hineinzuversetzen, sie zu verstehen und ihnen zu helfen.
Demnach benötigen wir zusätzliche Kategorien wie (kalte) Enge und (warme) Weite, Geschlossenheit und Offenheit, Ernst und Spiel, um dem reichen Spektrum der »Gedankentemperatur« näher zu kommen. Und wir bemerken:
Je stärker das kalte Denken unser Erleben durchdringt, desto schwerer wird es uns fallen, das Scheitern von Erwartungen hinzunehmen und nach Enttäuschungen unbeeindruckt fortzufahren. Je mehr wir nach Schuldigen suchen und uns der Frage hingeben, ob wir für eine Kränkung Schadensersatz beanspruchen oder die Justiz als Rächerin einschalten können, desto weniger Kraft und Aufmerksamkeit bleiben für die Bewältigung der Gegenwart.
Es ist das juristische, bewertende, schuldzuschreibende Denken – das kalte Denken –, das Heinrich von Kleist in seiner Studie Das Marionettentheater so eindrucksvoll als zerstörerische Kraft beschrieben hat, welche den Bewegungen die Anmut raubt und uns als Menschen ärmer in der Bandbreite der Einfühlung werden lässt. Das forschende, nach vorne gerichtete Denken, die wärmende Empathie wäre das Vermögen, dessen die Gesellschaft (wieder) fähig sein müsste. Ein erstes Beispiel für die Vergeudung von Energie und den Raub an Lebensqualität durch die Unterwerfung unter juristisches Denken sind defensive Entwicklungen in Medizin und Psychotherapie.7 In den darauf folgenden acht Kapiteln finden Suchbewegungen auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gebieten statt, die die Metapher des kalten und warmen Denkens illustrieren.
1 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. Online verfügbar unter https://www.projekt-gutenberg.org/goethe/faust1/faust1.html [zuletzt abgerufen am 14.01.2020], Mephistopheles im Studierzimmer. Goethe arbeitete selbst als Jurist.
2 Wolfgang Schmidbauer: Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum. Hamburg 2017.
3 Martin Wittmann: »Better call Rainer. Interview mit Rainer Bock«, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.11.2018, https://www.sueddeutsche.de/medien/fernsehserien-better-call-rainer-1.4233806?reduced=true [zuletzt abgerufen am 25.11.2019].
4 Ich verwende meist die männliche Form, wie es meinem Sprachgefühl entspricht, dem ich hier den Vorrang gebe, nicht ohne mentales Grummeln. Ich hoffe auf eine wahrhaft emanzipierte Zukunft, in der Sprachformen als Reminiszenz und nicht mehr als fortbestehender Dominanzversuch erlebt werden.
5 Die anschaulichste Darstellung dieser »Deformation als Qualifikation« ist immer noch Heinrich Bollinger et al.: Medizinerwelten. Die Deformation des Arztes als berufliche Qualifikation. München 1981.
6 Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012.
7 In dem folgenden Text wird ein Thema aus Helikoptermoral aufgegriffen und weiterentwickelt: »Der Schaden durch die Schadensstrafe«, vgl. dort S. 151.