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Das Buch

»Im Zusammenhang mit einer Familientragödie, die sich in den frühen Morgenstunden auf einer Farm in der Nähe von Fairfield im Madison County in Nebraska ereignet hat, sucht die Polizei nach der siebzehnjährigen Sheridan Grant …«

Sheridan, die wenige Stunden zuvor heimlich von der Farm ihrer Eltern in ein neues Leben aufgebrochen ist, kann nicht fassen, was sie in den Nachrichten sieht: Ihr Bruder Esra hat vier Menschen getötet und ihren Vater schwer verletzt – und sie wird gesucht. Zurück auf der Willow Creek Farm, kann Sheridan zwar dem ermittelnden Detective Jordan Blystone helfen, die Hintergründe der schrecklichen Tat zu verstehen. Aber für die Medien und die Einwohner von Madison ist Sheridan diejenige, die ihre Familie zerstört hat, und ihre Adoptivmutter Rachel Grant lässt nichts unversucht, Sheridans Namen in den Schmutz zu ziehen. Als Sheridan klarwird, dass auch von dem Mann, den sie liebt, keine Hilfe zu erwarten ist, trifft sie eine Entscheidung: Sie verlässt die Willow Creek Farm für immer. Ohne zu ahnen, welcher Schmerz und welches Glück auf sie warten …

Die Autorin

Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus. Sie ist die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands, ihre Bücher erscheinen außerdem in über 30 Ländern. Neben den Taunuskrimis schreibt die passionierte Reiterin auch Pferde-Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur, die sie zunächst unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg veröffentlichte. Ihre Saga um die junge Sheridan Grant stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten.

Von Nele Neuhaus sind in unserem Haus bereits erschienen:

In der Serie »Ein Bodenstein-Kirchhoff-Krimi«:

Eine unbeliebte Frau • Mordsfreunde • Tiefe Wunden • Schneewittchen muss sterben • Wer Wind sät • Böser Wolf • Die Lebenden und die Toten • Im Wald • Muttertag

Außerdem: Unter Haien

In der »Sheridan-Grant«-Serie:

Sommer der Wahrheit

Straße nach Nirgendwo

Zeiten des Sturms

Nele Neuhaus

Straße nach Nirgendwo

Roman

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Ullstein

Dieses Buch ist ursprünglich unter dem Autorennamen Nele Löwenberg erschienen.

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ISBN 978-3-8437-2325-1

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch April 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München (Haus); Getty Images / John Finney Photography (Feld, Himmel)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Gaby
Summer of 86

Alles, was man sich im Leben wünschen sollte,
ist ein Ort, wo man hingehört. Wo man geliebt
wird, ohne beurteilt zu werden.
Bedingungslos.

Nebraska,

25. Dezember 1996

»Wir sind da. Da unten muss es sein, Sir.«

Detective Lieutenant Jordan Blystone von der Nebraska State Patrol schrak aus seinen Gedanken auf, als er die Stimme des Hubschrauber-Piloten über seinen Kopfhörer hörte, und blickte nach unten. Blystone bemerkte zwei pulsierende rote Punkte, die im Schnee glühten, und nickte. Während des knapp vierzigminütigen Fluges durch dichtes Schneetreiben über eine schier endlose weiße Fläche, die nur gelegentlich von einsam gelegenen Farmen und kleinen Baumgruppen unterbrochen wurde, hatten sie nicht viel gesprochen, erst recht nicht über das, was Blystone am Ziel des Fluges erwarten mochte. Der Dispatcher hatte eine ganze Flut von Ten-Codes durchgegeben – 10-32, 10-52 und 10-79, die alles Mögliche bedeuten konnten, doch der letzte, ein 10-35, war derjenige gewesen, der Jordan Blystone die Aussicht auf ein gemütliches Weihnachtsessen mit seinen Eltern und den Familien seiner Schwestern vermasselte. Ein Gewaltverbrechen erforderte die Anwesenheit eines Detectives vom Major Crime Unit am Tatort, und da die Mordkommission der Nebraska State Patrol für Tötungsdelikte im ganzen Staat zuständig war, saß Blystone nun im Helikopter und stellte sich innerlich auf das Schlimmste ein. Man hatte einen bewaffneten Mann gemeldet und mehrere Krankenwagen und den Medical Examiner angefordert. Das ließ darauf schließen, dass sich am frühen Weihnachtsmorgen auf der entlegenen Farm eine Schießerei mit Verletzten und mindestens einem Toten ereignet hatte.

Der Pilot, der mehr als sein halbes Leben in Alaska verbracht hatte, hatte keine Probleme mit einem Flug bei diesen Wetterverhältnissen. Er zog die dreißig Jahre alte Bell-47G in einem sanften Bogen nach links und ging nach unten. Blystone konnte durch die Plexiglaskuppel des Helikopters den Streifenwagen erkennen, dessen Besatzung wohl in diesem Augenblick auch den Hubschrauber bemerkt hatte, denn die roten Blinkleuchten auf dem Dach wurden eingeschaltet. Weiter nördlich lag die Farm am Ende einer langen Baumreihe, dort blinkten rot und blau die Lichter mehrerer Krankenwagen. 10:42 Uhr. Seit dem Anruf vom Sheriff des Madison County bei der Zentrale der Nebraska State Patrol waren knapp anderthalb Stunden vergangen, und Jordan Blystone verspürte einen Anflug von Stolz auf die Effizienz seines Teams, selbst an einem Weihnachtsmorgen. Der Hubschrauber landete sanft zwischen den Lichtern der Warnfackeln, und der Polizeibeamte, der aus dem Streifenwagen gestiegen war, um Blystone in Empfang zu nehmen, wandte sein Gesicht ab und hielt seinen Hut fest, damit der nicht mit dem Schnee, den die Rotorblätter aufwirbelten, davon geweht würde.

»Soll ich hier warten, Sir?«, erkundigte sich der Pilot.

»Ich fürchte, es wird länger dauern«, antwortete Jordan Blystone. »Am besten fliegen Sie zur Polizeistation nach Madison rüber und warten dort.«

»Okay.« Der Pilot nickte. »Der Wind hat schon nachgelassen. Ich kann Sie dann später wieder abholen.«

»Danke.« Blystone stülpte die Kapuze seines Daunenparkas über den Kopf, zog die Handschuhe an und öffnete die Tür der verglasten Pilotenkanzel. Wie erwartet raubte ihm die eisige Kälte für ein paar Sekunden den Atem. Minus 23 Grad, gefühlt war es noch zwanzig Grad kälter. In gebückter Haltung stapfte er durch den tiefen Neuschnee zum Streifenwagen hinüber und wartete, bis der Hubschrauber wieder abhob und in östlicher Richtung abdrehte, bevor er den Polizisten begrüßte.

»Steigen Sie ein, Sir«, rief der Deputy, um das Knattern des Hubschraubers zu übertönen. Blystone öffnete die Beifahrertür, setzte sich und klopfte den Schnee von den Schuhen, bevor er einstieg. Die Heizung lief auf vollen Touren, prompt brach ihm der Schweiß aus.

»Detective Jordan Blystone vom NSP Homicide Unit aus Lincoln«, stellte er sich vor und öffnete den Reißverschluss des Parkas.

»Deputy Ken Schiavone vom Madison County Sheriff’s Department.« Der Polizist wischte sich die Eiskristalle aus dem Gesicht und schob den Wählhebel der Automatik in »D«. Der Motor heulte auf, die Schneeketten fraßen sich in den Schnee, und der Crown Victoria setzte sich schlingernd in Bewegung.

»Was genau ist passiert?«, erkundigte sich Blystone.

»Um sieben Uhr kam der Notruf«, antwortete der Deputy. »Schießerei auf der Willow Creek Farm. Der Diensthabende hat zwei Jungs von der Bereitschaft rausgeschickt, als sie hier draußen eintrafen, war schon alles vorbei. Es gab mehrere Tote. Aber was genau passiert ist, kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.«

Schiavone war noch jung, Mitte bis höchstens Ende zwanzig. Das Grauen stand ihm in sein blasses Gesicht geschrieben. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass der Mann einen Toten gesehen hatte; hier draußen hatte die Polizei hauptsächlich mit harmloseren Delikten wie Trunkenheitsfahrten, Körperverletzung bei Schlägereien, Diebstahl, Drogenbesitz und dem einen oder anderen Verkehrsunfall zu tun. Gewaltverbrechen waren auf dem Land selten, die Fälle von Mord- und Totschlag konzentrierten sich in Nebraska laut Statistik auf Städte wie Lincoln, Omaha oder Grand Island.

»Wem gehört die Farm?«, wollte Blystone wissen.

»Die Willow Creek gehört den Grants«, entgegnete Schiavone und verstummte wieder, als sei das Erklärung genug. Er blickte konzentriert durch die verschmierte Windschutzscheibe.

»Kennen Sie die Familie?«

»Ja. Natürlich. Jeder hier kennt die Grants.« Der junge Deputy presste die Lippen zusammen und kämpfte plötzlich mit den Tränen. »Ich war mit Joe zusammen in der Highschool und im Footballteam. Wir waren gute Kumpel. Gestern hab ich ihn noch an der Tankstelle getroffen und … jetzt ist er … tot.«

»Das tut mir leid.«

Diese vier Worte mochten sich wie eine Floskel anhören, aber sie waren keine. Es tat Jordan Blystone tatsächlich um jeden Toten, mit dem er durch seinen Beruf zu tun hatte, leid. Mehr noch, er empfand jedes Verbrechen, dem ein Mensch zum Opfer fiel, als persönliche Kränkung. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich vor ein paar Jahren dazu entschlossen, Mordermittler zu werden.

Der Deputy hatte sich rasch wieder im Griff. Es schien ihm peinlich zu sein, einem Fremden seine Gefühle gezeigt zu haben.

»Ich hab eigentlich nicht so nah am Wasser gebaut«, sagte er verlegen und drosselte das Tempo. Sie hatten das Ende der Zufahrt, die zu beiden Seiten von hohen Bäumen und einer Windschutzhecke vor Schneeverwehungen geschützt war, erreicht, und rollten durch ein weit geöffnetes Tor. Ein anderer Deputy nickte Schiavone zu, öffnete das gelbe Absperrband und ließ sie durchfahren.

»Machen Sie sich deswegen keine Vorwürfe«, erwiderte Blystone. »Kein Mensch, der mit einem Mord zu tun hatte, ist danach noch derselbe. Erst recht nicht, wenn man das Opfer kannte. Erlauben Sie sich, um Ihren Freund zu trauern. Das ist das Letzte, das Sie für ihn tun können.«

Der junge Mann biss sich auf die Unterlippe und nickte. Er brachte das Auto auf dem weitläufigen, verschneiten Hof neben zwei weiteren Streifenwagen zum Stehen.

»Danke«, murmelte er.

»Keine Ursache.« Blystone klopfte ihm leicht auf die Schulter, stieg aus und blickte sich um.

Das große Wohnhaus war mehr als ungewöhnlich für ein Farmhaus im Mittleren Westen, wo man bei Gebäuden erheblich mehr Wert auf Funktionalität und Zweckmäßigkeit legte als auf Schönheit. Dieses aus rotem Backstein erbaute Haus mit seinen zahlreichen Türmchen und Schornsteinen, den verschieden hohen Spitzdächern, Veranden und Balkonen war jedoch alles andere als zweckmäßig, es war wunderschön und beeindruckend. Einen Moment lang bestaunte Blystone die weiß eingefassten Sprossenfenster und die kunstvollen Holzverzierungen an der Fassade und fragte sich, wer wohl auf die bizarre Idee gekommen sein mochte, ein solches Haus mitten in die Weite Nebraskas zu bauen. Vor dem Haus stand ein weißer Ford Pick-up mit geöffneten Türen, zersplitterter Windschutzscheibe und Einschusslöchern im rechten Kotflügel und der Beifahrertür. Blystone registrierte Blutspritzer am Blech des Autos und erkannte die Konturen eines menschlichen Körpers unter einer Rettungsdecke aus Aluminium, die eigentlich dazu gedacht war, Unfallopfer vor Unterkühlung, Nässe und Wind zu schützen. Nur ein paar Meter weiter, an der nordöstlichen Hausecke, lag eine zweite Leiche in blutdurchtränktem Schnee, ebenfalls mit einer goldfarbenen Folie abgedeckt.

Blystone wurde bewusst, was aus der Luft unter den Schneemassen nicht zu erkennen gewesen war: Die Ausmaße der Farm waren gigantisch. Auf der anderen Seite des Hofes, dem Wohnhaus gegenüber, befanden sich mehrere große, rechteckige Gebäude mit Flachdächern und Rolltoren, wahrscheinlich Maschinen- oder Lagerhallen. Dahinter ragten Getreidesilos auf. Ein Stück weiter links hinter einer Reihe blattloser Pappeln erblickte er die Stirnseite einer riesigen Halle, in der Stille konnte er das leise Surren von Ventilatoren hören.

Der quadratische, von einer mächtigen Zeder dominierte Hof verjüngte sich auf zwölf Uhr zu einer baumbestandenen Allee, die eine geometrisch exakte Spiegelung der Auffahrt bildete. Vier mit Holz verkleidete Häuser standen etwas zurückgesetzt in einer Reihe nebeneinander, jedes jeweils etwa zwanzig Meter vom anderen entfernt. Der Schnee im Hof war zertrampelt und von Reifenspuren übersät, eine Katastrophe für das Team von der Kriminaltechnik, das auf dem Weg hierher war, aber nicht zu ändern. Die Rettung von Menschenleben hatte oberste Priorität, selbst wenn dabei wichtige Spuren zerstört wurden.

Ein Officer vom Madison County Sheriff’s Department stapfte durch den Schnee auf ihn zu, er hatte den Hut, der normalerweise zur Uniform gehörte, gegen eine Mütze mit Ohrenklappen aus Kaninchenfell getauscht und trug einen schwarzen Daunenparka mit Rangabzeichen, die ihn als den Sheriff selbst auswiesen.

»Hallo, Sheriff.« Blystone nickte dem Mann zu und präsentierte ihm seine Marke.

Über das feiste, von der arktischen Kälte gerötete Gesicht huschte ein erstaunter Ausdruck. Flinke, helle Augen musterten ihn prüfend.

»Detective.« Der Sheriff tippte mit zwei Fingern an seine Mütze. »Sheriff Lucas Benton aus Madison.«

»Was ist hier passiert?«

»Fünf Tote, zwei Schwerverletzte. Ich bin seit 23 Jahren Sheriff. So ein verdammtes Massaker wie das hier hab ich noch nie gesehen.«

»Wer war der Schütze?«

»Einer der Grant-Söhne. Wir wissen noch nicht, warum.«

»Konnten Sie ihn festnehmen?«

»Negativ.« Der Sheriff schüttelte den Kopf. Wie die meisten Polizisten, die Blystone kannte, verbarg auch Sheriff Benton sein Entsetzen hinter einer undurchdringlichen Miene. »Jemand hat ihn erschossen, sonst hätte es wohl noch mehr Tote gegeben. Der Junge war bewaffnet wie Rambo.«

»Junge?« Blystone war überrascht.

»Esra Grant war erst siebzehn.« Sheriff Benton wandte sich um und Blystone folgte ihm zu der Leiche an der Hausecke. Der Sheriff bückte sich ächzend und zog die Folie ein Stück zur Seite. Schnee rieselte auf das, was vom Gesicht des Toten übrig geblieben war.

»Kaliber .308 Winchester aus ungefähr hundert Fuß Entfernung.« Er wies auf das vorderste der Holzhäuser. »Von der Veranda dort wurde er erschossen.«

»Von wem?«

»Einem indianischen Farmarbeiter.«

Der tote Junge trug einen Tarnanzug und Armeestiefel. Um den Oberkörper hatte er sich zwei Patronengürtel geschnallt, halb unter seinem Körper lag ein Gewehr. Blystone kniete sich in den Schnee und runzelte die Stirn.

»Eine Ithaca Mag-10 Shotgun mit abgesägtem Lauf«, stellte er fest und blickte den Sheriff an. »Wie kommt ein Siebzehnjähriger an eine so üble Waffe?«

»Keine Ahnung. Auf ’ner Farm gibt’s jede Menge Waffen«, erwiderte der Sheriff. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft zu einer weißen Wolke. »Zuerst hat er übrigens mit ’ner Pistole geschossen, einer Smith & Wesson 44 Magnum Modell 29

Das Funkgerät des Sheriffs krächzte, er ging dran und gab ein paar Befehle. Blystone betrachtete eingehend die Leiche des Jungen und bemerkte eine Tätowierung am Hals des Toten, der für einen Siebzehnjährigen erstaunlich groß und kräftig gewesen war und schätzungsweise an die zweihundertdreißig Pfund gewogen hatte. Das Wort »HATE«, das in altmodischen Lettern in die blasse Haut tätowiert worden war, ließ erste Rückschlüsse auf den Gemütszustand des Täters zu. War es purer Hass gewesen, der den Jungen dazu veranlasst hatte, am frühen Morgen bis an die Zähne bewaffnet loszuziehen um seine Familie auszulöschen? Ob Alkohol oder Drogen bei diesem Amoklauf eine Rolle gespielt hatten, würde später bei einer Obduktion geklärt werden. Auch hier, auf dem flachen Land, war es heutzutage nicht mehr sonderlich schwer, an Alkohol, Crystal Meth oder Crack zu kommen.

»Die Presse hat schon Wind von der Sache hier gekriegt«, teilte der Sheriff Blystone mit und deckte die Leiche des Amokläufers wieder zu. »Wir sollten die Leichen abtransportieren, bevor die Bluthunde vom Fernsehen hier mit ’nem Hubschrauber aufkreuzen und aus der Luft filmen.«

»Tut mir leid, das geht nicht.« Blystone klopfte sich den Schnee von den Hosenbeinen. »Der Tatort muss so bleiben, bis wir alles fotografiert und kriminaltechnisch untersucht haben.«

»Hören Sie, Junge, ich will keine Bilder von Leichen in meinem County im Fernsehen sehen«, erwiderte Benton hitzig. »Und ich hab nicht genügend Leute, um hier alles abzuriegeln.«

Blystone war mit seinen 33 Jahren alles andere als ein »Junge«, aber er ignorierte die respektlose Anrede. Benton und seine Männer befanden sich in einer extremen emotionalen Ausnahmesituation und ihnen fehlten das psychologische Training und die Erfahrung, um innerlich Distanz wahren zu können.

»Aus Norfolk ist Verstärkung unterwegs«, sagte er, wohl wissend, wie wenig diese Nachricht dem Sheriff passen würde. »Und die Kriminaltechniker sind auf dem Weg aus Omaha. Bis sie eintreffen, wird hier nichts mehr verändert.«

Der Sheriff schnaubte zornig, und Blystone wusste, dass das letzte bisschen Bereitschaft zu einer vernünftigen Zusammenarbeit dahin war. Auch das kannte er leider nur zu gut. Die örtlichen Sheriffs reagierten nicht selten empfindlich wie Highschool-Prinzessinnen, wenn es um ihr Hoheitsgebiet ging. Kein Sheriff gestand sich gern ein, von einer Situation überfordert zu sein und die State Troopers zu Hilfe rufen zu müssen.

»Wer sind die anderen Toten?«

»Fragen Sie doch Ihre Kriminaltechniker«, knurrte der Sheriff beleidigt, und es fehlte nur noch, dass er Blystone vor die Füße spuckte. »Wir verschwinden hier. Meine Jungs haben Familien, und heute ist Weihnachten.«

Drohungen und Befehle würden nichts nützen, ebenso wenig würde es den Sheriff beeindrucken, wenn Blystone auf seinen höheren Rang pochte oder ihm mit irgendwelchen Paragraphen kam. Hier waren Fingerspitzengefühl und Sachlichkeit gefragt. Über beides verfügte Blystone, der lange genug selbst Uniform getragen hatte, um zu wissen, wie der Sheriff tickte.

»Sheriff«, sagte er deshalb versöhnlich. »Sie und Ihre Männer machen einen großartigen Job, und ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das hier für Sie alle ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie uns weiterhin unterstützen. Aber es gibt leider nun mal Vorschriften bei Mordermittlungen, die ich nicht umgehen darf, ohne dass es Ärger gibt.«

Der Sheriff kämpfte einen Moment mit seinem gekränkten Stolz, er trat mit der Stiefelspitze in den Schnee wie ein trotziger Junge, dann zuckte er schließlich die Schultern.

»Da vorne am Pick-up, das ist Joe, der drittälteste Sohn«, brummte er zu Blystones Erleichterung. »Außerdem hat der Junge drei Farmarbeiter erschossen und seinen Vater und seinen zweitältesten Bruder schwer verletzt.«

Er schob die behandschuhten Hände in die Taschen seiner Jacke und bedeutete Blystone mit einer herrischen Kopfbewegung, ihm zu folgen. Sie gingen an dem ersten der vier Häuser vorbei. Auf der Veranda des zweiten Hauses, dem größten in der Reihe, lagen zwei Tote.

»Leroy und Carter Mills. Ihr Vater George ist der Vorarbeiter auf der Willow Creek«, sagte der Sheriff. »Die Jungs wohnten noch bei ihren Eltern und arbeiteten auch auf der Farm.«

Auf einen Wink von ihm zogen zwei seiner Leute die Decken weg, damit Blystone die Leichen betrachten konnte. Er hatte an den Schauplätzen von Unfällen, Mord und Totschlag schon schreckliche Dinge gesehen, aber der Anblick der beiden jungen Männer traf ihn mit Urgewalt. Die Brüder waren beide höchstens zwanzig Jahre alt gewesen und trugen noch ihre Schlafanzüge. Der Schütze hatte sie offenbar erschossen, als sie, aufgeschreckt durch die Schüsse im Nachbarhaus, aus der Haustür getreten waren.

Mitten auf dem Weg zwischen dem Mills-Haus und Haus Nummer 3 lag eine weitere Leiche.

»Lyle Patchett«, erklärte Sheriff Benton. »Ein Farmarbeiter, der im Gesindehaus hinten bei den Stallungen wohnt. Hat über zwanzig Jahre hier gearbeitet.«

Blystone nickte. Keiner der drei Männer war bewaffnet gewesen, und keiner von ihnen hatte versucht, sich vor dem Schützen in Sicherheit zu bringen. Sie hatten ihren Mörder gut gekannt und offenbar geglaubt, ihn aufhalten zu können. Diese Fehleinschätzung hatten sie mit ihren Leben bezahlt.

»Angefangen hat’s wohl hier drüben, in der Nummer 3«, sagte der Sheriff und ging weiter. »Esra muss die Tür eingetreten haben und direkt in das Zimmer gegangen sein, in dem sein Vater geschlafen hat. Auf dem Flur hat er dann seinen Bruder Hiram niedergeschossen.«

»Was ist mit den Angehörigen der Opfer?«

»Die Eltern der Mills-Jungs sind bei Verwandten in Colorado. Sie sind schon informiert.«

»Und die Mutter beziehungsweise Ehefrau von Mr Grant?«

»Mrs Rachel Grant. Eine starke Frau, die so schnell nichts umhaut«, sagte Benton. »Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, kann man ihr wohl nicht verdenken. Ich hab sie nach Madison ins Krankenhaus bringen lassen, genauso wie den verletzten Sohn. Vernon Grant ist nach Omaha geflogen worden. Um ihn steht’s schlecht. Er hat einen Kopf- und einen Bauchschuss abgekriegt. Der älteste Sohn und seine Frau sind unverletzt geblieben.«

Jordan Blystone betrachtete das gesplitterte Türschloss, betrat das Haus und sah sich um. Überall war Blut: an den Wänden, auf dem Boden, an der Haustür. Er folgte dem Sheriff den Flur entlang zum hintersten der drei Zimmer.

»Hier hat’s Vernon erwischt.« Benton blieb im Türrahmen stehen, Blystone ging an ihm vorbei und blickte sich um. Wieso hatte der Vater des Amokschützen nicht in seinem Haus geschlafen, sondern in einem der Arbeiterhäuschen?

Blystone bemerkte Schulbücher auf dem Schreibtisch, einen Plüschteddybär, der ein Herz mit dem Schriftzug Vergiss mich nicht in den Tatzen hielt, Poster von Madonna und Bruce Springsteen an den Wänden. Das von Blut durchtränkte Bettzeug war rosaweiß kariert, auf dem Fußboden lagen rosa Kissen. Hier stimmte etwas nicht. Blystones Blick wanderte über die schlichten Möbel, er öffnete eine Tür des Kleiderschrankes. Mädchenklamotten. Bücher stapelten sich auf dem Boden und auf jeder freien Fläche, auf der kleinen Stereoanlage lagen CDs von Bryan Adams, John Mellencamp und Whitney Houston. Über der Lehne des Schreibtischstuhls hing die Kleidung eines erwachsenen Mannes: Hemd, Pullover, Hose mit Gürtel. Darunter ein Paar Schuhe und Socken.

Was hatte Vernon Grant hier zu suchen gehabt, im Zimmer eines jungen Mädchens? Hatte er etwa ein Verhältnis gehabt?

»Wer wohnt in diesem Zimmer?«, fragte Blystone.

»Keine Ahnung.« Der Sheriff setzte seine Fellmütze ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, dann blickte er sich um, und seine Miene wurde finster.

»Die Einzige, die wir übrigens bisher nicht finden konnten, ist die Tochter. Sheridan. Sie muss sich aus dem Staub gemacht haben.« Seine flinken hellen Augen wanderten zu dem Bett. »Würde mich nicht wundern, wenn die was mit der ganzen Sache zu tun hätte. Ist’n richtiges Früchtchen und gehört eigentlich nicht mal zur Familie.«

»Ach?« Blystone horchte auf.

»Ist’n Adoptivkind. Sind anständige Leute, die Grants. Sie haben dem elternlosen Ding ein ordentliches Zuhause gegeben, aber das Mädchen hat eine Vorliebe für zwielichtige Gestalten. Hat Vernon und Rachel nichts als Ärger gemacht, das kleine Flittchen.«

»Wie alt ist die Tochter?«

»Sechzehn, siebzehn.« Der Sheriff zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Äußerst hübsches Ding.«

Es war eindeutig, worauf er anspielte und wem seine Sympathien galten, aber Jordan Blystone neigte nicht dazu, sich vorschnell eine Meinung zu bilden, schließlich war es bisher nur eine Vermutung, dass dies das Zimmer von Sheridan, der Adoptivtochter, war. Allerdings wäre dies nicht der erste Amoklauf, der sich als Familiendrama entpuppte. War Vernon Grant, ein Mann in den besten Jahren, etwa den Reizen seiner hübschen, minderjährigen Adoptivtochter erlegen? Hatte sein jüngster Sohn die heimliche Beziehung entdeckt und aus Loyalität zu seiner Mutter auf seinen Vater geschossen? Der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen und womöglich ein Motiv für die Tat. Noch war das zwar reine Spekulation, aber die Details würden irgendwann ein Gesamtbild ergeben.