Für Benedikt XVI.,
den unvergleichlichen Baumeister im Wiederaufbau der Kirche
Für Franziskus,
den treuen und ergebenen Sohn des heiligen Ignatius
Für die Priester in der ganzen Welt,
als Danksagung anlässlich meines Goldenen Priesterjubiläums
Das Geheimnis des Judas Iskariot
1. Die Krise des Glaubens
2. Die Krise des Priestertums
3. Die Krise der Kirche
4. Die Krise der abendländischen Identität und die geistige Trägheit
5. Der Hass auf den Menschen
6. Der Hass auf das Leben
7. Wohin geht die Welt? – Bruch mit der Vergangenheit
8. Hass, Spott und Hohn
9. Die Krise des Abendlandes
10. Die Irrwege des Abendlandes
11. Globalismus – Unerbittliche Feindschaften
12. Die leeren Verheißungen der Emanzipation
13. Die »Schöne Neue Welt« als Pfefferkuchenhaus
14. Der Kapitalismus und das Erscheinungsbild postmoderner Demokratien
15. Der Trauermarsch der Dekadenz
16. Religionsfreiheit
17. Einübung der Kardinaltugenden
18. Einübung der göttlichen Tugenden
Nichts soll mich ängstigen
Gebet: Herr, bleibe bei uns
»Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?«
Röm 8,311
»Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.«
(Lk 19,40)
»Was ist ein Verräter? – Na, einer, der schwört und lügt.«2
William Shakespeare, Macbeth
Warum ergreife ich noch einmal das Wort? In meinem letzten Buch habe ich zur Stille aufgerufen. Doch ich kann nicht mehr schweigen. Ich darf nicht länger schweigen. Viele Christen haben die Orientierung verloren. Täglich erhalte ich von allen Seiten Hilferufe von Menschen, die nicht mehr wissen, was sie glauben sollen. Täglich empfange ich in Rom entmutigte und verletzte Priester. Die Kirche macht die Erfahrung einer dunklen Nacht, sie ist umhüllt und verblendet vom Mysterium iniquitatis, dem Geheimnis der Bosheit.
Jeden Tag erreichen uns fürchterliche Nachrichten. Es vergeht keine Woche, ohne dass ein neuer Fall von sexuellem Missbrauch aufgedeckt wird; jeder einzelne Skandal zerreißt unser Herz als Söhne der Kirche. Der Rauch Satans, wie Paul VI. sagte, hat sich über uns gesenkt. Die Kirche sollte ein Ort des Lichtes sein; doch ist sie zu einem dunklen Loch geworden. Sie sollte ein sicheres und friedliches Heim sein; doch was für eine Räuberhöhle ist sie geworden! Wie können wir es ertragen, dass sich Raubtiere in unsere Reihen eingeschlichen haben? Viele treue Priester treten täglich als aufmerksame Hirten voller Milde, als sichere Führer auf. Doch einige Männer Gottes sind zu Agenten des Bösen geworden; sie wollten die reinen Seelen der Allerkleinsten verderben, sie haben das Antlitz Christi entehrt, das in jedem Kind gegenwärtig ist.
Alle Priester der Welt fühlten sich durch die vielen Gräueltaten verraten und gedemütigt. In der Nachfolge Christi erlebt die Kirche das Geheimnis der Geißelung; ihr Leib ist zerfetzt. Und wer führt die Schläge aus? Es sind die Männer, die sie eigentlich lieben und beschützen sollten! Ja, ich wage mit den Worten von Papst Franziskus zu sagen: Unsere Zeit ist bedroht vom Geheimnis des Judas. Unsere Kirchenmauern triefen vom Geheimnis des Verrats. Es zeigt sich auf abscheulichste Weise im Missbrauch von Minderjährigen. Doch wir müssen den Mut haben, uns unseren Sünden zu stellen: Dieser Verrat wurde vorbereitet und verursacht durch viele andere, subtilere, weniger sichtbare, doch ebenso tiefe Sünden. Schon seit Langem durchleben wir das Geheimnis des Judas. Was heute ans Tageslicht tritt, hat tiefe Gründe, die wir mutig und klar aufzeigen müssen. Die Krise, in der sich der Klerus, die Kirche und die Welt befinden, ist eine zutiefst spirituelle Krise, eine Glaubenskrise. Wir erleben das Geheimnis der Bosheit, des Verrats – das Geheimnis des Judas.
Ich möchte mit Euch die Gestalt des Judas betrachten. Jesus hatte ihn wie alle Apostel berufen. Jesus liebte ihn! Er hatte ihn ausgesandt, die Frohe Botschaft zu verkünden. Doch mehr und mehr machten sich Zweifel in Judas’ Herzen breit. Ganz allmählich begann er, die Lehre Jesu zu verurteilen. Er sagte sich: Dieser Jesus ist zu anspruchsvoll, zu ineffektiv. Judas wollte helfen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten, sofort, mit menschlichen Mitteln und nach seinen eigenen Vorstellungen. Dabei hatte er die Worte Jesu gehört: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege« (Jes 55,8). Trotz allem hat sich Judas entfernt und Christus nicht weiter Gehör geschenkt. Er begleitete Ihn nicht länger in Seinen Nächten der Stille und des Gebets. Judas flüchtete sich in die Angelegenheiten dieser Welt, er kümmerte sich um die Kasse, um das Geld und um die Geschäfte. Der Lügner folgte Jesus weiterhin nach, doch er glaubte nicht mehr; er murrte. Am Gründonnerstagabend wusch ihm der Meister die Füße. Sein Herz hätte so verhärtet sein müssen, dass er sich nicht einmal hätte berühren lassen wollen. Doch Jesus kniete vor ihm nieder als demütiger Diener und wusch die Füße jenes Mannes, der Ihn den Feinden ausliefern sollte. Ein letztes Mal richtete Jesus Seinen Blick auf ihn, voller Milde und Erbarmen. Aber der Teufel hatte sich bereits in das Herz des Verräters eingeschlichen; Judas wich dem Blick nicht aus. Innerlich mag er wohl das alte Wort der Revolte gesprochen haben: »Non serviam – ich werde nicht dienen.« Beim Letzten Abendmahl kommunizierte er, obwohl sein Plan bereits feststand. Dies war der erste sakrilegische Kommunionempfang der Geschichte. Judas war ein Verräter.
Für alle Ewigkeit ist Judas der Name des Verräters und sein Schatten schwebt noch heute über uns. Ja, auch wir haben verraten, wie er! Wir haben das Gebet aufgegeben. Überall hat sich das Übel des auf Effizienz erpichten Aktivismus eingeschlichen. Wir versuchen, die Organisation großer Unternehmen nachzuahmen, und vergessen dabei, dass allein das Gebet das Blut ist, welches durch die Adern der Kirche fließt. Wir wissen, dass wir keine Zeit verlieren dürfen, und wollen unsere Zeit praktischen, sozialen Werken widmen. Wer nicht mehr betet, hat schon Verrat begangen. Er ist schon zu sämtlichen Kompromissen mit der Welt bereit: unterwegs in den Spuren des Judas.
Wir dulden jedwede Infragestellung der katholischen Kirche, jeden Zweifel an ihrer Lehre. Unter dem Deckmantel sogenannter intellektueller Haltungen macht es den Theologen Spaß, Dogmen aufzulösen und die Moral ihres tiefen Sinnes zu berauben. Der Relativismus ist die Maske eines scheinbar intellektuellen Judas. Warum wundert es uns, wenn wir hören, dass so viele Priester ihre Berufung an den Nagel hängen? Wir relativieren den Sinn des Zölibats, wir erheben Anspruch auf ein Privatleben, was der Mission des Priesters widerspricht. Es geht so weit, dass einige sogar das Recht auf homosexuelle Praktiken verlangen. Ein Skandal folgt dem nächsten, unter Priestern ebenso wie unter Bischöfen.
Das Geheimnis des Judas breitet sich aus. Ich möchte allen Priestern zurufen: Bleibt stark und aufrichtig! Ja, wegen einiger Amtsträger werdet ihr alle als Homosexuelle abgestempelt. Man wird die katholische Kirche durch den Schmutz ziehen und ihr den Anschein verleihen, dass alle ihre Priester heuchlerisch und machtgierig seien. Euer Herz beunruhige sich nicht! Am Karfreitag wurde Jesus mit allen Verbrechen der Welt beladen und ganz Jerusalem schrie: »Ans Kreuz mit Ihm! Ans Kreuz mit Ihm!« Die tendenziösen Ermittlungen zeigen uns, in welch einer Katastrophe sich die Kleriker befinden, die verantwortungslos mit ihrem geschwächten geistigen Leben umgehen und sich nicht einmal an die Gebote der Kirche halten. Bleibt dennoch ruhig und vertraut wie die Gottesmutter und der heilige Johannes am Fuße des Kreuzes. Die unmoralischen Priester, Bischöfe und Kardinäle werden in keiner Weise das leuchtende Zeugnis von mehr als 400 000 Priestern in der ganzen Welt verblassen lassen, die täglich treu, heiligmäßig und freudig dem Herrn dienen. Trotz der schweren Angriffe auf die Kirche wird sie nicht untergehen. Das hat der Herr versprochen und Sein Wort wankt nicht.
Die Christen zittern, taumeln und zweifeln. Für sie wollte ich dieses Buch schreiben. Ich will ihnen zurufen: Zweifelt nicht! Haltet an der Lehre fest! Haltet am Gebet fest! Ich schreibe dieses Buch, um die wahren Christen und die treuen Priester zu ermutigen.
Das Geheimnis des Judas, das Geheimnis des Verrats ist ein feines Gift, mit dem der Teufel uns Zweifel an der Kirche einträufeln möchte. Er will, dass wir sie als eine menschliche Organisation betrachten, die sich in der Krise befindet. Dabei ist sie viel mehr als das: Sie ist Christus selbst, der in ihr fortdauert. Der Teufel treibt uns zu Spaltung und Schisma, er möchte uns glauben machen, die Kirche sei eine Verräterin. Doch die Kirche betrügt uns nicht. Obwohl sie voller Sünder ist, ist sie selbst ganz ohne Sünde! Jene Menschen, die Gott suchen, werden stets genügend helle Orte in ihr finden. Lasst Euch nicht durch Hass, Trennung und Manipulation in Versuchung führen. Es geht nicht darum, eine Partei zu gründen, mit der sich die einen gegen die anderen erheben. Bereits der hl. Augustinus hatte gesagt: »Wie sehr dies zu vermeiden ist, hat der göttliche Meister schon im Voraus gezeigt, indem er das Volk hinsichtlich schlechter Vorgesetzten beruhigte und mahnte, dass niemand um ihretwillen sich vom Lehrstuhle des wahren Glaubens abwenden solle. […] Lasst uns also nicht wegen der Bösen in böser Spaltung zugrunde gehen.«3
Die Kirche leidet, sie wird von Feinden aus den eigenen Reihen verhöhnt. Wir dürfen die Kirche nicht im Stich lassen. Alle Hirten sind sündige Menschen und dennoch tragen sie in sich das Mysterium Christi.
Was sollen wir also tun? Es geht nicht darum, sich zu organisieren und irgendwelche Strategien umzusetzen. Wie können wir meinen, dass wir von uns aus in der Lage sind, die Dinge zu verbessern! Wir würden damit nur wieder in die Fußstapfen des Judas treten, die von der Illusion in den Tod führen.
Angesichts des Übermaßes an Sünden in den Reihen der Kirche sind wir versucht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind versucht, die Kirche aus eigenen Kräften zu reinigen. Doch das wäre ein Fehler. Was werden wir tun? Eine Partei gründen? Eine Bewegung? Die schlimmste Versuchung ist sicher der Feldzug der Spaltung. Unter dem Vorwand, etwas Gutes zu tun, trennt man sich, kritisiert und entzweit. Der Teufel lacht sich ins Fäustchen, denn es ist ihm gelungen, die Guten unter der Maske des Rechtschaffenen in Versuchung zu führen. Wir geben der Kirche ihre Gestalt nicht durch Hass und Spaltung zurück. Wir erneuern sie, indem wir selbst als Erste umkehren. Zögern wir nicht, jeder an seinem Platz der Sünde zu entsagen; fangen wir bei unseren eigenen Vergehen an.
Mich schaudert bei dem Gedanken, dass Christi nahtloses Gewand erneut zu zerreißen droht. In Seinem Todeskampf sah er die Trennungen der Christenheit voraus. Kreuzigen wir Ihn nicht ein zweites Mal! Sein Herz fleht uns an: »Mich dürstet nach der Einheit!« Der Teufel möchte nicht beim Namen genannt werden. Er hüllt sich in Nebel und Zwielicht. Wir müssen klar sein! »Wer Dinge falsch benennt, trägt zum Unheil in der Welt bei«, sagte Albert Camus.
Ich werde nicht davor zurückschrecken, in diesem Buch Klartext zu sprechen. Mit der Unterstützung des Autors und Essayisten Nicolas Diat, ohne den nur wenig möglich gewesen wäre und der mir seit dem Verfassen von Gott oder Nichts in unerschütterlicher Treue zur Seite gestanden hat, möchte ich mich vom Wort Gottes inspirieren lassen, das wie ein zweischneidiges Schwert ist. Fürchten wir uns nicht zu sagen, dass die Kirche eine grundlegende Reform nötig hat und dass diese sich durch unsere eigene Umkehr verwirklicht.
Verzeiht mir, wenn einiger meiner Worte Euch schockieren. Ich möchte Euch nicht mit beschwichtigenden und lügnerischen Äußerungen einschläfern. Ich suche weder Erfolg noch Ansehen. Dieses Buch ist der Aufschrei meiner Seele! Es ist ein Schrei der Liebe zu Gott und zu meinen Brüdern. Ich schulde Euch, liebe Christen, die Wahrheit, die befreit. Die Kirche befindet sich in Agonie, weil die Hirten sich fürchten, in aller Klarheit die Wahrheit auszusprechen. Wir haben Angst vor den Medien, Angst vor den Meinungen, Angst vor unseren eigenen Brüdern! Doch der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe.
Auf den folgenden Seiten biete ich Euch heute das Herzstück meines Lebens an: den Glauben an Gott. Es bleibt mir wenig Zeit, ehe ich vor den ewigen Richter treten werde. Was soll ich Ihm erwidern, wenn ich Euch nicht die Wahrheit weitergegeben habe, die ich selbst empfangen durfte? Wir Bischöfe müssten erzittern bei dem Gedanken an unser schuldhaftes Schweigen, an unser Schweigen als Mittäter, an unser Schweigen aus Weltgefälligkeit.
Ich werde oft gefragt: Was sollen wir tun? Wo Spaltung droht, muss die Einheit gestärkt werden, die mit jener in der Welt herrschenden Uniformität nichts zu tun hat. Die Einheit der Kirche hat ihren Ursprung im Herzen Jesu. Wir müssen uns fest an Ihn halten, uns mit Seinem Herzen vereinen, das von der Lanze geöffnet wurde, um für uns Heimstatt und Zufluchtsort zu sein. Die Einheit der Kirche steht auf vier Säulen: das Gebet, die katholische Lehre, die Liebe zu Petrus und die gegenseitige Liebe. Diese Säulen müssen das Fundament unserer Seele und die Basis all unserer Handlungen sein.
Ohne Verbundenheit mit Gott ist jedes Unternehmen zur Stärkung der Kirche und des Glaubens nichtig. Ohne Gebet gleichen wir lärmenden Pauken. Wir sinken auf eine Stufe mit den Gauklern in den Medien herab, die viel Lärm machen und nichts als Wind produzieren. Das Gebet sollte unser eigentlicher Auftrieb sein, der uns zu Gott erhebt. Wohin sonst sollten wir streben? Wozu sind wir Christen, Priester, Bischöfe auf Erden, wenn nicht um selbst einmal vor Gott zu treten und andere dorthin zu führen? Es ist an der Zeit, dies zu verkünden! Es ist an der Zeit, unsere Berufung in die Tat umzusetzen! »Wer betet, wird sicher gerettet, wer nicht betet, geht sicher verloren«, sagte der hl. Alfons Maria von Liguori. Davon bin auch ich überzeugt, denn eine Kirche, die das Gebet nicht als ihren wertvollsten Schatz hütet, rennt ins Verderben. Wenn wir nicht wieder den Sinn von langen, in Geduld ausharrenden Nachtwachen mit dem Herrn erkennen, verraten wir Ihn. Die Apostel haben es getan – halten wir uns für besser als sie? Besonders die Priester brauchen unbedingt eine betende Seele. Ohne Gebet ist die effizienteste priesterliche Handlung unnötig, wenn nicht sogar schädlich. Sie wiegt uns in der Illusion, Gott zu dienen, während wir doch das Werk des Feindes vollbringen. Wir müssen nicht die Zahl unserer Andachtsübungen erhöhen – wir sollen einfach schweigen und anbeten, uns auf die Knie werfen und in heiliger Scheu und Ehrfurcht die Liturgie begehen. Sie ist das Werk Gottes und kein Theater.
Ich wünschte, meine Brüder im bischöflichen Dienst würden niemals ihre enorme Verantwortung vergessen. Liebe Freunde, wollt Ihr die Kirche erneuern? Dann kniet nieder! Es gibt kein anderes Mittel! Wenn ihr dieses Ziel auf einem anderen Weg erreichen wollt, wird euer Tun nicht von Gott kommen. Allein Er kann uns retten – und Er wird es nur tun, wenn wir Ihn darum bitten. Mein Herzenswunsch ist, dass von der ganzen Welt ein intensives und ununterbrochenes Gebet aufsteigt, ein glühender Lobpreis und ein flehentliches Bittgebet. An dem Tag, da dieser stille Gesang in den Herzen erklingt, wird der Herr endlich erhört werden und kann durch Seine Kinder handeln. Bis dahin stehen wir Ihm mit unserem Tatendrang und Geschwätz nur im Weg. Wenn wir nicht wie Johannes am Herzen Jesu ruhen, dann haben wir nicht die Kraft, Ihm bis zum Kreuz zu folgen. Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, dem Schlag Seines Herzens zu lauschen, dann verlassen wir unseren Gott, ja, wir verraten Ihn, wie es selbst die Apostel taten.
Wir müssen die Einheit der Kirche nicht erfinden oder konstruieren, denn der Ursprung unserer Einheit geht uns voraus und ist uns geschenkt: Wir haben die Offenbarung empfangen. Wenn jeder sich für seine Meinung starkmacht und die eigene Originalität einbringt, wird sich überall Spaltung ausbreiten. Es schmerzt mich zu sehen, wie viele Hirten die katholische Lehre verscherbeln und Trennung unter den Gläubigen hervorrufen. Wir schulden dem christlichen Volk eine klare, unerschütterliche und sichere Lehre. Wie kann es sein, dass Bischofskonferenzen sich gegenseitig widersprechen? Verwirrung verhindert die Anwesenheit Gottes!
Die Einheit des Glaubens verlangt eine Einheit im Lehramt durch Raum und Zeit. Wenn wir eine neue Lehre empfangen, muss sie stets in Übereinstimmung mit der vorigen Lehre gedeutet werden. Durch Brüche und Revolutionen zerstören wir jene Einheit, die in der heiligen Kirche durch die Jahrhunderte hindurch Bestand hatte. Dies bedeutet nicht, dass wir zur Erstarrung verdammt sind. Allerdings muss jede Entfaltung des Glaubens zu einem besseren Verständnis und einer Vertiefung der Vergangenheit führen. Die Hermeneutik der Reform in der Kontinuität, welche Benedikt XVI. so unmissverständlich lehrte, ist eine Bedingung, ohne die es keine Einheit geben kann. Diejenigen, die mit großem Getöse Veränderung und Bruch verkündigen, sind falsche Propheten. Ihnen geht es nicht um das Wohl der Herde, sondern sie sind Mietlinge, die sich heimlich in den Schafstall eingeschlichen haben. Unsere Einheit entsteht aus der Wahrheit der katholischen Lehre; nichts sonst bringt uns zusammen. Das Streben nach Ansehen in den Medien auf Kosten der Wahrheit ist im Grunde vergleichbar mit dem Werk des Judas.
Fürchten wir uns nicht! Welches größere Geschenk können wir der Menschheit anbieten als die Botschaft des Evangeliums? Gewiss: Jesus ist anspruchsvoll; Ihm nachfolgen heißt, täglich sein Kreuz auf sich zu nehmen. Die Versuchung der Feigheit lauert überall, besonders an den Türen der Hirten. Die Lehre Jesu erscheint schwer erträglich. Wie viele unter uns sind versucht, bei sich zu denken: »Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?« (Joh 6,60). Der Herr wendet sich an Seine Auserwählten, an uns Priester und Bischöfe, und fragt uns erneut: »Wollt auch ihr weggehen?« (Joh 6,67). Er blickt uns in die Augen und fragt jeden einzeln: »Wirst du mich verlassen? Wirst du aufhören, den Glauben in seiner Fülle zu verkünden? Oder wirst du den Mut haben, meine Realpräsenz in der Eucharistie zu predigen? Wirst du so kühn sein, die jungen Menschen zum geweihten Leben aufzurufen? Wirst du die Stärke besitzen zu sagen, dass der Kommunionempfang ohne die regelmäßige Beichte seinen Sinn verliert? Wirst du beherzt genug sein, um an die wahre Unauflöslichkeit der Ehe zu erinnern? Wirst du genug Liebe besitzen, es selbst vor denen zu sagen, die dir im Nachhinein Vorwürfe machen könnten? Wirst du den Mut haben, die in einer neuen Beziehung lebenden Geschiedenen voller Milde einzuladen, ihr Leben zu ändern? Suchst du Erfolg oder willst du mir nachfolgen?« Gott wünscht sich, dass wir mit dem hl. Petrus voller Liebe und Demut antworten können: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des Ewigen Lebens« (Joh 6,68).
Der Papst trägt das Geheimnis des Simon Petrus, zu dem Christus einmal gesagt hatte: »Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen« (Mt 16,18). Das Geheimnis des Petrus ist ein Geheimnis des Glaubens. Jesus wollte Seine Kirche einem konkreten Menschen übergeben. Um uns daran zu erinnern, ließ Er es zu, dass dieser Mann Ihn dreimal vor allen verleugnete, bevor Er ihm die Schlüssel Seiner Kirche übergab. Wir wissen, dass das Schiffchen der Kirche einem Menschen nicht aufgrund seiner außerordentlichen Fähigkeiten anvertraut ist. Doch wir glauben, dass diesem Mann stets der göttliche Hirte zur Seite steht, damit er an der Lehre des Glaubens festhalte.
Fürchten wir uns nicht! Hören wir, wie Jesus sagt: »Du bist Simon, […] du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels« (Joh 1,42). Von Anfang an wird der Teppich der Kirchengeschichte gewoben: Die unfehlbaren Entscheidungen der Nachfolger Petri mit einem goldenen Faden, mit einem schwarzen Faden die menschlichen und unvollkommenen Taten der Päpste, der Nachfolger Simons. In diesem unverständlichen Wirrwarr der Fäden spüren wir die kleine Nadel, die von Gottes unsichtbarer Hand geführt wird. Er ist darauf bedacht, in diesen Teppich den einzigen Namen zu sticken, durch den wir gerettet werden können: den Namen Jesu Christi!
Liebe Freunde, Eure Hirten sind voller Fehler und Unvollkommenheiten. Aber wir bringen in der Kirche keine Einheit zustande, indem wir die Priester verachten. Scheut Euch nicht, von ihnen den katholischen Glauben und die Spendung der Sakramente des göttlichen Lebens einzufordern. Erinnert Euch an das Wort des hl. Augustinus: »Wenn Petrus tauft, ist es Jesus, der tauft. Und wenn Judas tauft, ist es immer noch Jesus, der tauft!«4 Selbst der unwürdigste aller Priester bleibt ein Werkzeug der göttlichen Gnade, wenn er die Sakramente spendet. Seht, wie weit Gottes Liebe zu uns geht! Er lässt es zu, dass die sakrilegischen Hände unwürdiger Priester Seinen eucharistischen Leib halten. Wenn Ihr meint, dass Eure Priester und Bischöfe keine Heiligen sind – dann seid selbst Heilige, für sie. Tut Buße und fastet, um ihre Fehler und ihre Feigheit wiedergutzumachen. Nur auf diese Weise können wir die Last des anderen tragen.
Erinnern wir uns an die Worte des Zweiten Vatikanischen Konzils: Die Kirche ist das Sakrament »für die Einheit der ganzen Menschheit«.5 Doch sie ist entstellt durch Hass und Zerwürfnisse. Es ist an der Zeit, wieder mehr Wohlwollen füreinander zu finden. Es ist an der Zeit, Argwohn und Verdacht ein Ende zu setzen! Für uns Katholiken ist es an der Zeit, einen großen Schritt zur »inneren Versöhnung« zu gehen, um mit den Worten Benedikts XVI. zu sprechen.6
Ich schreibe diese Worte an meinem Schreibtisch, von wo ich auf den Petersplatz schauen kann. Er öffnet weit seine Arme, um die ganze Menschheit umarmen zu können. Denn die Kirche ist eine Mutter, die uns ihre Arme öffnet! Eilen wir dorthin und drücken wir uns fest aneinander! In ihrem Schoß gibt es keine Bedrohung mehr für uns! Christus hat ein für alle Mal Seine Arme am Kreuz ausgestreckt, damit nunmehr die Kirche die ihren öffne, um uns in ihr zu versöhnen – mit Gott und untereinander. Zu allen, die durch Verrat, Zwiespalt und Manipulation in Versuchung geführt worden sind, spricht der Herr erneut diese Worte: »Warum verfolgst du mich? […] Ich bin Jesus, den du verfolgst« (Apg 9,4–5). Wenn wir streiten und uns hassen, verfolgen wir Jesus!
Lasst uns einen Augenblick gemeinsam im Geiste vor dem gewaltigen Fresko von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle beten, wo das Jüngste Gericht dargestellt ist. Knien wir uns nieder vor der göttlichen Majestät, die sich uns hier offenbart, umgeben vom ganzen himmlischen Hof. Die Heiligen sind da und tragen ihre Marterwerkzeuge: Apostel, Jungfrauen, Unbekannte, Heilige, die nur das Herz Jesu kennt – alle singen Ihm zur Ehre und zum Ruhm. Zu ihren Füßen schreien die Verdammten in der Hölle ihren Hass gegen Gott heraus. Und plötzlich werden wir uns unserer Winzigkeit, unserer Nichtigkeit bewusst. Plötzlich schweigen wir, die wir eben noch meinten, so viele wichtige Ideen zu haben, so viele notwendige Projekte. Die Größe Gottes, welche alle Grenzen überschreitet, hat uns überwältigt. Erfüllt von kindlicher Scheu, erheben wir unsere Augen zum siegreichen Christus, der jeden Einzelnen von uns fragt: »Liebst du mich?« Lassen wir Seine Frage in uns widerhallen, anstatt Ihm eine übereilte Antwort zu geben.
Lieben wir Ihn wirklich? Sterben wir fast vor Liebe zu Ihm? Wenn wir ganz einfach und demütig antworten können: »Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe« (Joh 21,17), dann wird Er uns anlächeln und mit Ihm Maria und alle Heiligen im Himmel. Und wie einst zum heiligen Franziskus von Assisi sagen sie zu jedem von uns: »Geh und bau meine Kirche wieder auf!« Geh, bau wieder auf: durch deinen Glauben, durch deine Hoffnung, durch deine Liebe. Geh, bau durch dein Gebet und deine Treue wieder auf. Durch dich wird die Kirche wieder zu meinem Haus.
Robert Kardinal Sarah
Rom am Freitag, den 22. Februar 2019
1 Alle Bibelzitate sind, soweit nicht anders vermerkt, der Einheitsübersetzung entnommen.
2 William Shakespeare: Macbeth, Cadolzburg, ars vivendi, 2001, S. 139–141
3 Augustinus: Brief 105, Quelle: https://www.unifr.ch/bkv/kapitel2807-16.htm
4 Augustinus: Vorträge über das Johannes-Evangelium V. 18
5 Lumen Gentium, I.1. Alle päpstlichen Texte sind, soweit nicht anders vermerkt, der Internetseite des Heiligen Stuhls entnommen: http://w2.vatican.va/content/vatican/de.html
6 Benedikt XVI.: Brief an die Bischöfe anlässlich der Publikation des apostolischen Schreibens »Motu Proprio Data« Summorum Pontificum