– SF-Geschichten –
Herausgegeben von Christoph Grimm
Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe
ISBN 978-3-946348-24-5
ISBN 978-3-946348-23-8 (Print Ausgabe)
© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke
Hastedter Heerstraße 103 | 28207 Bremen
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Jurasek
Umschlaggestaltung: Detlef Klewer
Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke
Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen
Vorwort
~ ~ ~
»Wir sollten bloß nicht denken, dass wir Menschen
so besonders sind, dass wir uns nicht nachbauen könnten.«
Hiroshi Ishiguro (japanischer Robotik-Forscher)
Eine der für mich eindrucksvollsten Geschichten, die je über Androiden geschrieben wurden, fand im Rahmen der zweiten Staffel der Sciencefiction-Serie Star Trek: The next Generation statt. In »The Measure of a Man« (dt. Titel: »Wem gehört Data?«) wird der Bord-Androide der Enterprise angewiesen, sich einem gefährlichen Experiment zu unterziehen. Als er dies verweigert, wird darauf gepocht, dass er nicht mehr als ein technisches Konstrukt ist und somit keinerlei Rechte habe. Die Frage im folgenden Gerichtsverfahren ist weniger, ob Data eine Maschine ist – das steht zweifelsohne fest –, sondern ob er die Definition von Leben erfüllt.
Ende der 1980er war es noch Sciencefiction, doch gerade mal 30 Jahre später scheint ein Androide wie Data gar nicht mehr so unwahrscheinlich – zumindest in Japan. Dienstleistungs-Androiden sind dort bereits im Einsatz. Sie putzen, steuern jeden Winkel des Hauses, warten geduldig an Empfangstresen, unterstützen Pflegekräfte bei der täglichen Arbeit und sollen künftig auch den Nachwuchs hüten. Dabei sprechen wir jedoch nicht von klobigen Metallungetümen mit abgehackten Bewegungsabläufen, die wir uns vielleicht derzeit als künstliche Helfer vorstellen mögen. Nein, diese Geschöpfe lächeln, machen Witze, reagieren auf und interagieren mit uns. Mit jeder neuen Generation werden sie uns ähnlicher.
Wo ist die Grenze zwischen komplexer Programmierung und einer bewussten Existenz? Gibt es sie überhaupt? Müssen wir dem japanischen Robotik-Forscher Hiroshi Ishiguro vielleicht recht geben, wenn er behauptet, dass wir nicht so besonders sind, als dass man uns nicht nachbauen könnte? Vielleicht nicht heute, aber möglicherweise in 10, 20 oder 30 Jahren? Werden Androiden, trotz fortschreitender Entwicklung, nur die Summe ihrer Teile bleiben? Und sind wir Menschen im Gegenzug wirklich mehr – oder nur die Summe anderer Teile?
Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich die 25 Autorinnen und Autoren in dieser Sammlung beschäftigt haben. Ich wünsche mit den folgenden Geschichten sowohl unterhaltsame als auch nachdenkliche Lesestunden.
Christoph Grimm,
im Januar 2020
Vera 54301 (Denise Fiedler)
~ ~ ~
Markus blickte von den Zahlen auf dem Bildschirm hoch. Eine aufgebrachte Stimme drang durch die geschlossene Bürotür. Leider in den letzten Tagen nichts Neues. Durch den andauernden Regen trudelten täglich mehrere Anspruchsforderungen ein, viele davon musste die Versicherung ablehnen. Dies wühlte in den Gemütern genau wie das Unwetter draußen.
Da sich die Lage vor der Tür nicht beruhigte, stand Markus auf. Im Gehen knöpfte er das Jackett zu und trat vor das Büro. Alexander wandte ihm den Rücken zu. Den Kopf mit dem makellosen Kurzhaarschnitt leicht schief gelegt, sprach er beruhigend auf sein Gegenüber ein. Der Mann war einen Kopf kleiner. Graue Haare lugten wirr unter einer Schirmmütze hervor, vom Anorak perlte der Regen auf den Boden und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Teppich. In der Hand hielt der Mann ein aufgeweichtes Papierstück hoch, als drohe er mit einer Waffe.
»Was ist hier los?«, fragte Markus.
»Sind Sie ein Mensch?«, kam es brüsk zurück.
»Aus Fleisch und Blut.« Innerlich verdrehte Markus die Augen, mit so einem hatte er es also zu tun.
»Gut, ich werde nicht mit einem Roboter reden!«
»Nun«, Markus bemühte sich um einen ruhigen Ton, »bevor Sie hier überhaupt mit jemandem reden, bitte ich Sie, solch diskriminierende Ausdrücke zu unterlassen. Der politisch korrekte Begriff wäre künstlich humanoid oder, wenn Ihnen das lieber ist, kurz kumanoid.« Er spürte Alexanders Blick im Nacken, mochte ihn aber in diesem Moment nicht deuten. Zunächst war der Alte an der Reihe, später konnte Markus mit Alexander über die Situation reden.
»Pah! Ich nenne diese Automaten, wie ich will. Denen haben wir das Ganze zu verdanken. Besserwisserische Paragraphenreiter. Nichts als Datenmüll!« Der Mann machte einen Schritt auf Alexander zu, doch Markus schob sich dazwischen.
»Worum geht es eigentlich?«
»Hier drum geht es!« Er hielt wieder das Papier hoch. »Die Versicherung will nicht zahlen!«
Vom Briefkopf entnahm Markus den Namen. »Also, Herr Kowalski. Wie wäre es, wenn wir das in meinem Büro durchgehen?« Er nickte Alexander zu und schob Herrn Kowalski auf die geöffnete Tür zu.
Markus nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Herr Kowalski hatte die Schirmmütze abgenommen und knetete sie in den Händen, während Markus Name und Versicherungsnummer eintippte.
»Sie haben einen Wasserschaden gemeldet.«
»Und Sie wollen nicht zahlen!«
»Leider kann ich Ihnen hier nicht helfen. Es besteht kein Versicherungsanspruch.«
»Mein Keller ist voll Wasser gelaufen. Wofür habe ich eine Versicherung, wenn die nicht für den Schaden aufkommt?«
»Sie haben zwar eine Elementarversicherung, aber die deckt keine Hochwasserschäden ab.«
»Man hat mir damals davon abgeraten, weil ich in keinem Hochwassergebiet wohne. Aber da wusste niemand, dass die Kanalisation die Menge Wasser nicht tragen kann!«
»Herr Kowalski, mir sind die Hände gebunden. Ich muss mich an die Richtlinien halten, wie jeder andere hier auch.« Mit dem Einzigen, der hin und wieder ein Schlupfloch entdeckte, wolltest du Mistkerl nicht reden, fügte er in Gedanken hinzu. »Wir können gerne einen neuen Vertrag aufsetzen, der dies in Zukunft mit abdeckt. Allerdings werden Sie dort diesen Schaden auch nicht geltend machen können.«
Herr Kowalski sprang auf. »Euch noch mehr Geld in den Arsch pusten? Halsabschneider seid ihr – verdammtes Automatenpack!«
Der Regen prasselte gegen die Scheibe im Aufenthaltsraum. Ein Geräusch, das mittlerweile zum monotonen Alltag gehörte. Obwohl es erst Mittag war, hatten sie die Deckenbeleuchtung eingeschaltet. In dem künstlichen Licht rührte Alexander zwei Löffel Zucker in den Kaffee und stellte die Tasse vor Markus auf den Tisch.
Perfekt geformte Fingernägel, dachte Markus und rührte seinerseits den Kaffee weiter. Perfekt, wie alles an seinem Kollegen. Die Haare, die Figur … die Haut?
»Du hast ja Lachfalten!«
Alexander setzte sich auf den Platz gegenüber und verzog den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln. »Mir ist aufgefallen, dass es den Menschen leichter fällt, mit mir zu reden, wenn sie einen Makel entdecken.«
Als Makel konnte man das wohl nur bezeichnen, wenn man normalerweise vom Alterungsprozess verschont blieb. In Markus’ Augen gaben die Fältchen Alexander einen sympathischen Ausdruck.
»Es tut mir leid, was heute passiert ist«, sagte Markus.
»Du meinst Herrn Kowalski? Leider gibt es immer wieder solche Leute … Das stimmt mich traurig.«
»Traurig? Mich würde es wütend machen! Seit mehr als fünfzehn Jahren gibt es das Gleichstellungsgesetz, mittlerweile sollten es alle kapiert haben!«
»Wut und Aggression sind Gefühle, die sich mir nicht erschließen. Meist richten sie mehr Schaden an, als dass sie helfen.«
»Wut hat in der Vergangenheit aber oft zu Veränderungen verholfen.« Markus nippte an seinem Kaffee.
»Und wie oft hat sie Gewalt hervorgebracht? Stell dir vor, alle Kumanoiden würden gewalttätig. Statt Vertrauen zu schaffen, erreichten wir das Gegenteil und würden die Ängste begründen.«
»Du magst den Ausdruck nicht?«, stellte Markus lächelnd fest.
»Kumanoid? Oh, den Eindruck wollte ich nicht wecken. Mir ist nur aufgefallen, dass du ihn bevorzugst. Mir ist es egal, wie man uns nennt. Der Wunsch nach einer korrekten Bezeichnung scheint etwas Menschliches zu sein, aber eine Änderung des Sprachgebrauchs wird, meiner Meinung nach, nichts bewirken. Das erreichen wir nur durch eine Kettenreaktion im Umgang miteinander.«
»Leider ist es auch menschlich, sich irgendwelche Urängste zu bewahren. Nehmen wir Herrn Kowalski, egal wie sich die Kumanoiden verhalten, er wird von seiner Meinung nicht abweichen.«
»Das mag sein, allerdings haben wir Künstlichen in dieser Sache mehr Zeit.« Alexander zwinkerte Markus zu. »Früher oder später wird die Spezies Kowalski aussterben.«
»Nicht, solange Menschen in der Öffentlichkeit stehen wie dieser Dr. Eggenkamp. Mit seinen Aussagen befeuert er den Typus Kowalski, der dann die Gedanken in seine Kinder und Enkel pflanzt.«
»Eggenkamp gehört zu den Verlierern des Gleichstellungsgesetzes. Als die Kumanoiden ihre Entwicklung selbst übernommen hatten, musste er seine Fabrik dicht machen, weil er die Auflagen nicht erfüllen wollte. Wie glaubwürdig sind da seine Argumente?« Alexander sah zum Fenster hinaus. Der Regen machte eine Durchsicht unmöglich. »Was die Jugend betrifft, ist ihre schönste Eigenschaft das Aufbegehren gegen die Lehren der Alten«, fuhr der Kumanoide fort, machte eine kurze Pause und bekam einen verträumten Blick. »Ich wollte schon immer mal wissen, wie sich Kindheit anfühlt.«
»Sei froh, dass du das nicht erleben musstest. Es ist eine Zeit der Bevormundung.«
»Also nicht anders als die Arbeit bei einer Versicherung«, scherzte Alexander und Markus stimmte in sein Lachen ein.
Die Welt hinter der Windschutzscheibe ertrank in dunklem Grau, als hätte jemand die Farbe verwischt. Die Linie des Horizontes erschien nur noch wie eine Erinnerung. Markus bevorzugte es selbst zu fahren, aber heute hatte er den Autopiloten eingeschaltet. Während der Wagen in eine Parklücke navigierte, schloss Markus die Jacke und zog die Kapuze tief in die Stirn. Er hatte seine Mutter das letzte Mal vor zwei Monaten besucht, ihr Anruf gestern Abend kam überraschend.
Die wenigen Meter zum Haus rannte er. Claudia öffnete direkt nach dem ersten Klingeln. Sie hatte den Kosenamen Mama nie gemocht. Adrett im Hosenanzug, war sie wie immer eine tadellose Erscheinung. Nur vereinzelt graue Strähnen im sonst brünetten Haar ließen ihr Alter erahnen.
»Komm rein«, sagte sie knapp.
Unter ihrem strengen Blick mit den zusammengekniffenen Lippen empfand Markus wieder wie ein kleiner Junge das ständige Gefühl, etwas angestellt zu haben. Der vertraute Duft nach Wasserlilien empfing ihn, doch was er sah, war Chaos. Blaue Schlieren zierten den Boden wie ein abstraktes Kunstwerk, die Bilder hingen schief an der Wand und in den Ecken des Flurs stapelten sich Müllbeutel.
»Was ist hier passiert?«, fragte er.
»Was passiert ist? Vera ist passiert!« Claudia fischte eine Schöpfkelle aus dem Schirmständer. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie ist kaputt! Heute Morgen hat sie Tinte ins Putzwasser getan.«
Markus folgte ihr ins Wohnzimmer, aber das Bild wurde nicht besser. Hinter dem Tresen, der die Küche abtrennte, sah er Vera stehen. Sie rührte in einem Topf. Ihr Modell war von der Gleichstellung ausgeschlossen, daher konnte seine Mutter sie weiterhin als Haus-Bot nutzen, ohne sie dafür bezahlen zu müssen.
»Hallo, Vera.«
»Hallo Markus, bleibst du zum Essen?«
Claudia verdrehte die Augen. »Sag Nein, sie hat wahrscheinlich wieder Sockenauflauf gekocht!«
»Seit wann geht das schon so?« Markus ging auf Vera zu. An einigen Stellen ihres Kopfes war das künstliche Haar ausgefallen, von dem Gesicht, das aus einer Art Hartplastik bestand, platzte die Farbe und ein Augenlid schien nicht mehr richtig zu schließen.
»Seit circa drei Wochen. Manchmal steht sie nur da und führt verschiedene Bewegungsabläufe in einer Art Dauerschleife aus. Sie verwechselt Waschmaschine mit Herd. Anstatt den Müll in den Müllverwerter zu werfen, stapelt sie die Beutel im Flur … zweimal hätte es fast gebrannt. Ich war in mehreren Werkstätten. Alle reißen nur die Hände hoch, sagen: Keine Ersatzteile, wirtschaftlich nicht rentabel!« Claudia ließ sich ins Sofa fallen, schrie auf, zog eine Gabel unter dem Hintern hervor und schmiss sie auf den Tisch. »Ich brauche Vera! Ich habe keine Zeit, mich um den Haushalt zu kümmern, und eine Putzfrau kann ich mir nicht leisten!«
Du willst dir keine leisten, dachte Markus, wandte sich aber wieder dem Haus-Bot zu. »Vera, kannst du bitte dein Diagnoseprogramm starten?«
»Diagnose wird gestartet – Es ist ein Fehler aufgetreten – Bitte kontaktieren Sie den Kundendienst.«
»Es gibt aber keinen Kundendienst mehr!« Claudia klang hysterisch.
»Und was erwartest du jetzt von mir?« Er sah seine Mutter fragend an.
»Du warst doch früher so technikaffin, vielleicht kannst du sie dir mal ansehen?«
»Bist du verrückt? Sie ist ein Kumanoid, damit kenne ich mich nicht aus.«
»Sie ist nicht kumanoid, von denen trennen sie Welten. Sie ist nur ein Roboter.« Sie stand auf und ging auf ihn zu. »Bitte! Dich verbindet doch auch einiges mit ihr. Ansonsten muss ich sie entsorgen.«
Markus biss sich auf die Unterlippe und atmete tief ein. »Ich könnte sie an meinen Rechner schließen und versuchen, eine Diagnose zu stellen. Dafür müsste ich sie aber mitnehmen …«
»Dann mach das! Ich bring dir noch schnell ihre Induktionsstation.«
Ein seltsames Gefühl, Vera an seinem Schreibtisch sitzen zu sehen, hier in dieser Wohnung. Sie war Bestandteil jeder kindlichen Erinnerung. Als Baby hatte sie ihn gewickelt, gefüttert, später bekocht, hatte ihm abends vorgelesen und in den Schlaf gesungen. Hatte er sich wehgetan, war sie es, die ihn getröstet hatte.
Von ihrem Nacken ging ein Kabel ab und endete in dem Monitor auf dem Tisch. Das Symbol des Diagnosetools blinkte rhythmisch neue Zahlen auf … 35% … 40% … 50%
Das Wetter hatte für einen Moment seinen Dauertrauermarsch aufgegeben. Das Regenprasseln wurde von einem tropfenden Geräusch draußen auf der Fensterbank abgelöst. Mark trommelte im gleichen Takt mit den Fingern auf die Tischplatte.
Vera saß ganz still. Ein Auge geschlossen, nur das mit dem defekten Lid starrte leer vor sich hin.
Ob sie träumte?
Sie unterschied sich von Alexander. Nicht nur ihre Hülle, die mehr an eine antike Puppe erinnerte, sondern auch in der Reaktion auf ihre Umwelt. Dennoch schien sie in den Erinnerungen so lebendig …
100%.
Ein Fehler ist aufgetreten.
Mist, der dritte Fehlversuch!
Er fuhr mit den Händen durch das Gesicht, schaltete den Rechner aus, entfernte das Kabel aus Veras Nacken und schloss die kleine Klappe. Vera öffnete ihr Auge, drehte den Kopf zu ihm.
»Wir machen morgen weiter, Vera. Für heute bin ich müde.«
»Gute Nacht, Markus.«
Sein Geist wollte sich in dem wohligen Dämmern festankern, aber irgendetwas rüttelte an seiner Schulter, zerrte an seinem Bewusstsein. Markus öffnete die Lider. Vera beugte sich über ihn.
»Markus, du musst zur Arbeit. Ich habe dir Frühstück gemacht.«
Er blinzelte den Schlaf weg, riss die Augen auf und sprang aus dem Bett. Es roch verbrannt!
Aus dem Toaster stiegen Rauchfahnen zur Decke. Kleine Flammen züngelten am Rand des Geräts. Markus griff nach einem Tuch und schmiss es darüber. Als er sicher war, das Feuer erstickt zu haben, zog er mit einer Zange eine verkohlte Unterhose heraus.
»Oh Vera, was hast du getan?«
»Ich habe dir Frühstück gemacht.«
Er schüttelte den Kopf und raufte die Haare. Bis heute Abend würde sie das ganze Haus angezündet haben.
»Vera, bitte geh in den Ruhemodus.«
»Ruhemodus aktiviert.« Sie stellte sich auf die Induktionsplatte und schloss das intakte Auge.
In der Pause sprach er Alexander auf Vera an. Ein begeistertes Funkeln flackerte in den Augen des Kumanoiden.
»Wirklich ein Vera-Modell? Ich habe noch nie eins gesehen. Sie muss über sechzig Jahre alt sein.«
»Laut Herstellernummer fünfundsechzig Jahre. Leider gibt es keine Ersatzteile mehr. Ihre Software ist nicht kompatibel mit meinem Rechner. Ich musste gestern ein wenig tricksen, um auf ihren Hauptspeicher zuzugreifen.«
»Vielleicht kann ich dir helfen. Ich habe viel über die Entwicklung der Technologie in den Archiven der Bibliothek nachgelesen. Ist eine Art Hobby.« Er schlug die Augenlider leicht nieder. Markus vermutete, dass Alexander errötet wäre, wenn er es gekonnt hätte. In einem leiseren, fast entschuldigendem Ton fuhr der Kumanoide fort. »Ich habe mich sogar mit einer Verbindungsstelle nachrüsten lassen.«
Markus zog die Augenbrauen hoch. »Aber kannst du nicht einfach darauf zugreifen?«
»Eigentlich schon, aber es ist anders, wenn ich mich mit dieser alten Technologie verbinde. Es hat etwas Nostalgisches.« Er stand auf und goss Markus noch eine Tasse Kaffee ein. »Dadurch musste ich ein paar Zusatzprogramme schreiben, die eine Interaktion vereinfachen. Das könnte mir helfen, mich mit dem Vera-Modell zu vernetzen. Während dein Computer bis zu einem bestimmten Grad seiner Programmierung eine Problemlösung anstrebt, wird er beim Scheitern auf weitere Befehle warten. Mir ist es möglich, direkte Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen.«
»Na dann, abgemacht! Wann kannst du sie dir ansehen?«
Das Leuchten war in Alexanders Augen zurückgekehrt. »Wenn du möchtest, heute nach Feierabend.«
Das Küchenlicht brannte. Claudia, die es nicht mochte, wenn der Haus-Bot im Dunkeln hantierte, hatte Vera dementsprechend programmieren lassen. Wenigstens eine Sache, die noch funktionierte.
Oh Mist, Vera sollte doch im Ruhemodus sein!
Markus rannte die Einfahrt hinauf, Alexander dicht hinter ihm. Im Hausflur hielt Markus prüfend die Nase hoch. Kein Brandgeruch. Keine Rauchschwaden.
Er ging in die Küche. Vera stand am Herd.
»Hallo Markus, wie war dein Tag?«
»Vera, warum bist du nicht im Ruhemodus?«
Der Haus-Bot legte den Kopf schief. »Ruhemodus nicht aktiv.«
»Das sehe ich.« Markus fuhr sich durch die Haare. »Na ja, das ist jetzt egal. Darf ich dir vorstellen, Alexander, mein Arbeitskollege.«
»Wird Alexander zum Essen bleiben?«
»Nein, er ist kumanoid. Er braucht derartige Nahrung nicht.« Markus bezweifelte, ob sein eigener Organismus in der Lage war, dieses Essen zu verdauen. Im Topf zirkulierte eine Socke zwischen Möhrenstücken und einer undefinierbaren Substanz. Vielleicht fand er noch eine Tiefkühlpizza …
»Vera. Es freut mich, dich kennenzulernen.« Alexander streckte ihr eine Hand entgegen, die sie zögerlich ergriff. Ihr Blick suchte den von Markus.
»Alexander hat seine Hilfe angeboten, um den Fehler in deiner Software zu finden.«
Sie ließ sich ins Wohnzimmer führen, nahm auf einem der Sessel Platz und Alexander zog einen Stuhl heran. »Ich versuche jetzt, dein Diagnoseprogramm zu starten.« Er knickte das oberste Glied ihres Zeigefingers weg, tat dasselbe mit seinem eigenen und setzte die Finger aneinander.
»Kann das für dich gefährlich werden? Sie könnte sich einen Virus eingefangen haben«, erkundigte sich Markus.
»Unwahrscheinlich, dennoch schaffe ich einen gesicherten Bereich, da kann nichts passieren.«
Die beiden Kumanoiden so nah beieinander zu sehen war seltsam. Veras starre Miene, ohne jegliches Gefühl.
»Früher kam sie mir immer so wirklich vor. Obwohl es unmöglich ist, erinnere ich mich daran, wie sie lachte, als sie mich durch das Kinderzimmer wirbelte.« Ein Junge hatte Markus geschubst, der hatte sich dabei das Knie aufgeschlagen. Als Fünfjähriger hatte er den Schmerz herausgeschrien. Vera kam aus dem Haus gerannt, verscheuchte den Größeren und trug Markus hinein. Nachdem sie die Wunde gesäubert und mit einem bunten Pflaster beklebt hatte, schaukelte sie Markus auf ihrem Schoß, die Melodie eines Radiosongs summend. Das Schöne an Regen ist, dass danach immer der Sonnenschein folgt, hörte er ihre Stimme sagen. Dann hatte sie ihn hochgehoben und ist mit ihm durchs Zimmer getanzt. War das alles wirklich passiert oder vermischten sich Erinnerungen mit dem Wunsch einer Kindheit?
»Die kindliche Wahrnehmung unterscheidet sich von der erwachsenen. Kinder erstaunen mich immer wieder. Sie erklimmen einen hohen Berg, dabei steigen sie nur die Stufen der Rutsche hinauf. In Badewannen hausen Seemonster … Wenn die Fantasie solche Dinge schafft, warum dann nicht die Zuneigung eines einfachen Haus-Bots?« Alexander lächelte, dann ließ er den Blick interessiert durch den Raum gleiten. Er deutete auf einen E-Reader in dem Regal. »Wie es aussieht, hast du auch einen Hang zu nostalgischer Technologie.«
Markus lachte. »Anscheinend haben wir mehr gemeinsam, als wir dachten.«
Plötzlich wurde Alexanders Miene ernst. »Ihre Energiezelle ist defekt. Das System hat einige Programme ausgeschaltet, deswegen die Fehlfunktionen.«
»Kannst du irgendetwas machen?«
»Ich konnte ein paar der Funktionen aktivieren, aber der Fehler wird erneut auftreten. Ohne Energiezelle wird Vera sterben.«
Markus Hals wurde trocken, das Schlucken fiel ihm schwer. Er kniete vor Vera, nahm ihre Hand in seine. Kalte, harte Finger. An der Schulter spürte er Alexanders Berührung.
Als Markus nach Hause kam, war alles geputzt. Im Ofen brutzelte eine Lasagne, diesmal ohne Wäschestücke. Doch am späten Abend stand Vera im Wohnzimmer. Sie machte einen Schritt nach vorne, einen zurück, nach vorne, zurück, nach vorne …
Markus führte sie auf die Induktionsplatte.
»Vera, Ruhemodus.«
Sie schloss ein Auge, das andere starrte leer. Ihre Augen waren blau, wie die seiner Mutter. Ob sie Vera deshalb ausgesucht hatte? Gebraucht. Günstig, weil bereits neuere Modelle auf dem Markt waren.
Sein Implantat signalisierte einen eingehenden Anruf. Er hielt die Hand ans Ohr und nahm ihn entgegen.
»Ich konnte keine Energiezelle ihres Typs auftreiben, aber eine der Generation Fünf. Mit etwas Glück bekomme ich sie modifiziert, dass ihr System sie akzeptiert«, platzte Alexander los. »Ich bin schon auf dem Weg zu dir!«
Eine Stunde später lag Vera auf dem Wohnzimmertisch, die Platte am Bauch aufgeklappt. Alexander ersetzte die Energiezelle und verband sich erneut mit Vera.
»Jetzt heißt es abwarten. Das System startet neu, das kann etwas dauern.«
»Glaubst du, dass es funktioniert?«
Alexander zuckte mit den Schultern. »Stell es dir wie eine Herztransplantation vor. Die Frage ist nicht, ob die Operation geglückt ist, sondern ob der Organismus das neue Herz annimmt.«
Markus nickte. »Ich habe lange über dich und Vera nachgedacht. Vielleicht macht uns nicht das, was wir sind, sondern das, wie andere uns wahrnehmen, menschlich?«
»Das ist ein schöner Gedanke.« Alexander ging zu seiner Tasche. »Ich habe noch ein Geschenk für Vera.« Er zog einen Beutel heraus und hielt ihn Markus entgegen.
»Was ist das?«
»Eine Nano-Haut. Die ist um einiges besser als diese marode Hülle.«
Nachdem Alexander sich verabschiedet hatte, entkleidete Markus den Haus-Bot. Er öffnete den Beutel und kippte den Inhalt auf Veras Bauch. Eine graue Masse verteilte sich, schlug Blasen und floss über Veras Körper. Sie ummantelte die einzelnen Glieder, bildete an den Fingern Nägel, wanderte hinauf. Markus schluckte, als sie die Rundungen der Brüste formte. Wie flüssiges Blei überzog sie das Gesicht, schloss das defekte Lid, modellierte einen Wimpernkranz. Am Kopf verharrte sie einen Moment, die künstlichen Haarbüschel fielen aus. Das Grau wurde heller, nahm einen Sandton an. Aus der Kopfhaut wuchsen haselnussbraune Haare. Markus streckte die Hand aus, ließ die Finger hindurchgleiten. So weich. Das vor ihm war kein Haus-Bot mehr, es war eine Kumanoide. Hitze stieg in seine Wangen, als er sich ihrer Nacktheit bewusst wurde.
Quatsch, es ist immer noch Vera!
Dennoch beeilte er sich, ihr die Kleidung anzuziehen, vermied es, sie dabei direkt zu berühren, doch als er ihre Haut streifte, spürte er eine angenehme Wärme.
Er nahm ihre Hand in seine und wartete.
Die Sonne blendete Markus. Er kniff die Augen zusammen, stieg aus dem Wagen, klemmte einen Karton umständlich mit einer Hand unter den Arm, während er die andere weiterhin ans Ohr hielt.
»Nein, Claudia, ich habe alles versucht.« Markus nickte einem Nachbarn zu. »Ihre Software war einfach zu beschädigt … Ich habe sie zur Verwerterdeponie gebracht … Nein, es kommen keine Kosten auf dich zu. Das habe ich bereits erledigt … Bis dann.«
Mit großen Schritten überwand er die letzten Meter zur Haustür. Der Boden war frisch gewischt.
»Hallo, Markus. Du bist früh zu Hause. Wie war dein Tag?«
»Du solltest heute doch nicht putzen.«
Vera legte den Kopf schief. »Aber es ist meine Aufgabe.«
»Nein, darüber haben wir doch gesprochen. Du bestimmst jetzt selbst, was deine Aufgaben sind.«
»Bestimme selbst …«
»Genau.« Markus führte sie ins Wohnzimmer. »Ich musste heute einen Kunden besuchen, im Schaufenster habe ich dann das gesehen.« Er klappte den Deckel des Kartons auf und zog ein gelbes Sommerkleid heraus. »Bitte zieh es an.«
Sie legte die Kleidung ab. Markus senkte den Blick und wartete, bis sie das Kleid übergestreift hatte. Einen kurzen Moment hielt er die Luft an. Das Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Er bat sie, sich zu drehen, sie tat es. Langsam ging er auf sie zu, blieb vor ihr stehen, strich mit der Hand über ihre Wange. Der Kuss war wie ein Reflex. Markus zuckte zurück. »Entschuldige, ich hätte nicht …«
Sie sah ihn aus ihren blauen Augen an, legte die Arme um ihn und bettete seinen Kopf auf ihre Schulter. Wiegte Markus hin und her, summte die Melodie eines Liedes.
Eine Erinnerung. Vera, die die Lider aufschlug. Lächelte. Wie damals in seinem Kinderzimmer. Alexander, der die Stirn in Falten zog, ein seltsames Flackern in den Augen, das Markus nicht deuten konnte. Ich musste einige Programme umschreiben, vielleicht ist sie dadurch mehr geworden wie … ich.
Egal, was es war, Markus wollte es nicht mehr loslassen. Wollte sie nicht mehr loslassen.
»Die Sonne scheint.« Veras Stimme durchbrach seine Gedanken. Sanft schob er sie von sich.
»Dann lass uns spazieren gehen.«
»Ich muss noch einkaufen.«
»Das können wir unterwegs erledigen. Gemeinsam.«
Immer wieder suchte er in ihrem Gesicht nach dem Lächeln. Als sie die Enten im Teich beobachtete. Auf dem Markt.
Sie muss sich erst noch an die neue Wahrnehmung gewöhnen. Genauso, wie sie ihre alte Programmierung überwinden muss.
Zwei Tage später hatte es wieder begonnen zu regnen. Markus war komplett durchnässt, als er die Haustür erreichte.
Im Flur standen volle Einkaufstüten. Nasse Flecken auf dem Boden zeigten, wo Vera langgegangen war. Er stürzte ins Wohnzimmer. Vera saß auf dem Sofa, sein E-Reader auf ihrem Schoß. Sie hob den Kopf und sah in Markus’ Augen.
»… und hört im Herzen auf zu sein.«
»Rainer Maria Rilke«, sagte Markus und setzte sich neben sie.
Vera nickte. »Das ist traurig, oder?«
Vorsichtig nahm er den Reader und legte ihn zur Seite. »Was ist mit dir, bist du traurig?«
Eine kleine Falte bildete sich über ihrer Nasenwurzel. »Ich denke nicht. Ich glaube, ich bin glücklich.«
Markus zog sie an sich.
Vera lächelte.
Obwohl sich zu dem Regen noch Sturm gesellte, konnte Markus’ Laune nichts trüben. In den Pausen scherzte er mit Alexander und abends genoss er die Momente mit Vera. Seine Mutter hatte nun doch eine Haushaltshilfe eingestellt, ob kumanoid oder nicht, wusste er nicht. Es war ihm egal. Claudia würde ihn nicht zu Hause besuchen, also würde sie Vera nie wiedersehen.
Er zog die Kapuze ins Gesicht und verließ das Büro. Im Wagen startete er den Autopiloten. Da die Welt ohnehin vor der Windschutzscheibe verschwamm, stellte er diese als Display ein und zappte durchs Programm. An einer Talkrunde blieb er hängen. Dr. Eggenkamp saß einem kahlköpfigen Talkmaster gegenüber. Markus suchte in seinen Erinnerungen nach dem Namen, aber er war ihm entfallen.
… dennoch zweifeln Sie immer noch nach fünfzehn Jahren an dem Gleichstellungsgesetz?
Wie sollte ich nicht? Voraussetzung für dieses Gesetz ist, dass die Kumanoiden wirklich leben. Aber tun sie das? Oder folgen sie nicht nur einer Programmierung, die sie uns so ähnlich wie möglich machen soll? Wir sollten da eine strikte Linie ziehen!
Aber sie lernen aus ihren Erfahrungen, entwickeln Gefühle …
Eine Täuschung – ich gebe zu, eine gute – aber dennoch nichts anderes als eine Abfolge von Einsen und Nullen …
Markus schaltete das Display wieder aus und lehnte sich zurück. Waren Veras Gefühle nur eine Reaktion auf seine eigenen Empfindungen? Lächelte sie, weil ihre Einsen und Nullen sagten, dass er dies erwartete?
Der Wagen fuhr in die Einfahrt.
Der Regen prasselte monoton auf das Wagendach. Verwandelte die Welt in ein verwischtes Grau. Wo war der Horizont?
Diesmal rannte er nicht.
Er rief Vera. Keine Antwort.
In der Küche fand er sie. Vera stand am Herd, aus einem Topf stieg Dampf auf. Sie senkte den Arm mit dem Löffel, hob ihn an, senkte ihn, hoch, runter, hoch … Der Blick leer.
Markus stellte sich hinter sie, legte die Arme um ihre Taille und bettete den Kopf auf ihre Schulter.
»Keine Sorge, Vera, das kriegen wir schon wieder hin.«
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Über die Autorin
Denise Fiedler, geb. 1980, ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Dortmund. Das Erdenken von Geschichten war schon immer Bestandteil ihres Lebens, doch hat sie erst spät angefangen, sich mit dem Handwerk zu beschäftigen. Inspiration für ihre Kurzgeschichten zieht sie aus dem Alltag, nach dem Motto, eine Geschichte hängt an jeder Straßenecke, man muss sie nur pflücken.
Abendlicht (Luc François)
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Ich möchte jetzt etwas sitzen, Matthew.«
»Brauchen Sie die Decke?«
»Im Moment nicht, danke.«
Mit einem sicheren Handgriff half er mir aus dem Bett, begleitete mich zum Sessel, wo er mir wie üblich ein Glas einschenkte und sich anschließend in den Raumwinkel zurückzog. Ich hatte nie zu denen gehört, die ein lichtdurchflutetes, grellweißes Interieur zu ihren Vorlieben zählten, weshalb Matthew sein Äußeres nun an die satten Rot- und Braun-Töne des Wandteppichs anpasste. Ich trank einen Schluck, einen kleinen nur, um die Lippen zu benetzen.
»Vielleicht heute«, mutmaßte ich.
»Nicht doch«, korrigierte mich Matthew, der es besser wusste. Nicht heute also.
»Sie sind ein Spielverderber!«, raunte ich, das Glas dem Willen nach wohl fest, dem körperlichen Vermögen nach dagegen nur locker umschlossen. »Ein Elender, lassen Sie sich das gesagt sein!«
»Sehr wohl.« Eine Sekunde lang grübelte ich darüber nach, ob ich ihm das Glas nicht an den Kopf werfen sollte, da meldete er sich wieder zu Wort: »Sie wollen wirklich gehen, nicht?«
Das Glas wurde nach links, dann nach rechts geschwenkt. »So soll es wohl sein.«
So vorlaut er dann und wann auch sein mochte, diesmal wusste Matthew keine Antwort vorzubringen. Er stand mir im Rücken, seiner Programmierung nach treu ergeben, zugleich treu verschlagen, wie er durch den jahrelangen Umgang mit meiner Person eben gewachsen war.
»Matthew, die Dachterrasse haben Sie …«
»Die Marquise ist eingefahren, die Fische versorgt. Es soll bei dem einen Malheur geblieben sein!«
Mir stand der Sinn an diesem Tage mehr nach Wein, aber das konnte der gute Matthew nicht wissen. Ein Gedankenleser aus Drähten und Muttern, so einer wäre zu schön, also trank ich den allabendlichen Birnenschnaps. Weil ihn mir der Arzt nicht verordnet hatte, hatte ich es selbst tun müssen. Vornehm hatte Matthew seine Bedenken geäußert, vornehm hatte ich ihm den Mund verboten. Da war ohnehin nichts mehr zu retten.
Ich spürte den Magen, die Erschöpfung und damit einmal mehr das Ende. Das war weder neu noch überraschend. Erschreckend dagegen die streitlustige Stimmung, die ich einmal mehr in mir heranschwellen sah. »Matthew, Sie wissen, dass Sie im Altmetall landen?«
Es dauerte nicht einen Moment, bis mir die altvertraute Stimme – Stimm-Modul 187C-Männlich – antwortete: »Anders wird es nicht sein.«
»Anders wird es nicht sein? Ihre Ruhe möchte ich haben.«
Altvertraut, das war diese Stimme durchaus. Seit meinem Einstieg in den Lebensabend beschäftigte ich nun schon den Androiden mit eben dieser Stimme, diesem Äußeren und dieser verqueren Art und Weise. Es mochte am Herrn Vater liegen, dessen Verfall mir in tiefer Erinnerung geblieben war, dass ich mich für einen stillen Abgang entschieden hatte: Weiß Gott wie lange hatten wir uns um ihn gesorgt und später um ihn getrauert, um diesen Edelmann, diesen Mann von Welt, und diesen am Ende so eingefallenen Mann, dass es mich grauste, seinen Spuren zu folgen.
Meinen Abgang sollten nur Matthews Sensoren wahrnehmen, die mich weder als Edelmann noch als Mann von Welt erkannten.
»Matthew, wie sehen Sie mich?«
»Gut.«
»Sie Dummkopf! Welche Person, welchen Mann sehen Sie in mir?«
»Einen guten, gerechten Herrn.«
Ich sank zusammen, da er augenscheinlich nicht mehr zu sagen hatte. Ein guter Herr! Pah! Was sollte das schon aussagen?
»Die Decke, Matthew, bringen Sie mir die Decke!«
Ich spürte nicht eine einzige Berührung seinerseits, derart vorsichtig breitete Matthew die wärmende Wolldecke auf meinem Schoß aus. Dass ich das eine oder andere Tröpfchen darauf vergoss, als ich das Glas einmal mehr ansetzte, nahm ich missmutig zur Kenntnis.
»Sobald ich ausgetrunken habe, Matthew, möchte ich schlafen.« Ich schwenkte den Rest in meiner Hand herum, womöglich schwappten wieder ein paar Tropfen über den Rand. »Ich möchte schlafen und es dabei belassen.«
Ob er die Anweisung falsch verstanden hatte oder sich wissentlich verweigerte, konnte ich nicht bestimmen. Dabei hatte ich vollkommen klar gesprochen: »Matthew, die Warterei wird mir lästig. Heute noch soll es mit mir vorübergehen.«
Von meinem Platz im Schatten der Marquise aus sah ich den Fischen zu. Einfache, schnelllebige Tiere, die mich am Ende doch überdauern würden. Ein törichter Anflug von Neid legte sich auf mein Gemüt – töricht, da ihm jedwedes Fundament fehlte: Die Fische würden mich überdauern, in der Summe dagegen niemals all die Dinge sehen, die ich Zeit meines Lebens gesehen hatte. Auch Matthew würde mich überdauern, würde womöglich sogar noch weitaus mehr sehen, aber es niemals wertschätzen können. Nein, es gab wahrlich keinen Grund, einen erhabenen Abgang mit einer so niederen Empfindung wie Neid zu trüben.
»Ich habe heute viel nachgedacht, Matthew, und eine Entscheidung getroffen.«
»So?», spielte das Stimm-Modul 187C-Männlich Verwunderung nach.
»Die Fische, jemand wird für sie sorgen müssen. Ich möchte, dass Sie dieser Aufgabe weiterhin nachgehen, sobald es um mich geschehen ist.«
»Wie Sie wünschen.«
Man sollte annehmen, es bereite ihm Freude, dass er weiterhin im Diesseits verweilen durfte, aber wie schon die ausbleibende Entrüstung über meine saloppe Bemerkung mit dem Altmetall am Vortag, war Matthews einzige Reaktion ein stilles Abnicken. Absolute Akzeptanz in jeder Lage. Fast jeder Lage, berichtigte ich mich, denn mein Wunsch nach einem friedlichen Lebewohl noch an diesem Tage stand weiterhin offen im Raum.
»Das Haus, die Fische, meinetwegen sogar der Weinkeller, Sie können ganz nach Belieben darüber verfügen.«
Stille.
»Nun tun Sie doch den Mund auf, Matthew, so leer werden Sie bestimmt nicht sein!«
Stille, Schweigen. Er ließ sich zu keiner Antwort hinreißen, dieser Nichtsnutz. Als hätte er mich überhaupt nicht gehört. Aber das hatte er sehr wohl, kein Zweifel, und er hatte auch reagiert – gehorcht –, weshalb er mit weit geöffnetem Mund hinter mir stand. Ich musste nicht einmal hinsehen, um es zu wissen.
»Eine Antwort möchte ich von Ihnen haben, verdammt!«
»Nun«, begann der Androide mit der ihm eigenen Ruhe, »mich beschäftigt der letzte Punkt.«
»Der Weinkeller? Was ist damit?«
»Sehen Sie es als Konflikt an: Selbst habe ich keine Möglichkeit, ihn angemessen zu verwerten. Sie sagten einst, es sei Verschwendung, an schlechten Tagen davon Gebrauch zu machen, ein jeder Tropfen solle so gewürdigt werden, wie es ihm gebührt. Das kann ich nicht. Ebenso sagten sie einst, diese Sammlung sei Ihr Schatz, Ihr kleines Geheimnis und Ihr ganzer Stolz, den Sie um keinen Preis hergeben würden. Demnach käme ein Verkauf nicht infrage, eine Schenkung oder Versteigerung ebenso wenig. Zuletzt möchte ich ergänzen, ohne dass Sie eine derartige Äußerung je getätigt haben, dass es ebenfalls verkehrt sei, die Sammlung als solche zu belassen und nie einem Zweck zuzuführen.« Die Schaltkreise ratterten und knatterten angesichts der verfahrenen Deduktionen, auf die der Künstliche hinsteuerte – meine eigenen und nicht die seinen, wohlgemerkt. »Folglich stehen nur die beiden Optionen offen, den Konflikt in Ihren Äußerungen aufzulösen, oder mich von der Verwaltung des Weinkellers zu entbinden. Oder aber, so möchte ich einen dritten Vorschlag unterbreiten, Sie verbrauchen die Sammlung an dieser Stelle und in angemessener Art und Weise.«
»Sie schlagen mir also vor, im Alleingang sämtliche Flaschen zu leeren?« Die Fische verflüchtigten sich in die abgelegenen Ecken des Teichs, als sie mich auflachen hörten. Dass diese betagte Stimme noch eine solche Lautstärke hergab, damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet. »Ein Spaßvogel sind Sie, Matthew, einer von allererster Güte!«
Darauf hatte er einmal mehr nichts zu erwidern.
»Nun gut, holen Sie eine Flasche. Was den Rest betrifft, denke ich mir etwas aus.«
Als mir Matthew das Glas einschenkte, hatte ich meinen Entschluss gefasst. Diesmal hatte ich sogar darauf aufgepasst, den armen Tölpel nicht zu überfordern, wo er doch jedes Wort so genau nahm.
»Ich möchte«, richtete ich mich an den Androiden mit den glatten Gesichtszügen, »dass Sie nach einem passenden Abnehmer suchen. Ein Kenner soll es sein. Katalogisieren Sie die Sammlung und halten Sie Ausschau nach solchen mit möglichst vielen Überschneidungen. Bevor Sie auch nur eine Flasche hergeben, laden Sie diesen Menschen ein und unterhalten Sie sich mit ihm. Fragen Sie ihn nach dem Stellenwert einer gut gepflegten Weinsammlung in seinem Haushalt und sagen Sie nur dann zu, wenn die Antwort zufriedenstellend ausfällt.«
Einen Moment lang sah ich dem Androiden geradewegs in die Augen, um deren Rand sich nicht die kleinsten Fältchen bildeten. Ewig jung oder Altmetall, dazwischen gab es für einen wie Matthew wohl nichts. Ob es wirklich funktionieren konnte, so einen sich selbst zu überlassen?
»Ich habe verstanden«, versicherte mir der treue Künstliche.
»Das ist noch nicht alles«, setzte ich nach, kaum hatte er meine Anweisung entgegengenommen. »Wenn es Ihnen beliebt, können Sie ihn fragen, ob seinerseits ein Interesse an Fischen besteht. Sollte er dies bejahen, so können Sie ihm ruhig alles überlassen, Ihre Person inklusive.«
Sein makelloses Gesicht war dem meinen nahe genug, damit ich jeden seiner Züge genau studieren konnte. Ebenso verhielt sich die Sache in umgekehrter Richtung, weshalb Matthew deutlich meine Überraschung erkannte, als er diese Anweisung ablehnte.
»Die Fische habe ich liebgewonnen, ich möchte sie nicht hergeben. Ebenso möchte ich mich nicht jemandem verpflichten, nur weil er ein Interesse an Weinen und der Fischzucht hegt. Bei der Sammlung wird es bleiben.« Matthew richtete sich auf, wandte den Kopf zum Teich um und beäugte das Gewässer. »Sie entschuldigen mich, es ist an der Zeit für die Fütterung.«
Wie er nach seiner Widerrede so ruhig davontrottete, am Rand des Teichs niederkniete und das Futter mit den Fingerspitzen auf die Wasseroberfläche rieseln ließ, konnte ich den Blick nicht von ihm abwenden. Nicht einmal im Ansatz ließ er sich an dieser Tätigkeit Freude anmerken, nein, das glatte Gesicht blieb unverändert, die blasse Haut straff, der Mund eine perfekte Linie. Ob dies wieder einer dieser Späße sei, zu denen Matthew geneigt war, fragte ich mich.
Im nächsten Atemzug sann ich darüber nach, ob der Entschluss, noch an diesem Tage die Pforte zu passieren, nicht verfrüht war. Es mochte an den Widerworten des Künstlichen liegen.
»Matthew«, beorderte ich ihn zu mir, kaum hatte er seine Arbeit am Teich verrichtet, »sagen Sie mir eine Sache: Denken Sie, zwischen uns gibt es etwas, das über die Beziehung zwischen Herr und Diener hinausgeht?«
»Diese Frage kann ich nicht beantworten«, sprach das 187C-Modul. »Mir liegt keine Definition einer solchen Beziehung vor.«
»Der Herr befiehlt, der Diener gehorcht«, kaute ich das Offensichtliche vor. »Das ist alles.«
»In diesem Fall möchte ich die Frage bejahen.« Dass er auf der Stelle antwortete, irritierte mich. Als hätte er überhaupt nicht überlegen müssen! »Das gibt es.«
Einen kurzen Moment lang brach sich das Sonnenlicht so auf dem Teich, dass es mich blendete. Matthew bemerkte, wie ich die Augen zusammenkniff, und trat auf den Punkt genau zwischen mich und die Spiegelung. Eine Sekunde zu spät zwar, aber ich wollte ihn deswegen nicht belehren.
»Würden Sie mir auch verraten, worin dieser Unterschied Ihrer Ansicht nach besteht?«
»Wir sind aufeinander eingestimmt.«
Meine auffordernde Geste übersah der Androide, also wies ich ihn verbal an, diesen Punkt näher zu erläutern.
»Meine Arbeit lässt sich auf viele verschiedene Arten verrichten. Ich wähle stets die Art, die meiner Auffassung nach am ehesten mit der Ihren kompatibel ist.«
So klar sie für ihn auch sein mochten, ergaben die Worte für mich keinen wirklichen Sinn.
»Lassen Sie es gut sein«, seufzte ich und legte den Kopf in den Nacken. Einen so prächtigen Himmel wie diesen würde ich auf jeden Fall vermissen, wenn drüben denn Platz für derartige Empfindungen war. Hundertsiebenundzwanzig Jahre unter diesem Himmel – ein Ritt, ein Geschenk, eine Tortur und am Ende doch nur ein kleiner Schritt von hier nach dort.
»Wünschen Sie, noch ein Glas zu trinken?«, erkundigte sich Matthew.
»Ein Letztes, ja. Ein Allerletztes.«
Er schenkte ein, auf den Tropfen genau so viel wie zuvor, und stellte die Flasche geräuschlos zurück an ihren Platz.
»Dass ausgerechnet zu Ihrer Person so viele Fragen verbleiben, die mich auf diesem letzten Stück beschäftigen, Matthew.« Ich nahm einen Schluck und stellte erst in diesem Moment fest, dass Matthew die perfekte Flasche für diese Gelegenheit ausgesucht hatte. »Vielleicht hat der alte Herr ja deswegen vorgezogen, seine Nächsten mit hineinzuziehen. Die kannte er wenigstens, kannte sie in- und auswendig.«
»Wenn Sie möchten …«, begann Matthew.
»Bitte, ersparen Sie mir jetzt ein Wortspiel.»
Ich streckte den linken Arm aus, sodass die Hand aus dem Schatten ragte und die Sonne in ihrem vollen Glanz einfangen konnte. Ich, der seinen Schoß mit einer Decke auf Temperatur halten musste, war ihrer Wärme längst entwachsen. Nur sehr undeutlich ließ sich noch etwas vom ehemals so erquickenden Schein auf der fleckigen Haut meiner Linken wahrnehmen – ein kaum wahrnehmbares Prickeln. Da konnte mir der Androide mit seinen Sensoren noch so oft vorhalten, dass dieser Körper einen weiteren Tag und eine weitere Nacht schaffte, seine Zeit war um. Ich selbst wusste es doch wohl am besten.
»Sobald ich ausgetrunken habe, werden Sie mich zu Bett bringen, mir beim Einschlafen zusehen und dafür sorgen, dass ich nicht wieder aufwache. Haben Sie das verstanden?«
Der Androide hielt sich gerade, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
»Sollten Sie dem nicht Folge leisten, sehe ich in Ihnen keinen Nutzen mehr. Dann können Sie sich letzten Endes doch selbst zum Altmetall tragen.«
Wieder brachte es mich aus dem Konzept, dass der Androide ohne jede Bedenkzeit reagierte. Er löste sich aus seiner Haltung, fasste sich mit der Rechten an das linke Handgelenk und montierte in einer Drehung die eigene Hand ab. Das Ding fiel scheppernd zu Boden, den Künstlichen schien es nicht zu kümmern. Nach der Hand machte er sich an seinem Bein zu schaffen, wobei er sich zur Wahrung des Gleichgewichts leicht zur Seite neigte.
»Sie Dummkopf, hören Sie auf damit! Das kann ja kein Mensch mit ansehen!«
»Und da soll ich Ihnen ohne Widerworte das Leben nehmen?«
Ich hatte mich von einem Künstlichen vorführen lassen, wie ich feststellen musste, als er seine Hand vom Boden auflas und sie mit zwei, drei Griffen wieder mit dem Arm verband. Von diesem Ding, das ich mir angeschafft hatte, um mir den Lebensabend etwas bequemer zu gestalten. Wenigstens würde ich mit dieser Schmach nicht allzu lange ausharren müssen, sofern es mir denn gelang, die Pforte an diesem Abend zu passieren.
»Sie machen sich doch über mich lustig, Matthew, geben Sie es ruhig zu!«
»Wieso sollte ich?«, ahmte das 187C-Modul diesmal Überraschung, nein, Bestürzung nach.
»Das muss ich Ihnen wirklich sagen?« Es kostete mich einiges an Mühe, die Stimme so zu heben. Um keinen Preis wollte ich es dagegen auf mir sitzen lassen, vom Künstlichen derart ausmanövriert zu werden. Zum zweiten Mal suchten die Fische ob der Lautstärke unserer Unterredung das Weite. »Gestern erst haben Sie gezeigt, wie egal es Ihnen wäre, würde ich Sie verschrotten lassen. Sie haben vom Leben und vom Tod doch überhaupt keine Vorstellung – das Konzept ist Ihnen fremd!«
»Das stimmt nicht«, wandte der Künstliche ohne jede Aufregung ein. »Ich habe lediglich gescherzt.«
»Gescherzt?« Ich ließ mich zurücksinken. »Sie haben … bloß gescherzt.«
»Sehr richtig, ich habe Ihren Scherz mit dem Altmetall aufgegriffen und fortgeführt.«
Im Leben gab es wohl immer ein erstes Mal, ganz gleich, wie lange man nun schon darin verweilte. An diesem Abend entschuldigte ich mich zum ersten Mal bei einem Androiden. Mit zitternden Armen und Beinen erhob ich mich aus meinem Sitz, scheuchte Matthew weg, als er mir helfen wollte, und bekundete ihm mein Bedauern, wie es sich für einen Edelmann gehörte: stehend, von Angesicht zu Angesicht.
Beim Hinsetzen ließ ich mir von Matthew helfen, meine Kräfte waren an ihrem Ende angelangt. Vorerst hütete ich mich davor, nach dem Weinglas zu greifen, nicht einen Tropfen dieses feinen Trunks wollte ich ob meiner zitternden Arme und Hände vergeuden.
»Ich habe eine Entscheidung getroffen, Matthew«, richtete ich mich an den Androiden, kaum ging mein Atem wieder ruhiger. »Ich will Ihnen Glauben schenken: Heute soll es noch nicht so weit sein. Vielleicht morgen, das werden wir dann sehen.«
»Es kommt, wenn es kommt«, pflichtete mir Matthew bei, und ich glaubte, in seinem Ton etwas wie Heiterkeit oder Erleichterung zu erkennen.
»Bis dahin gibt es, so scheint es mir, noch einige Dinge, die ich lernen will.« Einen kurzen Augenblick lang ließ ich den Blick auf dem Teich ruhen, auf den Fischen, die sich nach meinem Ausbruch wieder aus ihren Winkeln wagten. »Für heute soll es genug sein, Matthew. Vergessen Sie nachher nicht, die Marquise einzufahren. Wobei, wenn ich es mir recht überlege, lassen Sie sie morgen ruhig eingefahren. Ich möchte die Sonne spüren.«
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Über den Autor
Auf seiner Mission, möglichst vielen Leuten auf die Nerven zu gehen, kommt Luc die Kunst als Mittel gerade recht. Seit ihn dieser Geistesblitz angekitzelt hat, sind fünf Romane erschienen, zwei davon in Begleitung eines Albums seiner Band Mindpatrol. Brüllend und schreibend geht er durch das Leben und – ach, was soll’s? – hat mit seiner langen Mähne und dem Job als Programmierer die Metamorphose zum wandelnden Klischee vollständig abgeschlossen.