ISBN: 978-3-95428-797-0
1. Auflage 2020
© 2019 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Das Titelfoto zeigt die Eltern von Nora Noé: Helena Legrand und Siegfried Kühn.
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Für meine Mutter,
ohne deren liebevolle und verlässliche Unterstützung
mein Lebensweg ein völlig anderer geworden wäre.
Für meinen Vater,
der mir mit seiner Herzenswärme, Aufgeschlossenheit
und seinem Humor stets ein Vorbild war.
Ihre Fingernägel gruben sich in das weiße Laken, so als wollte sie es durchbohren. Ihr Körper bäumte sich auf. Sie hechelte und wollte vor Schmerzen schreien, aber sie wusste, sie durfte es nicht. Sie musste sich beherrschen. Stattdessen griff sie nach einem Zipfel des ausgebleichten Bettbezugs und stopfte ihn in ihren Mund. Mit aller Kraft biss sie darauf. Was waren das nur für höllische Schmerzen! Helena hatte zwar von den vagen Andeutungen ihrer Mutter und ihrer Tanten gewusst, dass es sehr wehtun würde, aber so schrecklich hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sie hatte das Gefühl, tausend Teufel würden in ihrem Leib toben und sie von innen auffressen.
Als ihre Eltern sie eine Stunde zuvor in die St. Hedwig-Klinik gebracht hatten, waren sie gleich an der hohen Flügeltür von einer stämmigen Ordensschwester mittleren Alters in Empfang genommen worden. Anstatt sich gleich um sie zu kümmern, hatte sie die drei erst einmal gemaßregelt: »Imma mit de Ruh! Vor allem, macht ämol net so en Uffstand!« Sie hatte sich ihnen in den Weg gestellt und sich vor ihnen aufgebaut. Dann hatte sie ihren spitzen Zeigefinger auf Helena gerichtet und hinzugefügt: »Un damit du es glei ämol weeschd, Mädsche, hia werd net gschriee! Hoschd misch verstanne? Net dass du ma am End noch die ganz Schstazion do verrickd machschd. Des kennd isch heid Nacht grad noch gebrauche!« Danach hatte sie sich wieder Amelie und Carlo zugewandt und auf eine Zimmertür gedeutet. »Do bringe Se Ihr Dochda jetzd noi un legese se ufs Bedd. Un dann machese, dass se heemkumme!«
»Aber wir können doch unsere Tochter nicht einfach so ganz mutterseelenallein in diesem Zimmer zurücklassen. Sie sehen doch, dass ihr die Fruchtblase geplatzt ist«, entgegnete Amelie mit Nachdruck. Sie wollte weitersprechen, die Schwester fiel ihr jedoch ins Wort.
»Un ob ich des seh, de ganze Boode ist verdrobbseld. Hättese do net ä bissel bessa uffbasse kenne?!«
»Hören Sie doch, meiner Tochter ist die Fruchtblase geplatzt, und zwar sechs Wochen zu früh!« Amelie war zutiefst beunruhigt. »Ist denn hier nirgends ein Arzt?!«
Die Ordensschwester hatte ihr nicht geantwortet. Die konnte anscheinend nichts aus der Ruhe bringen. »Jetzt machese net so ä Theada! Des bassierd efders. Mir gugge schun nach ere. Sie schdere bloß! Ihr Dochda is Erschdgebernde, des kann ewisch dauere, bis des Kleene uf die Welt kummd.«
»Reicht es denn nicht, wenn mein Mann geht? Lassen Sie mich doch wenigstens hier bleiben?« Amelie wollte sich nicht einfach so hinauskomplimentieren lassen. Sie war in großer Sorge um Helena.
»Nix do! Ma fiehre hia ke neie Mode oi.« Die Schwester ließ sich nicht erweichen. »Sie schdehe mer bloß im Weg rum. Lossese Ia Telefonnumma hia, mia melde uns bei Ihne, wenn des Kleene do is. Un jetzt lossese misch endlisch moi Arbeid mache.«
Während Carlo seine Tochter stützte und sie in das zugewiesene Zimmer begleitete, kramte Amelie in ihrer kleinen schwarzen Handtasche. Schließlich zog sie einen Zettel heraus und reichte ihn der Schwester. »Wir haben selber kein Telefon. Aber der Metzger Haberkorn in der Beilstraße, der hat eins, da können Sie anrufen. Das ist gerade schräg gegenüber von uns. Der gibt uns dann Bescheid.«
»Wo is en die Beilstrooß eigendlisch?«, fragte die Ordensschwester nach, während sie den Zettel betrachtete.
Amelie zögerte ein wenig. »Im Jungbusch«, sagte sie fast etwas verschämt und hoffte, dass die Ordensschwester nichts von dem schlechten Ruf des Hafenviertels wusste.
Doch der schien ihr sehr wohl bekannt zu sein, denn sogleich blickte sie skeptisch über ihre dicken Brillengläser hinweg zu Amelie und begann sie von oben bis unten zu mustern. Ihr Gesichtsausdruck schrieb Bände, aber Gott sei Dank schwieg sie und ersparte ihnen jeden weiteren Kommentar.
Obwohl Amelie das barsche Auftreten der Ordensschwester äußerst missfiel, versuchte sie doch, einigermaßen freundlich zu bleiben. »Dürfte ich dann wenigstens noch mal kurz zu meiner Tochter gehen?«, fragte sie vorsichtig.
»Na ja, dann gehese halt schun, awer bloß ganz korz!« Die schnodderige Art, wie sie sprach, war verräterisch. Für sie war die Situation schnöder Alltag und Kinderkriegen gehörte zum Tagesgeschäft. In das Gefühlsleben einer Erstgebärenden, die gar nicht so recht wusste, was mit ihr passierte und sich schrecklich vor der Geburt fürchtete, konnte sie sich augenscheinlich nicht einfühlen und schien es auch gar nicht zu wollen.
»Hoffentlich sind hier nicht alle Schwestern so schroff«, dachte Amelie, während sie hallenden Schrittes den kahlen, kalten Krankenhausflur entlangging.
Helena stöhnte. »Mama, tut das weh!« Sie krümmte sich vor Schmerzen.
»Ich weiß, mein Liebes, aber du musst immer daran denken, dass du in ein paar Stunden dein Kind in den Armen halten wirst. Das wird dir Kraft geben.«
Amelie strich ihr liebevoll übers Haar.
»Bleibst du bei mir?« Helena griff nach Amelies Hand und schaute ihre Mutter erwartungsvoll an.
Amelie schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir so leid, Helena, aber wir dürfen nicht hierbleiben. Die Schwester hat uns gesagt, wir müssen zu Hause warten.«
»Das ist doch wieder typisch für diese Haubenlerchen.« Carlos Abneigung gegenüber der Kirche zeigte sich in diesem Augenblick wieder einmal deutlich. »Die nennen sich Schwestern vom Göttlichen Erlöser, tun furchtbar fromm und dabei sind sie so kalt wie eine Hundeschnauze!«
»Du solltest nicht alle über einen Kamm scheren!«, versuchte Amelie ihren Mann zu beschwichtigen. »Ich gebe ja zu, dass diese Schwester nicht besonders freundlich war. Aber sicher sind sie nicht alle so.«
Doch Carlo wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe von Anfang an gesagt, dass es besser wäre, Helena zu der Maria Reichenbacher nach J7, 27 zu bringen. Die ist eine erfahrene Hebamme, so lange wie die das schon macht. Das wäre näher gewesen und da hätten sich normale Frauen um sie gekümmert und nicht diese frommen Tanten.« Für Carlo war alles, was auch nur im Entferntesten nach katholischer Kirche roch, ein rotes Tuch. Die schaurigen Erfahrungen mit der Scheinheiligkeit seiner frömmelnden Mutter Luise hatten lebenslange Spuren bei ihm hinterlassen.
»Carlo, das war ein Notfall! Mit einer vorzeitig geplatzten Fruchtblase ist nicht zu spaßen. Du weißt anscheinend gar nicht, was das bedeutet! Das Kind kommt nicht nur viel zu früh auf die Welt, sondern es ist auch noch eine Trockengeburt. Wenn irgendwelche Probleme auftreten, haben die hier in der Klinik doch ganz andere Möglichkeiten als die Reichenbacherin drüben in der Filsbach«, erklärte ihm Amelie, und zu Helena gewandt fügte sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen, mein Kind, du bist hier in den besten Händen. Die Ärzte der St. Hedwig-Klinik haben einen guten Ruf.«
»Aber …« Carlo kam nicht weiter, denn dieses Mal fiel ihm Helena ins Wort.
»Bitte, Papa, jetzt nicht streiten!« Die einzelnen Wörter kamen ihr nur schwer über die Lippen, denn es kündigte sich bereits die nächste Wehe an.
Helena beugte sich vor, krallte sich am Arm ihrer Mutter fest und hielt die Luft an. In diesem Augenblick kam die Ordensschwester herein. Sie schob Amelie unsanft zur Seite, drückte Helena zurück in die Kissen und herrschte sie an: »Atmen! Alla hopp! Oi-aus-oi-aus …! Stell dich net so on!« Dann wandte sie sich um zu Amelie und Carlo. »Und jetzt naus mid eisch!
Sunschd kennd ihr eia Dochder glei widder mit heem nemme!«
Die Schwester sah nicht aus, als würde sie scherzen. Und so blieb Amelie und Carlo nichts anderes übrig, als zu gehen. Trotzdem konnte sich Carlo beim Verlassen der Klinik nicht verkneifen, Amelie zuzuflüstern: »Diese alte Schreckschraube, der könnt ich den Hals umdrehen!«
Helena war allein im Zimmer zurückgeblieben. Auch wenn die Schwester grob gewesen war, so hatte ihr das gleichförmige tiefe Ein- und Ausatmen doch geholfen. Langsam erholte sie sich von der letzten Wehe. Sie musste versuchen, ruhiger zu werden und Kräfte zu sammeln, denn die nächsten Stunden würden ihr alles abverlangen. Sie war jetzt ganz auf sich allein gestellt.
Helena blickte hinauf zu der großen Uhr, die über der Tür hing. Es war jetzt kurz vor zwölf. Heute würde ihr Kind nicht mehr zur Welt kommen. Sein Geburtstag würde der 19. Dezember sein. Am Freitag, den 19. Dezember 1952 würde es das Licht der Welt erblicken. Ein zartes Lächeln legte sich um ihre Lippen.
Eigentlich hatte Helena schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt, noch ein Kind zu bekommen, denn beinahe alle ihre Freundinnen waren bereits Mutter geworden. Und nicht nur die. Auch ihre Cousine Betty hatte bereits zwei Söhne geboren und sogar ihr jüngerer Cousin Adolf war schon Vater einer kleinen Tochter. Mit ihren fast 29 Jahren zählte sie zweifellos zu den Spätgebärenden.
Helena wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn die nächste Wehe kündigte sich mit voller Wucht an. Dieser Schmerz war so unbeschreiblich, nie zuvor hatte sie Derartiges erleiden müssen. Nicht einmal die schrecklichen Gallenkoliken, die sie immer wieder während des Krieges heimgesucht hatten, waren so schlimm gewesen. Sie atmete tief ein und aus, so wie es ihr die Schwester gezeigt hatte. Langsam entspannte sich ihre Muskulatur wieder ein wenig. Sie schaute erneut hinauf zur Uhr. Die Abstände zwischen den Wehen schienen kürzer zu werden. Ob das normal war?
Für einen Moment kehrten ihre Ängste zurück und sie fühlte sich schrecklich allein und verlassen in diesem großen, weiß getünchten Raum mit den hohen Decken. Bis auf den braunen abgewetzten Parkettboden und das schlichte dunkle Holzkreuz an der Wand über ihr sah man nur weiß, egal wo man hinschaute: weiß, weiß, weiß, angefangen von dem Eisenbett bis hin zu den Vorhängen. Die kalte Atmosphäre des Raumes wurde durch das gleißende Licht der Neonröhren verstärkt, die sie unbarmherzig anstrahlten. Sie kam sich so ausgeliefert vor. Es gab hier niemanden, der ihr beistehen würde. Wie beruhigend wäre es in dieser Situation gewesen, wenigstens in ein vertrautes Gesicht blicken zu können.
Sie versuchte, sich abzulenken, dachte an ihren Mann Siegfried und für einen winzigen Augenblick legte sich erneut ein feines Lächeln auf ihre Lippen.
*
Als er am Abend wegen der schlechten Wetterverhältnisse früher als sonst in Richtung Hafen aufgebrochen war, hatte er sich wie immer mit einem Kuss von ihr verabschiedet, während er ihr mit seiner Hand sanft über den Bauch gestrichen hatte. »Pass gut auf dich und unseren kleinen Fußballer auf! Schlaf schön, mein Schatz, bis morgen früh!«
»Und du, mein Junge, fahr vorsichtig! Auf der Teufelsbrücke ist es bestimmt glatt«, hatte ihn Amelie gemahnt.
»Keine Sorge, Schwiegermutter!«, hatte er sie beruhigt und ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange gegeben. Dann war er hinunter in den Hof gegangen, hatte seine braune Kreidler aus dem Schuppen geschoben und war losgefahren. Siegfried war stolz auf sein Motorfahrrad, hatte er es sich doch im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde abgespart. Aber es war die Anstrengung wert gewesen, denn es erleichterte ihm ungemein seinen Weg zur Arbeit, insbesondere wenn er so wie heute Nachtschicht hatte.
Die Arbeit in dem Lagerhaus, die er ein halbes Jahr zuvor angenommen hatte, war sicher nicht seine Traumstelle. Aber er konnte nicht wählerisch sein, bald würde er eine Familie zu ernähren haben. Und die Situation auf dem Arbeitsmarkt war schwierig. Er war von Anfang an nicht glücklich darüber gewesen, dass er alle drei Wochen Nachtschicht schieben müsste, aber die Nachtzulage war natürlich auch nicht zu verachten. Trotzdem konnte er sich etwas Schöneres vorstellen, als zur Arbeit aufbrechen zu müssen, wenn die anderen daheim gemütlich beisammensaßen, Mensch-ärger-dich-nicht spielten oder Radio hörten.
An diesem Abend hatte es ihn besonders geärgert, dass er in die Nachtschicht musste, denn vom Hessischen Rundfunk würde eine neue Folge der Familie Hesselbach ausgestrahlt werden. Er hatte sehr bedauert, dass er sie nicht hören konnte.
»Carlo, schalte schnell das Radio ein! Gleich fangen die Hesselbachs an!«, hatte Amelie, kurz nachdem Siegfried gegangen war, ihren Mann gedrängt.
»Weißt du eigentlich, warum die heute kommen, normalerweise werden die doch immer sonntags gesendet?«, hatte Carlo gefragt.
»Nein! Keine Ahnung, warum die Folge vom Sonntag auf heute verschoben wurde. Aber jetzt frag nicht so viel, schalte lieber das Radio ein!«
»Jetzt trivilier doch nicht so!« Carlo hatte seinen Stuhl vor das Schränkchen gerückt, auf dem das Grundig-Radio thronte. Was für Siegfried seine Kreidler war, war für Carlo sein Röhrenradio. Das Gerät war sein ganzer Stolz. Er drückte die weiße UKW-Taste. Die Lampe hinter der Senderskala war angegangen und hatte die acht schrägen Balken mit jeweils acht Städtenamen von Monte Carlo über Hilversum bis Beromünster erleuchtet. In der vorletzten Reihe ganz unten war schließlich Frankfurt. Carlo hatte den roten Zeiger dorthin bewegt und gleichzeitig auf das grüne magische Auge geschaut, das ihm dabei half, den Empfang zu optimieren. Schon kurz darauf war Josef Rixners Feierabendpolka erklungen, die Erkennungsmelodie des Hörspiels, über die auch sogleich die Stimme eines Radiosprechers gelegt wurde. »Familie Hesselbach – eine hessische Alltagschronik von und mit Wolf Schmidt. Sie hören heute: Das Dreckrändchen.«
Helena und Amelie hatten sich währenddessen an den Küchentisch gesetzt und lauschten gespannt den launigen Dialogen. Wenn Lia Wöhr mit ihrer mitunter etwas schrillen Stimme und der ihr eigenen vorwurfsvollen Art als Mama Hesselbach ihr Anliegen vorbrachte und dann von Wolf Schmidt als Babba Hesselbach mit seinem unverwechselbaren, trockenen Humor meist eine wenig charmante Antwort erhielt, dann blieb in den deutschen Wohnstuben kein Auge trocken. Und so waren auch Amelie, Carlo und Helena an nicht wenigen Stellen in schallendes Gelächter ausgebrochen.
»Ei, Babba, wo sinn dann mei Drobbe?«, hatte Anneliese gerade ihren Karl gefragt.
»Jetzt macht die wieder so, als hätte sie es am Herz, dabei fehlt ihr doch überhaupt nichts!«, hatte Carlo genervt festgestellt.
»Ja, die Mama Hesselbach greift eben tief in die weibliche Trickkiste«, hatte Amelie amüsiert mit einem leicht spöttischen Unterton gemeint.
»Na, du musst es ja wissen.« Carlo hatte seine Frau verschmitzt angelächelt.
»Als ob ich …« Weiter war Amelie nicht gekommen, denn ihr Gespräch war in diesem Augenblick jäh unterbrochen worden.
»Mama, sieh mal, mein Stuhl wird ganz feucht. Was ist das bloß?« Helena hatte ihre Mutter erschrocken angesehen, während sie ihren Bauch umfasst und sich so schnell sie konnte in Richtung Toilette bewegt hatte. Dabei hinterließ sie eine nasse Spur auf dem Stragula. Amelie war aufgesprungen und ihrer Tochter gefolgt, die weinend auf der Toilettenbrille gesessen war und ihre Mutter verzweifelt angeblickt hatte. »Mama, Mama, was passiert mit mir? Hilf mir, bitte, bitte, hilf mir, ich verliere mein Kind!« Helena war voller Angst gewesen, gleichzeitig hatten sie Schamgefühle geplagt. Sie war sich wie ein kleines Mädchen vorgekommen, das in die Hosen gemacht hatte. Aber das war kein Urin, das fühlte sich ganz anders an. Bevor ihr das immer feuchter werdende Stuhlkissen aufgefallen war, hatte sie ein Ziehen in ihrem Bauch gespürt und plötzlich das Gefühl gehabt, als wäre etwas gerissen.
»Ganz ruhig, Helena, mach dir keine Sorgen! Dir ist allem Anschein nach die Fruchtblase geplatzt. Das ist aber nicht so schlimm. Das kann passieren. Reg dich nicht auf! Wir müssen nur sofort ins Krankenhaus.« Amelie hatte sie vorsichtig zum Sofa geführt, schnell mehrere Camelia-Damenbinden herausgekramt und ihr gesagt, sie solle jetzt ruhig liegenbleiben. Währenddessen war Carlo hinüber zum Metzger Haberkorn geeilt und hatte ihn gebeten, für sie ein Taxi zu rufen.
Dann war alles ziemlich schnell gegangen. Helena hatte das alles gar nicht richtig erfassen können, weil bereits beim Einsteigen in das Auto die erste Wehe losgegangen war. »Mama, kann es sein, dass mein Kind jetzt schon auf die Welt kommt?« Helenas Stimme hatte angsterfüllt geklungen.
Amelie hatte genickt und Helena hatte ihre Mutter entsetzt angeblickt. »Wird es denn dann überhaupt leben können, wenn es so viele Wochen zu früh kommt?«
»Aber natürlich wird es leben. Du bist in der 34. Woche. Dein Kind ist mit allem Notwendigen ausgestattet. Sieh es einfach so, das Kleine will Weihnachten unterm Christbaum und nicht in deinem Bauch feiern.« Amelie hatte versucht, alle Befürchtungen und Zweifel von ihrer Tochter zu nehmen, obwohl sie sich natürlich Sorgen um sie und ihr ungeborenes Enkelkind machte. Aber Helena sollte ihr das nicht anmerken.
Amelie musste sehr überzeugend geklungen haben, denn Helena hatte sich etwas beruhigt in den Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Alles war wie in einem Film an ihr vorbeigerauscht. Ihr war lediglich aufgefallen, dass das Taxi ein paarmal leicht ins Schlingern geraten war. Aber das war kein Wunder, denn es war nun mal tiefster Winter.
*
»Heute Abend werden wir Eltern sein.« Der Gedanke daran löste zum ersten Mal ein kleines Glücksgefühl in ihr aus. Es währte jedoch nicht lange. Denn schon kam die nächste Wehe. Sie umklammerte die weiße Eisenstange am Kopfteil ihres Bettes und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es doch bitte bald wieder vorbei sein möge. Langsam lockerten sich ihre Hände. Sie atmete schwer. Siegfried fuhr jetzt Kisten und Kasten mit seinem Gabelstapler durch das Lagerhaus und ahnte nicht, dass er morgen seinen Sohn in den Armen halten würde.
Erneut stiegen Angstgefühle in ihr hoch. Hoffentlich würde der Kleine gesund sein, immerhin kam er sechs Wochen zu früh auf die Welt. Und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie daran nicht unschuldig war. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, am Morgen die Fenster zu putzen? Die Streckbewegungen waren sicher der Auslöser gewesen. Aber sie hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass die letzte Weihnacht, die sie allein verbrachten, noch einmal eine ganz besondere sein sollte. Alles würde ganz schön sein und dazu gehörten eben auch blitzblank geputzte Fenster. Doch nun war alles ganz anders gekommen. Sie würden Weihnachten bereits als frischgebackene Eltern feiern, sofern sie und das Kind bis dahin überhaupt aus dem Krankenhaus entlassen waren. Wie hatte Mama so schön gesagt? »Der Kleine wollte Weihnachten unter dem Christbaum feiern.« Ihr Weihnachtsgeschenk für Siegfried würde der kleine Fußballer sein, den sie heute Nacht gebären würde. Henry würden sie den Jungen nennen. Sie hatten lange nach einem passenden Namen gesucht, der beiden gefiel. Wenn der Kleine doch nur schon da wäre!
Helena legte ihre Hände auf den Bauch. »Entschuldige, dass ich so unvorsichtig war, ich werde es wiedergutmachen, wenn du auf der Welt bist.«
Aber Henry schien sauer zu sein, denn schon kam die nächste starke Wehe. Obwohl sie nur eine Minute dauerte, kam es ihr vor wie eine Ewigkeit.
Erschöpft sank sie zurück in die Kissen und schloss die Augen. Wie lange das wohl noch so gehen würde?
Sie musste für einen Augenblick weggetreten sein, denn als sie die Augen öffnete, stand plötzlich ein großer stattlicher Mann vor ihr. Er beugte sich über sie und reichte ihr die Hand. »Ich bin Dr. Kirchesch. Ich werde Ihnen helfen, Ihr Kind zur Welt zu bringen. Welcher Geburtstermin war denn ursprünglich vorgesehen?«
Helena berichtete ihm nun, dass man als Geburtstermin Ende Januar errechnet hatte.
»Na, da hat es das kleine Mädchen oder der kleine Junge wohl doch ganz schön eilig, auf die Erde zu kommen. Lassen Sie mich mal sehen, wie weit wir schon sind.« Nun folgte eine kurze, aber gründliche Untersuchung, die jedoch von erneuten Wehen unterbrochen wurde. »Der Muttermund ist erst um wenige Zentimeter geöffnet und die Abstände zwischen den Wehen sind doch noch ziemlich lang. Die Geburt wird sich vermutlich noch etwas hinziehen. Ich komme später wieder, aber keine Sorge, Schwester Ruth wird nach Ihnen schauen und mir rechtzeitig Bescheid geben, wenn es losgeht.« Bevor er hinausging, legte er sanft seine Hand auf Helenas Arm. »Versuchen Sie sich noch ein wenig auszuruhen und Kräfte zu sammeln, die werden Sie nämlich noch brauchen. Am besten, Sie denken an etwas Schönes.«
Als der Arzt gegangen war, trat die zierliche Schwester Ruth an ihr Bett und reichte Helena ein Glas Wasser. »Machen Sie sich nicht so viele Gedanken!« Die Schwester strich ihr liebevoll durchs Haar. »Vom Anbeginn der Menschheit wurden viele Milliarden Kinder auf unserer Erde geboren. Auch wenn das für Sie persönlich heute ein ganz besonderes Ereignis ist, so ist eine Geburt dennoch das Natürlichste der Welt. Ich habe unzähligen Kindern auf ihrem Weg in diese Welt geholfen.« Sie lächelte. »Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, weil es so unendlich viele waren. Denken Sie immer daran, dass Sie nicht allein sind. Unser Herrgott und die Jungfrau Maria werden sie beschützen. Das dürfen Sie nie vergessen. Es wird Ihnen Kraft geben.«
Auch wenn Helena aufgrund ihrer Familiengeschichte eher ein zwiespältiges Verhältnis zur Jungfrau Maria hatte, so faltete sie, nachdem die Schwester gegangen war, doch ihre Hände und bat Maria und Gott darum, ihr in den nächsten Stunden beizustehen.
Der nette Arzt und Schwester Ruth, die viel freundlicher und einfühlsamer war als die andere Ordensschwester, hatten ihr einen großen Teil ihrer Ängste genommen. Alles würde gut werden.
Siegfried ging den Krankenhausflur nervös auf und ab. Er schaute hoch zur Uhr, deren Sekundenzeiger langsam aber stetig von einer schwarzen Linie zur anderen hüpfte. Gleich würde der Minutenzeiger auf die Zehn springen. Seit fast eineinhalb Stunden stand er nun schon in diesem Gang herum und wartete darauf, dass man ihn endlich zu seiner Frau und seinem Sohn lassen würde.
Als er am Morgen von der Nachtschicht nach Hause gekommen war, hatte ihn Amelie schon im Treppenhaus der Werftstraße 11 in Empfang genommen. »Herzlichen Glückwunsch, Siegfried, du bist Vater!« Seine Schwiegermutter hatte ihn umarmt und ihn fest gedrückt.
»Ich bin … was?« Er hatte sich aus Amelies Umarmung gelöst und sie ungläubig angeschaut. »Was redest du denn da? Das Kind soll doch erst Ende Januar kommen! Wo ist Helena? Was ist mit ihr?«
Die Angst in seinen Augen war nicht zu übersehen gewesen. Amelie hatte ihn in die Wohnung gezogen, die Abschlusstüre hinter sich ins Schloss fallen lassen und Siegfried in die Wohnküche geschoben.
»Beruhige dich, mein Junge, und setz dich erst mal hin!« Amelie hatte ihren verdutzten Schwiegersohn zur Chaiselongue geführt und ihn sanft auf das Polster gedrückt. »Alles ist gut. Helena ist in der St. Hedwig-Klinik. Und jetzt glaub es mir endlich! Du bist Vater, Siegfried! – Kurz nachdem du gestern Abend zur Arbeit gefahren bist, gingen die Wehen los. Helenas Fruchtblase ist geplatzt und wir mussten sie schnell in die St. Hedwig-Klinik bringen. Das war ganz schön aufregend, kann ich dir sagen.«
»Und woher weißt du, dass das Kind da ist?« Siegfried hatte seine Schwiegermutter noch immer ungläubig angeschaut. Er konnte nicht wirklich begreifen, was er da hörte.
»Frau Haberkorn war gerade vor fünf Minuten hier und hat uns gesagt, dass das Kleine um sieben Uhr vierundzwanzig das Licht der Welt erblickt hat. Am besten fährst du gleich in die Klinik. Ich komme dann mit der Straßenbahn nach.«
»Ich bin Vater!« Langsam begriff er, was seine Schwiegermutter ihm schon die ganze Zeit zu erklären versucht hatte. Plötzlich sprang er auf. »Ich bin Vater! Ich bin Vater!« Siegfried strahlte über das ganze Gesicht, gab Amelie einen Kuss und ehe sie sich versah, hatte er sie hochgehoben und drehte sich mit ihr, als wären sie beide ein Kreisel.
»Lass mich runter!«, rief Amelie lachend. »Du vergisst ganz, dass ich nicht mehr die Jüngste bin. Für solche sportlichen Einlagen bin ich eindeutig zu alt.«
Siegfried stellte die kleine Amelie auf den Fußschemel, der an der Wand stand, sodass sie sich auf gleicher Höhe in die Augen sehen konnten. »Und was hat Frau Haberkorn noch gesagt? Geht es den beiden gut?«
»Leider hat sie nicht mehr gewusst. Sie sagte mir, dass die Telefonverbindung unterbrochen worden sei. Anscheinend mal wieder ein kurzer Stromausfall, du weißt ja, dass das ständig passiert. Aber mach dir keine Sorgen! Bestimmt ist alles in Ordnung. Und jetzt fahr am besten los! – Ich weiß, du bist sicher hundsmüde, du armer Kerl!« Amelie schaute ihn mitleidig an.
»Ich und müde?! Ich bin hellwach!« Siegfried riss seine Augen weit auf und lachte Amelie an, um gleich wieder in einen Freudentaumel zu verfallen. Er seufzte glücklich. »Ich bin Vater!«
»Komm mal wieder runter, Junge!« Amelie amüsierte sich über die Euphorie ihres Schwiegersohnes. »Wir sehen uns dann später in der Klinik! Ich muss Carlo erst noch sein Essenskännchen für die Arbeit richten. Sowie er sich zum Friedhof aufgemacht hat, komme ich mit der Straßenbahn nach.«
Der frischgebackene Vater war die Treppe hinuntergestürmt, hatte die letzten vier Stufen mit einem Satz genommen und sich kurz darauf auf sein Motorfahrrad geschwungen. Dann war er losgebraust.
Doch leider war er in der St. Hedwig-Klinik ziemlich schnell ausgebremst worden, denn dort hatte man ihn erst einmal vertröstet. »Setzen Sie sich bitte hier auf die Bank. Wir geben Ihnen Bescheid, wenn Sie zu Ihrer Frau können«, hatte man ihm nüchtern erklärt. »Außerdem will Dr. Kirchesch noch vorher mit Ihnen reden.«
Und nun saß und stand er abwechselnd schon eine gefühlte Ewigkeit in dem kalten Flur, durchgefroren, hungrig und durstig. Eigentlich hätte er todmüde sein müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Zum Schläfrigwerden war er viel zu aufgeregt.
Plötzlich klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er wandte sich erwartungsvoll um. Aber es war nur Amelie, die ihm, wie versprochen, hinterhergefahren war. »Und, hast du schon mit Helena gesprochen und dein Kind gesehen?« Amelie lächelte ihn voller Erwartung an.
»Schön wär’s! Bis jetzt ist nur eine einzige Schwester aufgetaucht und die sagte mir lediglich, ich solle mich hierher setzen und warten, bis der Arzt komme«, berichtete ihr Siegfried enttäuscht, und besorgt fügte er hinzu: »Hoffentlich ist mit Helena und dem Kleinen alles in Ordnung.«
»Hat die Schwester denn gesagt, worüber der Arzt mit dir reden will?«, fragte Amelie ihn nachdenklich, um jedoch ohne auf eine Reaktion ihres Schwiegersohnes zu warten, sich die Antwort gleich selbst zu geben: »Ach, wahrscheinlich ist das mittlerweile so üblich, dass der Arzt sich der Familie vorstellt. Ist doch eigentlich eine schöne Geste! Früher gab es das nicht. Als ich in den 30er-Jahren das letzte Mal auf einer Geburtsstation lag, ging alles viel unpersönlicher zu. In den letzten zwanzig Jahren hat sich da viel verändert. Unter Hitler war sowieso alles anders!«
Für einen Augenblick wanderten Amelies Gedanken zurück in die Vergangenheit, in das Jahr 1933. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an die schreckliche Nacht vom 5. auf den 6. März dachte. Sie war damals im siebten Monat schwanger gewesen und hatte um ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes gekämpft. Irgendwann hatte festgestanden, dass nur einer von beiden überleben würde. »Die Mutter oder das Kind?«, hatten die Ärzte Carlo gefragt. Und der hatte sich für seine Frau entschieden, wohl wissend, dass dies alles andere als im Sinne der neuen Regierung war, die aus Nationalsozialisten und konservativen Deutschnationalen bestand. Die hatten alle eher dazu geneigt, in solchen Fällen dem Leben des Kindes den Vorrang zu geben. Schließlich würden sie Kanonenfutter brauchen, Soldaten für Volk und Vaterland. So dankbar Amelie ihrem Mann einerseits dafür gewesen war, dass er sie hatte weiterleben lassen, so wehmütig hatte sie andererseits der Gedanke gemacht, dass ihr kleiner Junge wegen ihr nicht hatte leben dürfen. In einem kleinen Zipfel ihres Herzens hatte sie sich das nie verziehen.
Doch sie wollte diesen trüben Gedanken jetzt nicht länger nachhängen. Das hier war eine ganz andere Situation. Helena hatte nicht wie sie damals eine lebensgefährliche Eiweißvergiftung, sondern ihr Kind war lediglich ein bisschen zu früh zur Welt gekommen. Das konnte man überhaupt nicht vergleichen.
»Das kann unter Umständen noch ewig dauern, bis der Arzt Zeit für uns hat. Da muss nur eine andere Geburt dazwischen gekommen sein«, versuchte Amelie ihren Schwiegersohn zu beruhigen.
»Aber die könnten uns doch trotzdem schon mal zu Helena lassen. Findest du nicht?«, wandte Siegfried ein.
»Du hast vollkommen recht! Dann reden wir eben anschließend mit dem Arzt.« Amelie hatte auch keine Lust, noch länger in dem kalten zugigen Flur herumzustehen. Hier konnte man sich den Tod holen. »Ich klopfe jetzt einfach nacheinander an die Türen da drüben. Irgendjemand wird mir schon aufmachen.« Und schon setzte sie das Gesagte in die Tat um. Ihr vierter Versuch war schließlich erfolgreich. »Entschuldigen Sie bitte, aber wir warten hier schon über zwei Stunden. Mein Mann und ich haben gestern Abend meine Tochter, sie heißt Helena Kühn, geborene Legrand, hier eingeliefert und sie hat heute Morgen um sieben Uhr vierundzwanzig ihr Kind zur Welt gebracht. Mein Schwiegersohn und ich würden sie gerne besuchen und wir würden natürlich auch gerne unser Enkelkind sehen. Könnten Sie uns nicht sagen, in welchem Zimmer sie liegt? Wir würden so gerne schon mal zu ihr gehen.«
»Ich war heute Nacht nicht im Haus, aber warten Sie, ich schaue mal in unserem Geburtenbuch nach. Setzen Sie sich derweil bitte noch mal hin. Ich gebe Ihnen dann Bescheid.« Die kleine, schon etwas ältere Schwester lächelte Amelie freundlich an und schloss wieder die Tür. Wenigstens war diese Schwester liebenswürdig und nicht so ein Drachen wie die vom Vorabend.
»Diese Warterei zehrt ganz schön an meinen Nerven.« Siegfried, der sonst eher gelassen war, wollte sich nicht hinsetzen, sondern lief weiter auf und ab.
Nach zehn Minuten kam die Ordensschwester schließlich aus dem Zimmer. Sie reichte Siegfried und Amelie die Hand und gratulierte ihnen zu dem neuen Erdenbürger.
»Ja, wo liegt denn jetzt meine Frau. Ich möchte zu ihr«, drängte Siegfried die Schwester.
»Es tut mir leid, aber da werden Sie sich noch ein wenig gedulden müssen. Es war wohl eine schwere Geburt und Sie können jetzt noch nicht zu Ihrer Frau. Vielleicht wäre es am besten, Sie würden erst einmal nach Hause gehen und heute Nachmittag wiederkommen.« Die Schwester versuchte, den beiden die für sie nicht sehr erfreuliche Nachricht so schonend wie möglich beizubringen.
»Wir gehen auf gar keinen Fall nach Hause. Wir wollen mit einem Arzt sprechen und dann will ich meine Tochter und mein Enkelkind sehen.« Amelies Ton machte deutlich, dass sie sich nicht wieder wegschicken lassen würde.
»Regen Sie sich bitte nicht auf. Ich darf dem Arzt leider nicht vorgreifen, aber ich werde nach ihm suchen. Nehmen Sie bitte noch einmal Platz. Ich verspreche Ihnen, ich werde mich um Ihr Anliegen kümmern«, besänftigte die Schwester.
Siegfried hatte sich nun doch hingesetzt. Er war in sich zusammengesunken und hatte sein Gesicht in die Hände gestützt. »Meinst du, bei der Geburt ist etwas schiefgegangen?«, fragte er plötzlich, während er zu Amelie hochblickte.
»Nein, so dramatisch wird es schon nicht sein. Bei einer Trockengeburt, die dazu noch mehrere Wochen früher als geplant eintritt, kann es immer zu kleineren Komplikationen kommen. Aber die Ärzte hier sind auf so etwas vorbereitet und wissen, wie sie damit umzugehen haben«, versuchte Amelie ihren Schwiegersohn erneut zu beruhigen, obwohl sie selbst höchst besorgt war. Aber das musste Siegfried nicht unbedingt mitkriegen.
»Meinst du wirklich?« Er schaute sie hoffnungsvoll an.
Amelie umarmte ihn. »Das meine ich wirklich, mein Junge. Mach dir nicht so viele Gedanken.« Sie strich ihm sanft über die Wange. Für Amelie war Siegfried wie ein eigener Sohn. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick, als Helena ihn ihr damals vorgestellt hatte, gern gehabt und der junge Mann hatte die gleichen Gefühle für sie gehegt. Mit Amelie hatte ihm das Schicksal seine geliebte Mutter zurückgegeben, die er auf so tragische Weise schon früh verloren hatte.
Der große stattliche Mann im weißen Arztkittel, der plötzlich vor Amelie und Siegfried stand, reichte beiden die Hand. »Ich bin Dr. Kirchesch, der diensthabende Frauenarzt, der Ihre Tochter entbunden hat.« Er reichte Amelie die Hand und während er sich Siegfried zuwandte, meinte er: »Ich darf Sie herzlich zu ihrer kleinen Tochter beglückwünschen.«
»Tochter …?!« Siegfried schaute den Arzt entgeistert an.
»Ja, Sie sind Vater eines kleinen Mädchens geworden«, bestätigte ihm der Arzt noch einmal.
»Ich bin Vater einer Tochter!« Langsam betonte er jedes einzelne Wort, als müsse er den Inhalt dieses Satzes erst einmal richtig begreifen. Für einen Augenblick hielt er inne. Dann plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck und sein Erstaunen verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. »Ich bin Vater einer Tochter und du, Amelie, hast eine kleine Enkeltochter!« Er konnte es noch immer nicht wirklich fassen.
Amelie wandte sich nun an den Arzt, der über das Verhalten des jungen Vaters verwundert zu sein schien und meinte: »Ich glaube, ich muss Ihnen das Benehmen meines Schwiegersohnes erklären. Wissen Sie, er ist ein leidenschaftlicher Fußballspieler und meine Tochter sagte immer, dass es ein Junge würde. Sie fühle das. Sie meinte während der gesamten Schwangerschaft, dass sie sich da ganz sicher sei. Und so haben die beiden sich in die Idee verrannt, dass sie einen kleinen Fußballer bekommen würden. Sie haben sogar nur einen Jungennamen festgelegt. Es sollte ein kleiner Henry werden. Weder ich noch mein Mann konnten die beiden von dieser wahnwitzigen Idee abbringen.«
Dr. Kirchesch lächelte. »Ja, da hat ihnen die junge Dame wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Und zu Siegfried gewandt fügte er hinzu: »Sind Sie denn jetzt sehr enttäuscht?«
»Nein, überhaupt nicht! Das ist eigentlich noch viel besser. Ich war schon lange nicht mehr so glücklich.« Als er dies sagte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Es waren Tränen der Freude.
»Ich muss Ihre Freude leider ein wenig trüben«, meinte nun Dr. Kirchesch, dessen Miene ernster geworden war. »Ich habe Ihnen zuerst die gute Nachricht überbracht, aber Sie wissen ja, wo Licht ist, gibt es auch oft Schatten. Leider war die Entbindung nicht unproblematisch, weder für die Mutter noch für das Kind. Ihre Tochter hatte nämlich nach der Geburt eine sogenannte Uterus-Atonie.« Er blickte nun zu Amelie. »Wissen Sie, was das ist?«
Amelie, die sich mittlerweile neben ihren Schwiegersohn auf die Bank gesetzt hatte, schüttelte den Kopf und auch Siegfried konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Beide schauten den Arzt schweigend an, sie waren sichtlich verstört. Dr. Kirchesch erklärte ihnen nun, dass es sich dabei um eine Kontraktionsstörung der Gebärmutter handele, die mit einem ziemlichen Blutverlust einhergehe.
»Ja, und wie geht es meiner Tochter jetzt?« Amelie hatte als Erste ihre Fassung zurückgewonnen.
»Den Umständen entsprechend gut«, lächelte er sie zuversichtlich an. »Die Gebärmutter hat sich mittlerweile zusammengezogen, die Blutung ist gestoppt, aber ihre Tochter ist natürlich noch sehr schwach. Darum haben wir ihr etwas zum Schlafen gegeben. Sie braucht jetzt viel Ruhe. Es wäre deshalb auch am besten, wenn Sie sie erst morgen besuchen würden.«
»Und meine Frau ist wirklich über dem Berg?«, fragte Siegfried nochmals nach.
Der Arzt klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Ihre Frau ist zwar zart, aber sie ist auch zäh. Sie werden noch viele Kinder mit ihr haben. Vielleicht ist das nächste ja dann ein Fußballer!«
»Dürfen wir dann wenigstens die Kleine sehen?« Amelie war so neugierig auf ihre Enkelin.
Dr. Kirchesch wurde erneut ernst: »Das ist leider im Augenblick auch nicht möglich.« Er stockte einen Augenblick. »Das, was ich Ihnen jetzt sage, fällt mir sehr schwer. Ihre kleine Enkelin macht mir im Moment noch große Sorgen. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Kleine noch nicht über dem Berg ist. Sie ist mit ihren drei Kilogramm zwar durchaus lebensfähig, aber sie ist sehr, sehr schwach. Wir mussten sie in den Brutkasten legen und hoffen, dass sie es schafft. Die nächsten drei Tage werden es zeigen.«
Bei den Worten des Arztes schlug Amelie voller Entsetzen ihre Hände vor den Mund. Siegfried konnte gar nichts mehr sagen, für ihn brach in diesem Augenblick eine Welt zusammen. Er war wie gelähmt.
»Herr Doktor, hat mein Enkelkind denn eine Chance?« Amelie blickte ihn flehentlich an.
»Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. Das liegt jetzt in Gottes Hand. Und nun muss ich mich verabschieden. Auch ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Als der Arzt gegangen war, brach Amelie in Tränen aus. So froh sie darüber war, dass es Helena besser ging, so unendlich traurig machte sie der Gedanke, dass ihre kleine Enkelin in diesem Moment um ihr Leben kämpfte. Unweigerlich musste sie wieder an ihre eigene Fehlgeburt denken. Sie schluchzte laut auf. Siegfried nahm sie in den Arm und auch er konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
Die beiden saßen nebeneinander auf der Bank wie zwei Häufchen Elend, unfähig zu entscheiden, was sie jetzt tun sollten. Innerhalb von zehn Minuten waren sie von den glücklichsten Menschen der Welt zu den traurigsten geworden.
»Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Die kleine Ordensschwester setzte sich zu ihnen. »Vertrauen Sie auf Gott, er wird Ihnen und Ihrem Mädchen helfen.« Ihre Stimme war sanft und sie sprach die Worte sehr behutsam aus. »Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen. Wenn Sie wollen, können wir die Kleine jetzt und hier nottaufen. Ich darf das machen, und wir brauchen auch nur ein wenig Wasser. In einer solchen Situation ist das erlaubt. Das Wissen, dass Ihr Kind zu Gott gehört und in ihm geborgen ist, wird auch Ihnen helfen.«
Amelie und Siegfried blickten sich an. »Was meinst du?«, fragte Siegfried seine Schwiegermutter. Amelie nickte ihm mit verweinten Augen zu. »Ich denke, wir sollten das Angebot der Schwester annehmen.«
»Wenn du das meinst, dann sollten wir das tun.« Siegfried vertraute Amelie. Wenn sie das für richtig hielt, dann war es richtig.
»Dann kommen Sie jetzt bitte mit mir!« Die Ordensschwester erhob sich und ging mit den beiden den langen, kalten Flur entlang.
»Möchten Sie nicht nur die Großmutter, sondern auch die Patin ihrer Enkelin sein?« Die Schwester lächelte Amelie ermutigend an.
Diese nickte, während sie sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln wischte. »Sehr gerne.«
»So, dann werde ich Ihnen die Kleine jetzt kurz geben.« Die Schwester öffnete den Brutkasten und beugte sich hinab zu dem Säugling. Dann legte sie ihn Amelie in die Arme. »Wie friedlich sie schläft, schau mal, Siegfried!«
»Wie schön sie ist und was für lange schwarze Haare sie hat! Sie wird sicher mal so hübsch wie Helena!« Der frisch gebackene Vater war von seiner kleinen Tochter entzückt.
»Aber sie hat gar keine Finger- und keine Fußnägel!«, stellte Amelie erschrocken fest.
»Keine Sorge, das ist das kleinste Problem, die wachsen noch nach«, beruhigte sie die Schwester. Zu Siegfried gewandt meinte sie: »Jetzt müssen Sie mir nur noch verraten, wie Ihre Tochter heißen soll.«
Auf diese Frage war Siegfried nicht gefasst gewesen. Nun rächte es sich, dass er und Helena sich so auf einen Jungen versteift hatten. Sie hatten nie über Mädchennamen nachgedacht.
»Welchen Namen soll das Mädchen bekommen?«, fragte ihn die Schwester erneut.
»Äh, hm …«, ratterte es in seinem Gehirn. Er hatte keine Ahnung, welcher Mädchenname Helena gefallen würde. Aber er musste sich entscheiden. In diesem Moment erinnerte er sich an seine nette Cousine, mit der er als Kind immer gespielt und mit der er sich so gut verstanden hatte. »Charlotte, Charlotte Kühn!«, antwortete er voller Überzeugung.
Und während Amelie ihre Enkelin in ihren Armen hielt, beträufelte die Ordensschwester das Gesicht des Säuglings dreimal mit Wasser, während sie die Taufformel sprach: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen Charlotte. Amen.« Dann legte sie den Säugling wieder zurück in den Brutkasten.
Auch wenn sich an den tatsächlichen schwierigen Umständen nichts geändert hatte, so hatte die Taufe doch etwas Tröstliches gehabt. Sie waren der Schwester unendlich dankbar, dass sie ihnen diese ermöglicht hatte. Aber für Amelie hatte die Taufe noch eine weitere Erkenntnis gebracht, die sie Siegfried auch beim Verlassen des Krankenhauses sogleich mitteilte: »Ich bin mir sicher, unser Charlottchen wird leben. Und weißt du, wieso ich das weiß?« Sie lächelte Siegfried an, der sie fragend anblickte. »Während die Schwester die Taufformel sprach, hat deine Tochter zweimal gepupst. Ich denke, das war ein gutes Zeichen.«
„Das war ja ein heftiger Start ins Leben.« Robert lächelte Charlotte an, während die beiden gemeinsam die verlängerte Jungbuschstraße hinunterschlenderten.
»Das kann man wohl sagen. Aber ich wollte anscheinend nicht mehr warten und unbedingt Weihnachten erleben.« Charlotte schaute ihn verschmitzt an. »Wahrscheinlich war ich damals schon auf die Welt gespannt. Die Neugierde auf das Leben hat mich stets angetrieben. Geduld war, ehrlich gesagt, nie meine Stärke. Das ist bis heute so.«
»Ja, das glaube ich dir sofort. So schätze ich dich auch ein.«
Charlotte fand es schon erstaunlich, dass Robert sie nach relativ kurzer Zeit so gut kannte. »Manchmal ist es gar nicht so verkehrt, ungeduldig zu sein«, erklärte sie ihm augenzwinkernd. »Ich habe von dieser Haltung schon oft in meinem Leben profitiert.«
»Wie hat Gorbatschow einmal so schön gesagt: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‘ Ich finde, da ist schon was dran.« Robert sah das wohl ganz ähnlich.
»Schau mal.« Charlotte deutete auf die andere Straßenseite »Da drüben war in meiner Kindheit Der letzte Heller. In dieser Wirtschaft haben meine Eltern viele Jahre lang Fastnacht gefeiert und nächtelang geschwoft. Da gab es Kappenabende und besonders am Fastnachtssamstag und beim Kehraus am Fastnachtsdienstag war da der Bär los. Meine Eltern haben Fastnacht geliebt und für uns alle Fastnachtskostüme genäht. Meine Mutter ging meistens als Zigeunerin. Kein Wunder, sie war so eine rassige Frau mit ihren schwarzen Haaren und dunklen Augen. Und mein Papa ging meistens als Kapitän mit aufgemaltem Schnauzbart.«
»Na ja, für deine Eltern als gelernte Schneider war das wohl schon fast eine Frage der Ehre, dass sie ihre Maskerade selbst nähten«, warf Robert ein.
Charlotte nickte. »Aber sie waren auch beide vorbelastet. Meine Mutter durch meinen Opa Carlo, der sich schon in den 20er-Jahren das, was er an Fastnacht tragen wollte, selbst entwarf und auch schneiderte. Dabei muss man bedenken, dass er einen ganz anderen Beruf hatte. Ja, und mein Vater hatte wohl die Gene seiner lebenslustigen Mutter.« In Charlotte stieg für einen Augenblick Schwermut hoch. Dieses Gefühl überkam sie immer, wenn sie über das harte Schicksal ihrer Großmutter Maria nachdachte und darüber, wie sehr ihr Vater sein ganzes Leben lang unter den traumatischen Ereignissen gelitten hatte.
Robert bemerkte Charlottes Traurigkeit und versuchte, sie abzulenken: »Du sahst bestimmt süß aus als kleine Prinzessin im Spitzenkleidchen.«
»Ich und Prinzessin!« Robert hatte einen Volltreffer gelandet, denn Charlottes Niedergeschlagenheit wechselte von einem Moment zum anderen in ausgelassene Heiterkeit, als sie belustigt meinte: »Du kennst mich anscheinend doch nicht so gut, wie ich dachte. Mit der Monarchie stehe ich bis heute auf Kriegsfuß. Das ist überhaupt nicht meine Welt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich als Prinzessin verkleiden zu lassen. Never ever! – Nein, Prinzessin war ich nie. Als ich ganz klein war, haben sie mich als Gärtnerin maskiert. Und später hat mir meine Mutter dann ein Torero-Kostüm genäht. Davon habe ich sogar noch Fotos. Dann war ich mal Cowgirl mit einem Schießeisen und mit zwölf wollte ich unbedingt Nscho-tschi sein, Winnetous Schwester. Mein Gott, war ich damals in Lex Barker verknallt …« Charlotte geriet ins Schwärmen.
»Respekt! Da hat sich also damals schon die Kämpferin in dir gezeigt.«
»Ja, das kann schon sein. Ich wollte nie so ein langweiliges Prinzesschen sein. Übrigens, im Letzten Heller haben wir auch meinen Onkel Heinz kennengelernt, der ja eigentlich gar nicht mein Onkel war.« Charlotte schwelgte in Erinnerungen, als sie an dem Quadrat H7 vorbeigingen. »Meine Tante Inge ist dort auch immer verkehrt. Von der muss ich dir bei Gelegenheit auch noch erzählen.«
»Was meinst du, wenn du sagst dein Onkel, der eigentlich gar nicht dein Onkel war? War er nun dein Onkel oder war er es nicht?« Robert war irritiert.
»Ich weiß, das klingt kompliziert.« Charlotte machte eine Pause und überlegte, wie sie es ihm am besten erklären sollte. »Also, Onkel Heinz war der Bruder der Besitzerin der Wirtschaft und meine Eltern lernten ihn 1957 dort an Fastnacht beim Kappenabend kennen. Daraus entstand nach und nach eine enge lebenslange Freundschaft. Stell dir vor, Onkel Heinz ist ab diesem Zeitpunkt bis zum Tod meiner Mutter 2013 jeden Tag zu uns nach Hause gekommen.«
»56 Jahre war er immer bei euch? Hatte er denn keine eigene Familie?« Robert konnte das nicht wirklich nachvollziehen.
»Nein, er war geschieden. Er hatte im Krieg in Norwegen mit einer Krankenschwester ein Kind gezeugt und sie nach der Geburt der gemeinsamen Tochter geheiratet. Aber nach dem Krieg, als beide wieder in Deutschland waren, merkten sie bald, dass sie nicht zusammenleben konnten. Nach der Scheidung ging die Mutter dann mit ihrer Tochter zurück nach Stuttgart und er blieb in Ludwigshafen. In den ersten Jahren hat Onkel Heinz seine Tochter sogar ein paarmal zu sich eingeladen. Aber dann klappte das, aus welchen Gründen auch immer, wohl irgendwann nicht mehr und so hat er seine Tochter über mehrere Jahrzehnte nicht gesehen. Eigentlich ist das keine schöne Geschichte.« Charlotte war davon überzeugt, dass alle Beteiligten unter dieser Situation gelitten hatten.
»Dann wart ihr also seine Ersatzfamilie und du auch sicher so eine Art Ersatzkind für ihn, oder?«, hakte Robert nach.
»Das kann man wohl sagen! Für mich war das nicht immer schön. Besonders als ich älter wurde, hatte ich keine Lust, dass es neben meinen Eltern noch einen Plastikonkel gab, der meinte, er müsse mich auch erziehen.« Charlotte zog eine genervte Grimasse.
»Klar, wer mag das schon?! – Aber sag mal, warum nennst du ihn Plastikonkel?« Robert konnte mit dem Begriff nichts anfangen.
Riz