Gesche Rabten

Schatz des Dharma

Übersetzt und herausgegeben von Schülern des Ehrwürdigen

Gesche Rabten Rinpotsche unter der Leitung des Ehrwürdigen Gonsar Rinpotsche

Titel der englischen Originalausgabe: Treasury of Dharma

Tharpa Publications 1988, ISBN 0-948006-04-8

Deutsche Erstauflage 1997


Alle Rechte vorbehalten – Printed in Switzerland

© Edition Rabten

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Fotos: Ruedi Hofstetter; Foto Gesche Rabten: Gonsar Rinpotsche

Strichzeichnungen: Gonsar Rinpotsche S. 119; © Klösterliches

Tibet-Institut Rikon S. 131; Patrick Vent S. 33


ISBN 3-905497-11-5

eBook: ISBN 978-2-88925-085-1


eBook Herstellung: Edition Rabten

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Vorwort

Ein Schatz ist eine Quelle von vielen kostbaren Dingen. Nicht nur ein paar Juwelen, sondern unzählige kostbare Steine, Metalle und ähnliches, woran sich der Besitzer nach Wunsch erfreuen kann, sind in einem Schatz enthalten.

Ähnlich enthält dieses Buch alle wesentlichen Punkte für die Anwendung von Buddhas Dharma-Unterweisungen, was es kostbarer macht als eine Sammlung Hunderter und Tausender greifbarer Juwelen.

Der Besitz eines kopfgroßen Diamanten kann bei geschickter Verwendung Armut lindern und das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung und Unterkunft erfüllen und dadurch teilweises Glück vermitteln, aber nicht mehr als das. Gleichzeitig kann ein solcher Besitz aber auch viele unerwünschte Erfahrungen mit Dieben, Räubern und Angst vor Verlust auslösen.

Allein schon ein Teil des kostbaren Dharma kann dagegen nicht nur unsere gegenwärtigen Bedürfnisse erfüllen, sondern auch das Resultat eines bleibenden Glücks bringen.

Buddha hat klar dargelegt, daß die Wurzel des Glücks und des Leids der Lebewesen nicht außerhalb, sondern innerhalb ihres Geistes zu suchen ist. Obwohl viele belebte und unbelebte Objekte, die außerhalb von uns existieren, manchmal als Umstand für Glück oder Leid auftreten mögen, liegt die Hauptursache unserer Erfahrungen in unseren heilsamen und unheilsamen Geisteszuständen. Wenn Geistesfaktoren wie Unwissenheit, Egoismus, Begierde, Haß, Stolz und Eifersucht das eigene Geisteskontinuum beherrschen, erzeugt dies für einen selbst und für andere endlose Probleme und verwandelt selbst positive äußere Umstände in Ursachen für Leid. Wenn dagegen Zufriedenheit, Genügsamkeit, Wertschätzen anderer, Geduld, Liebe, Erbarmen und Weisheit im eigenen Geist stark und fest sind, werden selbst negative Bedingungen zu nützlichen Faktoren und erzeugen Wohlergehen und Glück ohne Ende sowohl für einen selbst als auch für andere.

Das ist nicht nur ein Glaube, eine Theorie oder philosophische Annahme, sondern kann durch direkte Erfahrung nachvollzogen werden. Es ist daher sehr wichtig, in sich selbst eine positive Umwandlung zustande zu bringen, indem man die grundlegenden Ursachen des eigenen Glücks und Leids erkennt. Da die Fehler des Geistes, wie groß sie auch scheinen mögen, nicht von der Natur des Geistes selbst sind, können sie vollständig beseitigt werden. Es ist auch eine Tatsache, daß selbst die geringsten positiven Eigenschaften des Geistes mit entsprechenden Methoden unendlich entwickelt werden können. Solche fehlerfreien Methoden sind die Essenz der Unterweisungen des Erleuchteten. Buddha hat den Lebewesen den Weg zur vollständigen Befreiung von allen Leiden und zum Erlangen bleibenden Glücks gezeigt, indem er sie lehrte, ihren Geist zu entwickeln.

Die ganze Lehre des Buddha ist im Tripitaka enthalten, in den sogenannten Drei Sammlungen. Auf tibetisch sind sie als Kagyur bekannt und auch noch in unserer Zeit in mehr als hundert Bänden vorhanden. Diese Schriften werden in den buddhistischen Klöstern studiert und allgemein hoch verehrt. Allerdings sind diese Unterweisungen so tief wie der Ozean und so weit wie der Raum. Heute haben daher viele Leute, die in ihren geistigen Fähigkeiten, ihrer Entschlossenheit, Geduld und Zeit beschränkt sind, Schwierigkeiten, diese Unterweisungen gründlich zu studieren und zu verstehen, und noch mehr Schwierigkeiten, sie richtig anzuwenden.

So sind Unterweisungen unerläßlich, die zeigen, wie die Essenz der gesamten Lehre des Buddha im Kontinuum eines Individuums zusammengeführt und angewendet wird. Solche Unterweisungen dürfen nicht lediglich die Erfindung einer geschickten Person oder nach Belieben gestaltete Interpretationen sein. Sie müssen von einem wahren Meister stammen, der einerseits aus gründlicher Analyse dieser Unterweisungen eine Weisheit besitzt, die alle Erfindungen und falschen Ansichten ausschließt, und der andererseits durch vollständige Erfahrung mit der Anwendung in sich selbst eine fehlerfreie Erkenntnis entwickelt hat. Außerdem müssen solche Belehrungen aus Erbarmen zu den Wesen gegeben werden, ohne Hoffnung auf eigenen Ruhm und Gewinn. Solche wahren Meister sind selten, und von solchen Meistern geschriebene Texte sind äußerst selten. Jeden Tag tauchen neue Bücher auf, die den Anschein von Dharma haben mögen, aber ohne Substanz des Dharma sind; Bücher, die nur leeres Geschwätz enthalten, um leichtgläubige Wesen zu locken.

Der Autor dieses Buches ist der Ehrwürdige Gesche Rabten Rinpotsche, ein hervorragender Gelehrter, Siddha und Meister mit hohen Erkenntnissen. Er war eine Verkörperung von Erbarmen und eine unübertreffliche Zuflucht für dieses und zukünftige Leben, für zahllose Lebewesen einschließlich meiner selbst.

Gesche Rabten Rinpotsche wurde 1921 in Dargye, Osttibet, geboren. Bis zum Alter von neunzehn Jahren erfüllte er seine Pflichten in der Familie, dann wählte er aus eigenem Wunsch das Leben eines Mönches. Er trat in die berühmteste Klosteruniversität Tibets, Sera Tektschenling, ein und begann seine Studien im Dsche Kollegium. Unter der Führung seiner Lehrer wie dem Ehrwürdigen Gesche Dschampa Khedrup meisterte er durch Lernen, Nachdenken und Meditation die gesamte Lehre der drei Fahrzeuge des Dharma und die vier Klassen des Tantra. Sowohl in der Klosteruniversität als auch außerhalb war er als wißbegieriger Student, unbesiegbarer Debattierer, intensiver Anwender und unübertrefflicher Lehrer berühmt.

Sein ganzes erlerntes Wissen integrierte er in seine Meditation und konnte so vollständige Einsicht in die letztliche Natur der Phänomene erlangen. Dadurch erreichte er die Fähigkeit, sowohl sein eigenes Ziel wie auch das der anderen zu erfüllen. Zahllose Dharmasuchende in Tibet, im Exil in Indien und später im Westen wurden deshalb zu seinen Schülern, aus denen überragende Meister mit großen Eigenschaften hervorgingen. Unter den im Westen bekannten sind Lama Thubten Yesche, Zopa Rinpotsche, Tromthok Rinpotsche, Gesche Karyang, Gesche Tenzin Gönpo, Gesche Penba, Gesche Thubten Trinley, Gesche Thubten Ngawang und so weiter, um nur einige aufzuzählen. Viele mehr sind in Indien und in Tibet.

Gesche Rinpotsches hervorragende Eigenschaften wurden nicht nur von seinen Schülern erkannt und geschätzt, sondern auch von den großen Meistern unserer Zeit wie S. H. des Dalai Lama und seinen zwei bedeutenden Lehrern. Besonders Kyabdsche Tridschang Dordsche Chang, der jüngere Lehrer S. H., betrachtete ihn als einen seiner engsten geistigen Söhne, und auch Gesche Rinpotsche verehrte diesen besonderen Meister als seinen Wurzel-Meister und geistigen Vater, als Verkörperung aller Buddhas.

Im Jahr 1964 wählte S. H. der Dalai Lama Gesche Rinpotsche und den Ehrwürdigen Lati Rinpotsche aus Hunderten von Gesches als seine neuen Tsentschabs, seine philosophischen Assistenten aus. 1969 begann Gesche in Dharamsala gemäß dem Wunsch S. H. des Dalai Lama westlichen Menschen Unterweisungen zu geben. 1974 kam er auf Einladung von Madame Anne Ansermet und anderen westlichen Schülern zum erstenmal nach Europa und gab in vielen Ländern Unterweisungen des Dharma. Im darauffolgenden Jahr wurde er von S. H. dem Dalai Lama als Abt des Klösterlichen Tibet-Instituts in Rikon in der Schweiz wieder nach Europa zurückgeschickt, um die geistigen Bedürfnisse der westlichen Menschen wie auch der Tibeter in Europa zu erfüllen. Da die Zahl der Personen, die ein gründliches Studium und eine ernsthafte Anwendung des Buddhismus suchten, immer mehr zunahm, gründete Gesche in der Schweiz Tharpa Choeling, das Zentrum für Höhere Tibetische Studien auf dem Mont-Pèlerin, in Österreich Tashi Rabten in Feldkirch, in Deutschland das Tibetische Zentrum Jangchub Choeling in Hamburg und Phuntsok Rabten in München und in Italien Ghe-Pel-Ling in Mailand. Tharpa Choeling wurde später zum Andenken an Gesche Rinpotsche in Rabten Choeling umbenannt. Diese Klöster und Zentren sind für alle, die authentische und umfassende Dharma-Studien suchen, zu einem besonderen Anziehungspunkt geworden. Mit der einzigen Absicht, den Unterweisungen des Buddha und den Lebewesen zu dienen, drehte Gesche Rinpotsche bis zum Ende seines Lebens unermüdlich das Rad des Dharma. Für viele Menschen in diesem Teil der Welt öffnete er mit seinen außergewöhnlich klaren und bewegenden Unterweisungen das große Tor des Dharma und wurde zu einem der bedeutendsten Begründer der reinen und vollständigen Lehre des Buddha in Europa.

Gesche Rinpotsche gab eine unermeßliche Zahl von Unterweisungen. Im Jahr 1974 folgten während drei intensiven Wochen etwa hundert Personen in Rolle, Prés-de-Verts in der Schweiz dem intensiven Meditationskurs, der in diesem Buch wiedergegeben ist. Diese Unterweisungen enthalten alle wesentlichen Punkte des Dharma. Gesche lehrte aus seiner eigenen Erfahrung, und dank seinem großen Erbarmen und seinem Geschick legte er sie auf klarste und verständlichste Weise dar, was eine wohlbekannte Eigenschaft seiner Unterweisungen ist. So werden diese sicher den Geist eines jeden aufrichtig am Dharma Interessierten erhellen, und die Leser werden den Beweis dafür in sich selbst finden.

Diese Unterweisungen wurden zuerst von mir sehr wörtlich ins Englische übersetzt. Mein Freund Brian Grabia, ein langjähriger Schüler von Gesche Rinpotsche, korrigierte das Englisch sorgfältig und stellte es in einer schönen geschriebenen Form bereit, für jedermann ein Vergnügen zu lesen.

Diese deutsche Ausgabe wurde von Marion B. Kroh und Ingund Gaßner aus dem Englischen übersetzt und von Helmut Gaßner überarbeitet. Seine Beherrschung der tibetischen Sprache und seine langjährige Vertrautheit mit Gesche Rinpotsches Unterweisungen waren eine große Hilfe. Ich möchte ihm meinen tiefen Dank ausdrücken.

Wenn man die kostbaren Juwelen bewahrt, die aus diesem Schatz in das eigene Herz kommen, können sie von niemandem weggenommen werden, und sie werden sicher das Licht unermeßlichen Nutzens und Glücks für einen selbst und andere ausstrahlen.

Ich schließe dieses Vorwort mit meinen Gebeten für das lange Leben unseres lieben und verehrten Tenzin Rabgyä Rinpotsche, der jungen Wiedergeburt unseres geliebten Meisters Gesche Rabten Rinpotsche, des Autors dieses Buches.


Gonsar Tulku

Le Mont-Pèlerin, Schweiz

April 1997

Buddha Schakyamuni Buddha Schakyamuni
Dsche Tsongkhapa Dsche Tsongkhapa
Ehrwürdiger Gesche Rabten Rinpotsche Ehrwürdiger Gesche Rabten Rinpotsche
Ehrwürdiger Rabten Tulku Rinpotsche Ehrwürdiger Rabten Tulku Rinpotsche

Einleitung

Ich freue mich sehr, Sie alle hier zu sehen. Die Tatsache, daß wir zusammengekommen sind, um Dharma zu hören, ist sicher ein Zeichen dafür, daß wir in der Vergangenheit eine Verbindung hergestellt haben. In den kommenden Tagen werden wir versuchen, etwas über das Dharma zu lernen. Ein menschliches Wesen ist eine Verbindung von Körper, Rede und Geist. Aber die hier vor uns liegende Arbeit wird sich hauptsächlich mit dem Geist befassen. Während wir hier beisammen sind, wird es gut sein, einer möglichst disziplinierten Lebensweise zu folgen. Gewöhnlich verbringen wir einen großen Teil der Zeit mit Reden, wobei wir oft das erstbeste sagen, das uns in den Sinn kommt. Solange wir hier sind, wollen wir jedoch versuchen, diese Art von Geschwätz zu unterlassen und nur über Dinge sprechen, die sich auf das Dharma beziehen. Das ist besonders wichtig, wenn wir nach den Unterweisungen in der Lage sein wollen, darüber zu meditieren. Erwarten wir zu dieser Zeit Resultate, dann müssen wir jetzt beginnen, indem wir den Unterweisungen aufmerksam zuhören und unsere Handlungen im Lauf des Tages zügeln. Daher sollten wir nur über Dinge sprechen, die sich auf das Dharma und das, was wir hier tun, beziehen.

Gewöhnlich gehen wir überallhin, wo es uns gerade hinzieht; aber die, die hier im Haus wohnen, sollten während des Kurses hierbleiben. Für die, die hin- und herfahren: bitte versuchen Sie, so wenig wie möglich zu fahren und während dieser Zeit jede unnötige Tätigkeit zu vermeiden. Wenn wir unsere Geschäftigkeit nicht einschränken und uns nicht auf die Unterweisungen konzentrieren, werden wir später, wenn wir zu meditieren versuchen, nicht die gewünschten positiven Ergebnisse erzielen.

Gewöhnlich ist unser Geist mit einer Menge Gedanken beschäftigt. Wir machen viele Pläne und verbringen einen

großen Teil der Zeit damit, darüber nachzudenken. Aber während der Dauer dieses Kurses sollten wir versuchen, unseren Geist unter Kontrolle zu halten und Gedanken zu vermeiden, die nicht mit dem Dharma zusammenhängen. Das wiederum ist wichtig, wenn wir irgendwelche Ergebnisse aus unserer Meditation und Anwendung erzielen möchten.

Wenn unser Körper, unsere Rede und unser Geist zusammenarbeiten und auf die Unterweisungen gerichtet sind, können wir positive Veränderungen erwarten. Sie alle sind hierhergekommen, um Unterweisungen über das Dharma zu hören, und darüber freue ich mich sehr. Während dieser Zeit sollten Sie versuchen, freundlich und rücksichtsvoll zu sein und sich ruhig und friedlich zu verhalten. Da es der Zweck des Dharma ist, allen Harmonie zu bringen, müssen wir damit beginnen, unter uns friedlich und harmonisch zu werden. Es wäre am besten, Sie könnten auch auf das Rauchen verzichten, wenigstens an Orten wie dem Meditationsraum. Für die Dauer des Kurses sollten Sie versuchen, sich Ihrer Anwendung so energisch und hingebungsvoll wie möglich zu widmen. Obwohl wir nur wenige Tage miteinander verbringen können, wenn wir sie auf diese Weise nutzen, werden wir unsere Zeit gut nutzen, und wir können zufriedenstellende Ergebnisse erwarten. Ich werde jeden Tag Unterweisungen geben, und da manche von Ihnen wenig oder keine Erfahrung mit Dharma-Anwendung haben, ist es möglich, daß Sie manches, worüber ich sprechen werde, nicht verstehen. In diesem Fall notieren Sie bitte, was Ihnen nicht klar ist, und wenn nötig, können wir privat darüber sprechen. Auf jeden Fall hoffe ich, daß Sie Notizen machen werden und über das, was gesagt wird, sehr ausführlich nachdenken, anstatt es zum einem Ohr hinein- und zum anderen wieder hinauszulassen.

Beim Hören von Dharma-Unterweisungen sollten Sie daher versuchen, so aufmerksam und so unabgelenkt wie möglich zu sein. Wenn statt dessen Ihre Augen umherwandern und Sie über alles nachdenken, was Ihnen in den Sinn kommt, werden Sie das Gehörte nicht behalten können. Liegt eine Tasse auf der Seite, dann können wir versuchen, was wir wollen, wir werden nie fähig sein, sie mit Wasser zu füllen. Das zeigt die Wirkung oder eher den Mangel an Wirkung, den Dharma-Unterweisungen auf eine zerstreut zuhörende Person haben. Wenn Sie genau zuhören, ist das nächste Erfordernis, daß Sie sich an das Gesagte erinnern und oft darüber nachdenken. So können Sie im Gedächtnis behalten, was sie gehört haben. Gießen wir Wasser in eine löchrige Tasse, dann wird es nur ausrinnen. Das ist wie jemand, der Dharma-Unterweisungen hört, aber sich nicht bemüht, sie sich zu merken.

Der Hauptzweck unserer Dharma-Anwendung ist, von Leid frei zu werden, dem Leid, das uns körperlich und geistig durchdringt. Sie ist nicht ein Mittel, um Ruhm zu erlangen, Reichtum anzuhäufen oder irgendeine andere Art von weltlichem Ziel zu erreichen. Wir sollten den Dharma-Unterweisungen zuhören mit dem Bestreben, unsere Unzufriedenheit zu beseitigen. Jemand, der Dharma anwendet, läßt sich mit jemandem vergleichen, der krank ist. Die Person, die lehrt, ist wie ein Arzt, und das Dharma selbst ist wie die Medizin oder das Heilmittel für die Krankheit. Kurz, es gibt drei Arten, Dharma-Unterweisungen zuzuhören: gut und aufmerksam zuhören, das, was unterrichtet wird, im Gedächtnis behalten und die richtige Einstellung haben.

Im ersten Teil dieser Unterweisungen werde ich über die Vier Edlen Wahrheiten sprechen: die Wahrheit des Leids, die Wahrheit des Ursprungs des Leids, die Wahrheit der Beseitigung des Leids und die Wahrheit des Weges. Im zweiten Teil werde ich besonders auf den Weg des Mahayana eingehen. Diese Unterweisungen werden nicht akademischer Natur sein, sondern auf jenen Aspekten des Dharma beruhen, die für die meisten von uns hier von größtem Nutzen sind. Das ist alles, was ich einleitend sagen möchte.

Bildseiten

Buddha Schakyamuni

Der Gründer des Buddhismus. Diese Statue ist die zentrale Figur des Haupttempels von Rabten Choeling.

Dsche Tsongkhapa

Ein Händler, der ein Schüler von Dsche Tsongkhapa war, fand in wundersamer Weise eine Statue seines Lehrers in einem See. Von dieser Statue liess er eine Gußform herstellen, die Dsche Tsongkhapa selbst segnete und die Worte sprach: ,,Oh Händler, das ist eine heilsame Handlung.” Seit dann sind Statuen aus dieser Gußform, wie auf diesem Bild gezeigt, als Tsong Poen Geleg (Heilsamer Händler) bekannt. Es gibt nur wenige dieser Statuen, die in Tibet sehr verehrt werden.

Ehrwürdiger Gesche Rabten Rinpotsche

Ehrwürdiger Rabten Tulku Rinpotsche

Die Wiedergeburt des Ehrw. Gesche Rabten Rinpotsche, geboren 1987 in Nordindien. Zur Zeit lebt er in der Schweiz unter der Fürsorge des Ehrw. Gonsar Rinpotsche.

Glück und Leid

Alle Lebewesen auf dieser Welt sind ständig mit körperlichen, sprachlichen und geistigen Tätigkeiten beschäftigt. Alle diese Tätigkeiten sind darauf ausgerichtet, Glück zu erlangen und Leid zu vermeiden, denn wir suchen immer nach dem, was angenehm ist, und möchten vermeiden, was unangenehm ist. Glück behagt uns, und Leid ist das, was uns Unbehagen verursacht. Alle Wesen wünschen Leid zu vermeiden. Daß menschliche Wesen Leid zu vermeiden wünschen, ist ganz offensichtlich, und wenn wir einen frierenden, nassen Hund sehen, der vor dem Regen draußen an ein warmes Feuer flüchten will, erkennen wir, daß auch Tiere dieses Verlangen haben. Ungeachtet unserer ethnischen Herkunft oder unserer gesellschaftlichen Stellung wünschen wir alle, Leid zu vermeiden, und unternehmen zu diesem Zweck große Anstrengungen.

Das Gegenteil trifft auf das Glück zu. Sowohl kleine wie auch große Tiere suchen, was angenehm ist, sei es etwas zu fressen, zu trinken oder einen behaglichen Unterschlupf. Das ist leicht verständlich und uns allen klar. Dasselbe trifft auf menschliche Wesen zu. Wir suchen so viel Glück wie möglich. Doch wenn wir es erlangen, wollen wir noch mehr. Und wenn wir mehr bekommen haben, bleibt in uns ein ungestilltes Verlangen nach weiteren befriedigenden Erfahrungen ohne Ende. Was immer wir auch erreichen, wir wollen mehr und sind nie zufrieden. Daran können wir erkennen, daß alle unsere Beschäftigungen und weltlichen Angelegenheiten von einem oder von beiden dieser zwei Faktoren motiviert sind, dem Wunsch nach Glück und dem Wunsch, Leid zu vermeiden. Auch wenn dies Ihnen allen klar sein mag, ist es doch sehr wichtig, immer wieder darüber nachzudenken, um Ihr Verständnis zu vertiefen.

Die drei Arten von Leid

Es gibt viele Arten von Leid, und wenn wir tiefer darüber nachdenken, sehen wir, daß sie in drei Arten eingeteilt werden können. Die erste Art ist das Leid, das alle Wesen als solches erkennen. Die zweite und dritte Art sind viel schwieriger zu verstehen.

1 Leid der Schmerzen

Die erste Art von Leid wird als Leid der Schmerzen bezeichnet oder als offensichtliches Leid. Das ist uns allen deutlich – unsere körperlichen Schmerzen wie Krankheit, Knochenbrüche, Krebs und Herzanfälle zum Beispiel, und unsere geistigen Schwierigkeiten – Sorgen, Enttäuschung, Kummer und Angst. Wir alle können solche Erfahrungen als Leid erkennen, und es ist diese Art von Leid, die wir ständig zu vermeiden und zu beseitigen versuchen. Tiere versuchen ebenfalls, ihm zu entrinnen, aber in dieser Hinsicht sind die Menschen überlegen. Aufgrund ihrer Fähigkeit zu denken und zu folgern haben sie viel raffiniertere Mittel ersonnen, um Leid zu erleichtern. Ein Tier mag fähig sein, augenblickliches Leid zu hemmen, aber es ist unfähig, Vorkehrungen zu treffen, um Leid in der Zukunft zu vermeiden. Menschliche Wesen verfügen über diese Fähigkeit, zu denken und vorauszuplanen. Wenn wir das erkennen, müssen wir uns bemühen, diese Möglichkeit voll auszuschöpfen und unseren Geist mit allen seinen Fähigkeiten einzusetzen.

Wozu sollen wir unseren Geist benützen? Wir werden ihn dazu benützen, Leid zu beseitigen. Nicht nur unser gegenwärtiges Leid, sondern auch das, das sonst in der Zukunft entstehen könnte, in diesem Leben und in zukünftigen. Es gibt Zeiten in unserem Leben, in denen unser Leid aufzuhören oder nachzulassen scheint, wie zum Beispiel, wenn wir zum Arzt gehen und von einer Krankheit geheilt werden, aber auf diese Weise kann Leid nicht für immer ausgemerzt werden. Wenn wir es ganz entwurzeln möchten, müssen wir Dharma anwenden. Leben wir weiterhin so wie in der Vergangenheit, dann gibt es keine Möglichkeit, Leid zu beenden. Es mag zeitweise abnehmen oder subtiler werden, aber es verschwindet nicht und wird uns nur einen vorübergehenden Aufschub gewähren. Selbst wenn wir frei von körperlichen Krankheiten sind, werden wir oft von geistiger Unruhe gequält. Wenn nicht durch unseren Körper, dann sind wir durch unseren Geist in diesem Netz von Sorgen gefangen. Das sollte uns allen klar sein. Unsere Hoffnung liegt in der Tatsache, daß wir Leid vollständig zerstören können, indem wir unseren Geist benützen und ihn entwickeln.

Von den beiden Arten von Leid, dem körperlichen und dem geistigen, ist es für uns viel wichtiger, das geistige zu beseitigen. Denn geistiges Leid ist schwerer zu ertragen. Auf die gleiche Weise ist geistiges Glück viel dauerhafter und stärker als körperliches Wohlbefinden. Aus diesem Grund steht der Geist in der Anwendung von Dharma an erster Stelle. Erfährt jemand geistigen Schmerz, dann wird er sich auch in der allerschönsten Umgebung elend fühlen. Das sollte uns aus unserer eigenen Erfahrung klar sein. Wenn man dagegen einen friedlichen und ausgeglichenen Geist hat und körperliche Härte und Not erfährt, ist es viel leichter zu ertragen, und zwar weil der Geist zufrieden ist. Deshalb ist es wichtig, daß wir geistiges Leid beseitigen und Frieden im Geist erlangen. Da es mit Hilfe des Dharma möglich ist, dies zustande zu bringen, können wir also durch die Anwendung von Dharma glücklich werden und allem Leid ein Ende setzen.

Um dies klarer zu verstehen, können wir folgendes Bild verwenden. Auch wenn eine Person unermeßlich reich ist, solange ihr Geist nicht ruhig und glücklich ist, wird sie nie wirklich zufrieden sein. Ein vertrautes Beispiel sind Leute in politischen Machtpositionen. Ein Mann oder eine Frau mag Präsident oder Premierminister werden und von vielen geachtet und geehrt werden. Aber es wird für sie außerordentlich schwierig sein, sich wirklicher geistiger Ruhe zu erfreuen, solange sie sich mit Politik beschäftigen. So kann es sein, daß trotz der Autorität, die sie vorübergehend innehaben mögen, trotz ihres Reichtums, ihr Geist ruhelos bleibt. Wenn wir darüber nachdenken, wird uns die Bedeutung klar. Dagegen wird eine Person mit einem glücklichen und ruhigen Geist, auch wenn sie nicht genügend Nahrung und Kleidung hat, trotz solcher Schwierigkeiten glücklich sein.

Wir wenden Dharma an, um Leid zu beseitigen und um Glück zu erlangen, um geistigen Schmerz zu beenden und geistiges Wohlbehagen zu erreichen. Das Dharma ist das einzige Mittel, mit dem dieses Ziel verwirklicht werden kann. Die erste Art des Leids, das Leid der Schmerzen, sollte jetzt klar sein. Es bezieht sich auf körperliches und geistiges Leid, auf Krankheit, Hunger, Durst, Depression, Verzweiflung und so weiter. Sie alle haben solches Leid erfahren, und so ist es nicht nötig, näher darauf einzugehen.

2 Leid der Veränderung

Die zweite Art von Leid ist schwieriger zu verstehen. Sie wird Leid der Veränderung genannt und ist das, was im allgemeinen als Glück betrachtet wird. Wir mögen zwar denken, daß das, was wir gewöhnlich Glück nennen, tatsächlich Glück ist, in Wirklichkeit ist es jedoch nicht ein Zustand dauernden und beständigen Glücks. Wenn das, was wir Glück nennen, wirklich Glück wäre, müßten wir es unendlich lange Zeit genießen können. Es würde sich nie verändern, und wir könnten immer in demselben glücklichen Zustand bleiben. Aber wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung, daß es nie anhält. Langsam ändern sich die Umstände, und unser Glück verschwindet, und statt dessen bleiben wir in einem Zustand von Gleichgültigkeit oder Trübsal zurück.

Jetzt zum Beispiel ist es Sommer, und die Leute machen Ferien in den Bergen oder an den Seen in der Umgebung, um zu entspannen, das Wetter zu genießen und natürlich, um glücklich zu sein. Das betrachten sie alle als wirkliches Glück. Aber wenn wir so denken, überlegen wir falsch. Es ist wahr, daß wir uns, wenn wir an unserem Lieblingsferienort ankommen, für eine Weile ganz glücklich und zufrieden fühlen können. Aber wenn wir gezwungen wären, für unbestimmte Zeit in dieser Situation zu bleiben, würde sich unser Glück langsam in Niedergeschlagenheit verwandeln, und aus Unzufriedenheit und Langeweile heraus würden wir uns danach sehnen, woanders hinzugehen. Bei manchen würde diese Unrast als eine Folge körperlicher Mühsal entstehen, und sie würden beginnen, die Bequemlichkeiten daheim zu vermissen. Bei anderen wäre die Unzufriedenheit geistiger Art. Sie würden sich rastlos und gelangweilt fühlen und etwas anderes unternehmen wollen. Auf die eine oder andere Weise würde das Glück abnehmen und sich schließlich in das Gegenteil verwandeln. Wenn es wahres Glück wäre, müßte es unbegrenzt fortdauern und immer befriedigender werden. Daher wird diese Art von Leid als Leid der Veränderung bezeichnet. Zuerst ist das, was wir erfahren, angenehm und erfreulich, doch im Lauf der Zeit verwandelt es sich schließlich in Unzufriedenheit.

Wenn es uns an einem Hochsommernachmittag wie diesem zu heiß ist und wir uns nicht wohl fühlen, denken wir daran, wie schön es wäre, unten am See zu sein, und wir sind unglücklich, weil wir nicht dorthin gehen können. Und wenn wir zum See gingen und in das kühle, erfrischende Wasser untertauchen könnten, wäre es für eine Weile angenehm. Müßten wir aber eine oder zwei Stunden im See bleiben, würde das bald zur Quelle wirklichen Leids werden. Dieses gleiche Prinzip gilt für Besitz, Reichtum, gesellschaftliche Stellung und so weiter. Wenn wir diese Dinge nicht haben, sehnen wir uns sehr danach und sind überzeugt, daß sie die wirkliche Ursache wahren Glücks sind. Aber auch wenn wir tatsächlich erlangen, was wir wünschen, und eine kurze Zeit der Befriedigung erleben, scheint oft etwas schiefzugehen, und bald beginnen wir, uns zu ärgern und mit unserem Glück unzufrieden zu sein. Früher oder später wird es zur Quelle von Leid. Ich übertreibe das nicht. Wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen im Leben ins Gedächtnis zurückrufen und tief darüber nachdenken, werden Sie selbst sehen, daß es so ist.

Bis jetzt haben wir alle das, was wir Glück nennen, als wahres und beständiges Glück betrachtet und endlose Stunden damit verbracht, ihm nachzujagen. Jeder kann die erste Art des Leids verstehen; es ist ganz offensichtlich. Aber es bedarf gründlichen Nachdenkens und Überlegens im Licht von Dharma-Unterweisungen, um zu erkennen, daß die zweite Art von Leid, das Leid der Veränderung, das wir für gewöhnlich als Glück betrachten, ebenfalls eine Art von Leid ist.

3 Umfassendes Leid

Die dritte Art von Leid ist noch schwerer zu verstehen. Sie wird umfassendes Leid genannt oder das Leid, das unserem Körper und Geist, den Aggregaten, innewohnt. Tatsächlich ist verhältnismäßig leicht zu erkennen, daß das, was wir gewöhnlich Glück nennen, nicht etwas Beständiges und Dauerhaftes ist, sondern sich schnell verändert und sich leicht in Schmerz verwandeln kann. Aber zu verstehen, daß unser Körper und unser Geist, daß alles, was unsere Persönlichkeit ausmacht, von Leid durchdrungen ist, ist viel schwieriger. Wenn wir zum Beispiel eine Verletzung an unserem Arm haben und Salbe auftragen, läßt der Schmerz nach, und eine angenehme Empfindung entsteht. Wenn wir dagegen auf die Wunde schlagen oder Salz darauf streuen, verursacht das sehr großen Schmerz. Die Verletzung ist die Grundlage, auf der die beiden Empfindungen, das Vergnügen und der Schmerz, entstehen. Ihre eigentliche Natur ist Leid, aber wir spüren nichts, bis ein äußerer Faktor dazukommt, der eine angenehme oder unangenehme Reaktion hervorruft. Der Schlag auf die Wunde ist ein Beispiel für das Leid der Schmerzen. Wenn wir die Verletzung mit Salbe behandeln und ein angenehmes Gefühl entsteht, ist das ein Beispiel für das Leid der Veränderung. Wenn wir die Wunde einfach nicht beachten und weder Vergnügen noch Schmerz empfinden, veranschaulicht dies das umfassende Leid, weil die Verletzung in ihrer eigentlichen Natur Leid ist.

Das ist eine kurze Erklärung der drei Arten von Leid. Alles in allem läßt sich über unsere Situation sagen, daß wir ständig mehr oder weniger Leid erfahren. Es ist immer gegenwärtig in unserem Leben und durchdringt unser ganzes Sein. Sie sollten über diese Tatsache tief nachdenken. Wenn es keine Möglichkeit gäbe, solches Leid zu beseitigen, hätte es keinen Sinn, daß Sie hierhergekommen sind. Tatsächlich gibt es aber eine Möglichkeit, es zu beseitigen, und jeder von uns ist dazu fähig. Die Methode liegt in uns selbst. Sie besteht im wesentlichen aus dem richtigen Gebrauch der Urteils- und Denkfähigkeit unseres Geistes. Es ist nicht etwas, das wir von anderen bekommen oder in einem Fachgeschäft kaufen können. Das wäre etwas anderes. Wer wir auch sein mögen, wir haben diese Fähigkeit. Jeder ist fähig, sich aus der Herrschaft des Leids zu befreien und es vollständig zu beseitigen, ganz gleich, ob er reich oder arm, jung oder alt, Mann oder Frau ist. Die Methode besteht darin, unseren Geist für die Anwendung von Dharma zu benützen. Dazu müssen wir zuerst Kontrolle über unseren Geist gewinnen und dadurch Selbstbestimmung darüber erlangen, wie wir ihn gebrauchen. Gegenwärtig ist es, als sei unser Geist außer Kontrolle – er denkt, was er will, ohne daß wir ihn wirklich beherrschen und lenken können. Wir brauchen ihn nur ein paar Augenblicke lang zu beobachten, um zu sehen, wie wahr das ist. Mit Hilfe unserer Anwendung des Dharma versuchen wir, unseren Geist unter Kontrolle zu bringen und seiner Herr zu werden. Zur Zeit ähnelt unser Geist einem wilden Elefanten, der beim geringsten Anlaß durchgeht und eine Gefahr für uns selbst und für andere ist. Aber dieser wilde Elefant ist nicht ganz außerhalb unserer Kontrolle. Wir können ihn einfangen, zähmen, und schließlich wird er unser Diener werden, der uns in der Anwendung des Dharma hilft. Wir werden sein Meister werden und ihn führen und lenken, wie wir es wünschen.

Die Methode, um Herrschaft über den Geist zu gewinnen, ist Meditation. Wenn wir genügend Zeit hätten, würde ich Ihnen alle Stufen in der Anwendung von Meditation ausführlich erklären, und danach könnten Sie darangehen, sie anzuwenden. Da unsere Zeit jedoch begrenzt ist, werde ich Sie eine Meditationstechnik lehren, und dann werden wir sie üben. Später werde ich Sie noch eine lehren, und wir werden wieder meditieren. Auf diese Weise kann ich Ihnen mehrere Meditationsanwendungen erklären, und Sie können diejenigen benützen, die Sie für Ihre Entwicklung am hilfreichsten finden.

Die Meditationshaltung

Meditation ist ein Mittel, um den Geist unter Kontrolle zu bringen, ihn zu zähmen und schließlich umzuwandeln, so daß die nötige Freiheit erreicht werden kann, die es ermöglicht, Leid zu beseitigen. Die am besten geeignete Meditationshaltung ist diejenige, die als voller Lotussitz bekannt ist. Wenn es Ihnen schwerfällt, auf diese Weise zu sitzen, genügt auch der halbe Lotussitz. Die Hauptsache ist, bequem zu sitzen, sei es auf dem Boden oder auf einem Stuhl. Wenn wir versuchen, in einer bestimmten Haltung zu sitzen und Schmerzen in den Beinen und Knien spüren und es uns unmöglich ist, ruhig zu sitzen, ist unsere Meditationssitzung vergeudet, und das einzige, woran wir denken, sind unsere Schmerzen.

Die Hände sollten in der Höhe des Nabels liegen, die rechte in der Innenfläche der linken, wobei die Daumen zusammen mit den Handflächen ein Dreieck bilden. Falls Sie Schwierigkeiten haben, die Hände längere Zeit in dieser Stellung zu behalten, können Sie ein kleines Kissen als Stütze unterlegen. Die Arme sollten in einem leichten Abstand vom Körper gehalten werden, damit die Luft besser zirkulieren kann. Die Schultern sollten aufrecht sein, die Wirbelsäule gerade. Der Kopf sollte leicht nach vorn geneigt sein. Sie sollten Ihren Augen nicht erlauben zu wandern, sondern sie entspannt und halb geschlossen ungefähr zu Ihrem Schoß hin richten. Wenn Sie versuchen, den Blick auf die Nasenspitze zu lenken, werden Sie ermüden, und die Augen werden zu schmerzen beginnen. Die Zunge sollte leicht am Gaumen liegen, Mund und Zähne sollten in einer natürlichen Stellung sein.

Der Grund für diese Sitzhaltung ist, daß man bei längeren Meditationen dazu neigt, den Körper zu vergessen, und diese Stellung einem erlaubt, bequem aufrecht zu bleiben, ohne eine bewußte Anstrengung machen zu müssen. Die Tatsache, daß sich der Nabel innerhalb des aus den bogenförmigen Daumen und der Handfläche der rechten Hand geformten Dreiecks befindet, wird bei zukünftigen Anwendungen nützlich sein. Der Körper wird aufrecht gehalten, damit die Kanäle im Körper gerade sind und das Luftelement, das in ihnen zirkuliert, frei durch sie hindurchströmen kann. Wenn wir richtig atmen und das Luftelement einwandfrei durch die Kanäle fließen kann, wird unser Geist klarer, und unsere Meditation wird entsprechend gewinnen. Der Kopf wird leicht nach vorne geneigt, um zu verhindern, daß das Hitzeelement zunimmt, was bewirken würde, daß wir beim Meditieren durstig werden. Außerdem können leicht Kopf- und Nackenschmerzen entstehen, wenn das Element der Hitze zunimmt. Die Augen werden gesenkt, um zu verhindern, daß der Geist aufgrund visueller Reize wandert. Sie sollten nicht ganz geschlossen werden, weil dies Schläfrigkeit verursacht und man einschlafen könnte. Es ist jedoch möglich, daß es manchen Leuten leichter fällt, mit geschlossenen Augen zu meditieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Die Zunge sollte gegen den Gaumen gelegt sein, um das Austrocknen der Kehle zu verhindern. Der Mund selbst sollte in einer entspannten, natürlichen Stellung gelassen werden, die Lippen berühren sich dabei leicht.

Die neunfache Atemübung

Meditation ist eine geistige Tätigkeit. Damit wir sie zu unserem Vorteil benützen können, müssen wir zuerst den Geist beruhigen. Zudem müssen wir uns bemühen, die subtilen Energiekanäle in unserem Körper zu reinigen. Wir müssen versuchen, sie so gut wie möglich zu reinigen, damit sie richtig funktionieren können. Es gibt Tausende solcher Kanäle in unserem Körper, aber wir werden uns auf die drei Hauptkanäle entlang der Wirbelsäule konzentrieren.

Beim Meditieren sollten Sie versuchen, den Rücken so gerade wie möglich zu halten. Wenn Sie das nicht tun, wird es Ihnen unbequem werden. (1) Wir beginnen diese Meditation, indem wir einen dünnen, roten Kanal in unserem Körper visualisieren, der rechts entlang der Wirbelsäule verläuft. Diese Kanäle bestehen aus subtiler Materie und sollten nicht mit Arterien oder Venen verwechselt werden. Dieser rote Kanal beginnt vier Fingerbreit unterhalb des Nabels und verläuft rechts entlang der Wirbelsäule aufwärts bis zum höchsten Punkt des Kopfes, über dem Gehirn, aber unterhalb der Schädeldecke. An diesem Punkt, nahe der Stelle, wo der Schädel bei einem Neugeborenen noch weich ist, krümmt er sich wie der Griff eines Regenschirms und endet an der rechten Nasenöffnung. Wir sollten uns den Kanal gerade und geschmeidig vorstellen. Auf die gleiche Weise sollten wir uns einen weißen Kanal vorstellen, der vier Fingerbreit unterhalb des Nabels beginnt und links entlang der Wirbelsäule aufwärts verläuft, sich am Scheitelpunkt krümmt und im linken Nasenloch endet. Wir stellen uns die beiden Kanäle wie zwei hohle Röhren von der Dicke des kleinen Fingers vor. Im rechten, roten Kanal visualisieren wir Blut, und im linken, weißen Kanal visualisieren wir Samenflüssigkeit.

Wir beginnen die Meditation damit, daß wir uns den weißen Kanal an dem Punkt vier Fingerbreit unterhalb des Nabels in den roten Kanal eingeführt vorstellen, so wie eine kleine, dünne Röhre in eine größere hineinpaßt. Nachdem man sich diese beiden Röhren vier Fingerbreit unterhalb des Nabels ineinandergesteckt klar vorgestellt hat, sollte man das rechte Nasenloch mit dem rechten Zeigefinger zuhalten. Dann atmen wir durch das linke Nasenloch ein und stellen uns dabei vor, daß die Luft durch den linken Kanal nach unten strömt. Sobald sie den Punkt erreicht, an dem der linke Kanal in den rechten eintritt, beginnen wir auszuatmen und nehmen gleichzeitig den rechten Zeigefinger vom rechten Nasenloch und halten damit das linke Nasenloch zu. Beim Ausatmen stellen wir uns vor, daß diese eingeatmete Luft vom linken Kanal in den rechten überströmt, im rechten Kanal aufsteigt und durch das rechte Nasenloch ausgeatmet wird. Während dieser Visualisation stellen wir uns vor, daß die Luft, die durch die Kanäle fließt, diese von allen Verunreinigungen reinigt, so daß sie rein und strahlend zurückbleiben, ganz ähnlich wie Wind Staub wegbläst. Beim Ausatmen können wir uns vorstellen, daß unser rechtes Nasenloch ein bißchen wie ein Fabrikschlot ist, der den Rauch unserer Verunreinigungen ausstößt.

Wir sollten langsam, ruhig und tief atmen, sowohl beim Einatmen als auch beim Ausatmen. Es ist nicht notwendig, den Atem zu forcieren. Atmen Sie so natürlich und gleichmäßig wie möglich. Am Anfang mag es ein wenig schwierig sein, weil wir dazu neigen, flach zu atmen, aber nach und nach werden wir uns an die Übung gewöhnen, und unsere Atemzüge werden von selbst länger. Wir sollten diese Folge, das Einatmen durch das linke Nasenloch und das Ausatmen durch das rechte dreimal wiederholen. Stellen Sie sich bei jedem Ein- und Ausatmen vor, daß die aufsteigende Luft den rechten Kanal vollständig reinigt und daß er strahlend wie ein Kanal aus sehr subtilem rotem Licht wird.

Nachdem wir diese Folge dreimal wiederholt und dadurch den rechten Kanal gereinigt haben, sollten wir den Vorgang umkehren und den linken Kanal reinigen. (2) Wir führen jetzt an der Stelle vier Fingerbreit unterhalb des Nabels das Ende des rechten, roten Kanals in den weißen, linken Kanal ein. Nun halten wir das linke Nasenloch zu, indem wir mit dem linken Zeigefinger auf die linke Seite der Nase drücken, und dann atmen wir langsam und sanft durch das rechte Nasenloch ein. Wenn der Atem den Punkt vier Fingerbreit unterhalb des Nabels erreicht, benützen wir denselben Finger, um das rechte Nasenloch zuzuhalten, und atmen langsam und sanft durch das linke aus. Wir wiederholen diesen Vorgang dreimal. Dabei stellen wir uns vor, daß alle Unreinheiten des linken, weißen Kanals mit dem Atem ausgestoßen werden. Der Kanal wird rein und strahlend wie eine leuchtende Röhre aus subtilem, weißem Licht. Die Kanäle sind biegsam und zart, obwohl sie entlang der Wirbelsäule gerade bleiben.

Nun visualisieren wir zwischen den beiden anderen Kanälen einen dritten, blauen Kanal. (3) Er beginnt ebenfalls an dem Punkt vier Fingerbreit unterhalb des Nabels und verläuft entlang der Wirbelsäule ein wenig vor ihr nach oben. Am Scheitelpunkt krümmt er sich wie der Griff eines Regenschirms und endet an dem Punkt in der Mitte zwischen den Augenbrauen. Dieser dritte Kanal ist etwas weiter als der rote und der weiße Kanal. Es ist der wichtigste Kanal in unserem Körper, und wir werden ihn nun auf ähnliche Weise reinigen. Wir stellen uns vor, daß der rote und der weiße Kanal an dem Punkt vier Fingerbreit unterhalb des Nabels in den blauen Kanal eintreten, wieder wie zwei Röhren, die in eine etwas weitere passen. Während wir meditieren, sollten wir unsere Hände in unseren Schoß legen, die rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf der linken Handfläche, und die beiden Daumen bilden zusammen mit der Handfläche ein Dreieck. Der Nabel sollte auf gleicher Höhe sein wie die Mitte des Dreiecks. Wir atmen durch beide Nasenlöcher ein und aus, aber bei dieser Visualisation stellen wir uns vor, daß die Unreinheiten den zentralen Kanal an der Stelle zwischen den Augenbrauen verlassen. Diesen Vorgang wiederholen wir dreimal. Danach stellen wir uns vor, daß dieser Kanal vollständig gereinigt ist und in seiner Natur ein subtiles, strahlendes, blaues Licht wird. Wenn wir diesen Vorgang beendet haben, sollten wir langsam, sanft und gleichmäßig weiteratmen und uns vorstellen, daß unser Atem frei durch alle Kanäle strömt.

Wenn wir uns auf diese Atemübung konzentrieren, kann sie eine ausgezeichnete Methode sein, um den Geist zu beruhigen und uns auf die weiteren Meditationen vorzubereiten.

Die neunfache Atemübung Die neunfache Atemübung