Nr. 3090

 

Erdkruste

 

Eine Reise in die Tiefen des Planeten – und die Geheimwaffe der Vanothen

 

Susan Schwartz

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Terra, Frankfurt am Main

1. Das Team

2. Schwestern

3. Privatsphäre

4. Abbruch

5. Gegner

6. Anruf von Chu

7. Zaradon

8. Eine aufregende Bekanntschaft

9. Wasserschatten

10. Der erste Schritt

Epilog: Frankfurt, Altstadt

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

 

Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner. Mit ihren Raumschiffen sind sie in die Tiefen des Universums vorgestoßen und dabei immer wieder außerirdischen Lebensformen begegnet; ihre Nachkommen haben Tausende von Planeten besiedelt und sich den neuen Umwelten angepasst.

Perry Rhodan ist der Mensch, der den Terranern diesen Weg zu den Sternen eröffnet und sie seitdem begleitet hat. Nun steht er vor einer seiner größten Herausforderungen: Er wurde mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, vorwärts durch die Zeit in eine Epoche katapultiert, in der Terra und Luna verloren und vergessen zu sein scheinen.

Mittlerweile hat er in einem Zwilling unseres Universums die beiden Himmelskörper wiederentdeckt. Nun muss er nur noch einen Weg finden, sie zurückzubringen. Die Staubfürsten sind ihm dabei eine große Hilfe. Sie statten Rhodan mit einem Staubkonzess aus, der ihm die Aktivierung einer Maschine erlaubt, die den Rücktransfer von Erde und Mond bewirken kann.

Aber diese Maschinerie ist im Inneren Terras verborgen. Rhodans Weg führt nun durch die ERDKRUSTE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner wagt sich in die Tiefen seiner Heimat.

Anzu Gotjian – Die Technikerin lernt einen Unsterblichen kennen.

Fany und Oona Anckerstrom – Zwei einmalige Schwestern erwarten die Zukunft mit Bangen.

Milton Chu – Der Mäzen steht unter Verdacht und Druck.

»Sei standhaft, duldsam

und verschwiegen.«

Anonyme Sammlung

altterranischer Weisheiten,

Kapitel 195: Wolfgang Amadeus Mozart

 

Prolog

Terra, Frankfurt am Main

 

Sie fehlten ihm so schmerzlich. Die Bühne. Das Schiff.

Seit Wochen war die GIACOMO PUCCINI fern von ihm und unerreichbar. Im Orbit um Neptun – aber es könnte ebenso gut das andere Ende des Universums sein. Noch immer untersuchten die Spezialisten des TLD die Spuren und Hintergründe zu dem Anschlag während der Vorführung vor zwei Monaten – welch eine Aufführung vor dem grandiosen Rahmen des Pluto-Gestänges!

Und dann ... dahin.

Obwohl Milton Chu selbst ein Opfer gewesen war, das auf entwürdigende Weise paralysiert und zu Boden gezwungen worden war, galt er weiterhin als Verdächtiger. Gewiss, man hatte ihn nicht verhaftet, denn man hatte kein handfestes Motiv gefunden, das eine Anklage gerechtfertigt hätte. Doch es gab nun einmal böse Zungen, die munkelten, dass dem berühmten Impresario alle Mittel und Wege recht wären, noch berühmter zu werden und noch großartigere Künstler zu verpflichten, obwohl er mit Nene Emelumado eine Interpretin hatte, deren Stern größer war als Beteigeuze.

Es gab auch noch andere böse Zungen, die behaupteten, er hätte Schulden bei unangenehmen Leuten, die nicht mit sich spaßen ließen, und hätte nach einem Ausweg gesucht, um die Versicherungssumme zu kassieren und saniert zu sein.

Das bot immerhin das eine oder andere, wenngleich noch sehr vage, Motiv. Chu war Direktor Sloud Silverman jedoch nicht gram, der machte immerhin nur seinen Job. Im Grunde wusste Silverman genau wie jeder andere, wem der Anschlag zuzurechnen war, selbst wenn es keine offizielle Stellungnahme und Bekennernachricht dazu gab: den Vanothen!

Ja, wer denn sonst? Schließlich hatten sich zwei ganz besonders illustre Gäste auf den Rängen befunden: der Roboter Rico, einer der beiden Bürgermeister von Neu-Atlantis, und – Perry Rhodan. Der Perry Rhodan, der Ewig-Lebende, der bedeutendste Terraner aller Zeiten. Ja, noch bedeutender als Homer G. Adams. Von manchen verehrt, wenn nicht geliebt, von anderen gehasst.

Man konnte wohl kaum von Zufall sprechen, wenn zwei derart prominente Bürger anwesend waren und es just dann zu einem Anschlag kam.

Dazu meldeten sich sofort weitere böse Zungen, die Milton Chu genau deswegen mindestens die Mittäterschaft zusprachen. Denn die Teilnahme der beiden Prominenten war nicht öffentlich bekannt gewesen, selbst bei der Ansage zur Aufführung hatte Chu bewusst keine Namen genannt. Aber das konnte er leicht kontern: Er war nicht der Einzige gewesen, der von dem hohen Besuch gewusst hatte, und das sah er als recht gute Entlastung an.

Wer außer ihm wusste noch davon? Nene Emelumado, gewiss – und das Büro für die Tickets. Und da konnte Chu bereits einhaken: Wenn ein Loch zu suchen war, durch das Informationen fielen, dann ja wohl dort! Und natürlich gab es Mitarbeiter hinter den Kulissen, die unweigerlich davon Wind bekommen hatten. Rhodan hatte sich hinter der Bühne aufgehalten und sich nicht maskiert.

Abgesehen von den Besuchern der Oper kam also in Bezug auf das Ensemble und die Mitarbeiter so ziemlich jeder infrage, als Spion oder Attentäter gearbeitet zu haben.

Der kluge Direktor Silverman räumte das ein und erklärte, dass er Milton Chu aus diesem Grund nicht verhaften würde, weil es einfach zu viele Möglichkeiten gäbe. Aber er wolle nicht hoffen, setzte er hinzu, dass Chu etwas verschwieg oder gar Verbindung zu den Vanothen hätte. Gewiss seien nicht alle Vanothen radikal, dennoch nahm die Zahl der Friedliebenden offensichtlich ab und im Gegenzug die Anschläge auf Perry Rhodan zu.

Typisch Polizeiarbeit – jeder, der am Leben war, galt als verdächtig.

Ach, ich will nicht weiter darüber nachdenken.

Um abzuschalten, war Chu in den Holoraum seiner luxuriösen Behausung gegangen. Um sein Heimweh – anders konnte er das nicht bezeichnen – zu lindern, indem er die Bühne und den Zuschauerraum wie auf der GIACOMO PUCCINI visualisierte und Orchester, Szenenbilder und das Gesangsensemble hineinstellte.

Was sollte er wählen? Werke von Cassandra Desch oder Jury Everhartz, vielleicht auch Osip a Hainu? Was war mit Wilhelmina Pasephona?

Ach, am besten die Highlights von jedem. Das sollte aufmuntern.

 

*

 

Die süßen, teils mitreißenden Klänge noch im Ohr, verließ Milton Chu zwei Stunden später sein Domizil in der 123. Etage des Verona-Towers, betrat den gläsernen Lift an der Außenfassade und genoss bei der absichtlich geschwindigkeitsreduzierten Abfahrt die Aussicht auf die uralte, historische Stadt Frankfurt am Main. Wie alle terranischen Metropolen beherrschten mächtige, teils durch Brücken und Bogengänge verbundene, verschiedenartig gestaltete Türme die Skyline.

Aber es gab auch weniger dominante Bereiche, für die diese eher kleine Metropole berühmt war. Der Bezirk mit dem Verona-Tower grenzte an den Römer, der originalgetreu wiederaufgebaut worden war – nicht zum ersten, aber hoffentlich zum letzten Mal. Das Markenzeichen dabei war das Haus zur Goldenen Waage, im Fachwerkstil aus dem siebzehnten Jahrhundert Alter Zeitrechnung nachgebaut, mit teils sondergefertigten Materialien nach historischer Zusammensetzung.

Der Altstadtteil war harmonisch in das zeitgemäße Stadtbild integriert worden. Die angrenzenden Gebäude standen nicht so dicht und waren nicht so hoch, und sehr stark begrünt. Durch die schmalen Straßen und Gassen der Altstadt konnte man sich nur zu Fuß bewegen – ohne Laufbänder –, und auch der Luftraum darüber war gesperrt. Dadurch ergab sich ein mächtiger Anziehungspunkt für Touristen und Menschen, die der Nostalgie verhaftet waren und sich die Luxusmieten leisten konnten. Die internen Bereiche der Wohnungen entsprachen selbstverständlich dem technischen Standard, jedoch lag die Größe unter dem allgemeinen Durchschnitt des Grundbedarfs, auf den jeder Bürger Anspruch hatte. Man konnte mietfrei im Standard leben oder musste bezahlen, um sich zu bescheiden. Etwas krude, fand der Mäzen.

Chu genoss lieber die Aussicht von seiner luxuriösen, eine gesamte Etage umfassenden Wohneinheit, als sich einschränken und hohe Gebühren für die Instandhaltung in Kauf nehmen zu müssen. Und dazu die strengen Regeln, damit das historische Bild nicht gefährdet wurde. Nostalgie hin oder her – Chu liebte das Pompöse und bediente sich dabei aus allen Epochen, um sich das Beste herauszupicken.

Von seiner Adresse aus konnte der Mäzen neben der Altstadt vieles zu Fuß erreichen, die sonstigen Wege waren breit und in der Mitte mit Laufbändern in verschiedenen Geschwindigkeiten ausgestattet. Zu früheren Zeiten, als Terra sich noch im ersten Zweig des Dyoversums befunden hatte, vor Chus Geburt, hatte man sich nicht nur mit unterirdischen Expressbahnen fortbewegt, sondern auch mit Transmittern blitzschnell von einem Ort zum anderen begeben. Durch die erhöhte Hyperimpedanz dieses Zweigs war das nicht mehr möglich. Und Chus Ansicht nach auch nicht erforderlich. Das Tempo war gemächlicher geworden, das Leben ruhiger. Man hatte wieder mehr Zeit – beispielsweise für wunderbare Opern.

Gemütlich schlenderte der Mäzen über die bebaute Musander-Brücke, benannt nach Bürgermeister Guus Musander, der Frankfurt zur Zeit der Kosmischen Hanse seinen Stempel aufgedrückt hatte. Das Gesicht, das das Frankfurt der Gegenwart trug, hatte die Monos-Epoche und die Simusense-Vernetzung weitgehend überstanden. Was damals und in späteren Jahren zerstört worden war, war stets exakt wieder so aufgebaut worden, wie Musander es ursprünglich geplant hatte.

Lebendige Vergangenheit, so warb die Stadt für den Tourismus. Nirgends könnte Milton Chu sich wohlerfühlen als an diesem Ort. Mit Ausnahme seines Opernschiffes. Das war zu seiner Wahlheimat geworden, in der er sich aus guten Gründen häufiger aufhielt als auf Terra.

Nun war er aber zwangsweise in Frankfurt und musste das Beste daraus machen.

 

*

 

Großformatige Holos vor den Fassaden zeigten Werbung – und dann einen Bericht mit Residentin Orfea Flaccu, die am 18. März, also drei Tage zuvor, eine öffentliche Ansprache gehalten hatte. Chu aktivierte über sein Multifunktionsarmband den Ton dazu, der über einen Mikrosender in seinem Ohr übertragen wurde. Er hatte die Rede bereits gehört, doch es hätte ja sein können, dass ... aber nein, es gab keine weiteren Neuigkeiten. Chu prüfte seine Gefühle, als er die Nachricht aus der zeitlichen Distanz noch einmal hörte.

Perry Rhodan hatte angeblich einen Weg gefunden, Terra und Luna wieder in den anderen Zweig des Dyoversums zurückzuversetzen.

Chu merkte, dass er stehen geblieben war, um aufmerksam zuzuhören – und er war nicht der Einzige. Einige weitere Leute hatten angehalten, unter anderem rechts ein Mann und links eine Frau in seiner Nähe, hinter der Frau noch weitere.

Chu sah, wie ihre Gesichter sich anspannten – Sorge bei der Frau, Wut bei dem Mann. Er sah sich um, beobachtete verharrende Passanten, deren Mienen. Die gesamte Gefühlspalette, gewann er den Eindruck.

Nun wurde umgeblendet, und Chu wandte sich wieder der mehrere Stockwerke hohen Holofläche zu. Ein schmaler, schwarzhaariger Mann mit einer schwarzen Brille erschien, der erst seit einiger Zeit der breiten Öffentlichkeit bekannt war. Chu wusste, dass Pino Farr, der Direktor des Instituts zur Erforschung des Dyoversums – IED –, blind geboren war, jedoch mithilfe eines Implantats sehen konnte.

Auch diese Verlautbarung war schon zwei Tage alt, jedoch nicht minder wichtig und wurde deshalb ebenfalls öfter wiederholt. Pino Farr hielt Rhodans Behauptung für glaubwürdig, ohne weitere Details zu nennen. Die Rückversetzung, machte er deutlich, sei in den Bereich des Möglichen gerückt worden.

Illustration: Dirk Schulz

»Das bedeutet«, stieß der Mann neben Chu hervor, »dass uns ein CEE, ein Change-Everything-Event bevorsteht!« Er ballte die Hände zu Fäusten, Hilflosigkeit und Zorn wechselten sich ab auf seinem Gesicht.

»Was wird da auf uns zukommen?«, sagte die Frau daraufhin. Sie hatte die Hand zum Mund gehoben.

»Na, was schon? Alles wird sich ändern! Alles, was wir uns hier aufgebaut und erkämpft haben, ist dahin! Wir werden zurückkehren in die vom Chaos geleitete Milchstraße, werden wieder von Aggressoren angegriffen werden, denen wir nichts entgegenzusetzen haben, werden zum Spielball der galaktischen Mächte! Aber nicht mit mir!« Der Mann hob den Zeigefinger. »Ich bin bereits dabei, meine Sachen zu packen. Spätestens morgen bin ich weg!«

»Wo willst du hin?«, fragte die Frau.

»Auf den Mars! Ich habe schon alles arrangiert – seit dem Moment, als Perry Rhodan nach seiner wundersamen Ankunft in seiner Rede verkündet hat, alles daranzusetzen, uns zurückzubringen.«

»Bist du etwa ein Vanothe?«, fragte die Frau erschrocken.

»Quatsch, nicht jeder auf dem Mars ist Vanothe, und auch nicht jeder, der dorthin geht!«, fuhr der Mann sie an. »Ich bin kein Anhänger von denen, aber sie haben in einigen Dingen recht.«

»Ich weiß nicht ...« Die Frau zögerte. »Terra ist meine Heimat, schon seit Generationen. Es gefällt mir hier ... ich möchte nicht weg.«

Einige Leute in der Nähe stimmten ihr zu.

»Das Sonnensystem ist besiedelt und noch sehr ausbaufähig«, wetterte der Mann in die Runde. »Wozu an der Vergangenheit festhalten? Sie kehrt ja doch nie wieder. Im Gegenteil. Irgendeiner wird wieder daherkommen und alles zerstören. Hier weiß ich, was mich erwartet. Und wir haben Frieden mit den Topsidern geschlossen! Dafür verzichte ich gerne auf Terra und Luna. Das grenzt ja schon an Religion, wie ehrfürchtig manche damit umgehen!«

Empört stampfte er davon. Auch die restlichen Leute zerstreuten sich, denn die Sendung war vorbei.

Und außerdem, dachte Chu, kommen ja dann der ursprüngliche Planet samt Mond zurück und stehen frei zur Besiedelung. Zum kompletten Neuaufbau. Eine gewaltige, eine große Aufgabe, aber sie ist zu bewältigen. Und ermöglicht der Menschheit einen Neuanfang, frei von allen kosmischen Mächten und Bestimmungen.

Es sprach ebenso viel dafür, auf Terra zu bleiben und in den ersten Zweig zurückzukehren, wo es von Leben nur so brodelte, wie an Ort und Stelle weiterzumachen und eingeschränkter, aber so frei wie nur möglich zu sein.

Die Entscheidung darüber war sehr schwer, und sicherlich schwankten viele und änderten täglich ihre Meinung.

Es wurde Zeit, dass die Vanothen tätig wurden, um die Bürger bei ihrer Wahl zu unterstützen. Noch besser wäre es, das Volk gar nicht erst zu entzweien.

Chu desaktivierte den Ton und setzte seinen Weg fort.

Ja, es war ein Tauziehen. So wie der Mann argumentiert hatte, dachten viele. Und wie es aussah, hatten sich viele auf diesen Tag X vorbereitet, denn eine große Wanderung in alle Richtungen war seit der Erstausstrahlung der Sendung vor drei Tagen in Gang gesetzt worden. Sämtliche Passagierschiffe waren bereits auf Wochen hinaus ausgebucht. Die einen zogen nach Terra um, weil sie »nach Hause« wollten, die anderen ergriffen die Flucht von dort, um die lieb gewonnene Lebensweise nicht aufzugeben.

In Frankfurt war es noch verhältnismäßig ruhig, doch in anderen Metropolen, etwa in Terrania, sah es anders aus.

Die Stimmung heizte sich von Stunde zu Stunde mehr auf, je öfter die Sendung wiederholt wurde. Perry Rhodan hatte versprochen, alle Wünsche zu berücksichtigen, nun sollte sich zeigen, ob er sein Versprechen auch hielt. Sollte es mit dem Transfer überhaupt klappen. Überzeugt von der Machbarkeit war Milton Chu noch nicht. Dennoch – man musste sich auf alles vorbereiten, keine Frage.

Chu hoffte, dass es nicht zu aggressiven Entladungen kam oder gar eine Panik ausbrach. Fast permanent gab es auf vielen Sendern Diskussionsrunden über das Für und Wider mit illustren Prominenten und »Leuten von der Straße«. Nahezu jedes Mal wurden die Debatten hitzig, und die Fronten verhärteten sich zunehmend.

Warum taten sie das? Durfte nicht jeder für sich entscheiden? Niemand musste sich rechtfertigen. Am wenigsten gefielen ihm diejenigen, die glaubten, andere überzeugen zu müssen, weil nur sie allein wüssten, welche Entscheidung die richtige war. Das verunsicherte die Bevölkerung in zunehmendem Maße und löste Angst aus. Es war nicht mehr zu verhindern, dass die Gesellschaft sich spaltete.

Chu ging davon aus, dass auch Frankfurt, sein kleines, beschauliches, nostalgisches Frankfurt, nicht davon ausgeschlossen blieb. Es dauerte vielleicht ein bisschen länger, aber unaufhaltsam rückte der Tag näher, an dem es auch dort zu Auseinandersetzungen kommen würde.

Der Spaziergang an diesem Tag war nicht mehr so unbelastet wie an den Tagen zuvor. Nach der Ansprache vor drei Tagen hatte zuerst Schockzustand geherrscht, doch nach und nach löste sich dieser, und das Wechselbad der Gefühle begann.

Das bedeutete für Chu, dass er demnächst energisch darauf beharren würde, an Bord der GIACOMO PUCCINI zurückkehren zu dürfen. Dort fühlte er sich geschützter und besser aufgehoben. Er würde den aufziehenden Sturm aus der Distanz beobachten und sich von dem zusehends aufgebrachter werdenden Volk fernhalten.

Und in aller Ruhe und unbeaufsichtigt tun, was getan werden musste.

»Verzeihung«, riss ihn eine sanfte Stimme aus den Gedanken. Er blieb stehen und sah eine junge Frau vor sich, mit hellblonden Haaren und dunkelblauen Augen, klein und zierlich.

»Ja, bitte?«, fragte er irritiert. Normalerweise sprachen ihn keine hübschen jungen Frauen auf der Straße an. Er war nicht nur bedeutend älter, sondern mit 1,55 Metern noch kleiner als diese blonde Terranerin und ebenfalls zierlich – bis auf den Buckel, der seine rechte Schulter und den Hinterkopf verunzierte und seinen Rücken verkrümmte.

»Du bist es doch, oder?«

»Ich bin normalerweise ich, das stimmt. Jedenfalls nicht viele.«

Sie lachte herzlich. »Es tut mir leid, ich habe dich vorhin schon ansprechen wollen, dann ging diese Diskussion los, ich verlor den Mut, aber jetzt ... muss ich es einfach wagen.«

Er erinnerte sich nun, sie hatte sich in der Nähe der verunsicherten Frau aufgehalten.

»Ich bin ein großer Fan der Oper, und ich bin sicher, du bist Milton Chu!«, fuhr sie aufgeregt fort.

»Das Glück ist mit dir«, sagte er und lächelte dabei. Dass sie ihn erkannte, war kein Zufall. Chu bezweifelte, dass er sonst jemandem ähnlich sah. Er war einmalig. Das gehörte zu seinem Status als Mäzen, als Kunstliebhaber, als Musikliebhaber und Intendant der größten Oper des Solsystems. Er musste unverwechselbar sein, ein Unikat, ein Original.

Sein persönlicher Hintergrund war ebenso einzigartig, aber der tat momentan nichts zur Sache.

»Großartig!«, rief die junge Frau und schlug begeistert die Hände zusammen. »Wäre es möglich ... könnte ich ... ein Autogramm bekommen?«

»Du schmeichelst mir«, erwiderte er. »Es ist mir natürlich eine Ehre.«

»Für Sulola Joop, bitte.«

»Sehr gerne. Einen Moment.«

So bekam das Gesicht einen Namen. Keine Frage, sie war TLD-Agentin und dazu abgestellt, ihn zu überwachen. Persönlich begegnet waren sie sich bisher kaum, und nie zuvor direkt im Gespräch, und das würde sich auch nach dieser kleinen Ausnahme wohl nicht ändern. Aber für ein Autogramm machte der Mäzen schon einmal eine Ausnahme.

Milton Chu hatte eine weitere Marotte – er verteilte Visitenkarten auf Papier, und ebenso Autogrammkarten. Folien oder Holoshots passten nicht zur Oper, zum Pompösen.

Selbstverständlich führte er immer ausreichend Karten mit sich. Breit lächelnd zückte er Stift und Karte mit Konterfei und schrieb etwas auf die Rückseite. Mit leichter Verbeugung überreichte er Sulola Joop die Karte mit dem Bild nach oben. »Bitte sehr. Hoffentlich sehen wir uns bald zu einer Aufführung auf der GIACOMO PUCCINI!«

»Ganz bestimmt! Ich habe ein Abo!«, versicherte sie und schritt strahlend von dannen, die Karte fest an die Brust gedrückt.

 

*

 

Milton Chu setzte mit einem düsteren Lächeln seinen Weg fort.

Egal, wer die harmlose Szene beobachtet haben mochte, würde nicht bemerkt haben, dass der Mäzen statt des Autogramms und der Widmung etwas ganz anderes aufgeschrieben hatte. Eine Anweisung, die niemand außer Sulola Joop verstehen konnte, sollte die Karte zufällig in nicht autorisierte Hände fallen.

Ja, es war höchste Zeit, tätig zu werden.

Es musste geschehen, bevor der Transfer in Gang gesetzt wurde. Genau für diesen Moment hatte er sich seit langer Zeit aus bestimmtem Grund einen ganz besonderen Trumpf bewahrt und nie auf sich aufmerksam gemacht.

Es ist so weit, dachte Milton Chu.

1.

Das Team

 

Anzu Gotjian tauchte eine Hand in das glutflüssige Gestein.

Der Geologe Marek Derowia sah sie tadelnd an. »Nimmst du die Sache überhaupt ernst?«

Ein wenig fühlte sich Anzu wieder wie das Schulmädchen, das bei einem Streich ertappt worden war: Entschuldige, dass ich eine Miniaturschwebeplattform unter deinem Stuhl verankert habe.

»Selbstverständlich«, sagte sie in feierlichem Tonfall. Ihre Stimme klang durch den abgedunkelten Raum. Sie konnte die anderen nicht sehen, aber irgendwer kicherte.

War das tatsächlich Shiviob, der alte Griesgram? Oder sogar – der Gedanke weckte ein mulmiges Gefühl – Perry Rhodan höchstpersönlich?

»Immerhin geht es um unser Leben«, ergänzte sie ernst.

»Das beurteile ich genauso!«, betonte Derowia, den die automatische Lichtsteuerung als Einzigen seit Beginn seines Vortrags anleuchtete. »Auch ohne es derart übertrieben zu betonen. Was soll das sein, Anzu? Sarkasmus? Ironie?«

Langsam zog sie die Hand zurück. Glutflüssiges Rot tanzte über den Fingernägeln. Es gefiel ihr. Vielleicht sollte sie mit diesem Effekt als dauerhaftem Look experimentieren. »Ja, das ist für manchen schwer auseinanderzuhalten.«

Sie grinste ihr bestes Grinsen, das ihr in Bars immer wieder Gratiscocktails einbrachte. Das hatte sie von ihrem ersten Freund gelernt, einem Ekel, von dem sie sich mehr als zwei Jahre hatte ausnutzen lassen. Das einzig sinnvolle Überbleibsel aus dieser Beziehung war ebenjenes Grinsen. Keine gute Bilanz für eine so lange Zeitspanne.

»Aber um zum eigentlichen Punkt zu kommen«, sagte sie, »ich gehe mit auf die bevorstehende Mission, um euch den Hintern zu retten, sobald es zu einem Problem kommt. Das kann ich auch ohne diese Show hier.«

Marek Derowia – schmal, feingliedrig, knapp 40 Jahre alt und rein äußerlich eher ein Künstlertyp als ein seriöser Geologe – ging zwei Schritte rückwärts und ließ sich mit einem Seufzen in den dort bereitstehenden Sessel fallen. Seine Klamotten waren bunter als bunt: eine leuchtend rote Hose, ein grellgelbes Hemd, ein dunkelblaues Tuch um Stirn und Haare gewickelt.

Anzus Meinung nach hätte jeder andere darin lächerlich gewirkt, doch dem Geologen stand es auf seltsame, undefinierbare Art. Er wirkte fast elegant.

Aber nur fast. Ihm fehlte das gewisse Etwas.

»Show«, sagte Derowia. »So beurteilst du also unser Treffen? Ich versuche hier, Informationen zu vermitteln, die euch das Leben retten können!« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Außerdem bist du Transmittertechnikerin, keine Superheldin. Benimm dich entsprechend!«

»Es geht mir nur um deine Präsentation«, stellte Anzu Gotjian klar. »Das ganze Holo-Gezauber. Nichts für ungut, Marek, ich meine es nicht böse. Und ich stelle deine Kompetenz keineswegs infrage. Du weißt ungefähr eine Million Mal mehr über den inneren Aufbau der Erde als ich.«

»Und ich wollte den Faktor auf ... sagen wir ... etwa tausend senken. Aber gut, legen wir erst mal eine Pause ein.« Er schnippte mit den Fingern, und das Holo verschwand, das seit einigen Minuten den glutflüssigen Erdkern gezeigt hatte, umgeben von Erdmantel und Erdkruste.

Kurz glühte das Rot in der Luft nach, ein wenig wie der Widerschein eines langsam erlöschenden Lagerfeuers. Nur der Geruch nach Rauch und schwelendem Holz fehlte; und die angenehme Wärme.

Anzu mochte Lagerfeuer, auch wenn sie bereits eine gefühlte Ewigkeit lang an keinem mehr gesessen hatte. War es zuletzt in der Nacht vor ihrem Eintritt in die Flotte gewesen? Oder nein, bei ihrem Besuch auf dem Mars, am Stadtrand von Skiaparelli, als sie diese süßen Wurzeln in der Glut gebraten hatten, die die Yura am Flussufer zogen. Der berauschende Rauch hatte sie ...

Das Licht ging an, und der Anblick der anderen riss sie aus den Gedanken.

Ihr wurde wieder bewusst, wie viele sie waren – ein gerade noch überschaubares Team. Zwölf Personen, falls man dieses Vieh als Person ansehen wollte. Einen Eigennamen trug es jedenfalls: Phylax. Das Raubtier war angeblich friedlich, solange dieser Mutant bei ihm war, Donn Yaradua. Phylax war ein ... wie lautete gleich die Bezeichnung? Okrall? Okrim? Anzu erinnerte sich nicht exakt daran. Schwer genug, sich die Namen all ihrer Teamkollegen zu merken.

Zis