Der Autor ist Naturwissenschaftler und beschreibt zunächst autobiographisch eine Verbindung zwischen Tastsinn und Gesichtssinn, für die der Begriff der plastischen Wahrnehmung gefunden wird. Erfahrungen mit der Wirkung auf den Alltag werden auch erzählt, um sie erkennbar zu machen. Weiter folgen Beobachtungen auf den Gebieten Biologie, Astronomie und Gesellschaft, die so wohl noch nie geschildert wurden; zuletzt steht ein Mythos der europäischen Vergangenheit im Mittelpunkt. Und doch bauen die Kapitel aufeinander auf und erzählen eine Geschichte, die für jeden Leser eine große Herausforderung ist.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2007 Claudius Maris
Satz und Layout: Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Spreeau
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN 978-3-8423-9942-6
Vorwort
I
Wahrnehmung und Gedächtnis
II
Beispiele, die eine recht spezielle
Wahrnehmung verdeutlichen
III
Die Pioneer-Anomalie
IV
Schlussfolgerungen gegen Ende des
Zeitalters der Aufklärung
V
Warum aus manchen Geschichten Legende wurde und
aus Legende Mythos
Immer wieder fällt mir etwas auf, worauf sonst niemand in meiner Umgebung achtet. Lange habe ich dem keine Bedeutung beigemessen, obwohl ich schon vor längerer Zeit anfing, über das Thema Wahrnehmung nachzudenken. Seit ich mich erinnern kann, übersehe ich Dinge, die für andere offensichtlich sind und sehe Sachen, die kein anderer wahrnimmt, den ich kenne.
Ich achte zuerst auf Formen, besonders Spitzen und Kanten, und stelle mir auch Sprache, Texte, Bilder und Klänge als Formen vor. Dabei kann ich mich sehr auf Details konzentrieren, die in Gedanken immer in plastische Gebilde umgewandelt werden. Sie sind dann greifbare Erinnerungen und im Gedächtnis thematisch statt zeitlich eingeordnet. Dadurch vergleiche ich Texte, die ich gelesen habe, direkt mit Bildern; oder Gegenstände mit Erlebnissen. Als Folge sehe ich Zusammenhänge an Stellen, an denen sie durch Hinsehen eigentlich gar nicht erkennbar sein sollten. Der Zeitbezug der Erinnerungen fehlt dann allerdings.
Was ich nicht verschweigen will: Ich sehe es kommen, dass dieses Buch die Auffassungsbereitschaft des Bewusstseins ein wenig strapaziert; es ist etwas für eher mutige Leser. Weil es auch Überraschungen bereithält, von denen ich nicht weiß, wie groß sie wahrgenommen werden, empfehle ich, es Seite für Seite zu lesen. Ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht, die seltsamen Zusammenhänge, die ich gefunden habe, passend einzuleiten. Vieles, wenn auch nicht alles, ist so neu, dass nur durch die vorangehenden Erläuterungen verständlich wird, worum es geht.
Wenn ich mir einen Gegenstand ansehe, dann kann ich seine Beschaffenheit fühlen, ohne ihn anzufassen. Das klingt merkwürdig, aber die Ursache ist wahrscheinlich eine seltene Verbindung zwischen zwei ansonsten verschiedenen Sinneswahrnehmungen.
Lese ich einen Text, dann stelle ich mir den Gegenstand vor, um den es geht und präge mir seine Eigenschaften ein, die dort beschrieben werden. Rein abstrakte Texte kann ich mir darum schlecht merken. Mit fünf oder sechs Jahren bekam ich von meinen Eltern ein Tierlexikon geschenkt, das rund 800 Seiten hatte und einige tausend Arten beschrieb. Das las ich mir mehrmals durch und lernte die beschriebenen Tiere auswendig. Möglich war das, weil jedes Tier abgebildet war. So konnte ich es mir anschaulich vorstellen und es mir zusammen mit den Angaben über Größe, Lebensdauer und Lebensraum merken.
Irgendwann ist mir klar geworden, dass andere in dem Alter so etwas nicht gemacht haben. Darum habe ich beschlossen, mit etwas über dreißig Jahren eine ausführliche Darstellung zu schreiben. Ich gebe gelegentlich Rätsel auf, und dachte mir, zur Abwechselung einmal Rätsel zu lösen oder als zu lösen in den Raum zu stellen.
Mir ist klar geworden, dass es viel zu erzählen gibt. Als Naturwissenschaftler sollte ich von Berufs wegen gut Beobachten und Erklären können, warum also nicht? In der Tat konnte ich keine zusammenhängende Beschreibung dieser Wahrnehmung finden, und ich könnte erheblich zu einer verbesserten Ansicht darüber beitragen, oder überhaupt zu einer Ansicht. Es kann durchaus sein, dass in der Neuzeit noch nie etwas dazu verfasst wurde.
Töne und Geräusche haben auch sehr interessante Formen. Harmonische Töne sind durchscheinende, schwebende Gebilde mit einer glatten Oberfläche und weichen Rundungen, ähnlich einer großen Seifenblase. Harte Töne dagegen haben scharfe Kanten wie ein geschliffener Eisblock und kratzende Geräusche sind spitze, stachlige Gebilde. Sie existieren aber nicht als eine sichtbare Einbildung, es sind nur Assoziationen. Ist ein bestimmtes Geräusch das einzige hörbare, dann kann es sehr groß werden und nah kommen. Heute erscheint mir das aber längst nicht mehr so intensiv wie früher, denn daran gewöhnt man sich.
Es gibt eine sehr gelungene bildliche Umsetzung in dem Film »Schlafes Bruder«, der zeigt, dass auch an sich leise Geräusche erhebliche Ausmaße annehmen können. Innerhalb einer vielfältigen Geräuschkulisse werden allerdings die wenigsten so dominant. Das passiert am ehesten zum Beispiel bei einem vorbeifahrenden Zug. Als ich noch kleiner war, da habe ich schon eine Gänsehaut bekommen, wenn eine Bahnschranke runterging. Das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges war ein echtes Grenzerlebnis. Heute ist dabei immer noch so ein kalter Schauer vorhanden.
Meine Eltern erzählen, dass ich mir früher die Ohren zugehalten hatte, wenn ein Flugzeug am Himmel vorbeigeflogen ist. Das mache ich heute natürlich nicht mehr. Mir fällt auch ein, das ich vor rund zehn Jahren mal bei einem Freund zu Besuch war, wo wir eine Aufnahme der fünften Sinfonie von Antonin Dvorak gehört hatten. In dem Orchester spielte seine Freundin mit, die auch dabei war. Mittendrin sagte ich, dass ich gerade an einer Stelle einen anderen Ton als bei meiner Aufnahme gehört habe, die ich zu Hause auf CD hatte. Darauf waren beide ziemlich konsterniert. Aber man denkt nicht darüber nach, worauf das hindeuten könnte.
Musikstücke sind für mich auch Gebilde, sehr komplexe natürlich. Aber wenn ich nacheinander zwei Aufnahmen höre, zwischen denen ein Ton verschieden ist, dann sind diese beiden Strukturen nicht deckungsgleich, und das merke ich dann. Das ist so ähnlich, wie wenn ich auf einer Fähre bei wenig Wind über die ruhige Ostsee fahre und mir das Meer ansehe. Wenn dann auf dem Rückweg plötzlich ein Stück Treibgut auftaucht, das vorher nicht da war, dann sticht dies genauso deutlich hervor wie der geänderte Ton in der Partitur.
Dabei habe ich an das sogenannte absolute Gehör gedacht, von dem manchmal die Rede ist. In den Beschreibungen dazu kann ich mich aber nicht wiederfinden. Die genaue Tonhöhe heraushören könnte ich mit etwas Übung wohl, denke ich. Aber die interessiert mich wenig. Klänge, Geräusche und Musik sehe ich als in sich geschlossene Gebilde. Wie ein Ton genau heißt ist mir gleich.
Ich hatte auch einige Jahre Klavierunterricht und habe es bis zu Sonaten von Beethoven geschafft und einige schon recht schwierige und sehr schnelle Stücke von Chopin. Dann habe ich bis zu zwei Stunden pro Tag geübt, um die erforderliche Beweglichkeit der Finger zu bekommen. Ich habe aber auch immer mal längere Pausen eingelegt, wo ich nicht gespielt habe. Die Disziplin eines Berufspianisten würde ich wohl nicht aufbringen, das wäre nichts für mich. Mein Klavierlehrer hat sich immer gewundert, dass ich selbst schnelle Stücke nach Noten spiele. Die kann ich mir genauso schlecht merken wie abstrakte Texte. Aber wenn ich gut eingespielt bin, dann sehe ich manchmal gar nicht auf die Noten und spiele dann irgendwie doch aus dem Gedächtnis. Das ist aber wie ein Seiltanz ohne Netz und doppelten Boden, darauf lasse ich mich nicht ein. Also die Noten müssen da stehen, wo sie hingehören.
So viel erst einmal dazu. Ich denke, man kann jetzt sehen, dass ein anders funktionierendes Gehör offenbar nicht allein auftritt, sondern die übrige Wahrnehmung anscheinend nach dem gleichen Grundprinzip arbeitet. In dem Film »Schlafes Bruder« sieht man das ja auch schon, wobei ich aber nicht weiß, inwieweit der Film eine wahre Geschichte wiedergibt. Sie kommt mir aber schon ganz schön realistisch und irgendwie bekannt vor, obwohl ich bei Recherchen herausfand, dass sie erfunden sein soll. Wenn das stimmt, dann muss ich etwas darüber staunen, wie man das ohne eine reale Vorlage so treffend darstellen konnte. Jedenfalls hatte Elias Alder ja nicht nur ein anderes Gehör, die Romanfigur war ja auch ansonsten ziemlich eigentümlich.
Im Vorwort hatte ich bereits erwähnt, dass ich alles nach Themen sortiert behalte, was den Haken hat, dass ich mich schlecht daran erinnern kann, wann ich etwas gelesen, gesehen habe, oder wann ich wo gewesen bin. Wenn die Zeit keine wichtige Rolle für die Erinnerung spielt, dann behalte ich sie auch nicht. Wenn Sie aber eine wichtige Information für eine spezielle Erinnerung ist, dann schon.
Ein Beispiel: Nur insgesamt zweimal habe ich ungewollt etwas gehört, das nicht wirklich stattfand. Da muss sich etwas, wovon ich mal gelesen hatte, in der Vorstellung verselbstständigt haben. Als Ergebnis hatte ich eine räumliche Geräuschkulisse gehört, die fast echt wirkte. Ich weiß noch genau, es war 1988 abends um vier nach neun. Die Geräusche waren Schüsse aus Maschinengewehren, die aus der Nähe zu kommen schienen und weit entferntes Artilleriefeuer. Dabei hörte ich aber einen Hall, der es von echten Geräuschen unterschied. Um ganz sicherzugehen, oder wohl eher aus Neugier, fragte ich meine Eltern, ob sie etwas Besonderes hören; hatten sie natürlich nicht. Dann habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Am nächsten Morgen war da auch nichts mehr. Zwei Jahre danach gab es noch einmal so etwas: singende Vögel mitten im Winter. Das war es, mehr kam nicht. Manche Sachen muss man echt einfach aussitzen.
Wer etwas Ähnliches auch schon erlebt hat, und dabei auch ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen hat und sich aus Geschichten Handlungen ausmalt, der braucht dann vielleicht gar nicht in Panik zu verfallen, sondern kann es zuerst mit einer sachlichen Erklärung versuchen. Mir sieht es lediglich nach einer ungewollten Fantasie aus, auch wenn es schon einen recht unheimlichen Eindruck hinterlässt. Und der wird dadurch, dass man es jemandem erzählt, wahrscheinlich nicht besser. Ich kann mir vorstellen, dass es sich um eine vorübergehende Umkehrung der Signalrichtung irgendwo im Gehörsinn handelt. Darum sehe ich einen Weg, diese Eindrücke sinnvoll einzuordnen darin, dieser Wahrnehmung einen Namen zu geben und gründlich zu beschreiben.
Dann geht es jetzt weiter mit der Schule. In der Grundschule kam ich noch ganz gut klar. Da gab es für individuelle Unterschiede zwischen den Schülern auch noch eine Menge Freiraum. Auf dem Gymnasium dauerte es nicht lange, bis ich mich über die Art und Weise der Notenvergabe wunderte. Um eine gute Note zu bekommen, genügte es jedenfalls nicht, ein- oder zweimal pro Stunde eine gründlich durchdachte Antwort zu geben. Erwartet wurde eine häufige Beteiligung. Mir fiel auf, dass diejenigen, die die besten Noten bekamen, Antworten gaben, die einerseits danach klangen, dass der Betreffende darüber nachgedacht und die Sache verstanden hat. Andererseits entsprachen sie genau dem, was der Lehrer brauchte, um im Thema fortzufahren.
Das wirkte auf mich wie eine Art Spiel, bei dem Lehrer und (Muster-) Schüler sich gegenseitig den Ball zuwerfen. Als mir das klar wurde, war ich stinksauer. Persönliche Vorwürfe zu machen konnte ich so gerade noch unterdrücken. Worauf ich damit hinaus will: Das Schulsystem, das ich erlebte, fördert diejenigen, die das Talent und den Willen haben, es bestmöglich für sich zu nutzen und dabei lernen zu erahnen, was von ihnen erwartet wird. Von denjenigen werden viele dann auch logischerweise später Leistungsträger der Gesellschaft. Mit dieser Überlegung wird es im nächsten Kapitel weitergehen.
Vielleicht fragt sich jetzt der eine oder andere, ob ich schon mal einen Intelligenztest gemacht habe oder wie ich insgesamt eingeschätzt worden bin. Also ich bin selten als hochbegabt angenommen worden. In der Grundschule hatte ich gute Noten, aber nur gelegentlich sehr gute. Auf dem Gymnasium sank mein Durchschnitt dann etwas. Die Zusammensetzung meiner Noten war eigentümlich. Gut war ich in Naturwissenschaften und Sport, schlecht in Mathematik, ansonsten eher Durchschnitt. Das war ein unübliches Gesamtbild. Wie ein roter Faden zieht sich allerdings bis heute die Einschätzung durch meine Laufbahn, dass ich immer unter meinen Möglichkeiten bleibe. Immerhin war ich nie ein ausgesprochener Außenseiter. Der erhebliche Gruppenzwang ging mir zwar unheimlich auf die Nerven, aber irgendwie habe ich gemerkt, dass die anderen selbst gar nichts dafür können. Das passiert einfach so. Als es auf der Uni zum Hauptstudium ging, sind meine Noten übrigens wieder angezogen, und ich ging da mit einer insgesamt guten Gesamtnote raus. Dort gab es aber auch wesentlich mehr Freiräume als auf dem Gymnasium. Da war die Luft oft wie zum Schneiden, fast dickflüssig, als ob man gegen einen Widerstand läuft.
Einmal hatte ich mir Aufgaben aus einem Intelligenztest angesehen. Ging es darum, zwischen geometrischen Gebilden einen Zusammenhang zu erkennen, konnte ich die Lösung sofort ankreuzen. Bei anderen Aufgaben musste ich dagegen erst nachdenken. Was bei so einem Test herauskäme, das hängt bei mir wohl stark vom Schwerpunkt ab, der bei der Zusammenstellung der Aufgaben gesetzt wurde. Dann will ich es aber gar nicht erst wissen. Und außerdem gibt es auch, da verrate ich nichts Neues, Formen von Intelligenz, die so ein Test gar nicht erfasst; Gründe genug für mich, den Test bleiben zu lassen. Außerdem will ich mir die Möglichkeit offenhalten, anzunehmen, einen ganz normalen IQ zu haben. Ich mache nämlich auch oft ganz normale Sachen, wie zum Beispiel Radfahren und Fußball. Ich kann sehr unauffällig sein, wenn ich will. Bin ich dann auch fast immer, das hat sich als sehr praktisch herausgestellt.
Ich habe es mir angewöhnt, wenig aufzufallen, sodass man es nicht hört, wenn ich komme und nicht sieht, wenn ich gehe. Das hat den Vorteil, dass man mich als zurückhaltend