Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8448-2002-7
Ich widme dieses Buch meiner wunderbaren Frau Elvira, meinen lieben Kindern und Enkelkindern, aber auch in Sonderheit meinem Schwiegersohn, der mir geholfen hat, meine Lebenswege wieder neu zu entdecken.
Ebenfalls danke ich besonders meiner Enkeltochter Nina-Madeleine und Thomas Karcher für die Buchgestaltung.
Vorwort
Anfang 2005 hatte ich ein Gespräch mit meiner Tochter über die heutige Jugend, die in Frieden und Wohlstand leben darf. Sie meinte: Wie war das denn bei dir früher, du bist Jahrgang 1928, da war die Zeit doch ganz anders, wie war es denn bei dir als Jugendlicher, wir wissen ja gar nichts darüber.
Dies war für mich der Moment, wo ich anfing, mir die prägenden Erlebnisse meiner Jugendzeit, besonders die in der furchtbaren Endphase des Krieges und danach von Juli 1944 bis August 1948 – wieder bewusst zu machen und aufzuschreiben. Vieles war in Vergessenheit geraten, was dann bruchstückhaft wieder hochkam, manches stand plastisch vor mir, als ob es gestern gewesen wäre, viele Einzelheiten musste ich mühsam recherchieren. Da waren Orte, an denen ich eingesetzt war, deren Namen ich nicht mehr wusste und die ich anhand von Eisenbahnlinien und Frontverläufen wieder ausfindig machen konnte.
Über das Internet fand ich noch einen Betroffenen, der ebenfalls als Jugendlicher in der gleichen Einheit für den „Endsieg“ verheizt werden sollte und der – wie ich – durch wundersame Fügung diesen Wahnsinn überlebt hat. Ich hoffe, dass in der heutigen Zeit, wo kulturelle Konflikte schnell in Kriege oder Bürgerkriege ausarten, allen künftigen Generationen solche Erlebnisse erspart bleiben.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den Lesern die Dramatik dieser Zeit in etwa verständlich gemacht zu haben.
Bühlertal, im April 2008
Günter Dullni
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Radfahrt nach Misdroy an der Ostsee mit Uwe Bischoff und Werner Lehmann Juli 1944 (* 220-240km)
Kurierfahrt nach Kunersdorf Herbst 1944
Im Wehrertüchtigungslager der Marine auf dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ vom: 18. September – 9. Oktober 1944
Mein Aufenthalt im Reichsausbildungslager der Hitlerjugend in Bad Luhatschowitz bei Brünn 6. Dezember 1944 – 8. März 1945
Auf dem Truppenübungsplatz der Waffen-SS in Beneschau (Benesov) bei Prag 9. März – 5. April 1945
Zum Fronteinsatz nach Niederösterreich
Zweiter Fronteinsatz in den „Leiser-Bergen“ 15. – 20. April 1945
Dritter Einsatz im „Weinviertel“ 21. April – 8. Mai 1945
Auf der Flucht 8. – 10. Mai 1945
Meine Heimkehr 10. Mai – 12. Juli 1945
In der Ostzone
In den Wirren der russischen Besetzung
Mein Aufenthalt in Rockstedt (Thüringen) November 1945 – Mai 1946
Der Kampf um das Überleben Mai 1946 – September 1947
Lichtblicke im Dunkel der Zeit September 1947 – August 1948
Nachwort
Radfahrt nach Misdroy an der Ostsee mit
Uwe Bischoff und Werner Lehmann Juli
1944 (* 220-240km)
Nach der Geländeübung mit dem „Fähnlein Wildau“ sitzen wir, Uwe, Werner und ich, noch einige Augenblicke zusammen. Nachdem wir die Erfahrungen der Übung noch einmal durchgesprochen haben, sagt auf einmal Werner: „Meine Schwester Dorit ist augenblicklich mit ihrer Schulfreundin bei deren Großeltern in Misdroy an der Ostsee, was haltet ihr davon, wenn wir mit den Rädern dort einige Ferientage verbringen?“ „Mit den Rädern bis dahin!“ ist meine Antwort. „Warum nicht?“ meint Uwe. „Wir könnten bei der Familie Hahn übernachten, wo wir mit meinen Eltern unsere Ferien verbracht haben, meine Großeltern hatten da das Wohnrecht.“
Wir sind alle von dem Plan begeistert. In den nächsten Tagen werden die dazu erforderlichen Absprachen und Vorbereitungen getroffen: unsere Fahrräder durchgecheckt, die Reiseroute festgelegt, das Gepäck zusammengestellt usw. Gemeinsam wird die Abfahrt auf Mittwoch, den 12. Juli festgelegt. Werner kann leider nicht am Mittwoch, er kommt Freitag alleine nach. Der Tag der Abfahrt ist ein sonniger Tag. Die Mutter hat mich um 5 Uhr geweckt. Nach dem Frühstück packen wir die schon vorbereiteten Sachen auf meinen Drahtesel. Ich stelle fest, das sind doch einige Kilo auf dem Gepäckständer. Uwe kommt gegen 7 Uhr. Sein Fahrrad ist schwer beladen, denn ein Zelt zum Übernachten darf ja nicht fehlen. Nachdem wir das Zelt mit Zubehör auf unseren Rädern verteilt haben, geht es mit fürsorgenden Worten der Eltern endlich los. Fröhlich trampeln wir über Zeuthen, Woltersdorf nach Rüdersdorf. Weiter auf der schattigen Landstraße nach Altlandsberg bis Bernau.
Jetzt geht es auf die Autobahn Richtung Stettin. Inzwischen ist die Sonne höher gestiegen, es ist wärmer geworden. Das Trampeln geht nicht mehr so leicht wie am Anfang. Ab und zu kommt ein Auto oder ein Militärfahrzeug. Man lächelt uns zu oder schüttelt mit dem Kopf, denn eigentlich ist das Fahren auf der Autobahn mit dem Fahrrad verboten. Wir tun so, als wüssten wir es nicht und fahren freudig weiter, rechts und links durch kilometerlange dichte Kiefern- und Mischwaldgebiete der „Ladeburger-Heide“. Auf dem nächsten Parkplatz machen wir die erste Pause.
Die Stille des Waldes tut uns gut. Nachdem wir unser bescheidenes Pausenmahl eingenommen haben, geht es weiter auf der leeren Autobahn. Hinter Finow erreichen wir das landschaftlich schöne Gebiet der „Schorfheide“ mit Seen und verträumten Sumpfgebieten. Die Autobahn führt uns nun durch eine hügelige Landschaft.
Hier geht es einmal etwas bergab, aber leider meist bergauf, am wunderschönen „Grimnitzsee“ vorbei, wo uns der „Schweizer Berg“ mit seinen 101m ü.M. in der Ferne begrüßt. „Es wird Zeit, eine Mittagspause zu machen“ ruft mir Uwe zu. Wir schauen uns um und erblicken einen schattigen, idyllischen Platz zum Ausruhen. Unter einer uralten Eiche stärken wir uns. Entspannt und mit neuen Kräften besteigen wir unsere Drahtesel und weiter geht es dem Ziele zu. Hinter „Falkenwalde“ hört der Wald auf und die Autobahn durchzieht saftige Wiesen und fruchtbare Äcker.
Inzwischen neigt sich der Tag langsam dem Ende zu. Unsere Beine und der Po machen sich immer mehr negativ bemerkbar. „Es wird Zeit, dass wir einen guten Schlafplatz aufsuchen“ ruft mir Uwe zu. „Die Umgebung ist eigentlich wie geschaffen dafür.“ So verlassen wir die Autobahn bei „Kolbitzow“. Die Landstraße windet sich etwas bergab. Vor uns liegt eine Waldlichtung. Eingebettet darin ist eine saftige blumenreiche Wiese. Am Waldrand steht ein Hochstand, dessen Anblick den idyllischen Gesamteindruck noch verstärkt. Wir sind uns sofort einig: das ist unser Schlafplatz für diese Nacht. Nachdem wir die Räder an einer alten Buche abgestellt haben, suchen wir uns einen passenden Platz für unser kleines Zelt. Mit geübten Griffen haben wir es schnell aufgestellt. Auf einem Baumstamm sitzend schmeckt uns das Abendbrot besonders gut. Es wird langsam dunkel. Die Sonne steht tief und leuchtet schimmernd durch die Baumgipfel. Die Luft ist still und nur hoch im Blauen singt und klingt es noch. In der Ferne läutet um neun Uhr eine Kirchturmglocke.
Noch einmal lassen wir den Tag Revue passieren und dann entschließen wir uns zur Nachtruhe. Jetzt stellen wir allerdings fest, dass dieser Ort doch nicht der Richtige zu sein scheint, denn jetzt kommen die MÜCKEN in Kompaniestärke! Die feuchte Wiese -ein Mückenparadies. Nachdem wir das Zelt fast mückenfrei haben, überkommt uns der Schlaf und wir tauchen ab in das Land der Träume. Das nahe Läuten der Kirchenglocken weckt uns, dazu das Vogelgezwitscher in den Baumgipfeln.
Es ist 5 Uhr, ein herrlicher Tag begrüßt uns. Nachdem wir uns am nahen Bach etwas frisch gemacht und etwas gestärkt haben, packen wir unsere sieben Sachen und angefüllt mit jugendlicher Frische geht es wieder auf die Autobahn Richtung Ostsee. Durch das Oderdelta fahren wir an Stettin vorbei. Dann endet die Autobahn und die Landstraße nach „Gollnow“ führt uns weiter. Das Fahren auf der baumbegrenzten Allee ist eine wohltuende Abwechslung.
Nun durchfahren wir dichte Kiefern- und Mischwaldzonen, eingebettet in einer hügeligen Landschaft. In Gollnow, einer Kleinstadt, machen wir eine kurze Pause. Weiter geht es über „Wollin“ dem Ziele zu. Hinter einer Straßenbiegung erblicken wir in der Ferne zum ersten Mal die Ostsee. Ein erhabener Augenblick für mich, denn ich erblicke zum ersten Mal die See. Durch Dünen hindurch tauchen die ersten Häuser von Misdroy auf – schmucke Häuser, in einer mit Kiefern und Birken durchzogenen Landschaft.
Im Ort kennt sich Uwe gut aus. Etwas außerhalb erreichen wir ein idyllisch gelegenes großes Bauerngehöft. Durch ein großes Tor geht es in den Hof, wo uns Frau Hahn freundlich mit den Worten begrüßt: „Da sind ja die Radfahrer aus Berlin!“ „Wo ist der dritte Bub?“ „Der kommt erst morgen Abend“ ist unsere Antwort. Die Bäuerin führt uns zur großen Scheune. „Hier könnt ihr schlafen und euch an der Pumpe da drüben waschen. Zum Essen kommt ihr in die Küche.“
Abb 1.2. Dierke Atlas
Dankbar nehmen wir das Angebot an, stellen unserer Räder ab und verstauen unsere Sachen. „Jetzt schaut euch erst einmal um, gegen 18 Uhr gibt es etwas zum Essen.“ Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Unser erster Weg geht zum Strand. Es sind nur wenige hundert Meter bis dahin. Ein schmaler Weg führt etwas bergab an Häusern und blumenreichen, liebevoll gepflegten Gärten vorbei. Das Brausen der Brandung begrüßt uns, als wir die lange Strandpromenade überqueren und hinter kleinen Dünen den kilometerweiten, fast menschenleeren Sandstrand betreten.
Wie mag es hier vor dem Krieg ausgesehen haben? Vor uns liegt die imposante 200m lange Seebrücke. Gegen Osten eine ansteigende, mit Laub- und Nadelbäumen bewaldete Steilküste. Nachdem wir die Wassertemperatur geprüft haben, geht es wieder zum Quartier zurück, denn wir wollen nicht unpünktlich sein. Das Essen ist hervorragend, wie in Friedenszeiten. Da wir noch etwas Zeit haben bis zum Schlafengehen, schauen wir uns den Kurort etwas genauer an. An der Strandpromenade erblicken wir stilvolle Villen, teils gepflegt und teils ungepflegt. Im Ort alte Häuser und kleine Gehöfte, denn Misdroy ist zu diesem Zeitpunkt ein Fischerdorf. Auf der sogenannten Königshöhe steht die alte Dorfkirche aus dem Jahre 1862.
In der Nähe der Seebrücke liegt ein kleiner Kurgarten mit einem Musikpavillon und einer Musikhalle. Hier erleben wir einen herrlichen Sonnenuntergang: blutrot versinkt die Sonne im Meer. Müde und satt von den vielen Reiseeindrücken dieses Tages schlafen wir in der Scheune wie im Himmel dem neuen Tag entgegen. Der Hahn weckt uns aus unseren Träumen. Es ist 6 Uhr. Misdroy begrüßt uns mit einem tiefblauen Himmel. „Das wird ein schöner Badetag“ rufe ich Uwe zu, der dabei ist, seinen Schlafplatz etwas zu ordnen. Nachdem wir uns an der Hofpumpe frisch gemacht haben, geht es in die Küche, wo uns Frau Hahn mit einem schön gedeckten Frühstückstisch erwartet. Gestärkt marschieren wir anschließend zum Strand. Von der See weht uns eine frische Brise entgegen.
Zum Baden ist es noch zu kühl, also machen wir eine Strandwanderung. Da gibt es viel zu sehen und zu entdecken: kleine und große Muscheln, Quallen, die, durch die Brandung angespült, auf dem Sand ihr Leben aushauchen. Auf dem Meer gleiten Fischerboote und am Horizont taucht hin und wieder ein großer Pott auf - für uns als Landratten viel Neues.
Nach dem Mittagessen startet der erste Badegang. Die Sonne steht hoch am Himmel. Der leichte Wellengang und das Schwimmen in den Wellen machen uns viel Freude. So geht die Zeit schnell dahin. Die Uhr mahnt uns aufzubrechen. Als wir durch das Hoftor treten, begrüßt uns der Schäferhund jetzt nicht mehr mit kräftigem Bellen, denn wir sind ihm mittlerweile nicht mehr fremd. Das Baden hat uns hungrig gemacht, darum schmeckt uns das kräftige Abendbrot doppelt gut. Gesättigt sitzen wir auf der Bank vor dem Wirtschaftsgebäude. Der Hof und die Gebäude machen einen sehr gepflegten Eindruck. Frau Hahn bewirtschaftet den Bauernhof alleine mit einigen Hilfskräften aus Polen. Ihr Mann ist – wie viele - an der Front. Wir betrachten das muntere Treiben der Schwalben, die im Auf und Ab ihre Kreise ziehen und sich damit ihr Abendbrot besorgen.
In der Ferne läuten die Abendglocken. Friede ringsum, eine stimmungsvolle Atmosphäre. Plötzlich ertönt eine Fahrradklingel und Werner trampelt fröhlich durch das Hoftor. „Wir haben dich eigentlich früher erwartet“ ruft Uwe ihm zu. „Also, schneller ging es nicht“ antwortet Werner. „Ich habe wie ein Weltmeister getrampelt! Ohne zu übernachten!“ Das erstaunt uns natürlich und in großer Anerkennung dieser Leistung begrüßen wir ihn und tauschen unsere Reiseerlebnisse aus. Völlige Dämmerung lagert sich schon um uns. Es ist die Kühle des Abends, die uns den Anstoß gibt, nachdem Werner sich etwas gestärkt hat, unseren Schlafplatz in der Scheune aufzusuchen. Der folgende Tag verläuft fast wie schon berichtet. Nur der blaue Himmel fehlt, er ist mit einigen Wolkenfetzen durchsetzt. Trotzdem zieht es uns Drei an den Strand. In der Nähe der großen Seebrücke geht es mit Hallo in die kühle Flut.
Im Gegensatz zu gestern wurden wir schnell durch die Wellen hinausgetrieben. Doch als wir uns bemühen zurück zu schwimmen, stellen wir fest, dass uns ein landseitiger Wind dieses Vorhaben zunichte macht. Ich bekomme zum ersten Mal in meinem Leben große Angst, als ich feststellen muss, der Strand kommt nicht näher, trotz meiner guten Schwimmkünste. Uwe und Werner, die schon etwas dichter am Strand sind, rufen mir zu: „Du musst durch die Wellen tauchen.“ Nachdem ich diesen Rat in die Tat umgesetzt hatte, erreiche ich mit großem Herzklopfen den Strand. Am Nachmittag besuchen wir drei Dorit, die kleine Schwester von Werner. Wir überraschen sie beim Spielen mit ihrer Schulfreundin. Die Freude ist bei allen groß. So gehen die Tage dahin. Das Wetter wurde wieder besser.
Wie alles im Leben, das uns mit Anfang und Ende begegnet, kam auch der Tag des Abschiedes: Donnerstag, der 20. Juli. Wir werden wie immer durch unseren Hahn geweckt. Der Himmel ist wolkenverhangen. Unsere Fahrräder sind gepackt. Nach dem guten Frühstück verabschieden wir uns voller Dankbarkeit für die liebevolle Pflege von Frau Hahn.
Etwas wehmütig verlassen wir Misdroy. Auf der Landstraße nach Wollin fängt es an zu regnen. Dann begleitet uns die Sonne bis Gollnow. Weil das Wetter so unbeständig ist, beschließen wir, bis Stettin zu radeln und mit der Eisenbahn bis Berlin zu fahren. Gegen Mittag erreichen wir Stettin. Ausgebombte Häuser und viele Hausruinen erinnern uns, wir befinden uns im Krieg. Auch der Hauptbahnhof schaut uns mit seinem nackten Stahlgerippe traurig an. Wir haben großes Glück, denn ein Fernzug fährt in einer halben Stunde nach Berlin. Er ist vollbesetzt. Flüchtlinge aus dem Osten, Mütter mit ihren kleinen Kindern, alte Menschen mit ihrer Habe, Landser, die zur Westfront abkommandiert sind. Ein wirres Durcheinander, ist das ein Bild vom Endsieg? Schnell eilen wir zum Gepäckwagen, um unsere Räder zu verstauen und entdecken ganz vorne ein Abteil, wo wir drei noch Platz finden.
Pünktlich verlässt der lange Zug Stettin. Nun gibt es viel zu sehen. Es rauschen kleine Ortschaften, Felder, Wiesen, Wälder und Seen an uns vorüber. Die Fahrt geht über Angermünde und Eberswalde. Dort haben wir einen kleinen Aufenthalt.
Aufgeregt steigt ein Mann in unser Abteil und verkündet uns: „Auf unseren Führer wurde ein Attentat verübt, er lebt aber!“ Wir sind alle sehr erschrocken, doch keiner sagt etwas. Ich denke mir meinen Teil, der aber geprägt ist von unserem verblendeten NS-Weltbild. Langsam entspannt sich der Schock und man geht zur Tagesordnung über. So rattert der Zug weiter über Bernau und kurze Zeit später erreichen wir die Reichshauptstadt, die uns mit vielen ausgebombten Häusern begrüßt.
Am Stettiner Bahnhof schwingen wir uns auf unsere Fahrräder. Ausgeruht und fröhlich geht es im strahlenden Sonnenschein Richtung Heimat. Wildau erreichen wir spät am Abend. Eilig sucht jeder sein Zuhause auf, wo wir freudig von unseren Eltern begrüßt werden und überall kommt die gleiche Frage auf: „Na, wie war es denn?“ Wir hatten alle viel zu erzählen. Wir drei waren ein wunderbares Team und auch unsere Fahrräder haben uns nicht im Stich gelassen.
Kurierfahrt nach Kunersdorf Herbst 1944
Die Nacht ist kalt. Sternenklar wölbt sich über mir das Firmament. Das Heulen der Sirenen ist verklungen. Mutter, meine Schwester Evchen und ich hasten auf der Werksstraße zum Luftschutzstollen am Berg. Das Dröhnen der feindlichen Flugzeugverbände begleitet uns schon. Endlich haben wir den schützenden Stollen erreicht. An Frauen, Kindern und Männern vorbei, die auf den Holzbänken sitzen, die an der Stollenseite angebracht sind, erreichen wir noch einige freie Plätze. Das leise Gespräch der Menschen um mich und das monotone Tropfen der Feuchtigkeit von den Stollenwänden erweckt in mir ein Spiel mit den Gedanken an das Erlebte von gestern.
Ich wurde am Nachmittag zum Ortsgruppenleiter in die Parteizentrale am Markt gerufen. Dort übergab man mir ein geheimnisvolles Päckchen mit dem Auftrag, es morgen nach Kunersdorf in die Ortseinsatzstelle zu bringen. Kunersdorf – ein Ort, zu dem noch einsatzfähige Männer aus meinem Ort zum Ausheben der Panzergräben geschickt wurden - liegt etwa 20km östlich von Frankfurt an der Oder. So kreisten meine Gedanken um diesen Auftrag. Plötzlich werde ich durch das Heulen der Entwarnungssirenen in die Gegenwart zurückversetzt. „Schnell nach Hause“ ruft mir die Mutter zu, „du hast einen schweren Tag vor dir.“ Eilig laufen wir nach Hause. Der neue Tag hat schon begonnen.
Gegen 9 Uhr steige ich in den Vorortzug nach Berlin. Stolz wie Oskar in meiner Uniform als Fähnleinführer mit dem Päckchen in der großen Tasche und den dazugehörigen Begleitpapieren in der Jacke. Der Zug rattert im gleichmäßigen Rhythmus der Schienenstöße Richtung Berlin. In Berlin-Grünau steige ich aus. Ich muss mich beeilen, denn auf dem anderen Bahnsteig fährt gerade der S-Bahnzug ein, der mich zum Schlesischen Bahnhof bringen soll. Auf der Fahrt dorthin erblicke ich die Spuren der letzten Bombennacht. Brandgeruch durchzieht die Wagen und sehr langsam fährt die S-Bahn durch das Trümmerfeld.
Der Wahnsinn des Krieges schaut mich an. Wie ein Hohn erblicke ich ein großes Transparent mit der Aufschrift: Alles für den Endsieg – alles? Wir erreichen den Schlesischen Bahnhof. Auch hier haben Bomben ihre vernichtende Arbeit getan. Ich habe noch etwas Zeit, bis der Zug nach Frankfurt an der Oder abfährt. Mit mir warten viele auf den Zug. Landser, die an die Front müssen, das letzte Aufgebot! Mütter mit ihren Kindern, die auf das Land fahren, um dem Bombenhagel zu entfliehen. Da ertönt aus dem Lautsprecher eine Durchsage: „Achtung, Achtung! Feindliche Bomberverbände befinden sich im Anflug auf die Reichshauptstadt.
Der D-Zug nach Posen über Frankfurt an der Oder fährt ein. Beeilen Sie sich bitte beim Einsteigen, denn der Zug fährt sofort ab.“ Der Zug läuft ein und jeder bemüht sich, so schnell wie möglich einen Platz zu erhaschen. Meinen Platz stelle ich einer Mutter mit ihrem kleinen Mädchen zur Verfügung. So verlässt der Zug die Hauptstadt unter der Begleitmusik der Sirenen. Über Erkner und Fürstenwalde erreiche ich gegen 17 Uhr Frankfurt an der Oder. Da der D-Zug in Kunersdorf, meinem Zielort, nicht hält, muss ich noch einmal umsteigen. Viel Zeit habe ich nicht, denn der Bummelzug steht schon im Gleis gegenüber. Auch hier viele Landser auf dem Weg zur Front, viele Menschen mit Sack und Pack auf der Flucht in Richtung Westen. Die Fahrt verläuft schnell.
Ich bin am Ziel „KUNERSDORF“. Ein Ort mit etwa 1.000 Einwohnern und einem kleinen Bahnhof. Ich erinnere mich, hier erlitten damals die Preußen unter Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Krieg am 12. August 1759 eine große Niederlage gegen die Russen und Österreicher, ein böses Omen? Es ist schon dunkel geworden. Schnell habe ich die Ortseinsatzstelle erreicht. Hier werde ich schon erwartet. Nachdem ich mein geheimnisvolles Päckchen abgegeben habe, sagt der Einsatzleiter: “Wenn du dich beeilst, erreichst du noch den Zug nach Frankfurt.“
Ich eile zurück zum Bahnhof, gerne hätte ich die unüberwindlichen Panzergräben besichtigt; es sollte nicht sein. Der Bahnsteig liegt im diffusen Licht. Wenige Menschen sind zu sehen. Ein junger Leutnant steht sehr unruhig in meiner Nähe. Da kommt ein Feldgendarm, ein sogenannter „Kettenhund“, auf ihn zu und bittet um seine Papiere. Er fordert ihn auf, mit ihm zur Wache zu kommen. Ich habe kein gutes Gefühl. Da taucht aus dem Dunkel schon der Zug auf.
In Frankfurt angekommen stelle ich leider fest, dass der letzte Zug nach Berlin weg ist. So heißt es im Wartesaal zu übernachten. Hier in dem vollen, stickigen und sehr warmen Wartesaal finde ich keinen Schlaf. Müde und zerschlagen steige ich in den ersten Zug nach Berlin und erreiche am Spätnachmittag Wildau. Zu Hause werde ich freudig von allen empfangen. Ich habe nicht viel Zeit, um das Erlebte aufzuarbeiten, denn eine neue Aufgabe wartet schon auf mich.
Im Wehrertüchtigungslager der Marine auf
dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ vom: 18.
September – 9. Oktober 1944
Da ich mich freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet hatte, erhielt ich den Einberufungsbescheid nach Lauterbach auf Rügen. Am Montag, den 18.September 1944, treffe ich mit dem Rügenexpress gegen 14 Uhr in Lauterbach auf Rügen ein.