Es ist Mittwoch gegen acht Uhr. Nach über 33 Stunden ist es geschafft, wir sind in West Papua. Der Flughafen der Stadt Sentani liegt direkt am gleichnamigen See. 40km östlich befindet sich die Provinzhauptstadt Jayapura. Der Flughafen wurde im 2. Weltkrieg von den Japanern gebaut. Nachdem die Amerikaner sie 1944 vertrieben hatten, wurde auf dem kleinen Berg Ifar nahe des Sees das Hauptquartier der amerikanischen Armee unter General Douglas MacArthur errichtet. Deswegen befindet sich hier inmitten einer Kaserne ein Denkmal zu Ehren des Oberbefehlshabers der alliierten Truppen im Südwestpazifik. Zeugnisse dieser unruhigen Zeit sind noch heute rund um den See zu sehen. Die Amerikaner bauten das Flugfeld aus und nach dem Krieg kamen die Niederländer zurück. West Papua war ehemals niederländische Kolonie. 1962 fiel dieser Teil Neuguineas in einem umstrittenen Verfahren an den indonesischen Staat.
Der Expeditionsleiter kam 1979 erstmals nach Jayapura. Zu dieser Zeit gab es nur wenige Häuser um das Flugfeld herum, alles andere war sehr ländlich, sehr einfach. Es gab auch kaum ein Fahrzeug um von hier aus zu der Hauptstadt zu kommen. Was fuhr waren zum Beispiel noch holländische Busse. Selbst heute finden sich Haltestationen an der Straße mit holländischen Namen. Erst in den letzten Jahren, bedingt auch durch die Autonomie der Provinz West Papua seit 2000, boomt diese Region regelrecht. Eine Ursache ist die Immigrationspolitik, die vom (indonesischen) Staat gefördert wurde. Sprich, Leute von dicht besiedelten Inseln wie Bali, Sulawesi und Java kamen hier her. Ihnen wurden eigene Gebiete zugewiesen, das sieht man sehr schön beim Anflug. Dazu haben die Menschen große Karrees gerodet und Siedlungen für die Immigranten gebaut. In der Folge entwickelten sich hier Geschäftszentren für das ganze Land. Inzwischen leben in dieser Region sogar mehr Immigranten als Ureinwohner. Zahlreiche Läden verkaufen etwa Baumaterialen, die hunderte Kilometer hoch an der Küste zum Einsatz kommen. Alles was zum Bau notwendig ist, wird in Sentani umgesetzt. Auch deswegen ist der Ort am Flughafen ein unglaublich wichtiger Platz. Zumal in West Papua alles mit dem Flugzeug transportiert werden muss, zum Beispiel nach Wamena, Timika oder Dekai. Sei es Diesel, Benzin, Asphalt, Autos und Lastwagen, einfach alles was die Natur nicht selber hergibt. Zudem befinden sich in Sentani die Administration und Behörden, die Händler, die Kaufleute und Kunden.
Nur eine Zahl: Die Passagierkapazität von und nach Jakarta beträgt heute 1200 Personen täglich. Unser Flugzeug war voll. Sentani ist die Eintrittspforte für die gesamte Provinz West Papua per Luft, per Schiff spielt Jayapura die wichtigste Rolle. Über diese zwei Knotenpunkte wird immerhin eine ganze Provinz versorgt, rund 20 Prozent größer als Deutschland.
Von dem Stamm der Sentani leben in der Umgebung des Sees noch etwa geschätzt 30.000 Menschen. Sie ernähren sich von den Fischen des Sees, Tieren, Früchten und Gemüse. Bekannt sind die Sentani durch ihre Schnitzarbeiten, den Männerhäusern, reich dekorierten Booten und Rindenmalereien. Sie haben eine eigene Kultur, die sogenannte North-West-Culture und sprechen eine eigene Sprache. Spezielle Hausstile wie spitze, runde Männerhäuser prägen ihr Dasein. Die Sentani besitzen auch eine eigene Musikrichtung basierend auf Trommeln und Gesängen. Zu hören sind sie zum Beispiel auf dem Sentani-Festival.
Viel bedeuten ihnen die Ahnen, sie werden richtig verehrt. So finden sich zahlreiche geschnitzte Ahnenfiguren. Das gibt es bei anderen Stämmen nicht in diesem Ausmaß, ist eher eine Spezialität der North-West-Culture. Erst ganz im Süden bei den Asmat findet sich vergleichbares.
In der Region um den rund 94 Quadratkilometer großen und 80km langen See fallen jährlich etwa 2000mm Niederschlag. Zum Vergleich: In Deutschland sind es um die 800mm. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung 1993 wurden im See 33 Fischarten entdeckt, davon 18 endemische wie der Lachsrote Regenbogenfisch. Auch Sägerochen kamen bis in die 1970er-Jahre vor. Heute noch sind sie ein gern abgebildetes Motiv in der traditionellen Kunst der Sentani.
An den Ufern fand 2012 zum fünften Mal das mehrtägige Sentani-Fest statt. Der Sinn des Festes ist, unterschiedliche Volksgruppen zusammen zu bringen, auf dass Sie sich besser kennenlernen und verstehen. Durch die frühere Immobilität kannten sich die Stämme untereinander kaum. Derartige Volksfeste fördert die Provinzregierung, da werden ganze Gruppen und Clans per Flugzeug oder Schiff kostenlos hierher gebracht. Auch dienen die Feste zur allgemeinen Bereicherung ihrer Kultur. Die Menschen sind stolz auf ihre Errungenschaften, das kann man recht schnell selber feststellen.
Eigentlich erinnert das Sentani-Fest stark an ein Volksfest. Zu dem was wir später in Wamena erleben, und natürlich auf dem Weg zu den Kuruwai, liegen Welten. Dennoch zeigt die Veranstaltung etwas von der Kultur der hier lebenden Menschen, alte Traditionen spielen wenigstens in den Vorführungen noch eine Rolle. Außerdem hilft es den hier lebenden Menschen sich eine Einkommensquelle zu erschließen. Viele Waren und Speisen sind auch bei uns in Europa zu finden, aber auch Ungewöhnliches: Bethel-Nüsse zum Kauen etwa und geröstete Sagomaden. Wirtschaftlich profitieren davon fast ausschließlich die immigrierten Indonesier, Papuas sind, außer bei den Vorführungen, eher in der Minderheit.
Dargeboten werden papuanische Tänze mit reichlich geschmückten Einheimischen. Traditioneller Gesang und Trommeln begleiten durch den ganzen Tag. Die Langboote erinnern stark an die pazifischen Wurzeln der Northwest-Tribes, der Küstenbewohner. Die Wettbewerbe und Kriegsspiele zeigen ihre kriegerische Vergangenheit hautnah auf. Die existiert bei manchen Stämmen und Clans in unzugänglichen Regionen des Landesinneren noch bis heute.
Im Umfeld des Festes bieten sich natürlich zahlreiche Möglichkeiten, den Sentani-See und dessen Umgebung intensiver zu erkunden. So sind längere wie kürzere Fahrten auf dem See zu einzelnen Clans und Inseln oder Überresten aus dem zweiten Weltkrieg möglich.
Ehrlich gesagt, mich erinnerte das Sentani-Fest an ein Volksfest. Ich bin kein Fan von solchen Veranstaltungen. Und das nach der intensiven Vorbereitung mit undurchdringlichem Regenwald, Schlangen und Steinzeitmenschen im Kopf. Und hier: Buden, Luftballonverkäufer, Süßigkeiten, lautes Spielzeug, ein Frisuren-Wettbewerb und eine Schönheitswahl. Ab und zu sah man traditionell gekleidete Sentani. Eventuell waren wir am Vormittag aber einfach zu früh dran. Eine Programmvorschau hatte ich nicht entdeckt, schien es aber zu geben. Nur Englisch half hier nicht weiter, man sollte Indonesisch können. Leider hielt sich unser Expeditionsleiter mit Informationen immer etwas zurück, das aber kannten wir schon von unserer Tour durch die Mongolei zwei Jahre zuvor, die er auch leitete. Also keine Überraschung. Man musste ihn halt ansprechen. Auf dem Fest war sowieso jeder von uns acht Expeditionsteilnehmern für sich oder in kleinen, wechselnden Gruppen unterwegs.
An einigen Stellen sah man jetzt vermehrt geschmückte Männer, Frauen, Kinder, alles echte Papua. Nach einem Frisuren-Wettbewerb ging es los, mit traditionellen Tänzen. Mehrere der Sentani-Stämme zeigen ihr Können, und der Sprecher schwieg Gott sei Dank auch nach etwa zehn Minuten mit seinen lautstarken, die Musik übertönenden Erklärungen. So konnte man die Trommeln und den Gesang richtig wahrnehmen. Das waren jetzt wirklich noch alte Tänze. Westliche Touristen sah man in der Menge der Besucher nur vereinzelt. Fast eine Stunde Rohaufnahmen und viel Bildmaterial ergaben die Tänze. Was fehlte, Bootsschauen, traditionelle Kämpfe, ... aber morgen war ja auch noch ein Tag.
Wir jedenfalls fuhren um die Mittagszeit mit einem Boot auf den See hinaus, auf einer kleinen Insel konnte man Malereien auf Baumrinde bestaunen und auch erwerben. Diese gibt es nur hier, ist eine alte Tradition einiger Sentani-Clans.
Nach einem einfachen indonesischen Essen mit Reis und Huhn in einem idyllisch am Ufer gelegenen Restaurant fuhren wir noch auf den Berg Ifar zum Denkmal zu Ehren Generals McArthur´s. Weitere Monumente aus dem zweiten Weltkrieg finden sich an einigen Stellen am Ufer rund um den See und im Dorf Genyem. Hier am See lag ja eine wichtige Kommandozentrale ursprünglich der Japaner und später der Amerikaner. Zugleich wurde das Gewässer zum Training für amphibische Landungen genutzt. Eine immer wieder gern erzählte Legende besagt, dass General MacArthur vom Berg Ifar auf den See und seine 22 Inseln schaute und ihm hier die Idee zu seiner letztendlich gegenüber den Japanern siegreichen Insel-Hopping-Strategie kam.
Anschließend ging es in Sentani auf einen Markt für Einheimische. Ich war weltweit schon auf vielen Märkten, der gehörte jedoch sicherlich nicht zu denen, wo ich einkaufen würde. Abfall, Schmutz und Unrat wo man ging und stand. Fische und Fleisch lagen offen auf einer Folie am Boden oder einfachen Holzpritschen herum. Der Geruch ließ einen an alles denken, nur nicht an Essen. Mit Wedeln verscheuchte man Ungeziefer und Fliegen, Wasser aus Spritzflaschen hielten den Fisch „frisch“. Doch der Verderb war manches Mal schon von weitem zu sehen und zu riechen. Zahlreich auch Gemüse und Kräuter, etwas besser, aber für unsere Mägen vermutlich ebenfalls nicht geeignet. Übrigens, auch gegrillte Ratten fanden sich.
Ich trat irgendwann in eine kleine Rinne mit Fischabfällen, der Geruch kostete mich meine Socken. Auch mehrmaliges Waschen half nicht. Gott sei Dank waren die Sandalen nicht so empfindlich, aber intensives Reinigen und mehrtägiges Lüften war ebenfalls angesagt. Restaurants kaufen – so wurde mir glaubhaft versichert – nicht auf diesen Märkten ein, sondern auf anderen, in Gebäude liegenden und hygienisch sauberen. Doch sind die Waren auf diesen Märkten teurer, und das können sich viele Einheimische nicht leisten.
Heute Morgen ging es nach einem langen Schlaf und ausgiebigem Frühstück erst noch einmal zum Sentani-Fest. Es wurde getanzt, Kriegstänze waren angesagt. Gut für Fotos und Film, oder einfach zum Anschauen und genießen. Schon nach einer Stunde gab es eine Pause, weiter sollte es erst am Nachmittag gehen. Also fuhren wir Richtung Jayapura, allein der Verkehr auf der einzigen Straße zwischen Sentani und der Provinzhauptstadt ist ein Erlebnis. Am flottesten überholen die zahlreichen Roller, die der Zahl nach eindeutig dominieren und sich an keine Regeln oder Spuren halten, Dem stehen die Autofahrer nur wenig nach. Gegenverkehr, durchgezogene Linien, spielte alles keine Rolle. Eigentlich zog sich auf der Straße ein einziger Lindwurm von Sentani bis nach Jayapura.
Unser erster Halt fand in einem Vorort der Provinzhauptstadt statt. In Jayapura selbst leben ungefähr 100.000 Menschen, in der Region fast eine halbe Million. Besucht haben wir einen weiteren Fischmarkt, direkt am Hafen gelegen. Der Geruch war gleich wieder unverkennbar, unüberhörbar auch die Hinweise der Mitreisenden aufzupassen, wo ich hintrete. Frisch gefangene Fische, vor allem große Thunfische, einzelne Haie und vieles mehr wurden fachmännisch in Windeseile zerlegt. In einer Minute war ein mittelgroßer Thunfisch filetiert. Die Menschen verstehen ihr Handwerk. Wenn nur der Müll nicht wäre. Eine Müllentsorgung scheint es nicht zu geben. Der Boden ist voll davon und entsprechend ist der Geruch. Dazwischen tummelten sich Katzen und fraßen die Fischreste in aller Ruhe. Es war halt kein touristischer Markt, den es hier sowieso nicht gibt, sondern unverfälscht das Leben der hier Lebenden.
Weiter ging es zu einem Aussichtspunkt, ein guter Standort, um ganz Jayapura zu überblicken. Vorher stand jedoch noch der Besuch eines kleinen, schönen Museums der Jentrawasi-Universität an und ein Halt bei Läden, die Holzschnitzarbeiten anbieten. Manche wirklich sehr gute, alles noch originale Arbeiten nichts extra für Touristen angefertigtes. Mannshohe Schilde, Pfeile und Bogen, Speere, Holzfiguren aus ganz Neuguinea, Penisköcher und vieles mehr. Richtig alt ist hier nichts, 50 Jahre im Freien entsprechen wegen des Klimas hier etwa 500 Jahre bei uns. Das heißt, viele Schnitzereien verrotten in wenigen Jahren oder werden speziell für Feste erstellt, dann weggeworfen oder verbrannt und zu gegebener Zeit aus dem Kopf aufwändig neu erstellt. Die Insekten und das Klima leisten im Regenwald halt ganze Arbeit.
Zeit für Schnitzarbeiten haben die Tieflandbewohner ausreichend. Die Nahrungsbeschaffung lastet die Ureinwohner nur bedingt aus. Eine einzige gefällte Sagopalme ergibt für ein bis zwei Wochen Sago für die ganze Familie. Als Snacks (Proteine, Sago ist Stärke pur) gibt es Sagolarven, Spinnen, Käfer und sonstiges was so krabbelt, läuft oder fliegt. Dazu später mehr. Auch deswegen sind der Kauf und das Ausführen der Schnitzereien kein Problem (vom Gewicht und der Größe her mal abgesehen), richtig alt und schützenswert ist wie gesagt nichts. Holz ist ja ein nachwachsender Rohstoff, die Schnitzerei schafft Arbeit und etwas Einkommen. Nur wird es künftig immer weniger Originale geben. Die Clans verlieren ihre Identität, junge Leute gehen vermehrt in die paar Städte.
Vom Preis her, echtes Handwerk ist natürlich kein Schnäppchen. Für uns und im Vergleich was derartiges Kunsthandwerk bei uns in Europa kostet, dennoch sehr günstig. Noch besser ist es, Artefakte nicht in Jayapura zu erwerben sondern direkt bei den Stämmen vor Ort. Aber dazu muss man erst zu ihnen hin kommen.
Von dem dann folgenden Aussichtspunkt mit einem guten Blick auf die ganze Stadt ging es zu guter Letzt an einen schönen Palmenstrand, etwas Erfrischung war angesichts der schwülen Luft und den hohen Temperaturen angesagt. Aber das Wasser ist auch nicht viel kühler. Vorher klebte man vom Schweiß, jetzt vom Salzwasser. Auch war es schon bald dunkel, also Rückfahrt nach Sentani. Zwischendurch gab es ein Abendessen im gleichen Restaurant wie gestern (Reis, Huhn, Salat) und dann ging es zurück ins Hotel. Um sechs Uhr ist es in diesen Breiten schon dunkel. Am kommenden Tag hieß es früh aufzustehen (um 4.30 Uhr), für den kurzen Flug nach Wamena, unserem zweiten Ziel und dem ersten echten was Papua heißt. Denn rund um Jayapura findet überwiegend Indonesien statt, Papua sehr viel weniger, das alte so gut wie gar nicht mehr.
Das Wort Papua stammt übrigens von einem malaiischen Wort für kraushaarig ab. Typisch für die melanesische Bevölkerung. Gerade mal 40 bis 45 Jahre alt werden die Papuas im Durchschnitt (die in den Wäldern noch weniger), die Kindersterblichkeit ist hoch.
Eine Mehrheit der melanesischen Einwohner sind Christen (rund 78 Prozent). Dennoch hängen viele noch ihrem Ahnenglauben an. In den Weiten des Dschungels ist das Christentum abseits von einzelnen Missionen mit ihren Flugpisten wenig vorgedrungen. Generell sind animistische Praktiken* und Traditionen unter den Papuas weit verbreitet.
* Animismus bedeutet schriftlose, in Reinform ausschließlich bei Jäger-Sammler-Kulturen verbreitete Religionen indigener Völker. Der Animismus beschreibt also nicht eine einzelne Religion, ist in jeder Kultur anders.
Gut, früh aufgestanden. Etwas länger auf unseren Transfer gewartet, nach Zeitplan hätte die Maschine schon um 6.00 Uhr starten sollen. Abgeholt am Hotel wurden wir um 6.35 Uhr. Es hatte geregnet und Nebel hing in der Luft. Entsprechend war offen, wann der Flug startet. Also Zeit am Flughafen genutzt und erste Bilder gesichtet. Gestartet sind wir dann um 8.30 Uhr, ein kurzer ruhiger Flug von 45 Minuten in einer alten Turboprop-Maschine.