Meinen beiden Töchtern

Ich danke meiner Nachbarin Gisela, die mir viel Mut gemacht hat, ebenso wie meiner anderen Freundin Claudia, die sehr einfühlsam mit mir über die Tiefen dieses Buches sprach. Außerdem danke ich meinem Neffen Hans-Peter für seine wirklich guten Tipps und allen denen, die mir schon vor der Fertigstellung des Buches ein überaus positives und ermutigendes Echo bei meinen Lesungen gaben.

Das Bild auf dem Cover zeigt die Berge bei Kaziba.
Von dort her kamen am frühen Morgen die Soldaten.

Sie riefen die Bewohner auf den Dorfplatz.

Alle, die kamen, mussten sich im Halbkreis aufstellen.

Die Soldaten nahmen ihre Gewehre und erschossen sie.

Hundertunddreißig Dorfbewohner starben im Kugelhagel.

Es war am 28. Oktober 1996.

Anie und Jolie verloren dadurch ihre Eltern.

Inhalt

Der Schock

Abgeblockt

Am Boden zerstört

Das kann doch nicht wahr sein!

Makeba

Ein Kuli rettet uns

Virunga

Zwei Mädchen

Warten und Hoffen

Zurück in Kigali

Louise

Der Weg ebnet sich

Eine abenteuerliche Fahrt

Ankunft in Bukavu

Träume ich?

Ein Tag voller Überraschungen

Das Massaker von Kaziba

Wo sind nur die Kinder?

Kitutu

Ich habe Angst

Endlich

Fuliro und das Schulprojekt

Die Beerdigung

Wachsendes Vertrauen

Der letzte Tag im Kongo

Geschafft!

Heute soll das Flugzeug starten

Noch ein Tag des Wartens

Neu eingekleidet

Sonntag

Nur noch bis Donnerstag?

Armes Ruanda

Zuspruch

Heute noch!

Glück durchströmt mich. Rushemeza schmiegt sich
weich an mich. Seine Nähe tut gut. All mein Angst,
meine Trauer um ihn scheint verflogen. Ich nehme ihn
sanft in die Arme und genieße seine Wärme, seine
Fröhlichkeit. Er lächelt mich an, strömt Freude aus. Der
Frankfurter Flughafen als Ort der Begegnung. Warum
nicht? Jede Sekunde unseres Zusammenseins koste ich
aus. Seine Arme umschlingen mich. Sein Kopf drückt
sich an mich. Rushemeza, du bist da!

Dunkle Nacht umgibt mich. Ich liege zuhause im Bett
- und doch: Er war da! Wir haben uns getroffen.

Seit diesem Wiedersehen komme ich langsam wieder
zu mir. Es war zu schlimm.

Der Schock

Ein kleiner einmotoriger Flieger, der schon einige Gebrauchsspuren zeigt, nimmt mich von Bujumbura in Burundi mit nach Bukavu im Ostkongo. Wir fliegen über mehrere riesige Zeltstädte. 100.000 Flüchtlinge pro Lager: das ist hier normal.

Ich passiere den Zoll. Wie immer an diesem Kontrollpunkt fertigen mich unfreundliche, geldgierige Uniformierte ab. Ich bin froh, dass ich ungeschoren durchkomme. Der Weg vom Flughafen bis Bukavu ist gefüllt mit Zehntausenden von Flüchtlingen aus Ruanda. Der Autoscheinwerfer lässt sie wie eine riesige Welle auf uns zukommen. Ein nicht enden wollender Strom trauriger Menschen auf dem Weg zur einzigen Wasserstelle in der Umgebung. Diese Menschen haben keine Chance auf Rückkehr, keine Chance, woanders ein neues Leben zu beginnen. Gehen sie eines Tages wieder in ihre Heimat, werden sie als mögliche Täter Probleme haben. Bleiben sie in den Zeltstädten, hört eines Tages die Hilfe auf. Doch als ich meinen Fahrer frage, warum die sich nicht alle umbringen, sieht er mich verständnislos an. „Die wollen alle leben, nicht sterben!“

Nach mehreren Stunden Fahrt kommen wir endlich in Muku auf der Hochebene an. Nahe am Äquator, aber 1.900 Meter über dem Meeresspiegel ist die Luft gut. Nur ganz selten wird es wirklich heiß, meistens freue ich mich über meine warmen mitgebrachten Pullover. Die Begrüßung ist außerordentlich herzlich und ich bin schnell wieder zuhause in meiner zweiten Heimat.

Im Gästehaus Djangala bekomme ich ein kleines Zimmer und meinen privaten Nachtwächter. Doch manches erlebe ich dieses Mal anders. Es scheint den krisengeschüttelten Zeiten zu entsprechen. Mein Bett macht mir Schwierigkeiten. Jede Nacht stürzt die Matratze mit mir ab. Schon wenn ich mich ganz vorsichtig auf die Kante setze, gibt es einen Schlag und ich hänge rückwärts im Bettrahmen. Glücklicherweise kommt mir jemand nach ein paar unruhigen Nächten zu Hilfe und repariert es - etwas anders als ich das dachte -aber nun hält es mich aus. Aber was sind das doch für Miniaturprobleme gegenüber dem, was sich rundherum abspielt!

Da ich als europäischer Gast meinen Aufenthalt bezahle, bekomme ich sogar meinen eigenen Koch. Für unsere Gesundheit ist das einheimische Essen nicht zuträglich. Darum wird der Koch angewiesen, europäisches Essen zu servieren. Auch müssen wir bei allen Früchten vorsichtig sein, die vor dem Verzehr gewaschen werden müssen, da das Wasser uns krank machen kann. Während bei meinem ersten Besuch im Kongo ein nahezu perfekter Koch die leckersten Speisen für uns zubereitete, habe ich dieses Mal einen Neuling. Er ist sehr nett und macht mir zuliebe jeden Tag ein komplettes Festessen. Nur leider jeden Tag das Gleiche: Salzkartoffeln, braune Bohnen und irgendetwas aus Fleisch dazu. Nach vierzehn Tagen streikt mein Magen. Bauchkrämpfe legen mich ziemlich lahm. Doch meine deutsch-afrikanischen Freunde in Bukavu kurieren mich wieder aus.

Dank der Partnerschaftshilfe unseres Kirchenkreises hat Muku seit einigen Monaten gesundes Wasser und Strom. Das ist mir bekannt. Meinen Tee kann ich trotzdem kaum schlucken. Er schmeckt nach Kloake. Soll ich es aushalten, soll ich etwas sagen? Schließlich bitte ich um ein Gespräch mit Mushalagusa, der recht gut Englisch spricht. Ich flehe ihn an, herauszufinden, was mit dem Wasser passiert, bevor ich es als Tee serviert bekomme. Mushalagusa forscht und findet das Übel. Mein lieber Koch meint es zu gut mit mir: Er holt das Wasser bei der neuen Quelle, und um allem Übel zu entgehen, lässt er es noch durch die Filteranlage laufen, die allerdings schon vor Jahren aus hygienischen Gründen nicht mehr genutzt wurde. Auch diese Klippe überstehe ich gut, dieses Mal gesund und ohne Nachwirkungen.

Noch heute schaudert es mich, wenn ich an unser erstes gemeinsames Essen mit der Gemeinde in Muku denke, als wir unseren Partnerschaftsbesuch dort machten. Es gab den für uns Europäer so fremden Fufu, natürlich mit Fleisch und Sauce, wie es früher bei den Jägern dieses Volkes üblich war. Für die Bevölkerung auf dem Land ist Fleisch nicht mehr zu bezahlen. Da gibt es nur noch eine Mahlzeit am Tag mit Fufu. Fufu ist Brei aus Maniok. Da die Armen im Land auch kein Geld haben, Salz zu kaufen, bleibt eben nur der Brei übrig, der etwas wie Mehlbrei ohne jegliche Zutaten schmeckt.

Bei unserem Begrüßungsessen waren wir gespannt auf den Fufu und nahmen uns eine große Portion. Bis heute kann ich den Geschmack nicht vergessen. Auch hier weiß ich nicht, wo das Wasser herkam, mit dem der Fufu gekocht wurde. Oder lag er am Ende, bevor er zum Trocknen auf ein Gestell gelegt wurde, in irgendeiner Jauchegrube? Na, prost Mahlzeit! Wir haben uns angesehen und ihn aufgegessen.

Auch in Muku ist alles voll mit Flüchtlingen. Rund 1.500 Bewohner hat das Dorf und 2.500 Flüchtlinge leben nun hier in zwei Zeltstädten.

In dem Zeltlager nahe dem Dorf haust ein großer Teil der presbyterianischen Gemeinde aus der Hauptstadt Ruandas, Kigali, mit hochgestellten Persönlichkeiten, wie ich bald erfahren soll. Schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft entstehen die ersten äußerst interessanten und freundschaftlichen Kontakte.

Das andere Zeltlager wurde an einen schwer zugänglichen Hang gebaut. Erst später fällt mir auf, dass niemand von diesen Flüchtlingen spricht. Ich aber werde aufgefordert, während meines Aufenthaltes in Muku keinen Schritt mehr ohne Begleitung nach draußen zu gehen. Das ist merkwürdig, hat es mir doch bei meinen anderen Besuchen viel Freude bereitet, mich auf Entdeckungsreise zu begeben. Doch selbst mir ziemlich ahnungsloser Europäerin fällt auf, dass in Muku viele junge Männer herumgehen, die eine äußerst verschlossene, wenn nicht sogar böse Atmosphäre um sich verbreiten.

An einem der nächsten Tage nimmt mich der Pfarrer der baptistischen Kirche mit in eine extra für die Waisenkinder gebaute Bretterhütte. Ich spüre seinen Stolz darüber, dass er dieses Werk ohne die internationale Flüchtlingsorganisation UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) fertiggebracht hat. Seine Initiative ist wirklich stark.

Doch wie er die Türe öffnet, ist es, als schlüge mir jemand ins Gesicht. Fassungslos sehe ich mir den Innen räum an: Erdhügel mit Brettern darüber sind die Betten für die Kinder. Manche haben auch eine Decke. Mitten am Tag liegen die kleinen Körper auf diesen Erdhaufen, die aussehen wie Grabhügel! Und kaum ein Kopf erhebt sich, um die Weiße anzustarren. Der Raum wirkt wie eine Totengrube, doch die Kinder bewegen sich noch. Ich bin entsetzt.

Wieder zurück im Gästehaus rasen die Gedanken. Ich bekomme keine Ruhe, bin ständig am Rotieren. Was geschieht mit den Kindern? Was geschieht mit mir, wenn ich zurück bin in Deutschland? Die Erlebnisse hier werden mich dort Tag und Nacht verfolgen. Verzweifelt wälze ich mich hin und her.

Völlig außer mir überstehe ich kaum den anderen Tag. Da kommt der nächste Schock. Der Pastor nimmt mich mit auf den Kirchenplatz. Dort muss er die von der Flüchtlingsorganisation zurückgebrachten jugendlichen Flüchtlinge begrüßen. Sie sind nach Bukavu gelaufen, um dort zu betteln. Da die UNHCR sie aber versorgt, ist Betteln nicht erlaubt. So werden sie mit Lastwagen eingesammelt und wieder in ihre Zeltstädte gebracht. Da steht der Pastor und ich daneben. In einer Reihe die Flüchtlinge vor ihm. Sie müssen sich bei dem Pastor zurückmelden. Jedem reicht er freundlich die Hand. Doch was ich sehe, ist nicht zu fassen. Wo ist das Leben geblieben? Hier wie im Waisenhaus sehe ich nur einen Körper, der sich bewegt, aber Leben ist das nicht. Ein ausdrucksloses Gesicht, das die Katastrophen Ruandas in sich verbirgt.

Ich denke an meinen Besuch im Slum von Bukavu. Zu Fuß liefen wir die zwölf Kilometer bergab. Ausgetretene Pfade, auf denen Europäer manches Mal Stützen suchen, um nicht zu stolpern. Wie das auf die Kniee geht! Und da kamen uns Frauen entgegen mit schweren Lasten, die sie auf dem Kopf trugen oder mit einem Band über dem Kopf auf dem Rücken transportierten, zwölf Kilometer bergauf. Viele gingen an Muku vorbei in andere weiter entfernte Dörfer.

Als wir im Armenviertel ankamen, entdeckten uns die Kinder. Nahezu alle in zerfetzten Kleidern. Einige hatten sich einfach einen Sack übergezogen. Ausgehungert. Armut in bitterster Form. Aber der ganze Slum pulsierte: Fröhliche Stimmen kleiner Menschen, die mich mit ihren vom Hunger vergrößerten Augen anstrahlten oder ein bisschen frech hinüberlächelten. Als sie unsere Kameras entdeckten, stellten sie sich grinsend zum Fototermin auf. Nur die Erwachsenen wollten in ihrer Armut nicht abgelichtet werden. Neben den lebhaften Kindern und ihren Gesprächen hörten wir die Geräusche des Hüttenbaus: Blechfässer wurden zu Hüttenwänden oder Dächern gehämmert, begleitet vom rhythmischen Klopfen der getrockneten Maniokrübe für die Abendmahlzeit. Wo meine Augen hinsahen, wo meine Ohren hinhörten, war Leben.

Hier in Muku sehe ich es nicht. Ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ist unbegreifbar schrecklich.

Und wieder beginnen meine Gedanken zu kreisen. Es hört und hört nicht auf. Ich stehe hier als Weiße, als Europäerin. Ich kann mir das wie in einem Film ansehen. Wenn es mir reicht, nehme ich das nächste Flugzeug und reise nach Hause. Und was dann? Ich nehme meine Eindrücke, alle Bilder, alle Gefühle mit. Die kann ich nicht hier lassen. Ich stehe in meinem Haus, kraule die Hunde, gehe in meine Klasse, unterrichte die Kinder, komme nach Hause, esse, mache meine Arbeit, und auf Schritt und Tritt nehme ich das Elend mit, ohne auch nur zu ahnen, was ich tun könnte. Eigentlich sollte ich darauf warten, dass diese Bilder verblassen, doch der Eindruck wird zu stark sein. Wenn ich nichts tue, wird mir alles, was mir zuhause Freude macht, zum Leid: Die Schule, die Tiere, das Haus, der Garten, meine Freundschaften. Das kann ich nicht aushalten. Muss das sein?

Langsam ringe ich mich durch das Gewühl meiner Verzweiflung. Ich sage mir: Doch, Ilme, du kannst etwas machen. Du versuchst, zweien dieser ruandischen Waisenkinder eine Heimat zu geben. Nach einer weiteren schlaflosen Nacht folgt ein Gespräch mit dem Pastor.

Abgeblockt

Pastor Milenge hat Geduld mit mir. Wir sind beide nicht sehr fit in Englisch. Ich versuche ihm zu erklären, dass mein Vorhaben, zwei ruandischen Waisenkindern ein Leben bei mir zu Hause zu ermöglichen, davon abhängt, ob hier im Waisenhaus noch kleinere Kinder unter sechs Jahren sind. Meine Frage, ob es eine Möglichkeit für Pässe und die anderen Papiere gibt, kann er mir natürlich nicht beantworten, verspricht mir aber, bis morgen die nötigen Antworten zu liefern.

Wieder liege ich wach. Ilme, du bist in einer Zwickmühle. Du hast längst aufgehört von Kindern zu träumen. Du bist zu alt für Kinder, nicht verheiratet, berufstätig. Was machst du da? Aber dann steht wieder das Elend hier vor meinen Augen, die schreckliche Not, die erloschene Freude, die totale Aussichtslosigkeit. Beinahe bereue ich, überhaupt hierher geflogen zu sein. Wäre ich doch in Deutschland geblieben! Doch mein Gewissen treibt mich weiter.

Am nächsten Tag holt mich Milenge im Gästehaus ab. Wir gehen zum Waisenhaus. Ich bin entschlossen. Und wirklich: zwei Kinder, ein größeres Mädchen und ein kleiner Junge stehen da und schauen mich an. Doch auch ihre Augen sind tot. Nicht einmal Neugier drücken sie aus. Der Pastor erzählt von dem Jungen, dass er in Bukavu in einem der Abflussgräben gefunden wurde, schon mit gelben Haaren, einem Zeichen restloser Mangelernährung. Seine Eltern sind auf der Flucht gestorben. Auch das Mädchen ist elternlos. Ich halte mich zurück. Am liebsten würde ich die beiden in die Arme nehmen, aber solange nichts geklärt ist, zeige ich meine Gefühle nicht. Doch aus der Ferne knipse ich ein Foto.

Nach kurzer Zeit gehen wir nach Djangala zurück. Der Pastor erklärt mir, dass es im Flüchtlingslager einen Mann gäbe, der mir die Pässe und alle nötigen Unterlagen besorgen kann. Ich müsste aber persönlich mit ihm sprechen. Wegen der Visa soll ich selbst nach Bukavu und dort soll ich auch um die Ausreisegenehmigung bei der UNHCR bitten.

Ein Auto bringt mich nach Bukavu und ich gehe zum Hauptgebäude der UNHCR. Das Haus, das die internationale Flüchtlingsbehörde in Bukavu für sage und schreibe viertausend Dollar pro Monat vom Gouverneur gemietet hat, ist nicht mehr das neueste, geräumig, aber ungepflegt. Dringend bräuchte es Farbe. Okay. Denke nicht deutsch, du bist in Afrika. Von den Mieteinnahmen der Flüchtlingsorganisationen hat sich der Gouverneur unter anderem einen in Zentralafrika wohl einzigartigen Fuhrpark mit den teuersten und modernsten Geländewagen hingestellt.

Ich warte vor dem Büro des obersten Chefs der UNHCR für den Südkivu. Nach einer Weile werde ich tatsächlich vorgelassen. Wir unterhalten uns über die Situation in den Lagern, über die nicht vorhandenen Aussichten der Flüchtlinge, zurück nach Ruanda zu gehen. Wir sind beide der Meinung, dass das noch sehr lange nicht möglich sein wird. Ich frage nach den Überlebensmöglichkeiten, zum Beispiel die Flüchtlinge im Inneren des Kongo anzusiedeln, verstreut und dadurch auch für die Kongolesen nicht als Belastung. Der Chef winkt ab. Ich bin entsetzt. So wie die Lage aussieht, haben die Flüchtlinge ohne die Hilfe der internationalen Organisationen keine Möglichkeit, aus den Lagern heraus im Inneren des riesigen Landes neu zu beginnen. Für die Kongolesen könnte es im äußersten Fall sogar bedeuten, dass sie diese „Einwanderung“ als einen Affront ansehen, gegen den sie sich wehren müssen.

Wir wechseln das Thema. Als ich ihm die Lage der beiden kleinen Kinder schildere und ihn bitte, mir bei der Ausreise zu helfen, schickt er mich weiter. Kommentarlos, abweisend, beinahe feindlich.

Vom Fenster aus beobachte ich, wie ein Afrikaner sich rückwärts gehend verbeugt und dabei die Autotür für den Chef der UNHCR öffnet. Ich bin verwirrt. Wo bin ich? Sind diese Leute nun die neuen Kolonialisten?

Fragen habe ich viele. Antworten bekomme ich keine. Doch aufgeben will ich auf keinen Fall. Dieses Mal habe ich nichts erreicht, aber der nächste Versuch wird kommen.

Am Abend besucht mich der Ruander Emanuelle. Er fragt, was für Papiere es genau sein sollen und ich versuche, ihm das zu verdeutlichen. Natürlich wird er seine Zeit brauchen, aber er bemüht sich, alles herbeizuschaffen. Emanuelle redet selbstbewusst. Ich habe den Eindruck, mich auf ihn verlassen zu können. So ist Warten angesagt. Bis dahin werde ich weiter versuchen, die Ausreisegenehmigung durch die UNHCR zu bekommen.

In dieser Zeit habe ich meine ersten Kontakte zu den Kindern, die mir ins Gästehaus gebracht werden, damit wir uns kennenlernen. Nach anfänglicher Scheu genieße ich die Neugier und das vorsichtige Näherkommen der beiden. Ich zeichne ihnen auf einem Zettel Sachen aus Deutschland auf und versuche, ihnen mit Bildern manches zu erzählen. Unsere Sprachen bringen uns nicht zusammen, aber die zwei werden immer zutraulicher und mein Herz öffnet sich ihnen. Eine Flüchtlingsfrau holt den Jungen und das Mädchen aus dem Waisenhaus heraus und bringt sie in ihrer Hütte unter, damit sie doch wenigsten ein bisschen Familie erleben, bevor sie mit mir nach Deutschland dürfen.

Wieder einmal sitze ich vor dem Chefbüro. Das dritte oder schon das vierte Mal? Langsam wird das kleine Stühlchen hart und ich rutsche etwas unlustig hin und her. Wie kann ich es machen, dass ich endlich die Ausreiseerlaubnis erhalte? Nach einer schier endlosen Zeit erscheint ein Mitarbeiter und erklärt mir, dass der Chef mich nicht mehr sehen möchte. Punkt.

Ein weiterer Versuch bei einer sehr feinen Dame aus Togo in einem besonders gut ausgestatteten Büro endet in einem Fiasko. Diese Frau ist richtig aggressiv. Mit blitzenden Augen erklärt sie mir: „Die Kinder bleiben hier. Wenn sie es versuchen, diese Kinder doch herauszuholen, egal wohin, wir finden sie auf der ganzen Erde und bringen sie hierher zurück!“

Ich stehe auf dem dunklen Gang und kapiere nichts mehr. Was hat das Flüchtlingskomitee dagegen, wenn ich zwei kleinen Kindern ein Leben ermöglichen möchte, dass sie hier nicht haben werden? Warum diese emotionalen Angriffe? Ich kann es nicht fassen.

Noch weiß ich nicht, dass die Lager ausschließlich von Soldaten der Interahamwe beaufsichtigt und geführt werden. Die Interahamwe waren maßgeblich daran beteiligt, als 1994 mehr als 800.000 Tutsis und ihre Helfer ermordet wurden. Die Killersoldaten rekrutieren sie in erster Linie aus Waisenkindern, die in Lagern gesammelt und zu mordenden Soldaten ausgebildet werden. Sie haben sich das alleinige Sagen gesichert, die UNHCR ist nur ihr Zubringer. Irgendwie hat wohl einer erfahren, was ich vor habe und sein Veto eingelegt und der Chef der UNHCR hat gehorsam getan, was die Mörder fordern. Erst Jahre später sind diese Informationen zu mir gedrungen.

Die Pässe sind da. Auch Impfpässe liegen vor mir. Emanuelle hat gute Arbeit geleistet. Was nützt uns das? Ich halte die Situation nicht aus. Ich muss zurück nach Deutschland. Ich bin ausgepowert und weiß nicht mehr weiter.

Was wird aus den Kindern? Meine Freunde in Muku trauern und leiden mit mir. Es ist eine Gemeinschaft, um die ich mich selbst beneide. Immer ist am Tag jemand bei mir, sie bedrängen mich nicht, reden mir nicht zu, sind einfach da. Ich bin nie alleingelassen. Manchmal sitzen wir auch zusammen und überlegen alle Möglichkeiten, doch das Veto der UNHCR bremst alle unsere Gedanken und Entschlüsse.

Am Boden zerstört

In Bujumbura, der Hauptstadt von Burundi, erklärt mir am Flughafen der Mann im französischen Büro der Fluggesellschaft, dass ich nicht mit der Maschine heute zurückfliegen könne, da schon zu viele Entwicklungshelfer umgebucht hätten und somit keine Kapazitäten mehr da seien. Er wirkt genervt und möchte nicht weiter diskutieren. Es reicht. Meine Nerven liegen blank. Ich wanke zurück in den Aufenthaltsraum.

Vierzig Grad Hitze: das lähmt mich zusätzlich. Ein freundlich aussehender Mann eines Entwicklungsdienstes hört sich mein Dilemma mit dem Rückflug an. Aber machen kann er auch nichts. Ich sitze und lasse den Kopf hängen. Die Zeit vergeht.

Nach drei bis vier Stunden kommen zwei burundische Angestellte, die dort Getränke verkaufen, auf mich zu. „Brauchen Sie etwas?“ Es klingt teilnahmsvoll. Ich erkläre kurz meine Situation. Sie laden mich ein, bei ihnen zu Hause zu übernachten, wenn ich nicht mitfliegen kann. Lieb von ihnen. Aber mein Kopf signalisiert: „Ilme, sag nicht einfach ja. Du kennst diese Frauen ja gar nicht. Sei vorsichtig!“ So antworte ich etwas abwehrend, freue mich aber trotzdem.

Nach drei weiteren Stunden – oder sind es schon vier? – kommt eine burundische Polizistin zu mir. „Sie wollen heute mit dem Flugzeug zurück nach Deutschland?“ „Ja, aber der Mann im Büro schreibt mein Ticket nicht um.“ „Das kriege ich hin. Geben Sie mir ihren Pass und das Ticket.“ Ich händige ihr die Papiere aus und weiß im selben Augenblick, dass ich damit entweder den größten Fehler meines Lebens mache oder dass tatsächlich ein Wunder geschieht.

Ich wechsle meinen Platz. Weitere Stunden vergehen. Irgend jemand bringt mir etwas zu trinken. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich seit dem Morgen nichts mehr zu mir genommen habe. Meine Kehle fühlt sich verkrustet an. Ich sitze unter dem Fenster des französischen Büros, aber hinaufschauen und mir Hoffnung machen kann ich nicht mehr. Ich starre weiter nach unten und beobachte die Schuhe der Menschen, die an mir vorbei gehen. Mein Lebensraum hat sich auf den Fleck Wartehallenboden vor meinen Füßen reduziert. Meine Trauer über den fehlgeschlagenen Versuch, die zwei Kinder heraus zu holen, ist zu groß und die Aussicht, ohne Pass in Burundi bleiben zu müssen, lässt mich auch nicht gerade fröhlich sein.

Als es dunkel wird, bleiben zwei Füße vor mir stehen. Ich blicke auf. Die Polizistin! Sie reicht mir meinen Pass und schickt mich ins französische Büro. Der Herr hinter seinem Schreibtisch ist diesmal zwar auch nicht sehr gesprächsbereit, doch ausgesprochen freundlich reicht er mir das neue Ticket und erklärt mir, wann das Flugzeug Burundi verlassen soll. Dass wir dann noch einmal vier Stunden Verspätung haben und erst kurz vor Mitternacht losfliegen, ist nebensächlich.

Das kann doch nicht wahr sein!

Der Alltag will nicht kommen. Immer wieder holen mich die Erlebnisse ein. Afrikanische Freunde in Deutschland machen mir einen Vorschlag: Es gibt ja die Möglichkeit, Menschen aus einem Staat ausweisen zu lassen. Und da die Bestechlichkeit der Personen in den Ämtern Kongos bekannt ist, sollte mit einem entsprechenden Geldbetrag diese Ausweisung möglich gemacht werden. Und schon werden sie konkret. Sie kennen einen kongolesischen Studenten in Brüssel, der das für mich in die Wege leiten würde. Natürlich muss ich seinen Flug und seinen Aufenthalt dort bezahlen.

Hoffnung kommt auf. Ob das der Weg ist? Ich frage per E-Mail meine Freunde in Bukavu, ob sie darin eine Chance sehen, dass die Kinder doch noch nach Deutschland kommen können. Alle machen mir Mut. Also plündere ich mein Sparbuch und erfahre, dass bald darauf der Student nach Kinshasa fliegt und von dort in den Ostkongo. Meine Träume, Mukarwego und Rushemeza als meine Kinder in die Arme schließen zu dürfen, begleiten ihn.

Inzwischen nutze ich die Zeit zu Vorbereitungen. Im Jugendamt treffe ich auf eine sehr verständnisvolle Dame, die mir nicht nur zuhört, sondern gemeinsam mit mir überlegt, was alles getan werden kann und muss, um den Kindern und mir den Weg zu ebnen. Mit ihrer Hilfe habe ich alles bei unseren Ämtern hier regeln können. Die sofortige Zustimmung vom Landesjugendamt in Mainz wundert sie fast mehr als mich. Ruanda ist Partnerland von Rheinland-Pfalz. Das wird die Entscheidung beeinflusst haben. Und da das Landesjugendamt das Ja für mich als zukünftige Mutter der zwei ruandischen Flüchtlingskinder gegeben hat, ist auch der Weg durch die weiteren Behörden vor Ort kein Problem. Ich bekomme alle Genehmigungen.

Meine Freunde in Muku und Bukavu halten mich auf dem Laufenden. Die Kinder seien inzwischen in Bukavu, hätten aber weiter Kontakt zu meinen Freunden. Ja, das Mädchen, Mukarwego, darf sogar bei meinen Freunden in Bukavu wohnen. Rushemeza, der Junge, ist auch dort, aber er wird in einem anderen Waisenhaus untergebracht.

Die Situation in den Gebieten um die Flüchtlingslager wird immer kritischer. Die Einheimischen erleben mit, wie die Flüchtlinge dreimal am Tag mit Essen versorgt werden, von dem sie selbst noch nicht einmal zu träumen wagen. „Wir sind in unserem eigenen Land die Flüchtlinge“, schreibt mir jemand. Auch haben inzwischen alle Flüchtlinge Decken für die Nacht, was die Einheimischen zu einem großen Teil sehr vermissen. Besonderes macht ihnen die extrem schnelle Fahrerei mit den Lastwagen und schweren Geländewagen zu schaffen, von denen man sagt, dass sie ein Jahr im Kongo nicht heil überstehen und dann ausgetauscht werden müssen. Die Fahrten auf den sowieso schlechten Landstraßen vergrößern die Probleme massiv. Badewannentiefe Schlaglöcher sind normal, mit den leichteren Fahrzeugen der Einheimischen praktisch aber nicht mehr passierbar. Aber auch die schweren Laster bekommen dabei Fahrprobleme. Um aber an ihr Ziel zu kommen, fahren sie einfach über die Felder der Einheimischen. Die sowieso äußerst geringe Ernte ist dadurch noch einmal stark reduziert.

Außerdem wird mir mitgeteilt, dass in Muku ein Toilettenhaus für die Zeltstadt gebaut werden musste. Dazu wurde eine der neu aufgezogenen Ziegelwände der Grundschule herausgebrochen, um die Steine zu nutzen. Und noch weitere Nachrichten meiner Freunde aus Bukavu und Muku treffen ein und erschüttern uns: Da die UNHCR nicht mehr so viel Geld hat, wird das Essen gekürzt und die Hilfe dezimiert. Seither befinden sich ständig „Erntehelfer“ auf den Feldern der Kongolesen, die aber ihre Ernte in die Flüchtlingslager bringen. Die Situation im Kongo spitzt sich immer mehr zu. Die Flüchtlinge werden weiterhin besser unterstützt als die kongolesische Bevölkerung und durch die „Erntehelfer“ nimmt der Hunger der Einheimischen erst recht zu. Das macht keinen Frieden.

Emanuelle wird ermordet neben der Straße von Bukavu hinauf in die Berge gefunden. Hat er zuviel gewusst? Man sagt mir, er habe zu viele Beziehungen gehabt. Kein Wunder, dass er an die Pässe und die anderen Papiere kam. Ich bin geschockt. Sind Beziehungen gefährlich, sind sie verboten? Was treibt diese Mörder? Emanuelles Tod bleibt ohne Strafe. Wer wird sich in die inneren Angelegenheiten eines Volkes mischen? Und offensichtlich waren es ruandische Mörder.

Die Vorbereitungen hier laufen weiter. Die Schule hat mir vorab die Genehmigung für einen Erziehungsurlaub erteilt. Kurz nach Weihnachten höre ich, dass in den nächsten Wochen das Ticket für beide Kinder besorgt werden kann, da nun auf den Ämtern die Ausweisung durch sei. Meine Vorfreude und meine Spannung wächst. Bald werde ich meine Kinder abholen können, in Kinshasa, in Kigali, ganz egal wo.

Rushemeza (links), Emanuelle und Mukarwego

Im Januar kommt das Ende. Für Mukarwego, das Mädchen, wurde durch Recherchen der UNHCR Verwandtschaft in Ruanda gefunden. Daraufhin wurde sie sofort dorthin geschickt. Damit kann ich leben. Sie bleibt in Ruanda, sie hat dort ihre Familie. Es ist üblich, die Waisenkinder in die Familien zu integrieren. Auch ohne Schulbildung, auch in Armut, aber wenigstens mit Lebenshoffnung. Ich werde sie nicht belasten und den Kontakt abbrechen.

Und Rushemeza? Er war die letzten Monate in Bukavu in einem Waisenhaus. Dort wurde Anfang Januar von der Interahamwe „aufgeräumt und entsorgt“. Alle Waisenkinder mussten sich vor den ruandischen Soldaten aufstellen. Als die ahnungslosen Kinder den Befehl ausgeführt hatten, nahmen die Soldaten ihre Gewehre und erschossen sie. Rushemeza!

Monate vergehen, aber meine Albträume bleiben. Rushemeza! Tagsüber kommt er in meinen Gedanken nicht vor. Da verdränge ich das Trauma. Mein Alltag geht weiter, meine Schulkinder ahnen nichts, auch die Kollegen wissen nichts. Aber nachts im Traum packt und schüttelt es mich. Da kommen alle Gefühle, da stößt mich die Verzweiflung, da übermannt mich die Trauer, da frisst mich der Schmerz und die Wut.

Erst die am Anfang geschilderte Begegnung im Traum löst mich aus meiner Verzweiflung. Er lebt und er ist fröhlich bei Gott. So kann ich auch leben.

Langsam kehren auch die Erlebnisse meiner früheren Afrikareisen zurück. Wie das alles angefangen hat. Und wie ich Makeba kennenlernte und was ich dann mit ihm erlebte…

Makeba

Eines Tages fragte mich eine ältere Frau nach dem Gottesdienst in unserer Gemeinde, ob ich ein Auto habe. Als ich dies in aller Ahnungslosigkeit bejahte, sagte sie in einem kategorischen Ton: „Dann gehörst du ab heute zur Kreismission. Ich brauche nämlich einen Chauffeur.“ Und eben dieser Chauffeur wurde schon im kommenden Jahr 1991 zum Partnerkirchenkreis Muku geschickt. Alles, was wir vorher bei Diashows sahen und hörten, kam nicht annähernd an die Wirklichkeit dessen heran, was wir dort erlebten. Dieses wunderschöne Land, die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit, diese unbeschreibliche Freude - auch hier sind es nur Worte auf Papier. Aber in all diesem Staunen auch über die vielen Menschen, die den Kontakt zu uns suchten, gab es durchaus auch Kuriositäten. In den ersten Tagen besuchte Makeba die Delegation aus Deutschland. Oh ja, er kam zu uns. Makeba ist einer der wenigen Landwirte in Muku, vielleicht sogar der einzige, der sich etwas Wohlstand erwirtschaftet hat. Seine Felder liegen unten in einem Tal, getränkt von einem Bach und bei starken Regenfällen gedüngt von dem Humus, der von den Hängen abgewaschen wird. Makeba hat ein Steinhaus, einen wunderschönen großen Avokadobaum vor der Haustüre, Rinder und sogar einen eigenen kleinen Lastwagen, mit dem er seine Erträge nach Bukavu oder anderswo auf den Markt bringen kann. Makeba kommt also, uns zu begrüßen. Wir stehen zu fünft draußen vor dem Gästehaus in Djangala. Lachend schüttelt er den drei Männern die Hände, versucht einen französischen Smalltalk und zeigt seine Freude deutlich. Als ich ihm die Hand zum Gruß biete, schaut er nicht einmal hin. Was ist das denn! Meiner Mitfahrerin geht es genauso. Wir schauen uns mit vielen Fragezeichen an. Haben wir schmutzige Hände, haben wir ihn gekränkt? Nichts dergleichen liegt vor. Andere Länder - andere Sitten. Aber es ist schon komisch, dass alle anderen uns als ihre Gäste nicht nur wahrgenommen, sondern durchaus herzlich begrüßten. Wir werden abwarten.

Doch auch bei den nächsten zwei Zusammenkünften mit Makeba erleben wir das gleiche Spiel. Jetzt ärgere ich mich doch. Mein Verständnis von Gastfreundschaft ist eben ein anderes und ich bin entschlossen, das auch kundzutun. Als Makeba wieder in Richtung seines Hauses verschwunden ist, bitte ich den Pastor Milenge um ein wenig Zeit. Ich erzähle ihm, wie in Deutschland der Knigge den Damen den Vortritt lässt, dass es üblich ist, dass die Frauen zuerst begrüßt werden, dass ihnen der Mantel gehalten wird, dass sie beim Betreten eines Raumes als Erste hinein dürfen. Milenge schaut mich etwas zweifelnd an. Ob das alles stimmt, was ich ihm da erzähle. Das ist sehr fremd für ihn, aber er ist klug und hört sich meine „Belehrung“ weiter an. Auch meine Schlussbemerkung, dass Makebas Verhalten für uns nicht nur fremd, sondern ein Stück weit verletzend ist, nimmt er zur Kenntnis.

Schon am nächsten Tag taucht Makeba wieder im Djangala auf. Er begrüßt wie gewohnt die Männer und dann kommt der Fortschritt. Mit deutlich abgewandtem Kopf hält er uns Frauen die Hand zur Begrüßung hin, die wir dann lachend nehmen. Aber der Durchbruch war das noch nicht.

Zwei Jahre später darf Makeba mit der Mukudelegation nach Deutschland fliegen. Es ist wie bei den anderen auch ein Erstbesuch. Ich bitte darum, die Delegation ein paar Tage bei mir im Haus bewirten zu dürfen, was mir freundlicherweise genehmigt wird. Das wird ein Fest. Mit meinen Tieren hinter dem Haus erlebt Makeba ja fast eine Artverwandtschaft. Auch ich habe beinahe einen Bauernhof. Nach der ersten Eingewöhnung und Führung frage ich, ob jemand von ihnen auf einem Pferd reiten möchte. Etwas skeptisch meint Makeba, er könne es ja mal versuchen. Ich setze ihn auf meine sehr ruhige und therapeutisch ausgebildete Fjordstute, die ich an die Longe nehme. Makeba versucht seine Fassung zu behalten. Nach kurzer Zeit bricht ein lautes jubelndes Lachen aus ihm hervor. Die Begeisterung ist unvergesslich. In diesem Augenblick hat er hinter der Frau wohl einen Menschen entdeckt. Und gleich fragt er mich: „Wann wachsen diesem Tier denn die Hörner?“ Makeba, du kannst es nicht wissen. 1991 gab es noch ein einziges Pferd in einem Stall in Bukavu, das wohl aus der Kolonialzeit übriggeblieben war. Woher sollst er dann wissen, dass es hornlose Geschöpfe in dieser Größenordnung gibt? Ach Zebras sind im Kongo nicht bekannt, wie ich später herausfand.

Der Bann war gebrochen. Aber meine Geschichte mit Makeba geht noch weiter. Als ich wieder einmal alleine in den Kongo reiste, erhielt ich von Makeba eine Einladung zu einem Festessen. Der Pastor erklärte mir, dass ich das in jedem Falle annehmen müsse, sonst wäre das eine furchtbare Beleidigung. Zu meiner Unterstützung – und damit ich nicht zu viel falsch machte -bot er sich an, mich zu begleiten.

Während wir den kurzen Weg durch Muku gehen, höre ich aufmerksam den Erklärungen des Pastors zu: „Der Ehrengast erhält bei uns, wenn es Fleisch gibt, immer die Innereien.“ Ich erinnere mich. Bei unserem ersten Besuch gab es Brathähnchen. Unser Leiter durfte, musste die Herzen, Leber und den Magen essen. Makeba hat für mich eine Kuh geschlachtet. Was für eine Ehre! Bei den Innereien einer Kuh hoffe ich natürlich auf Leber und Herz. Wir sitzen zu elft am Tisch mit Tellern und Besteck. Ob Makeba das selbst hatte, oder hat er es sich im Gästehaus ausgeliehen? Egal. Es werden in einer großen Schüssel die Kartoffeln hereingetragen, dazu braune Bohnen, die anscheinend zu einem Festessen dazu gehören, und dann kommt eine Platte mit dem Fleisch. Mein Tischnachbar, der Pastor, warnt mich: „Du darfst nicht nein sagen, was dir angeboten wird, musst du essen.“ Und wirklich kommt die Frau des Hauses zuerst zu mir, dem Ehrengast. Feierlich reicht sie mir die Platte, damit ich mich bediene. Grüner Pansen! Ein Blick in unseres Pastors Gesicht überzeugt mich von der Ernsthaftigkeit meiner Lage. Wenn ich jetzt blockiere, dann habe ich endgültig bei Makeba und seiner Familie verloren. Das geht auf keinen Fall. Also, Ilme, stell dich nicht an. Womit andere überleben, damit stirbst du auch nicht so schnell. Ich nehme mir eine ordentliche Portion auf den Teller und danke lächelnd. Wenn die wüssten, wie mir zumute ist. Ich verstehe ja die Ehre, die ihr mir zuteil werden lassen wollt, aber grüner Pansen ist das Lieblingsfressen meiner Hunde! Und Hundefutter habe ich noch nie probiert. Die nächste Schüssel kommt. Mit Erleichterung sehe ich eine rote Soße, tippe auf Tomate und nehme mir den vermeintlichen Geschmacksverbesserer. Nach dem dritten Löffel bremst mich mein Nachbar leise aus. „Vorsichtig, vielleicht schmeckt es dir nicht!“ Nett von ihm, aber schon zu spät. Denn als ich vorsichtig zu essen beginne, schaudert es mich durch und durch. Die Sauce ist ganz klar Pansensaft, mit Chili gewürzt. Prost Mahlzeit. Gut, dass sich niemand während des Essens mit mir unterhält. Ich habe inzwischen gelernt, dass Sprechen beim Essen auch mit leerem Mund hier unhöflich ist. Sehr gut in meinem Fall. Denn um meinen Teller zu leeren, habe ich eine Taktik angewandt, die ich allen weiterempfehlen möchte, die in eine ähnliche Lage kommen: Nase zu, dann sind die Geschmacksnerven weniger aktiv. Ich habe es geschafft und klopfe mir in Gedanken auf die Schulter. Hoffentlich hat mein Gastgeber nicht meine leisen Qualen gemerkt. Doch, der Pastor, der mich nach dem Essen zurück begleitet, scheint zufrieden zu sein. Zumindest habe ich das reizende Bemühen verstanden, dass Makeba mich trotz meines Frauseins nun ganz und gar gesellschaftlich integriert hat.

Ein Kuli rettet uns

Was war das schön, als ich mit meinem Bruder Hans-Wolfram und einer kleinen Gruppe Bekannter durch den Ostkongo fuhr, um das Land noch besser kennenzulernen! Keine Fahrt ohne Panne, aber immer mit einer unglaublichen Geduld und Fröhlichkeit unserer kongolesischen Freunde.

Einmal fuhren wir mit einem total überfüllten, altertümlichen Schiff über den 150 Kilometer langen Kivusee nach Goma. Auf allen Decks drängten sich die Menschen zusammen. Da es keinen Sitzplatz gab, durften die sechs Weißen auf ein extra abgetrenntes Deck, wo die Handelsware lagerte. Da war ein wenig mehr Platz, aber sitzen konnten wir dort auch nicht. Wir standen also sechs Stunden. Es war erstaunlich. Es gab soviel zu bewundern, so herrliche Blicke zu den vielen Inseln im See. Manchmal wirkte es fast, als führen wir auf einem Fluss, weil eine kleine Insel sich an die andere schloss.

Als wir Goma erreichten, machten wir eine kurze Pause bei Freunden, um dann zum Virunga-Nationalpark am Rande des Ruwenzori-Gebirges aufzubrechen. Schon die unglaublich weiten Flächen der Lavaströme des Nyiragongo-Vulkans nahe der Kreisstadt Goma begeisterten uns. Wir stiegen aus, betrachteten und befühlten die Lava und freuten uns an der Vielfalt der Farben und Schattierungen. Und als wir am Nyiragongo vorbeifuhren, verschlug es uns fast die Sprache. Wir waren auf einer Höhe von circa 2.000 Metern und dieser Vulkan ragte noch einmal fast 1.500 Meter über unseren Köpfen steil in den Himmel hinein.

Nach einer langen Fahrt durch den Busch zum Abend hin mit vorbeiziehenden Pavianfamilien, die die Straße kreuzten, erreichten wir das Hotel, in dem wir übernachten sollten. Leider waren wir nicht angemeldet und somit gab es nicht für alle ein Bett. Hans-Wolfram und ich entschieden, in einem kleinen Zelt vor dem Hotel zu übernachten, das uns zusätzlich zu einigen Matratzen im Speisesaal angeboten wurde.