TAUCHEN im EISMEER
Erinnerungen an meine Überwinterungen
in einer russischen Antarktisstation
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King George Island, Fildeshalbinsel, Drakestraße oben: Flugplatz der chilenischen Station „Tte.Rudolpho Marsh/Frei“ (Luftwaffenbasis)
Tafel 1
King George Island, Fildeshalbinsel, Maxwell Bay oben: die russische Station „Bellingshausen“, darunter die chilenische Station „Tte. Rudolpho Marsh/Frei“ (Luftwaffenbasis)
„Nur der Farbe wegen…“
Als kleines Dankeschön für meine liebe Rita,
die lange Jahre zu Hause auf mich wartete,
während ich mich in der Kälte herumdrückte.
Der Polarfahrer muss raue See im Südmeer überstehen, um die Forschungsstation zu erreichen
Tafel 2
Viele Neulinge müssen mit der Seekrankheit kämpfen
Tafel 3
Häufig kann man erst zwischen den Eisschollen ruhiges Wasser finden
Tafel 4
Tafel 5: größere Eisblöcke kündigen den nahenden Winter an
In der ehemaligen DDR war es für den normalen Bürger recht schwierig, außerhalb des Ostblocks zu verreisen.
In Budapest fand ich Ende der sechziger Jahre in einer Buchhandlung einen Bildband über Tauchen in der Antarktis. Ein Russe hatte darin phantastische Unterwasserfotos von seiner Begegnung mit der antarktischen Unterwasserwelt publiziert.
Ich war von den Fotos fasziniert. Unbedingt wollte ich einmal in diesem Eismeer tauchen. Etwa 10 Jahre später fragte mich Rudolf Bannasch, ob ich nicht mit ihm in die Antarktis fahren wolle, um für ihn unter Wasser schwimmende Pinguine aufzunehmen. Ich war sofort Feuer und Flamme. Als Schlittenhund wäre ich mitgefahren. Und nun sollte ich sogar dort unter Wasser arbeiten!
1980 war es dann soweit. 4 Wochen dauerte es, bis wir mit einem russischen Schiff, die „Professor Zubov“die russische Polarstation „Bellingshausen“ erreichten.
Mit einfacher Maske und normalem Tauchanzug sprang ich dann im Dezember erstmals ins dort doch recht frische Wasser. Nie hatte ich damit gerechnet, dass Wasser noch kälter sein kann als im Winter unter Eis bei uns zu Hause. Bei einer Wassertemperatur von ca. minus 1,5 Grad Celsius hatte ich das Gefühl, mit einem Messer würde mir das Gesicht rund um die Maske aufgeschnitten. Doch die Unterwasserwelt nahm mich sofort gefangen. Besonders viele Amphipoden fielen mir auf. Bunte Seesterne, riesige Algen, Fische die ich mit der Hand aufsammeln konnte, ohne dass sie flüchteten entdeckte ich. Plötzlich war ich von Pinguinen umgeben, die durchs Wasser schossen und nach Amphipoden schnappten, die ich vom Boden aufgestört hatte.
Atemlos und völlig durchfroren tauchte ich am Schlauchboot auf. Das Tauchgerät war leergeatmet. Rudolf reichte mir seine Hand aus dem Boot und beglückwünschte mich zum „ersten Tauchgang eines Deutschen in der Antarktis“. Doch damit hatte er nicht recht. Schon lange vorher war der Schiffszimmermann der „Gauß“ während der Südpolarexpedition 1901 bis 1903 unter der Leitung von Drygalski mit einem Taucherhelm ins Wasser gestiegen, um das Unterwasserschiff zu inspizieren.
Bei den nächsten Tauchgängen zog ich mich wärmer an, tauchte in andere Tiefen und fand wieder wahnsinnig viele Amphiopden. Doch sie sahen anders aus. Die Vielfalt der Amphipoden überraschte mich. Eigentlich wollte ich ökologisch arbeiten. Doch dazu musste ich zunächst einmal wissen, was hier alles lebt. So begann ich die Amphipoden zu bestimmen. Und da ich immer neue fand – viele, die noch nie beschrieben wurden – blieb ich an dieser Tiergruppe hängen.
Zweimal überwinterte ich in der Antarktis und lebte dabei jeweils etwa eineinhalb Jahre auf der Station „Bellingshausen“. Nach der Wende arbeitete ich noch einmal ein halbes Jahr dort, lebte mehrere Monate im Zelt auf der Argentinischen Station „Jubany“ und fuhr mit verschiedenen Schiffen (spanische, argentinische, chilenische, russische, deutsche) meist ins Südpolargebiet, doch manchmal auch in den hohen Norden (Spitzbergen, Nowaja Semlja, Franz-Josephs-Land). Häufig reiste ich mit der „Polarstern“. Hier kann man hervorragend mit anderen Wissenschaftlern zusammenarbeiten und Erfahrungen austauschen. Allerdings sind auch heute noch Tiere auf mehr als Tausend meiner Fotos unbestimmt, für die mir auch die Kollegen an Bord keinen Namen nennen konnten. Auch unter den aufgesammelten Amphipoden befinden sich noch ca. 100 Arten, die auf eine Bestimmung warten. Es ist sehr zeitaufwendig so einen kleinen Krebs zu untersuchen und zu beschreiben. Die mehrere Zentimeter großen Arten sind oft leicht zu erkennen und meist auch schon bekannt. Kleine Arten (1 bis 3 mm) gingen häufig beim Fang durch die großen Netzmaschen oder wurden in der gewaltigen Menge des Hols der Schleppnetze oder Trawls übersehen.
Um Einzelheiten bei Ihnen zu erkennen, müssen die Tiere zergliedert werden. Das geht nur unter dem Präpariermikroskop. Man kann sich vorstellen, wie winzig z.B. die Mundwerkzeuge von einem 1mm großen Krebs sind! Insgesamt sind dann für eine Beschreibung rund 30 Einzelzeichnungen notwendig. Es dauert alles sehr lange. Sehr schnell muß man beim Fotografieren der Benthosorganismen sein. Kommen sie an Deck, sterben sie bald und verlieren ihre natürliche Farbe. Amphipoden werfen auch oft ihre Beine ab und krümmen sich in unnatürliche Körperhaltungen. Es gibt viele Schwierigkeiten beim Aufenthalt in der Antarktis. Doch die Arbeit fasziniert mich immer wieder aufs Neue.
Die Spanier hatten mich eingeladen, an ihrer Antarktisexpedition “Bentart 94“ teilzunehmen. Benthos wollten sie sammeln - Organismen, die den Boden der Meere bevölkern.
14 Jahre vorher beschäftigte ich mich erstmals mit dem antarktischen Benthos. Dazu bekam ich Gelegenheit, als ich zweimal auf der russischen (damals sowjetischen) Station „Bellingshausen“ überwinterte und auch mehrmals zu Saisonaufenthalten in die Antarktis fuhr. Lange dauerte damals die Reise aus unserm Teil Deutschlands in die Antarktis. Länger als 4 Wochen war man mit dem Schiff unterwegs. Der Rückweg nahm gar an die 9 Wochen in Anspruch, weil die anderen Stationen der Russen noch abgeklappert werden mußten. Einmal lagen wir mit einer kranken Stewardeß in Kapstadt am Pier und durften keinen Schritt an Land setzen. Die Rückreise verzögerte sich um eine weitere Woche.
Gleich nach der Wende war ich 1989 Teilnehmer der ersten gesamtdeutschen Biologengruppe in der Antarktis und zum letztenmal längere Zeit Gast auf einer sowjetischen Antarktisstation. Erstenmals arbeitete ich mit einem ähnlich ambitionierten Fachkollegen des Alfred Wegener Institutes (AWI) in Bremerhaven zusammen. Später wurde ich dann selbst Mitarbeiter des AWI.
Vorher durfte ich immer nur nebenher, meine kleinen Meerestiere beim Tauchen beobachten und aufsammeln oder vom Boot aus mit Netzen fangen. Die vom Institut sanktionierten Untersuchungen galten den Warmblütern: Robben und Vögeln, vornehmlich den Pinguinen. Später gab es dann in „Bellingshausen“ nur noch Stippvisiten während der Durchreise. 1990 hatte ich zu entsprechenden Arbeiten an der marinen Tierwelt auf der benachbarten argentinischen Station „Jubany“ für einige Monate im wahrsten Sinne des Wortes mein Zelt aufgeschlagen (es gab zu wenig Schlafmöglichkeiten in den festen Häusern der Station). Meinen alten Laborcontainer holten wir uns von den Russen mit dem Hubschrauber nach „Jubany“ herüber, um wenigstens nicht mit klammen Fingern die Proben unter freiem Himmel auszusortieren und allzusehr frierend am Mikroskop sitzen zu müssen. Inzwischen ist „Bellingshausen“ eine russische Station, die in Form von Schrottbergen fast nicht zu bewältigende Altlasten trägt und durch die ich einige spanische Wissenschaftler führe.
Mit der „Herkules“ sind wir diesmal auf dem der russischen Station nahe gelege
nen chilenischen Flugplatz gelandet. 3 Tage vorher hatte mich noch in Deutsch
land das Januar-Schmuddelwetter genervt. Heute nun will ich den neuen Freunden ein paar antarktische Tiere vorführen und ihnen „Bellingshausen“ zeigen. russischer Technik begegnen wir schon am Flugplatz: An die Chilenen verkaufte schwimmfähige Kettenfahrzeuge.
Zwar wurde in den letzten Jahren schon eine ganze Menge Schrott aus den Antarktisstationen abtransportiert, aber trotzdem gibt es noch genug davon. Mir ist ganz recht, dass einiges vom Schnee verhüllt bleibt. Zwischen den ersten Gebäuden stehen Pinguine. Über den Abfallkübeln hinter der Küche streitet sich eine Wolke von Dominikanermöwen und Skuas um die wohl soeben ausgeschütteten Essenreste. Querab von der alten Diesel-Elektro-Station robbt ein großer See-Elefant durchs Gelände.
Die Spanier sind nicht mehr zu halten. Alles wollen sie aus der Nähe sehen. Von Weitem erkenne ich den schon arg lädierten Zustand unseres ehemaligen Wohnhauses, der „Deutschen Hütte“. Der dicht daran vorbeifließende Bach hat sein Bett etwas verlagert und fließt schon fast unter der Hütte hindurch. Etwa 3m tief hat er sich in den Boden gefressen. Ich frage mich, wann das Häuschen wohl abstürzen wird. Doch wir werfen einen Blick in mein altes Zimmer. Anheimelnd und doch auch fremdartig wirkt es auf mich. Unbekannte wohnen nun darin. Anschließend besuchen wir auf einen Sprung den Stationschef. Bevor er uns obligatorisch mit Tee, Wodka und Keksen bewirtet, erkundigt er sich eingehend danach, wann ich denn in Bellingshausen überwintert hätte. Irgend etwas flüstert er einem hereinschauenden Funker zu. Als wir gemütlich zusammensitzen, stürmt plötzlich ein bärtiger Riese ins Zimmer. Mit „Martin“ stürzt er auf mich zu und erdrückt mich fast in seiner Umarmung. Zweimal hatte ich mit Stanislav, dem Ingenieur der Satelliten-Empfangsanlage, hier längere Zeit zusammen gelebt. Eine Zeitlang wohnte ich sogar in seinem „Sputnikhaus“, bis die Bauarbeiter für den Winter die Station verließen. Neben dem Koch war er für uns einer der wichtigsten Leute in der Station. Vor unseren langen Exkursionen zogen wir ihn und seine Satellitenfotos zu Rate. Er warnte uns vor der nächsten Zyklone (Tiefdruckwirbel) über unserem Gebiet und riet uns dann, unsere Feldarbeiten besser auszusetzen. Tagelang tobten manchmal wütende Schneestürme. Manchmal bereiteten sie kurze Schönwetterperioden vor, die allerdings kaum länger als 1 oder 2 Tage anhielten, bis die nächste Zyklone aufmarschierte.
Wie heute für unsere spanischen Neulinge in der Antarktis, waren auch für uns die ersten Erlebnisse wohl die unvergeßlichsten. Für mich steigen die Bilder von damals wieder auf …
Mit vereinter Kraft öffnen wir mühsam die schwere Tür unseres Wohnhauses. Gleißendes Licht blendet die Augen. Tagelang hatte der Schneesturm gewütet und den hier ohnehin raren Sonnenstrahlen kaum eine Chance gelassen, durch die Fenster zu dringen. Dann brach der Sturm so plötzlich ab, wie er gekommen war. Wir erkennen die gewohnte Umgebung nicht wieder. In märchenhafte Pracht haben sich Landschaft und Station verwandelt. Alle Metallteile der Häuser, die
Peileinrichtung der Satellitenempfangsanlage, die Geräte des Meteorologen, sind mit einem 3-4cm starken Reifteppich überzogen. Besonders zauberhaft wirken die Drähte der Funkantennen. Tausendfach reflektieren die Eiskristalle das Sonnenlicht. Die Luft ist klar und kalt. Kein Lufthauch weht. Die fast bedrückende Stille wird nur von den kurzen schrillen Schreien der Seeschwalben unterbrochen. Selbst das Anemometer im „Meteorologischen Garten“ steht still. Es scheint eine gefährliche Stille!
In der „Kajut Kompanija“, dem Mannschaftsraum, erklärt uns der Funker, dass mit den durch die Reifkristalle belasteten Antennen auch unsere Verbindung zur Außenwelt abzureißen droht.
Stunden später sind in gemeinsamer Arbeit die Antennendrähte befreit. Wir können endlich auf Exkursion gehen.
Vorher zeigt uns Stanislav im „Sputnik-Haus“ auf dem neuesten Satelliten-Wetterbild die Zyklone, die gerade unser Gebiet passiert hat und nun ostwärts über die Weddellsee abzieht. Doch über der Bellingshausensee braut sich westlich von uns schon wieder ein neues Unwetter zusammen. Für die Feldarbeiten bleiben nur wenige Stunden.
Wie gewohnt ziehen wir zu Dritt in Richtung Drake-Ufer. Voran ausnahmsweise der Parasitologe Klaus Feiler aus Rerik, dahinter die beiden Berliner, unser Wirbeltierforscher Rudolf, Chef der Truppe und ich, Martin, mariner Biologe und leidenschaftlicher Fotograf über und unter Wasser. Ständig keuche ich hinter den andern her, weil ich dauernd neue Fotomotive entdecke und immer wieder „Kunstfotos“ machen will, wie mir meine Kameraden bösartigerweise unterstellen. Sie lassen sich nicht erklären, dass der Unterschied zwischen „Fotos“ und „Kunstfotos“ etwa dem zwischen „Honig“ und „Kunsthonig“ entspricht.
Schwer lastet das Gewicht der in den Rucksäcken verstauten Ausrüstung auf den Schultern. Mehrere Fotoapparate und die Filmkamera werden „schußbereit“ vor dem Bauch getragen. Die Ski gleiten gut auf dem neuen Schnee.
Gleich hinter der Station stolpert der Erste über einen Schneehügel, in den plötzlich Bewegung kommt. Eine Robbe hat die Strapazen des Sturmes verschlafen -ein brummiger Seebär, der ebenso erschrocken wie wir, nun in seinem typischen Schaukelgang dem Meer zustrebt.
Schon von weitem verraten uns der Geruch und das dumpfe Gebrüll der Bullen den Liegeplatz der See-Elefanten. Am Ufer haben wir sie dann vor uns - die Kolosse unserer Antarktisinsel, die größten Robben unserer Erde. Das Fell hängt den dicht gedrängten Giganten in Fetzen von ihren mächtigen Leibern. Jetzt, zu Beginn des Winters, wechseln die bis zu 6m langen und 3 Tonnen schweren Bullen ihr Haarkleid und sind in dieser Zeit besonders reizbar. Die kleineren Weibchen haben das Gebiet bereits verlassen, um weiter nördlich zu überwintern. Wie viele andere Tiere sind die See-Elefanten vom offenen Meer abhängig, wo sie ihre Nahrung finden.
Zwei Scheidenschnäbel ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Die etwa taubengroßen Vögel suchen die schwankenden Eisschollen nach aufgespülten Planktontieren ab und vollführen dabei eigenartige Hüpfer. Sie sind die einzigen Vögel unseres Untersuchungsgebietes, die keine Schwimmhäute zwischen den Zehen besitzen. Springend überbrücken sie das Wasser zwischen den Eisschollen. Auf der Suche nach einem geeigneten Übergang nehmen sie lieber größere Laufstrecken in Kauf, als gelegentlich einmal die Flügel zu benutzen. Speziell im tiefen Winter hüten sie sich davor, kalte Luft unter die Flügel und an ihren kleinen, warmen Körper zu bekommen. Geradezu grotesk erscheint diese Flugfaulheit, wenn die Vögel dabei bis zum Bauch im weichen Schnee einsinken oder nur auf einem Bein umherhüpfen, weil sie einen ihrer großen Füße zwischen den Federn wärmen.
Sonst erscheint die Insel ziemlich verwaist.
Sowohl die nahe der Eiskante am offenen Meer kreisenden Schneesturmvögel - Wintergäste in dieser Region - als auch kleine Trupps Antipodenseeschwalben, die in nördlicher Richtung über uns hinwegfliegen, erinnern daran, dass der Winter nun unwiderruflich das Regime ergriffen hat.
Bei der meist schon ziemlich weit fortgeschrittenen Jahreszeit konnten wir damals mit unseren regelmäßigen Arbeiten häufig erst spät beginnen. Für uns Biologen bestand eine gewisse Problematik in den logistischen Möglichkeiten der Antarktisexpeditionen. Die Sowjetunion unterhielt keine Flugverbindung zu den Südshetland-Inseln. Die chilenische Nachbarstation samt Flugplatz existierte offiziell für die Sowjetunion nicht. Für die Mannschaften gab es, ein Besuchsverbot. Bei Nacht und Nebel schlich man sich deshalb zu seinen Freunden oder kam spät abends in die russische Sauna. Das hinderte die Stationschefs allerdings nicht daran, sich gegenseitig ständig Aufwartungen zu machen. In den Routineberichten wurde immer von den Nachbarn gesprochen, ohne ja die Chilenen zu nennen! Die Station „Bellingshausen“, mußte ausschließlich durch Schiffe versorgt werden. Die Eisverhältnisse lassen meist erst in der zweiten Sommerhälfte das Anlanden der Expeditionsausrüstung und den Austausch der Stationsbesatzung zu.
Erst dann, wenn die tagelangen Entladearbeiten abgeschlossen sind, das Gepäck und die Verpflegung für ein Jahr wohlgeordnet verstaut liegen und die häusliche Einrichtung weitgehend erfolgt ist, kann endlich mit den Außenarbeiten des wissenschaftlichen Programms begonnen werden. Dann ist aber der interessanteste Abschnitt im Leben der Warmblüter dieses Gebietes, die Fortpflanzungsphase, bei den meisten Arten längst beendet.
Die Biologen mußten überwintern, um im darauffolgenden Frühjahr die Neubesiedlung der Brutkolonien, die Paarbildung und die Jungenaufzucht erleben zu können. Davor lag eine lange Periode mit Routinekontrollen, Vorbereitung der Ausrüstung und einer kleinen Auswahl bestimmter Spezialuntersuchungen. Im Vordergrund stand neben der Erfassung der Wintergäste eine ausgiebige Geländeerkundung.
Inzwischen haben wir den schmalen Geröllstrand verlassen und einen 40m hohen Felsen des Steilufers erklommen. Unser Blick kann nun frei über die Insel schweifen.
King George ist mit einer Länge von etwa 80 km und einer Breite von 25 - 30 km die größte Insel der Südshetland-Gruppe.
Die Südshetlands gliedern sich mit einer Gesamtfläche von etwa 4700 Quadratkilometern in 11 Haupt- und zahlreiche Nebeninseln und Felsen, die eine 539 km lange Kette bilden und zwischen 61° und 63° 30 ‘ südlicher Breite und 53° 30’ und 62° 45’ westlicher Länge parallel der Antarktischen Halbinsel vorgelagert sind. Von dieser trennt sie die etwa 160 km breite Bransfield-Straße. Kap Horn ist über die Drake-Straße etwa 770 - 830 km entfernt. Die nächste größere Inselgruppe (Süd-Orkneyes) liegt etwa 480 km nordöstlich. Allgemein kann für die Südshetland-Inseln gelten, dass die nördlichen Zugänge sehr flach sind. Die 200-m-Tiefenkontur des Meeresbodens liegt über 35 km von der Küste entfernt. Die Nordwestküste an der Drake-Straße ist stark zerklüftet und in besonderem Maße von der Meereserosion geprägt. Die oftmals bizarre Gliederung dieser Inselteile und zahlreiche davor liegende Untiefen sowie Klippen und winzige Felsinseln bilden offenbar einen idealen Lebensraum für Robben und etliche Vogelarten.
Die Südküsten der Südshetlands fallen dagegen rasch zu den großen Tiefen der Bransfield-Straße ab. Fjordartige Buchten bieten den Schiffen geschützte Ankerplätze. Felsen und kleine Inseln sind hier seltener.
Der Inselkern wird vorwiegend von sedimentären Karbon- und Juraablagerungen gebildet, über denen Felsen vulkanischen Ursprungs als markante Orientierungspunkte hoch aufragen. Tertiäre und spätere Lava wurde während verschiedener Aktivitätsphasen ausgestoßen und floß entlang einer Faltungszone an den Flanken der sedimentären Felsen. Die größte Faltung liegt parallel zur Südwestgrenze der Inseln und stellt eine Erhebung von 2 km und eine seitliche Dislokation vom Boden der Bransfield-Straße vor und während des Tertiär dar. Örtliche parallele und Querfaltungen sind an verschiedenen Abschnitten der Inseln nachweisbar.
Vulkanische Aktivität war im Pliozän und im Pleistozän besonders intensiv und hält in drei Zentren bis heute an (Penguin Island bei King George, Bridgeman Island und Deception Island). 1969 wurde z.B. zum Entsetzen der dort arbeitenden argentischen, chilenischen und englischen Polarforscher der Vulkan von Deception, der südlichsten der Shetlandinseln, wieder aktiv. Die Aschefahne dieses Vulkanausbruchs reichte bis King George.
Ein Ergebnis der nachhaltig wirkender Erosionskräfte ist das heutige Inselrelief, wobei Vereisung und Gletschertätigkeit sowie damit verbundene Moränenbildungen die größte Rolle spielten. Die Vereisung war früher weiter ausgedehnt als heute. So bedeckte während des Pleistozäns eine zusammenhängende Eiskappe von 250 × 65 km alle Inseln der Südwestgruppe, die auf dem 200-m-Schelf liegen. Die Hauptachse der Eiskappe lag zu dieser Zeit auf dem submarinen Schelf nördlich der heutigen Inseln, das während eines niedrigen Standes des Meeresspiegels bloßgelegt wurde. Eisfluß trat hauptsächlich südöstlich durch und über die heutigen Inseln in die tiefe Bransfield-Straße auf. Die schmalen Straßen zwischen den heutigen Inseln und die tiefen Buchten der Südwestküste sind das Ergebnis des Eisdrucks gegen die Achse der Inseln während dieser Periode.
Heute überwölben mehrere Eiskuppeln King George, die an den Ufern in einer 30 – 60m hohen Kante jäh abbrechen. Als vereinzelte Nunatakker durchstoßen hier und da die Spitzen der höchsten Berge den frostigen Panzer. An wenigenStellen, wie z.B. zur südlichenHalbinsel Fildes , auf der auch Bellingshausen“ liegt, läuft der Gletscher sanft aus. Mit ca. 10 km Länge und 2,5 – 3 km Breite gehört Fildes zu den wenigen eisfreien Gebieten, die zusammen kapp 10% der Inselfläche ausmachen. Nur im Schutz schroffer Felsen halten sich hier an den Südhängen vereinzelte Dauereisbildungen.
Wenn im kurzen Polarsommer die Sonne genügend Kraft hat, den Schnee wegzutauen, versammeln sich in den eisfreien Gebieten Robben und Vögel zur Fortpflanzug. Wenige Arten sind so weit an das Leben in Eis und Schnee angepasst, als dass sie auf diesen festen Untergrund verzichten könnten.
Die meisten Tiere bevorzugen die Uferregion, von der aus sie einen schnellen und bequemen Zugang zum Meer haben. Terrassenförmige Geröllstrände, das Ergebnis vergangener Schwankungen des Meeresspiegels und etlicher Hebungsphasen, befriedigen die unterschiedlichsten Ansprüche der Bodenbrüter. Aber auch die zerklüfteten Felswände und tafelförmige, von Flechten und Moosen bewachsene Felsplateaus bleiben dann nicht leer.
Doch vorerst deckt der Schnee die Nistgründe zu.
Entlang der Drake-Sraße hat der Schneesturm seine Spuren hinterlassen. Während sich an kleinen Felserhebungen gewaltige Schneewehen auftürmen, sind die Ebenen weitgehend freigefegt. Vielfach durchbrechen spitze und kantige Felsbrocken die Schneedecke. Wir müssen die Ski abschnallen.
Ich nutze die Pause für eine Aufnahme mit meiner Plattenkamera, die ich in Form einer optischen Bank größtenteils selbst gebaut hatte. Amüsiert betrachten Klaus und Rudolf die aufwendigen Vorbereitungen. Beide glauben mir nicht, dass das Großformat diesen Aufwand rechtfertigen wird. Sie gehen voraus. Ich muß zu ihnen aufschließen. Vorher schiebe ich das sperrige Stativ zusammen und verstaue die ungefüge Kamera im Rucksack.
Mit den klobigen Skistiefeln stapfen wir mühselig weiter durch das Gelände. Harsch wechselt mit lockeren Schneefeldem oder hohen Verwehungen, die uns gleichermaßen ermüden. Der Unterschied besteht nur darin, dass der Schuh in den Pulverschnee sofort einsinkt, während er die Harschdecke erst durchbricht, wenn man schon festen Fuß zu fassen glaubte. Große Schneewehen müssen wir umgehen. Das schroffe, von Schluchten durchzogene und mit steilen Feisabbrüchen durchsetzte Gelände ist vom Schnee nivelliert. Trügerische Brücken überdecken tiefe Klüfte, sanft gerundete Schneewächten verhüllen schroffe Schründe.
Rudolf gibt nun das Tempo an und eilt voraus. Plötzlich ist er von der Bildfläche verschwunden. Seine Spur im Schnee endet an einem dunklen Loch, aus dem Geschimpfe dringt. Als ich in die Schneewächte hineinfrage, ob wir nachkommen sollen, wird er persönlich. Unter Gelächter ziehen wir den offensichtlich völlig unversehrten, schnee-überpuderten „Einbrecher“ aus der Grube heraus. Trotz seiner zunehmenden Vorsicht gelingt es ihm noch zweimal, in ähnliche Situationen zu geraten. Auf meine Bemerkung, sein erster Sturz wäre der gelungenste gewesen, schickt er mich an die Spitze der Gruppe. Glücklicherweise sind die verborgenen Grotten nicht tief und weich mit Schnee gepolstert.
Wir erkennen aber bald, dass es nicht lohnt, den Inlandkurs weiter fortzusetzen und wenden uns wieder der Küste zu. Dort erklimmen wir ein Felsplateau, das uns einen phantastischen Rundblick ermöglicht.
Von oben wird deutlich, dass der nördliche Inselteil von einem breiten Packeisgürtel umschlossen ist. Die Sturmflut hat tonnenschwere Eisbrocken ans Ufer geworfen. über weite Bereiche wird die bleiern daliegende See von jungem, schon wieder in kleine Schollen zerbrochenem Eis bedeckt. In der sanften Dünung scheuern sich die Schollen gegenseitig rund, ihre Ränder werden aufgebörtelt. „Pfannkucheneis“ sagen die Spezialisten wohl dazu.
Große, unregelmäßig gezackte, in der Sonne gleißende Eisberge mit tiefblau schimmernden Höhlungen liegen gestrandet zwischen ähnlich zerklüfteten, riesigen schwarzen Felsen im küstennahen Bereich.
Weit draußen driften mächtige Tafeleisberge. Auf den meisten könnte man bequem mehrere Sportstadien anlegen, so groß sind sie. Die tiefstehende Sonne taucht alles in goldenes Licht. Unsere Körperschatten strecken sich weit in die Landschaft. Einzelne kleine Gruppen Pinguine marschieren in Ufernähe auf dem Eis umher, um einen bequemen Zugang zum offenen Meer zu suchen.
An der Kante des Felsplateaus entlangziehend, entdecken wir weitere Robben im Uferbereich. Die steile, 40m hohe Felskante verwehrt uns hier den Abstieg, doch durch das Fernglas können wir sie als Weddellrobben identifizieren. Im Gegensatz zu den geselligen See-Elefanten halten sie sich einzeln. Dazwischen liegt ein helleres Tier. Es hat eine lange, tiefe Wunde an der einen Körperseite, die ihm offensichtlich einiges Unbehagen bereitet. Es ist eine Krabbenfresser- Robbe. Als typischen Packeisbewohner trifft man diese Robbenart im Sommer nur in der Nähe von Eisbergen häufiger an. Im Winter verändern sie ihren Aktionsradius und legen selbst größere Wanderungen über das schneebedeckte Land zurück.