Inhalt
Matthias Schwabe
expressiv & explOHRativ: Musikalische Improvisation an die Schulen!
Ariel Shibolet
wach – aktiv – interaktiv: Freie Improvisation in der Grundschule
Esther Anne Adrian, Matthias Schwabe
Klänge – Laute – Zeichen: Vom Klangexperiment zu Spracherwerb und Lesekultur
Claudia Hartmann, Ulrike Keefer, Angelika Schall
Lauschen – Experimentieren – Kommunizieren: Musikalisches und Soziales Lernen in einer JüL-Klasse
Karin Meesmann
Improvisierte Klangbilder: Ohr aufs Herz
Klaus Emrich
Slow Change Slow Development
Erfahrungen und Beobachtungen eines Lehrers in einer deutschen Grundschule, freie Improvisation betreffend
Über die Nachhaltigkeit von Improvisationsprojekten und über den Künstler im Lehrer
Symposion-Abschlussdiskussion
Reinhard Gagel
Gruppenkreativität, Klassenkreativität
Über die Autorinnen und Autoren, Workshopleiterinnen und Workshopleiter
„Musikalische Improvisation vereinbart in einzigartiger Weise persönlichkeitsbildende Aspekte mit musikalischem Lernen und der Befähigung zum praktischen Musizieren. Um das Spektrum dieser Arbeitsweise auszuloten, werden im Schuljahr 2011/12 WorkshopleiterInnen aus dem Umfeld des exploratorium berlin in Kooperation mit vier verschiedenen Berliner Schulen vier unterschiedlich konzipierte Teilprojekte realisieren, die auf die Besonderheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Klassen zugeschnitten sind. Prozessorientierte Arbeitsweise, kollegialer Austausch, gegenseitige Hospitationen sowie eine schriftliche Dokumentation und Auswertung sind zentrale Bestandteile des Konzepts. Den Abschluss bildet eine eintägige Veranstaltung, die einerseits die Dokumentation und Auswertung präsentiert, andererseits Perspektiven für nachhaltiges kreatives und künstlerisches Arbeiten an Schulen entwickelt.“
So lässt sich in komprimierter Fassung das Projekt expressiv & explOHRativ – Musikalische Improvisation in der Schule beschreiben, welches im vorliegenden Buch vorgestellt und ausgewertet werden soll. Mit dem zitierten Text bewarb sich die Lilli- Friedemann-Stiftung als Träger des Veranstaltungszentrums exploratorium berlin beim Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung, der dafür eine Projekt-Förderung gewährte.
Das 2004 gegründete exploratorium berlin versteht sich als Zentrum für improvisierte Musik und kreative Musikpädagogik. Es beschäftigt sich mit sogenannter „Freier Improvisation“ als besonderer Form künstlerischer Praxis ebenso wie musikalischen Lernens. Konzerte mit VertreterInnen der internationalen Improvisationsszene, Workshops mit erfahrenen KursleiterInnen und offene Treffpunkte für Menschen, denen das Improvisieren (nicht nur in der Musik) am Herzen liegt, bilden die drei sich ergänzenden programmatischen Schwerpunkte.
Die Bezeichnung „Freie Improvisation“ bedeutet dabei keineswegs, dass jede und jeder tun kann, was er oder sie will. Der Begriff „frei“ heißt lediglich: frei von verbindlichen stilistischen Vorgaben, wie sie bei einer Improvisation im Jazz, in indischer Musik, in Barockmusik u.ä. unabdingbar sind. Vielmehr liegt das musikalische Material frei verfügbar und allen Interessierten offen zugänglich vor: der Klang an sich, jeder Klang, jedes Geräusch, alles was klingt, sofern ich es als Spieler für „passend“ erachte. Das schließt natürlich auch das Gegenteil von Klang mit ein – die Stille. Der praktische Umgang mit diesem musikalischen „Urmaterial“ führt uns zu Erfahrungen musikalischer Gestaltung. Was klingt wie zusammen? Was folgt sinnvoller Weise aufeinander? Stimmiges und nicht Stimmiges lässt sich voneinander unterscheiden, durch praktisches Erproben entwickelt sich eine Art „musikalisches Sprachgefühl“ und ein Gespür für musikalische Dramaturgie. Improvisieren lernen heißt in der Freien Improvisation eben gerade nicht „Alles ist möglich!“, sondern vielmehr „Versuche wahrzunehmen, was jetzt sinnvoll wäre!“.
Insofern setzt Freie Improvisation unmittelbar bei musikalischer Gestaltung an und überspringt all das, was konventioneller Unterricht als Voraussetzungen des Musizierens für unabdingbar hält: Noten lesen, Instrumentaltechnik, Musiktheorie. Und auch: Intonation, metrische Stabilität, tonales Empfinden. In der Freien Improvisation können auch das Wischen an einer Wand, der Klang eines hüpfenden Tischtennisballes und das Rollen einer Murmel auf einem interessanten Untergrund musikalisch wertvoll sein. Notwendige zu erwerbende Eigenschaften und Fähigkeiten sind hierbei: Offenheit für Ungewöhnliches, Wachheit, die Bereitschaft zu lauschen, zu experimentieren, zu interagieren. Daraus entsteht die Fähigkeit musikalisch zu gestalten.
All dies verschafft der Freien Improvisation eine Sonderstellung in der musikpädagogischen Arbeit. Viele Menschen, die sich bisher für unmusikalisch hielten oder von technikbesessenen Musikpädagogen musikalisch traumatisiert wurden, entdecken hier ihre musikalischen Potentiale, finden eine Möglichkeit, sich musikalisch auszudrücken – frei von technischem Ballast. Und: Jedes Kind und jeder Erwachsene kann sofort mit dem Musizieren beginnen. Ohne jede Voraussetzung.
In letzter Zeit signalisierten immer mehr Lehrer Interesse an dieser Musizierweise. Bereits im März 2011 wurde ein Projekt mit einer 4. Klasse der Scharmützelsee-Grundschule realisiert, bei welchem der israelische Saxophonist und Improvisationsmusiker Ariel Shibolet eine Woche lang mit den Kindern improvisatorisch arbeitete. Dieses Projekt endete mit einem eindrucksvollen Abschlusskonzert der Kinder, das Hunger nach „mehr“ machte. So entstand die Idee, ein Jahr später mit derselben Klasse eine weitere Woche lang zu arbeiten und zu erkunden, wie weit die improvisatorischen Fähigkeiten der Kinder sich entwickeln ließen.
Bereits zuvor war im exploratorium eine Arbeitsgruppe KreSch – Kreative Schule entstanden, die darin mündete, ein konkretes Projekt für die benachbarte Adolf- Glaßbrenner-Grundschule zu konzipieren.
Desweiteren äußerten Lehrerinnen aus zwei anderen benachbarten Schulen, der Sekundarschule Bergmannstraße sowie der Lenau-Grundschule, Interesse an einer Kooperation.
So standen im Frühjahr 2011 vier Projektwünsche für das Schuljahr 2011/2012 an. Da sie aus konkreten Kontakten zu LehrerInnen der jeweiligen Schulen entstanden waren, repräsentierten sie allerdings nicht das gesamte Spektrum der Berliner Schullandschaft. Alle vier Projekte hatten ganz unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: Soziales Lernen, Sprachbildung, musikalische Basiserfahrungen, Fortführung bereits im Vorjahr begonnener künstlerischer Arbeit. Sie umfassten ganz unterschiedliche zeitliche Rahmen: Zwei Projekte waren einwöchig, eines zog sich über ein ganzes Schuljahr mit einmal wöchentlichem Unterricht hin und ein weiteres war in vier aufs Jahr verteilte dreitägige Phasen gegliedert. Einige Projekte fanden in der Schule statt, andere in den Räumen des exploratoriums. Außerdem waren die Projekte von ganz unterschiedlichen Leiter-Persönlichkeiten geprägt: zwei Musiktherapeutinnen, mehrere InstrumentalpädagogInnen mit Erfahrungen in improvisatorischer Gruppenarbeit, die meist aus der methodischen Richtung von Lilli Friedemann und Matthias Schwabe stammten, sowie ein international renommierter Improvisationsmusiker, der in seinem zweiten Beruf mit Kindern arbeitet und einen ganz eigenen Ansatz für die Vermittlung improvisierter Musik hat.
Diese Vielfalt verstanden und verstehen wir als Bereicherung. Wir wollten den Reichtum dessen zeigen, was Improvisation vermitteln kann. Wir wollten zeigen, wie unterschiedlich die methodischen Ausgangs- und Ansatzpunkte sein können, was die einen und was die anderen zu erreichen vermögen. Wir wollten voneinander lernen und unsere eigenen methodischen Herangehensweisen bereichern durch das, was wir als die Stärken unserer KollegInnen erleben.
In dem vorliegenden Buch werden die vier Projekte von den WorkshopleiterInnen beschrieben und ausgewertet. Auch hierbei ist die Vielfalt Prinzip: Die AutorInnen haben ganz unterschiedliche Herangehensweisen gewählt und verschiedenartige Gewichtungen dessen, was ihnen berichtenswert erscheint, vorgenommen.
„Live“ haben wir diese Auswertung bereits vorgenommen: in einem Symposion vom 24. – 25. August. Die Abschluss-Diskussion haben wir transkribiert und in dieses Buch mit aufgenommen, weil darin die vielen noch offenen Fragen zu unserer Thematik in sehr prägnanter Weise angesprochen wurden.
Ein Buch kann als Dokumentation praktischen Musizierens natürlich nur ein unvollständiges Hilfsmittel sein. Deshalb stellen wir auf unserer Internetseite http://exploratorium-berlin.de/schulprojekt-20122013/
Audio- und Video-Dateien zur Verfügung, welche die praktische Arbeit sichtbar und hörbar. Unser Autor Ariel Shibolet hat einige der Dateien aus seinem Projekt auch auf seine eigene Seite gestellt: www.arielshiboletmusic.com.
Wir erhoffen uns mit diesem Buch die Relevanz improvisatorischen Arbeitens in der Schule verdeutlichen zu können und unter denen, die bereits praktisch damit arbeiten, Denk- und Diskussionsanstöße über verschiedene Methoden, notwendige Rahmenbedingungen und sinnvolle Perspektiven zu bieten.
Kooperationspartner: Scharmützelsee-Grundschule mit Klassenlehrer Klaus Emrich
Kinder: Klasse 5a (22 Kinder)
Workshopleiter: Ariel Shibolet (Tel Aviv, Israel)
Dauer: 19. – 25. März 2012: Workshop Mo – Fr, je 4–6 Stunden
Fr abends Konzert, Samstag und Sonntag Tonaufnahmen
Gruppengröße: täglich je 2 Stunden mit halber Klasse
zusätzlich bis zu 2 Stunden mit ganzer Klasse
Unterrichtsort: Musikraum der Scharmützelsee-Grundschule
Präsentation: Abschlusskonzert im exploratorium berlin am 23. März
CD-Aufnahmen: 24. – 25. März 2012 im exploratorium berlin
Grundidee: Die Klasse hatte bereits im Frühjahr 2011 eine Woche lang mit Ariel Shibolet gearbeitet und ein fast einstündiges Konzert gestaltet, das sowohl musikalisch als auch hinsichtlich der Aufmerksamkeit der Kinder füreinander sehr eindrucksvoll war. Daraus entstand der Wunsch von Seiten des Workshopleiters, des Lehrers und der Kinder, mit der Klasse eine weitere Woche zu arbeiten und die angelegten musikalischen, sozialen und personalen Kompetenzen weiter zu entwickeln. Den Abschluss bildete diesmal neben einem Konzert im exploratorium die Produktion einer CD.
In den letzten Jahren war ich in einige Musikprojekte mit Kindern eingebunden, in denen es darum ging, Lernprozesse auf dem Gebiet der improvisierten Musik zu initiieren. Diese Projekte liefen sehr befriedigend ab, weil darin zwei meiner Interessengebiete zusammen kamen: Musizieren und die Arbeit mit Kindern. Seit über zwanzig Jahren tue ich beides. Ich improvisiere auf dem Saxophon und ich arbeite als Feldenkrais-Lehrer mit Kindern im Alter von 2 – 10 Jahren, wobei ich „Lernen durch Handeln“ entwickle, eine Methode, die dazu dient, Lernprozesse für und durch Bewegung, Körper und sensorische Arbeit anzuregen.
Die Projekte für improvisierte Musik mit Kindern vereinen diese beiden Welten und forderten mich heraus, das, was ich über Musik und spontanes Musikerfinden weiß, mit dem zu verknüpfen, was ich über Kinder gelernt habe, insbesondere über Lernen im Spiel.
Nach Berlin zu kommen und die Kinder der fünften Klasse zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren wieder zu treffen, war sehr aufregend. Ich kannte sie. Wir hatten im Jahr zuvor zusammen gespielt und gelernt und wir hatten großartig miteinander gearbeitet und musiziert.
Ich wusste, dass sie mich erwarteten und auch ich selbst war voller Erwartung. Ich hatte mir über mögliche Entwicklungen und Übungen Gedanken gemacht. Auch fragte ich mich, ob wir auf das, was wir im Jahr zuvor erarbeitet hatten, überhaupt noch zurückgreifen könnten. So war ich gespannt herauszufinden, was wir diesmal musikalisch noch alles erreichen könnten.
Die Antwort auf diese Frage war erstaunlich und ließ mich mit vielen Gedanken und Erkenntnissen zurück, die noch in mir arbeiten. Ich musste meine Sicht und Wahrnehmung im Bezug auf die musikalische und künstlerische Betätigung von Kindern zu einem beträchtlichen Teil ändern. In vielerlei Hinsicht kommt dieser Akt des Schreibens dem Versuch gleich, meine eigenen Fragen zu verstehen und ihnen nachzugehen. Wie konnte so etwas möglich sein? Wie kam es zustande? Was sagt es über die Kinder aus? Über den Schaffensprozess und die Kunst? Über Musik? Und was lässt sich daraus folgern?
Um die Fragen und Themen, mit denen sich dieser Essay beschäftigt, wirklich zu verstehen, würde ich dringend empfehlen, sich zuerst die Musik anzuhören1.
Das erste, was mir auffiel, war, dass die Bedingungen, die zum Initiieren von Lernprozessen bei Kindern erforderlich sind, in beiden Medien – Musik und Bewegung – im Großen und Ganzen dieselben sind. Ich konnte also mein Wissen aus dem Bereich Bewegung-Handlung-Verhalten anwenden und auf den Lernprozess im Bereich Musik-Erschaffen-in-Echtzeit übertragen.
Es ist nicht möglich sich auf dieses Projekt zu beziehen, ohne Klaus Emrich zu erwähnen, den Klassen- und Musiklehrer, ein großartiger Freund und Pädagoge und mein Partner in diesem Projekt, der auch mein Dolmetscher war. Die Gespräche mit ihm, sein Musikverständnis und sein Verständnis für die Kinder und darüber hinaus seine Arbeit mit den Kindern im Verlauf des ganzen Jahres fanden deutlichen Widerhall im Verlauf dieses Projekts. Die positive Einstellung, mit der die Kinder diesem Projekt begegneten, ebenso wie ihr Engagement waren gewissermaßen ein Spiegel für seine Musikbegeisterung und seine Menschlichkeit.
Die nachfolgend beschriebenen Grundbedingungen können in unterschiedlichem Maße vorhanden sein und dabei helfen, qualitativ hochwertige Lernprozesse in der Improvisation zu erreichen. Sie zu verstehen und hervorzuheben ist wesentlich, um autonome Lernprozesse zu fördern. Sie verstärken sich gegenseitig und stehen in vielfältiger Weise miteinander in Verbindung. Einige erscheinen elementar und offensichtlich, aber sie lassen sich in unterschiedlichen Abstufungen anwenden und sind von entscheidender Bedeutung. Je nach Einschätzung des Lehrers können sie intensiviert werden und entsprechend die Qualität des Lernprozesses beeinflussen.
Autonomes Erfahrungslernen erfordert einen längeren Prozess von Wiederholungen, im Laufe dessen man seine eigenen Ideen umzusetzen versucht, sich durch Selbstbeobachtung verbessert, Schlussfolgerungen zieht und grundsätzliche Erkenntnisse sammelt. Wenn ein solcher Prozess für das Leben der Kinder von Relevanz ist, wecken wir damit ihre Neugierde und sie werden den starken Wunsch haben, an diesem Spiel „Musikerfinden“ teilzunehmen.
Es ist normal, dass Kinder sich für das Erzeugen von Klängen interessieren. Wenn man ihnen ein Instrument vorstellt, wollen sie es spielen und ausprobieren. Improvisiert man für sie in Echtzeit, sind sie normalerweise sehr interessiert daran, eigene improvisatorische Versuche zu unternehmen.
Ein großer Vorteil von improvisierter Musik ist, dass in kurzer Zeit ein hohes künstlerisches Niveau erreicht werden kann, weil einige der technischen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, die zu erlernen eine lange Zeitspanne erfordern würden. Das erlaubt einen Schwierigkeitsgrad, der auch von Kindern ohne musikalische Vorbildung gemeistert werden kann.
Verzichtet wird auf folgende technische Hindernisse:
Richtet man beim Musizieren seine Wahrnehmung auf das eigene Tun und das klingende Resultat, entsteht ein Zustand von Aufmerksamkeit. Dieser Zustand wirkt sich in vieler Hinsicht positiv auf das Improvisieren aus. Er hilft dem Spielenden seinen eigenen Handlungen und Klangresultaten zu lauschen. Er hilft dem Spielenden, den Klängen und der Musik der anderen im Raum zu lauschen. Er führt den Spielenden in die volle Präsenz.
Aufmerksamkeit ist das, was dem Spielenden hilft, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen im Bezug auf sein Spiel, auf dessen verschiedene Qualitäten und auf die Gestaltung der Zeit in Beziehung zum gesamten Geschehen im Raum. Aus diesem Grund ist Aufmerksamkeit unverzichtbar für den Lernprozess. Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit kann zu einem erstaunlichen Niveau führen.
Dieser Aspekt ist beim Erschaffen von Musik normalerweise vorhanden. Er muss jedoch hervorgehoben und ins Bewusstsein gebracht werden: Der Zusammenhang zwischen dem Moment der physischen Manipulation auf dem Musikinstrument und dem Auftreten von Klang. Der Zusammenhang zwischen dem, worin die Aktion besteht, und dem, was klanglich daraus resultiert. Der Zusammenhang zwischen den Qualitäten der Aktion und den Qualitäten des Klangs: Geschwindigkeit, Lautstärke, Dauer von Aktion und Klang (lang, kurz) sowie den ästhetischen Qualitäten.
Bei entsprechender Aufmerksamkeit für Spielbewegung und Klang ist dieser Zusammenhang in unterschiedlichem Maße wahrnehmbar. Auch der Zusammenhang zwischen dem Grad an Aufmerksamkeit und der Qualität des Klangs kann deutlich gemacht werden.
Langeweile und das Gefühl von Unsicherheit während des kreativen Prozesses gilt es zu akzeptieren. Das betrifft die Kinder ebenso wie die Gruppe und den Lehrer.
Lernen, Erfahrung und Spiellust haben Vorrang. Es gilt, eine Situation genau anzuschauen, bevor man ein Urteil fällt und in eine Skala zwischen Erfolg und Misserfolg einordnet. Dies ist ein entscheidender Aspekt, der Experimente und Untersuchungen erlaubt, und Frustrationen überwinden hilft.
Das Aussuchen von geeigneten Musikinstrumenten für die Kinder ist ein weiterer entscheidender Aspekt der Arbeit. Dies muss mit Bedacht geschehen. Es zeigt, von welchen Präferenzen und Wahrnehmungen sich der Lehrer leiten lässt. Es beeinflusst das Klangresultat und den Lernprozess und bestimmt, was darin zum Tragen kommt bzw. welche verschiedenen Aspekte begünstigt werden. Eine falsche Instrumentenwahl kann den Prozess und das Erlernen einiger der genannten Fähigkeiten vereiteln.
Kriterien für die Wahl von Instrumenten:
Das erste Kriterium bezieht sich auf die Klangqualität, die einem Geschmacksurteil unterliegt, wie etwa: schön oder nicht, interessant oder nicht…, aber auch auf objektivere Aspekte wie die Dauer der Resonanz, dynamische Möglichkeiten und mehr.
Das zweite Kriterium betrifft die Möglichkeiten, dass ein Kind ohne musikalische Vorkenntnisse sowohl die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten nutzen als auch das dem Instrument innewohnende Potential ausschöpfen kann.
Das dritte Kriterium bezieht sich auf unterschiedliche Möglichkeiten der Handhabung und Techniken, die bei einem Instrument eingesetzt werden können, um einen großen Reichtum an Klang, Farben, Frequenzen und Tönen zu ermöglichen. Beispielsweise erlaubt uns der konventionelle Einsatz eines Klaviers die traditionellen Parameter:
Das Problem, das sich aus dem Einsatz solcher Parameter ergibt, ist, dass die ersten beiden Punkte lange Lernprozesse voraussetzen, wenn man ein hohes Niveau erreichen will. Anfänglich werden die Lernprozesse mit diesen Parametern weitaus mehr technisches Geschick erfordern als Kreativität und sich somit für das Erschaffen von Klangstrukturen und musikalischen Fluss als Hindernis erweisen.
Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung von kleinen Perkussions-Instrumenten, die meist nur eine Farbe erzeugen können wie die Caxixi2. Zu Beginn des Projekts wählten manche Kinder ein solches Instrument aus, um darauf während eines ganzen Stückes zu spielen. Das Ergebnis war oftmals, dass, wenn sich der Gesamtklang veränderte, diese Kinder die Farbe ihres Spiels nicht entsprechend ändern konnten und deshalb nach einiger Zeit das Interesse daran verloren, präzise Entscheidungen zu treffen. Infolgedessen agierten sie dann häufig automatisch, unkreativ und unkommunikativ. Nachdem wir das beobachtet hatten, ermutigten wir die Kinder, die an kleinen Schlaginstrumenten interessiert waren, mehrere davon zu wählen. So konnten sie aus der Vielfalt des Instrumentenangebots präzisere Entscheidungen für ihren klanglichen Beitrag treffen.
Wenn man dagegen ein Saiteninstrument verwendet – beispielsweise eine Zither, bei der das Gefühl entsteht, dass der Klang im wahrsten Sinn des Wortes berührt werden kann –, ermöglicht das dem Spieler, verschiedene Techniken einzusetzen: mit den Fingern, mit dem Bogen oder mit unzähligen Objekten zur Klangmanipulation.
Dies, zusammen mit dem richtigen Maß an Anweisung und Freiraum, wird dazu führen, dass die Spieler einen hohen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf das Klangverhalten als Folge ihrer Körperbewegung richten. Damit öffnet sich ihnen ein weites Feld für das Erforschen von und Experimentieren mit Klangerzeugung und Kreativität. Dies wiederum erlaubt einen flexiblen Einsatz der Mittel während einer Improvisation und hilft dabei, Kommunikation, Präzision und Qualität zu erreichen.
Ein grundlegender Ausgangspunkt für dieses Projekt war das Modell der „Klangstruktur“. Um den materiellen Aspekt von Klang zu hervorzuheben, realisierte ich das Modell zunächst durch Objekte und eine visuelle Übung, indem ich die Kinder aufforderte, eine „echte“ Struktur bzw. Skulptur zu bauen. Jeweils fünf Kinder nahmen sich nach Belieben irgendetwas aus dem Raum und bauten daraus eine Plastik. Jedes beteiligte Kind trug, wenn es an der Reihe war, ein Element zu dieser Struktur bei, beispielsweise einen Stuhl, einen Tisch, ein Musikinstrument etc.
Analog zu der Tätigkeit des Herstellens einer Struktur aus Objekten betrachteten wir unsere Tätigkeit des Musizierens als gemeinsames Erschaffen einer „Klangstruktur“. Jedes Kind brachte seine Ideen und Klänge ein, während es gleichzeitig aufmerksam horchte und wahrnehmen konnte, was sich sonst alles im Raum abspielt.
Dieses gemeinsame Erschaffen einer Klang-Struktur hat uns als Bild für unser Tun das ganze Projekt über begleitet. Unsere Arbeit bestand darin, in diesem „Spiel“ immer besser zu werden: mit verschiedenen Klängen in unterschiedlicher Tonhöhe, Lautstärke, Textur und Dauer in Raum und Zeit. Dies galt es über einen längeren Zeitraum in hoher Qualität aufrecht zu erhalten.
Diese Vorgehensweise, über Objekte eine Analogie zum Klang herzustellen, hat viele Vorteile. Das ist vor allem auf die unterschiedliche Natur der beiden Phänomene Objekt und Klang zurückzuführen und auf die Unterschiedlichkeit in der Verarbeitung dieser verschiedenartigen Sinnesreize. Stellt man einen Stuhl in den Raum, ist er da, bewegt sich nicht und wir können darüber sprechen, während wir ihn anschauen. Gleichzeitig können wir uns selbst und unser Verhalten beobachten, während wir diese Erfahrung des Betrachtens machen. Wenn eine Struktur aus Objekten aufgebaut wird, können wir die verschiedenen Beziehungen dieser Objekte zueinander in Echtzeit in Augenschein nehmen, während sie sich dort befinden.
Mit dem Klang verhält es sich nicht so, da die Klangwelle sich im Raum ausbreitet und dabei wieder zurückgeht, bis sie ganz verschwindet und vom Gehör nicht mehr wahrgenommen werden kann – wobei all dies natürlich in Bruchteilen von Sekunden bis zu mehreren Sekunden geschieht. Das bedeutet, dass alle Beobachtungen aus der Erinnerung geschehen und nicht in Echtzeit. Dieses Problem, das es mit Objekten nicht gibt, erschwert den Lernprozess durch Beobachtung, zumindest am Anfang.
Das wirft auch Überlegungen über die Unterschiede beim Beobachten unserer Handlungen und Entscheidungen auf. Ein Objekt zu positionieren oder seinen Platz zu verändern, setzt gewöhnlich eine bewusste Entscheidung voraus. Dagegen ist das Beitragen von Klängen etwas, was wir nicht häufig tun. Im Verlauf eines Workshops geht dem in der Regel keine bewusste Entscheidung voraus: „Jetzt trage ich das Folgende bei“, sondern entspringt vielmehr einer Art Automatismus. Wenn wir aber mit der genannten Analogie arbeiten und die beiden Arten des Handelns miteinander vergleichen, kann das Einsetzen von Klängen bewusster werden.
Wenn ein Objekt in der Struktur positioniert wurde, kann man das Resultat dieser Handlung für längere Zeit betrachten und dabei verschiedene Parameter der Intention verstehen, ohne dass das Resultat sich verändert. Wir könnten dies auch in der Gruppe tun, die Struktur in Echtzeit betrachten und dabei über die verschiedenen Aspekte und Parameter diskutieren. Und später könnten wir dieselben Diskussionen über die Klangstruktur führen.
Der einzige Anhaltspunkt, den ich den Kindern gab, war das Modell, wie Klangstrukturen gemeinsam gebaut werden. Der Rest der Arbeit begann mit Leere bzw. mit der Abwesenheit von Begründungen. Ich vertraute darauf, dass, wenn keine Begründungen sich störend auf den Prozess auswirken und zugleich die grundlegenden Bedingungen gegeben sind, die Musik allmählich die Kinder dazu veranlasst, Entscheidungen von zunehmend höherer Qualität zu treffen.
Dem lag die Annahme zugrunde, dass, wenn es keine von außen kommenden Ideen oder Anweisungen zum Improvisieren gibt, die Kinder diese Abwesenheit von Anhaltspunkten für ihr Handeln selbst füllen. Denn es kann keine Handlungen geben, die völlig grundlos sind. So werden Entscheidungen auf Basis der klanglichen Informationen und der auditiven Wahrnehmung getroffen und beeinflusst. Dieser sensible Prozess findet mithilfe aufmerksamer und lebendiger Präsenz statt.
In vielerlei Hinsicht ist das eine reduktionistische Art des Lehrens und Lernens. Dies zeigt sich in der Art, wie auf technische Hindernisse verzichtet wurde, aber auch darin, dass das Klangresultat das einzige Kriterium für Entscheidungen ist. Reduktionistisch ist auch das Vorgehen, wenn wir an einen schwierigen Punkt gelangen und der Prozess ins Stocken gerät. Das nächstliegende, was wir tun können ist: warten – bis eine Änderung sich einstellt. Wenn das nicht hilft, weil die Situation zu komplex ist, können wir versuchen diese Komplexität zu reduzieren. Wir können beispielsweise die Anzahl der Spieler verringern oder die Möglichkeiten einschränken, was zwar zu einem Verlust an Freiheit führt, aber andererseits die Dinge einfacher macht. Wir können vorgeben, nur mit einem Instrument zu spielen oder nur mit einem Ton gleichzeitig. Wir können auch ein oder zwei Kinder bitten, während des gesamten Stückes nur fünf Klänge zu spielen und verschiedenes mehr, je nach Situation.
Wenn Improvisation unterrichtet wird und der Prozess ins Stocken gerät, arbeiten Lehrer oft mit zusätzlichen Entscheidungskriterien. Ein gemeinsames Bild oder ein gemeinsames Gefühl sind die meist verbreiteten Vorschläge dafür, worauf Kinder sich beziehen sollen. Aus Sicht der hier beschriebenen Methode führt dies die Aufmerksamkeit häufig weg vom Klang und von dem Prozess, sich stets auf das klingende Resultat zu beziehen.
Unter optimalen Bedingungen orientieren sich Entscheidungen, oft unbewusst, ausschließlich am Gesamtklang.
Dies kann manchmal zu Momenten führen, wo zu einem gewissen Maß Zufall ins Spiel kommt, jedoch nie ausschließlich vorherrscht. Denn die entstehenden Irritationen werden sinnlich wahrgenommen, was wiederum Entscheidungen auf den Plan ruft und Spiel-Handlungen beeinflusst.
Wie in jedem frei improvisierten Stück existiert auch in der Musik der Kinder ein Element von Zufall. Es liegt in der Natur improvisierter Musik, wenn zwei oder mehr Improvisierende zusammen spielen, die nicht wissen, was der jeweils andere als nächstes tut, dass zwei Ideen aufeinanderprallen und zu einer klanglichen Überraschung führen, die die Musiker zu weiteren Entscheidungen im Dienste des klanglichen Resultats zwingt. Dabei wird die musikalische Wahl der Spieler Gründen entspringen wie: Wille, Musikalität, ein Gefühl dafür, was passt, Ausdrucksbedürfnis, Intuition und dergleichen. Da kein improvisierender Musiker mit Sicherheit wissen kann, wie die Entscheidungen des anderen ausfallen, wird es immer Zufälle geben, manche von großer Musikalität, andere müssen durch eine ganze Kette von neuen Entscheidungen gelöst werden.
Dieser Prozess läuft auch beim Improvisieren mit Kindern ab. Der musikalische Verlauf wird durch Zufall beeinflusst. Aber immer, wenn etwas Zufälliges geschieht, steht es den Spielern frei, musikalische Entscheidungen zu treffen, mit denen sie das Klangbild bzw. die Klangstruktur verändern. Die Frage ist, welche mentalen Abläufe dem jeweiligen Entscheidungsprozess zugrunde liegen, welche Aspekte für eine bestimmte Entscheidung verantwortlich sind und welche Rolle dabei Zusammenspiel und Musikalität einnehmen.
Das folgende Diagramm beschreibt die Entwicklung während des freien Spiels. Es lässt sich auf ganz verschiedene Spielfelder anwenden. Beispielsweise illustriert es die Art, wie ein Säugling seine motorischen Fähigkeiten durch Erfahrungen ausbildet, die er mit verschiedenen Bewegungen sammelt. Es zeigt, wie ein Kind oder ein Erwachsener sich in freies Spiel einbringt und wie sich autonomes Lernen im freien Spiel im Laufe der Zeit fortentwickelt. Dabei treten Wiederholungen von Ideen auf unterschiedlichen Niveaus auf.
Das Diagramm macht sichtbar, wie die Komplexität des Spiels mit zunehmender Dauer wächst. Steht am Beginn eine leichtere Idee, folgt eine Variation oder gar eine neue, oft schwierigere und anspruchsvollere Idee, sobald die alte überbeansprucht ist und sich ein Gefühl von Langeweile oder Unzufriedenheit einstellt, das nach Entwicklung und einer Lösung ruft.
Diese Art der Entwicklung vollzieht sich auch dann, wenn eine anspruchsvolle Idee im Lauf der Zeit etwas von ihrem fordernden Charakter einbüßt, da sie praktiziert und erlernt wurde und deshalb zunehmend als leichter empfunden wird, als weniger fordernd. Dann setzt allmählich Langeweile ein, wenn keine Veränderung stattfindet.
Auf diese Art werden normalerweise verschiedene Ideen erprobt, gelernt, weiterentwickelt und verändert und es bildet sich eine individuelle wie auch eine kollektive Sprache heraus.
Um dieses Ziel autonomen Lernens im freien Spiel durch Einzelne oder im kollektiven Prozess zu erreichen, müssen die oben beschriebenen Bedingungen für das Lernen geschaffen werden. Dabei sind Langeweile, Wiederholung, Erforschen und Scheitern während des Lernprozesses erlaubt.
Unterschiedliche Kinder mit unterschiedlichen Persönlichkeiten verhalten sich unterschiedlich und folgen unterschiedlichen Lernprozessen. Im Allgemeinen können wir die Verhaltensweisen drei verschiedenen Typen zuordnen.
Die erste Gruppe – im Diagramm als Pfeil 1 zu sehen – geht in durchschnittlicher Weise vor, verändert Ideen in einer durchschnittlichen Geschwindigkeit und ist dabei weder allzu ängstlich noch allzu gelangweilt.
Die zweite Gruppe (Pfeil 2) setzt sich aus Kindern zusammen, die befürchten, entweder zu scheitern oder enttäuscht zu werden. Deshalb führen sie seltener neue Varianten ein und auch nur dann, wenn der Pegel der Langeweile wirklich hoch angestiegen ist. Manchmal sind sie einfach grundsätzlich unzufrieden oder weniger engagiert, obwohl der Grund dafür, nichts zu verändern oder nicht wenigstens ihr Spiel zu entwickeln, häufig die Folge eben jener Angst ist, zu scheitern oder Neues zu erfahren.
Die dritte Gruppe (Pfeil 3) setzt sich aus Kindern zusammen, die es nicht aushalten sich zu langweilen und die Ideen sehr rasch verändern. Sie schrecken weniger davor zurück zu scheitern und fühlen sich eher durch Langeweile frustriert. Manchmal weist diese Art des Lernverhaltens auf große Kreativität hin, auf Hunger nach Selbst-Ausdruck oder auf das Bedürfnis nach außerordentlichem Erfolg.
Diese persönlichkeitsspezifische Unterschiedlichkeit von Verhalten und von Mustern der Ideenentwicklung unterstützt letztlich den musikalischen Lern-Prozess. Da einige Kinder zu mehr Beständigkeit beim Spielen tendieren, während andere ihr Spiel öfter verändern, braucht es beide Strategien. Diese Dynamik schafft eine Balance, die die Klangstruktur stabil und gleichzeitig interessant hält. Das führt dazu, dass beim Improvisieren eine hohe Qualität erreicht und aufrechterhalten wird.