Werkstatt Franziskanische Forschung
Band 3
II
Herausgeben von
Johannes Schneider OFM
im Auftrag der
Werkstatt Franziskanische Forschung
in Verbindung mit der
Fachstelle Franziskanische Forschung
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Titelblatt:Franziskus bittet mit seinen Brüdern Papst Innozenz III. um die Bestätigung der Regel. Glasfenster von Josef Widmoser (1911-1989) 1954. Chorraum, Fenster links, Kirche St. Franziskus, Franziskanerkloster Bozen/Südtirol (Foto: Wilfried Bahnmüller)
Herausgegeben von Johannes Schneider OFM im Auftrag der
Werkstatt Franziskanische Forschung in Verbindung mit der
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ISBN 978 3 8482 8994 3
Johannes von Perugia († um 1270), Schüler und Gefährte des sel. Ägidius von Assisi, bemerkt zu Beginn seiner Schrift „Anfang oder Grundlegung des Ordens“ (Anonymus Perusinus): „Seit der Menschwerdung des Herrn waren 1207 Jahre vollendet. Es war am 16. April 1208, da sah Gott auf sein Volk, das er durch das kostbare Blut seines eingeborenen Sohnes erlöst hatte. [...] Er erleuchtete einen Mann, der in der Stadt Assisi lebte, mit Namen Franziskus und von Beruf Kaufmann, ein überaus eitler Verschwender weltlichen Reichtums“ (AP 3,1-2)1.
Woher Br. Johannes dieses genaue Datum nimmt – es handelt sich tatsächlich um das Jahr 1209 –, bleibt unklar, Tatsache ist aber, dass im Laufe der Geschichte der 16. April zum traditionellen Datum der Gründung des Ordens der Minderbrüder geworden ist. Die „Chronik der 24 Generalminister“ übernimmt dieses Datum und sieht es in Zusammenhang mit dem Güterverkauf des ersten Franziskus-Gefährten Br. Bernhard von Quintavalle als Beginn des Ordens: „Sogleich aber verkaufte Herr Bernhard alle seine Güter, die von großem Wert waren, und verteilte sie alle in Begleitung des heiligen Franziskus auf der Piazza San Giorgio an die Armen. Im selben Jahr 1209 am 16. April nahm er Habit und Leben des apostolischen Ordens an. Deshalb findet man mancherorts [geschrieben], der Orden der Minderen Brüder hätte am 16. April seinen Anfang genommen“ (AF III 3f.).
Neuerdings hat das offizielle Mitteilungsorgan des Minderbrüderordens „Fraternitas“ (XLII / 153, 1. April 2009) dieses von fast allen Brüdern, besonders unserer jüngeren „nachkonziliaren“ Generation, vergessene Ursprungsdatum wieder in Erinnerung gerufen. Unter anderem wird darin das „Franziskanische Martyrologium“ zitiert, wonach der 16. April 1209 jenes Datum ist, an dem Franziskus sein erstes Regel-Versprechen in die Hände von Papst Innozenz III. gelegt habe: „16. April: In der ganzen weltweiten Ordensfamilie feierliches Gedenken an den ehrwürdigen Tag, an dem der hl. Vater Franziskus im Jahre 1209, mit dem Versprechen seiner Regel in die Hände Papst Innozenz’ III., zur Stärkung der Katholischen Kirche, den Orden der Minderbrüder ins Leben rief. Zur Erinnerung an diesen äußerst glücklichen Beginn wurde die Erneuerung der Profess festgelegt, die mit echtem Eifer abzulegen ist, von allen Mitgliedern und von jedem einzelnen von ihnen, sowohl des männlichen wie des weiblichen Zweiges dieser Familie, sowohl in Gemeinschaft als auch privat, und jenen, die das Versprechen erneuern, wird auch der vollkommene Ablass gewährt, den Papst Klemens XII. zugestanden hat“ (Martyrologium Franciscanum, Vicenza 1939, 143).
Was immer am 16. April 1209 in Wirklichkeit geschehen ist – die Quellen sind da nicht ganz einheitlich –, es hat jedenfalls mit dem Ursprung der franziskanischen Lebensweise, im weitesten Sinn mit der Ur-Regel und deren Befolgung zu tun. So trifft es sich gut, dass die „Werkstatt Franziskanische Forschung“ auf dieses traditionelle historische und mehr noch spirituelle Datum hin den zweiten Band der begonnenen Reihe „Regel und Leben“ mit weiteren „Materialien zur Franziskus-Regel“ vorlegen kann.
Im ersten Beitrag stellt Leonhard Lehmann „die Gründungsidee des Franziskanerordens“ im Kontext der vielen mittelalterlichen religiösen Bewegungen dar, wie sich die „Bruderschaft zum Orden“ entwickelte und in dem Versuch ein „Leben nach der Form des heiligen Evangeliums“ zu führen „Antwort auf bestimmte soziale Nöte“ und „auf die religiösen Bewegungen der Zeit“ gab.
Im zweiten Beitrag untersucht Volker Stadler die „Regula bullata im Traditionsstrom ihrer Zeit“, indem er zuerst die „Erfahrungen des Franziskus mit der monastischen Welt“ schildert und dann einen thematischen Vergleich zwischen den „Regeln des hl. Franziskus und des hl. Benedikt“ anstellt, so dass auf der Basis des monastischen Mutterbodens das Neu- und Andersartige des Minderbrüderordens umso klarer zu Tage tritt.
Johannes Schlageter legt im dritten Beitrag „Regel und Leben der Minderbrüder im Licht maßgeblicher Regelkommentare des 13. Jahrhunderts“ dar, indem er das Thema „Arbeit der Brüder“ anhand der Regelauslegungen der vier Magister sowie des Hugo von Digne, des Johannes von Peckham und des Petrus Johannis Olivi untersucht.
Im vierten Beitrag versuche ich unter dem Titel „Unser Kloster ist die Welt“ von der sprachlichen Analyse eines kurzen Abschnitts der Bullierten Regel (Kapitel 3,10-11) im Kontext anderer Franziskus-Schriften zu aktuellen Bezügen zu kommen.
Johannes Schneider ofm
Salzburg, am 16. April 2009
Vorwort
Inhalt
Die Gründungsidee des Franziskanerordens
Leonhard Lehmann ofmcap
Die Regula bullata im Traditionsstrom ihrer Zeit
Volker Stadler ofm
Regel und Leben der Minderbrüder im Licht maßgeblicher Regelkommentare des 13. Jahrhunderts
Johannes Schlageter ofm
„Unser Kloster ist die Welt“
Überlegungen zur Bullierten Regel, Kapitel 3,10-11
Johannes Schneider ofm
Abkürzungsverzeichnis
Autoren und Herausgeber
Von Leonhard Lehmann ofmcap
Zum Andenken an Bischof Willi Egger (1940-2008)
Im Jahr 2009 feiern die drei heute bestehenden Zweige des Franziskanerordens (Minoriten, Franziskaner, Kapuziner) das 800-Jahr-Jubiläum der Anerkennung der franziskanischen Lebensweise. Wie ein von allen Generalministern unterschriebener Brief1 zeigt, tun sie dies gemeinsam, was schon einen gewaltigen Fortschritt gegenüber 1909 darstellt, als jeder Ordenszweig auf je eigene Art das Jubiläum mehr oder weniger selbstbewusst beging. Die erst wenige Jahre zuvor aus verschiedenen Observanten-Zweigen zum Ordo fratrum Minorum ab Unione Leoniana vereinten Franziskaner nutzten die Gelegenheit überaus stark, zur Einheit und zu einem neuen Selbstverständnis zu finden; die Konventualen wollten eigentlich erst 1910 das Gründungsjubiläum begehen, schlossen sich dann aber doch der Mehrheit an und begingen es vor allem liturgisch; die Kapuziner hielten sich mit Feiern zurück, betonten aber – vor allem in der Folge eines langen Rundbriefes ihres Generalministers Pacifico von Seggiano vom 15. August 19092 – dass ihre Reform in Kontinuität stehe mit den Idealen des hl. Franziskus und seinem dem Papst Innozenz III. vorgelegten Propositum vitae.3 Der Generalminister, der gleichzeitig Consultor der Religiosenkongregation war, zitiert in seinem lateinisch verfassten Rundschreiben in vollem Umfang den Brief des hl. Franziskus an alle Brüder und macht sich dessen Anliegen zu eigen, d. h. er ermahnt zum betrachtenden Gebet und zur würdigen Feier der Hl. Messe. Veränderungen in der Struktur des Ordens oder gar die Aufnahme von Beziehungen zu den Franziskanern und zu den Konventualen kommen nicht in den Blick. Einen gemeinsamen Brief der drei Generalminister oder eine gemeinsame Feier der drei Orden, die sich doch auf denselben Gründer berufen und die gleiche Regel befolgen, gab es im Jahr 1909 also nicht. Nach Thaddée Matura, der nun auf mehr als fünfzig Jahre im Orden der Franziskaner zurückblickt, weit gereist ist, die Ordensgeschichte studiert und die Erneuerungsphase des Ordens nach dem Konzil maßgeblich begleitet hat, sind die gemeinsamen Initiativen für das Jahr 2009 ein deutliches Zeichen, dass das Gegeneinander der Orden einem Miteinander gewichen ist und sich Brüder und Schwestern, die sich an Franziskus orientieren, immer mehr als „Franziskanische Familie“ verstehen.4 Wenn dies für alle gilt, dann umso mehr für die genannten drei Zweige der Minderbrüder (fratres minores): Für sie stellt das von Innozenz III. im Mai 1209 mündlich bestätigte Propositum vitae des Franz von Assisi, das sich dann zur sog. Nichtbullierten Regel von 1221 weiterentwickelte, welche schließlich von der neu redigierten kürzeren Regel, die am 29. November 1223 feierlich von Papst Honorius III. mit einer Bulle bestätigt worden ist, abgelöst wurde, das Grunddokument dar, auf das jeder Minderbruder, ob Franziskaner, Kapuziner oder Minorit, Profess ablegt. Zu Recht sind darum viele gemeinsame Initiativen geplant.
In Greccio hat bereits im Mai 2008 ein wissenschaftlicher Kongress stattgefunden, dessen Vorträge schon Anfang Oktober desselben Jahres im Druck erschienen sind.5 Angesagt ist ein großes internationales „Mattenkapitel“, in dem alle nationalen Initiativen sowie die von den einzelnen Orden oder Provinzen unternommenen Treffen gipfeln sollen. Es findet vom Mittwoch, den 15., bis Freitag, den 17. April, in Assisi statt und erlebt seinen Höhepunkt im Treffen mit Papst Benedikt XVI. in Castel Gandolfo am Samstag, den 18. April 2009. Im Namen aller Brüder werden die drei Generalminister des sog. Ersten Ordens und der Generalminister des sog. Regulierten Dritten Ordens (TOR) in die Hände des Heiligen Vaters die Profess erneuern, also gleichsam erneut den Gehorsam versprechen, den 800 Jahre zuvor Franziskus dem Papst Innozenz III. und seinen Nachfolgern versprochen hat.
Für Außenstehende ist die Rede von „drei Zweigen des Ersten Ordens“ und vom „Regulierten Dritten Orden“ äußerst verwirrend. Diese Benennung lässt außerdem sofort darauf schließen, dass es auch einen Zweiten Orden geben muss. Damit sind die Klarissen gemeint, die sich auf Franziskus und Klara zurückführen, aber erst etliche Jahre nach dem Tod der Gründergestalten, nämlich 1263 unter Papst Urban IV. Ordo S. Clarae genannt werden und von ihm sogar eine neue Regel bekommen. Ähnlich ist es mit dem Dritten Orden: Zweifellos wandte sich Franziskus mündlich und sogar schriftlich (es sind zwei Briefe „an alle Gläubigen“ erhalten) sowohl an Männer wie Frauen, auf dass sie Buße tun, die Sakramente empfangen und das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe erfüllen. Es bildeten sich unter seinem Einfluss Gruppen, die sich „Männer und Frauen von der Buße“ nannten.6 Doch von einer eigentlichen Regel und einem eigentlichen Dritten Orden unter dem Patronat des hl. Franz kann man erst 1289 sprechen, als Nikolaus IV., der erste Franziskanerpapst, mit der Bulle Supra montem den Dritten Orden regulierte und institutionalisierte.7 Dass es beim Zweiten wie auch beim Dritten Orden zu solcher Institutionalisierung gekommen ist, zeigt, wie groß der Einfluss der beiden Heiligen aus Assisi gewesen ist. Zumal nach ihrer Kanonisierung, die bei beiden schon zwei Jahre nach ihrem Tod stattfand (Franziskus im Juli 1228 in Assisi, Klara im August 1255 in Anagni),8 wurden sie zu Leitfiguren christlichen Lebens, vor allem zu Leitfiguren einer neuen Form von Ordensleben.
Die Entwicklung der „Brüder und Schwestern von der Buße“ hin zu einem Dritten Orden, der sich dann nochmals ausdifferenziert in einen bis heute bestehenden „Regulierten Dritten Orden“ (einige Männer- und sehr zahlreiche Frauenkongregationen, Franziskanerinnen genannt) ist sehr komplex.9 Ebenso ist auch für den Zweiten Orden durch gründliche Studien der letzten zwanzig Jahre deutlich geworden, dass die Schwestern um Klara in San Damiano bei Assisi mit einigen wenigen ihnen verbundenen Klöstern (Florenz-Monticelli, Perugia, Gubbio, Foligno, Trient, Prag), die sog. Damianiten, zu unterscheiden sind von anderen Frauenklöstern, die sich aus Beginengemeinschaften oder „Sammlungen“ entwickelt haben zu selbständigen Klöstern; sie wurden dann 1263 von Urban IV. mit den anderen damianitischen Ursprungs zum Orden der hl. Klara vereint.10
Diese Andeutungen mit Verweis auf jüngste Veröffentlichungen, wo weitere Bibliografien zu finden sind, sollen hier genügen, um zu zeigen, dass der ideelle Einfluss des hl. Franziskus (und der hl. Klara) weit über den Ersten Orden hinausging und man zu Recht von einer franziskanischen Bewegung sprechen kann. Der Idee und dem Ideal des charismatisch begabten Kaufmannsohnes aus Assisi schlossen sich viele Frauen und Männer an. Unter diesen gibt es wiederum zahlreiche faszinierende Persönlichkeiten wie Elisabeth von Thüringen († 1231), Agnes von Prag († 1283), Antonius aus Lissabon († 1231 in Padua), Alexander von Hales († 1245) und Julian von Speyer († ca. 1250), die ihrerseits die franziskanische Idee auf je eigene Art verwirklichen, in die aristokratische, akademische und bürgerliche Welt hineintragen und so die franziskanische Bewegung immer weitere Kreise ziehen lassen.
In diesem kurzen Aufsatz soll aber nur vom Ersten Orden die Rede sein und vornehmlich von dessen Frühzeit, denn es geht in diesem zweiten Band der „Materialien zur Franziskus-Regel“ wiederum um einen Zugang zum Verständnis dessen, was Franziskus mit seiner Regel gewollt hat. Es ist hier nicht möglich, die vielen Reformen innerhalb des Ersten Ordens zu behandeln, die ihre Kraft und ihren Schwung gerade aus dem Rückgriff auf die Idee des Gründers und aus dem Vorsatz, dessen Regel wieder radikaler beobachten zu wollen, schöpften. Der Wille, die Regel zu beobachten (observare) und das Leben des Gründers nachzuahmen (imitare), ließ die Observanten verschiedener Ausprägung (reguläre und strengere Observanten, Rekollekten, Reformaten, Amadeiter und Alcantariner) entstehen und aus den Observanten in Italien wiederum die Kapuziner, die sich 1528 eigene Statuten und 1537 dann eigene Konstitutionen gaben, in denen der Rückgriff auf Franziskus, auf seine Worte und Taten, ganz deutlich ist11 und die 1619 als selbständiger Orden kirchlich approbiert wurden. Sie blieben wegen ihrer großen Zahl und ausgeprägten eigenen Spiritualität auch dann noch selbständig, als 1897 unter Leo XIII. die verschiedenen Gruppen der Observanten zu den „Franziskanern der leoninischen Union“ vereint wurden und seither einfach (braune) Franziskaner heißen (OFM).12 Die Minoriten, Konventualen oder auch schwarze Franziskaner genannten (OFMConv) sind jene, die sich, nicht ohne selbst auch die eine oder andere Reform hervorgebracht zu haben (Villacrezianer, Coletaner), direkt auf Franziskus zurückführen und mit den päpstlichen Regelerklärungen und Privilegien einverstanden waren, während die Reformgruppen (OFMObs, OFMDisc. etc.) sich auf die ursprüngliche Absicht (intentio) des Gründers und seiner Regel (intentio regulae) beriefen und in der heißesten Phase der Spiritualen manchmal sogar gegen den Papst (besonders Johannes XXII. und Bonifaz VIII.) protestierten.13 Die Fixierung auf den Gründer ist in keinem Orden so stark wie bei den Franziskanern. Ordensgründer wie Benedikt († 21. März 547), Dominikus († 6. August 1221), Ignatius († 31. Juli 1556), Franz von Sales († 28. Dezember 1622), Antonius Claret († 24. Oktober 1870) und Johannes Bosco († 31. Januar 1888) verschwinden nahezu hinter ihrem Werk, das sie hervorgebracht haben. Franziskus aber steht als leuchtende, oft auch umstrittene Leitfigur14 über seinem Werk und genießt als Heiliger der katholischen Kirche weit über diese hinaus ungebrochene Verehrung bis in unsere Tage.15
Unter den knapp dreißig erhaltenen Schriften des hl. Franziskus gilt das Testament (= Test) als das am wenigsten überarbeitete Werk; es enthält kaum Schriftzitate und ist in einfachem Erzählstil gehalten; es will, wie Franziskus selber sagt, „eine Erinnerung, Ermahnung, Aufmunterung (recordatio, admonitio, exhortatio)“ sein, die er seinen Brüdern als geistliches Vermächtnis hinterlässt, „damit sie die Regel, die sie dem Herrn versprochen haben, jeweils besser katholisch (melius catholice) beobachten“ (Test 34). Wegen seiner Nähe zum ursprünglichen Diktat gilt das Testament als das authentischste Opusculum des Heiligen. In ihm bekennt Franziskus, wie der Herr ihn zur Umkehr gerufen, unter die Aussätzigen geführt und ihm ein solches Vertrauen in die Priester der Kirche wegen ihrer Weihe (propter ordinem) gegeben hat, dass er ihnen auch dann gehorchen will, wenn sie sündig sind oder ihn gar verfolgen. Nachdem er seinen persönlichen Weg der Buße und seinen Glauben „an die heilige, katholische Kirche“ bekannt hat, fährt er fort:
Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand, was ich zu tun hätte, sondern der Höchste selbst hat mir offenbart, dass ich nach der Form des heiligen Evangeliums leben sollte. Und ich habe es mit wenigen Worten und in Einfalt schreiben lassen, und der Herr Papst hat es mir bestätigt (Test 14-15).16
Auf diesen Kernsatz, in dem sich die ganze Spannung zwischen dem Ich des Franziskus und der Person des Papstes, zwischen Charisma und Amt, zwischen Offenbarung und Regel zeigt, werden wir noch zurückkommen. Hier sei nur betont, dass Franziskus die Kandidaten, die spontan zu ihm gestoßen sind, Brüder nennt und sie als Gabe Gottes, als ein Geschenk versteht. Zu der Zeit, da er das Testament diktiert, im September 1226, jedenfalls vor seinem Sterben am Abend des 3. Oktober, hat er auch negative Erfahrungen mit seinen Brüdern hinter sich; die Bruderschaft ist ihm über den Kopf gewachsen oder aus den Händen geglitten. Er war so sehr mit einigen fortschrittlichen Kräften in Konflikt geraten, dass er auf dem Kapitel im Herbst 1220 auf sein Leitungsamt verzichtet und es Petrus Cathani übertragen hat. Dennoch bezeichnet er – in einem typischen Italianismus (de fratribus statt fratres) – seine Gefährten als Brüder, die der Herr ihm gegeben hat. Dies ist theologisch die tiefste Begründung für die neue Gemeinschaft, die der Gründer mit Vorliebe fraternitas nennt, auch noch im Testament. Hier ist die Bruderschaft aber auch schon deutlich strukturiert und kennt Ämter, wie aus einem weiteren Satz im Testament deutlich wird:
Und fest will ich dem Generalminister dieser Bruderschaft gehorchen oder sonst dem Guardian, den er mir nach seinem Ermessen gibt (Test 27).17
Einerseits verspricht er Gehorsam dem Generalminister – dies war damals, nach dem überraschenden Tod von Petrus Cathani am 10. März 1221, Elias von Cortona, der später in Ungnade fallen sollte und 1239 sogar abgesetzt wurde – andererseits ist er sich doch noch der charismatischen Führungsrolle bewusst, wenn er bezüglich seines Testaments gebietet:
Und der Generalminister und alle anderen Minister und Kustoden seien im Gehorsam gehalten, zu diesen Worten nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen. Und immer sollen sie dieses Schriftstück bei sich haben neben der Regel. Und auf allen Kapiteln, die sie halten, sollen sie auch diese Worte lesen, wenn sie die Regel lesen. Und allen meinen Brüdern, Klerikern und Laien, befehle ich streng im Gehorsam, dass sie keine Erklärungen zur Regel und auch nicht zu diesen Worten hinzufügen, indem sie sagen: so wollen sie verstanden werden (Test 35-38).18
Neben dem Generalminister erscheinen in diesem Satz auch die Provinzialminister und Kustoden, die Kapitel als gesetzgebende Versammlungen und die Regel – alles Elemente, die anzeigen, wie sich die aus Klerikern und Laien bestehende fraternitas zu einem Orden ausgestaltet hat. Und Franziskus glaubt, obwohl offiziell von der Leitung zurückgetreten, kraft des Gehorsams gebieten zu dürfen – oder sogar aus innerem Antrieb gebieten zu müssen, damit sein ursprüngliches Charisma gewahrt bleibt. Er beschwört geradezu seine Brüder, mit einer ärmlichen Kleidung, mit „Kutte, Strick und Hosen“ zufrieden zu sein, das Göttliche Offizium gemäß der Regel zu verrichten, mit den Händen zu arbeiten, nur ärmliche Wohnungen, die für sie errichtet werden, anzunehmen und keine Privilegien von der römischen Kurie zu erbitten (Test 16-25). Man spürt hier, wie er als Todkranker wesentliche Züge seines Charismas für die Zukunft sichern will, aber wiederum nicht ohne Hilfe der Institution in der Person des Kardinalprotektors als Stellvertreter des Papstes; er ist „Herr, Beschützer und Verbesserer der ganzen Bruderschaft (dominus, protector et corrector totius fraternitatis)“ (Test 33).
Das Wort ordo fällt im Testament nur im Sinne von „Priesterweihe“ (Test 6), nicht im Sinne von „Orden“. Dennoch enthält das Testament jene Elemente, die für einen Orden wesentlich sind. Dabei ist auffallend, dass Franziskus die Oberen mit der für ihn typischen Redeweise als „Guardian“ (Hüter), „Kustos“ (Wächter), „Minister“ (Diener) bezeichnet, womit er sich deutlich von monastischen Orden unterscheidet. Darum gebraucht er im Rückblick auf sein Leben und die Gabe der Brüder auch lieber das Wort fraternitas; es kennzeichnet einen Wesenszug seiner Gemeinschaft, den er gerade an der Schwelle zum Tod nochmals betont, um der Angleichung seiner fraternitas an andere Orden, besonders der Dominikaner, zu begegnen.
Etwa zwei Jahre vor seinem Testament schrieb Franziskus einen langen Brief an alle Brüder, namentlich an die Priester unter ihnen, da der Zulauf von Priestern und die Klerikalisierung in den eigenen Reihen inzwischen stark zugenommen hatte. Darin spricht er zu Beginn von „sacerdotes fraternitatis“ (Vers 2) und später von „sacerdotes ordinis nostri“ (Vers 38).19 Er verstand also seine fraternitas als Orden im rechtlichen Sinn. Das geht speziell auch aus den beiden Regeln hervor: Im Prolog der Nicht-bullierten Regel (NbR) verspricht Franziskus im eigenen Namen und im Namen seiner Nachfolger Papst Innozenz III. Gehorsam. Da dieser aber bereits am 16. Juli 1216 in Perugia verstorben ist, geht der Prolog wie auch andere Teile der NbR auf die Zeit davor zurück, ja wahrscheinlich sogar auf das Propositum vitae, das Franziskus mit elf Gefährten im Mai 1209 diesem Papst vorgelegt und von ihm mündlich bestätigt bekommen hat.20 Darin heißt es:
Bruder Franziskus und wer immer das Haupt dieser religiösen Gemeinschaft (religio) sein wird, soll Gehorsam und Ehrerbietung dem Herrn Papst Innozenz und seinen Nachfolgern versprechen (NbR 0,3).21
Religio ist sicher ein weiterer Begriff als ordo und bedeutet „religiöse Gemeinschaft“. So kann es an drei weiteren Stellen der Regel übersetzt werden (NbR 13,1; 19,3; 20,1). Dass Franziskus diese religiöse Gemeinschaft aber schon in der NbR im Sinne eines Ordens verstand, geht aus Kapitel 2 hervor. Hier nimmt er die Vorschriften auf, die Honorius III. am 22. September 1220 in der Bulle Cum secundum consilium gemacht hatte, nämlich das Probejahr einzuführen. Das Noviziat ist ein Meilenstein in der Entwicklung zum Orden. Es heißt dann weiter:
Ist aber Jahr und Frist der Probezeit beendet, soll er zum Gehorsam angenommen werden. Danach soll es ihm nicht erlaubt sein, in einen anderen Orden (religio) einzutreten, noch sich außerhalb des Gehorsams herumzutreiben, entsprechend der Anordnung des Herrn Papstes und gemäß dem Evangelium; denn „keiner, der die Hand an den Pflug legt und rückwärts schaut, ist für das Reich Gottes geeignet“ (Lk 9,62) (NbR 2,9-10).22
„Zum Gehorsam aufnehmen“ ist ganz typisch franziskanische Redeweise: Der Gehorsam der Brüder untereinander und zu den Ministern ist gleichsam der Raum, in den der Novize mangels eines Klosters aufgenommen wird. Danach soll es ihm nicht mehr erlaubt sein, in einen anderen Orden zu wechseln. Da die Minderen Brüder oft die Gemeinschaft, mit der sie unterwegs waren oder in Einsiedeleien verweilten, wechselten, kann es sich hier bei religio nur um eine Gemeinschaft im Sinne eines Ordens handeln. Franziskus übernimmt das Verbot, nach der Profess den Orden zu wechseln, aus der päpstlichen Bulle (iuxta mandatum papae), begründet es darüber hinaus aber noch aus dem Evangelium (et secundum evangelium), indem er Lk 9,62 hinzufügt. Im Testament bestätigt der Papst die an Franziskus ergangene Offenbarung, hier bestätigt Franziskus das Urteil des Papstes durch ein Evangelienwort.23 Der Satz wird auch in die endgültige Regel aufgenommen (BR 2,12), die von Papst Honorius III. am 29. November 1223 mit der Bulle Solet annuere feierlich bestätigt wird und darum Bullierte Regel (BR) heißt. Im Kapitel über die Buße, die sündigen Brüdern aufzuerlegen ist, spricht sie von „Priestern des Ordens“ (sacerdotes ordinis: BR 7,2). Durch genauere Vorschriften zur Wahl des Generalministers, zum Göttlichen Offizium und zur offiziellen Predigt (im Unterschied zur allen erlaubten Bußexhorte) zeigt diese Regel die Entwicklung von der Fraternitas zum kirchlich voll anerkannten und integrierten Orden an. Franziskus selbst nannte ihn „Orden der Minderen Brüder“, wie aus NbR 7,2 hervorgeht und wie es auch Thomas von Celano in seiner 1228 verfassten ersten und offiziellen Vita beati Francisci bezeugt, indem er Franziskus sagen lässt:
Ich will, dass diese Bruderschaft Orden der Minderen Brüder genannt wird (1 C 38,3).24
Eine andere, inoffizielle Quelle, die mehr von der Basis kommt, weiß ebenfalls um den Unterschied von religio und ordo und von der Entwicklung vom ersten zum zweiten. Es ist die wahrscheinlich von Bruder Johannes von Perugia stammende, aber mehr unter dem Namen Anonymus Perusinus bekannte Erzählung über den Beginn oder die Grundlegung des Ordens (De inceptione vel fundamento Ordinis). In dieser ersten schlichten Ordensgeschichte verschweigt der Verfasser nicht, wie lästig es den Brüdern wurde, immer wieder von den Leuten gefragt zu werden, wer sie seien und woher sie kämen oder zu welchem Orden sie gehörten:
Jene aber antworteten schlicht: „Wir sind Männer der Buße und kommen aus der Stadt Assisi.“ Bis dahin wurde nämlich die Gemeinschaft der Brüder noch nicht Orden genannt (AP 19,11-12).25
Die 1241/43 verfasste Gründungsgeschichte blickt hier auf die Anfänge zurück, als die Gefährten des Franziskus noch unbekannt waren, aber in ihrer ärmlichen Kleidung, ihrem freundlichen Wesen und religiösen Verhalten auffielen. Auf die neugierigen Fragen der Leute antworten sie, dass sie Büßer aus der Stadt Assisi sind. Und der spätere Erzähler gibt dafür die Begründung: die Gemeinschaft der Brüder wurde noch nicht Orden genannt. Diese Bezeichnung hatte erst Sinn frühestens nach der mündlichen Bestätigung der Urregel von 1209, dann mit zunehmender Rechtskraft nach dem IV. Laterankonzil im November 1215, als sich die päpstliche Kurie mit Schreiben an Franziskus und alle Brüder wandte, 1220 auf die Einführung des Noviziats drängte und schließlich 1223 die von Franziskus mit Hilfe der Brüder erstellte Regel mit Brief und Siegel bestätigte.
In dem ersten oben zitierten Abschnitt aus dem Testament des hl. Franziskus geht das Zusammenwirken von Gott und Mensch, Individuum und Kirche hervor: Der Herr hat Franziskus offenbart, dieser horcht und gehorcht, lässt das Gehörte aufschreiben und vom Papst bestätigen. Was sich so einfach anhört, war und ist in Wirklichkeit voller Dramatik und lief nicht ohne Spannungen und Schmerzen ab. Zunächst ist zu betonen, dass nach Ankunft der ersten Gefährten Franziskus ihnen keine selbst erdachte Regel auferlegt; er geht auch nicht zu den in Assisi und auf dem Monte Subasio ansässigen Benediktinern, auch nicht zum Bischof oder zu Priestern, sondern direkt in die Kirche, wo das Evangelium ausliegt. Sowohl Johannes von Perugia wie die drei Gefährten Leo, Rufin und Angelus berichten: Als Bernhard von Quintavalle, ein reicher und angesehener Notar aus einer vornehmen Familie, und Petrus Cathani, ebenfalls Rechtsgelehrter aus reicher Familie, die so veränderte Lebensweise Francescos sahen, wurden sie nachdenklich, kamen eines Tages zu ihm und sagten: „Wir wollen von nun an bei dir sein und tun, was du tust. Sag uns, was wir mit unserem Besitz machen sollen.“ Franziskus antwortet: „Gehen wir und fragen wir den Herrn um Rat.“ Sie gehen in die Nikolaus-Kirche am Marktplatz und schlagen das Evangeliar auf (das heute noch erhalten und nach Baltimore verkauft ist). Als erstes kommt ihnen die Stelle „Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe was du hast und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben“ (Mt 19,21) unter die Augen; dann blättern sie weiter und finden: „Wer zu mir kommen will, und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern gering achtet, ja sogar sein eigenes Leben hasst, der kann mein Jünger nicht sein“ (Lk 14,26); beim dritten Mal finden sie: „Nehmt nichts mit auf den Weg, weder Stab noch Tasche noch Brot noch Geld [...]“ (Lk 9,3). Als sie dies vernahmen, sagten sie: „Das ist es, was wir gesucht haben.“ Und der selige Franziskus sagte: „Das ist unsere Regel!“, und zu den zweien: „Geht und tut nach dem Rat des Herrn, den ihr gehört habt!“ Die beiden verkauften ihre Habe und verteilten den Erlös an die Armen der Stadt (vgl. AP 10-11; Gef 27-29). So wie bei ihnen, geschieht es dann bei Rufinus, dem Cousin Klaras, und um 1210 bei Silvester, dem ersten Priester, der sich Franziskus anschließt. Jeder Neuzugang ist ein Fest für die Armen. Für Franziskus selbst ist die Sendungsrede Jesu an die Apostel (Lk 9,1-6 par.) oder an die siebzig Jünger (Lk 10,2-9) zum Durchbruch geworden, denn nach seinem für seine Bekehrung außerordentlich wichtigen Dienst unter Aussätzigen,26 nach der Anrede vom Kreuz her in San Damiano27 und nach der Reparatur von drei baufälligen Kapellen, hört er in dem von ihm restaurierten Kirchlein „Maria von den Engeln“ in der Ebene vor Assisi eines Tages dieses Evangelium, das die Jünger mittellos und schutzlos, ganz im Vertrauen auf Gott, in alle Welt schickt. Franziskus legt darauf sein Eremitengewand ab, schneidert sich eine grobe Kutte zurecht, die er mit einem Strick zusammengürtet, und beginnt, durch Dörfer und Städte zu ziehen und Buße zu predigen.28 Jene, die sich „ihm in Lebensweise und Kleidung (in vita et habitu) anschlossen“, wie es immer wieder in den Quellen heißt, kamen aus allen Schichten der Bevölkerung, zuerst aus Assisi, dann auch aus der weiteren Umgebung.
Die eigene Berufung zum armen, haus- und heimatlosen Wanderleben, zu Handarbeit und gelegentlicher Bußpredigt, die Berufung der ersten Gefährten durch das Befragen des Evangeliums qualifiziert Franziskus als „Offenbarung“: „Der Allerhöchste selbst hat mir offenbart“ (Test 14). Er bringt also das gehörte und gelesene Wort des Evangeliums mit Gott in Verbindung, den er hier wie im Sonnengesang („Altissimo, onnipotente, bon Signore...“) gern den „Höchsten“ nennt. Das offenbarte Wort überbrückt den Abstand von Gott zum Menschen; es ruft den Menschen in die Höhe. Durch das Verb „offenbaren“ (rivelare) rückt Franziskus die an ihn ergangene Weisung in die Nähe der biblischen Offenbarung.29 Er kann darum auch an der an ihn ergangenen Offenbarung keine Abstriche machen, sie nicht verwässern. Er verteidigt sie vor Papst und Kardinälen und schließlich vor seinen eigenen Brüdern, als diese die Regel den Zeitumständen anpassen wollen. Die Achtung vor der an ihn ergangenen Offenbarung und Berufung ist der tiefste Grund für sein eigenartig starkes Selbst- und Sendungsbewusstsein, das ihn manchmal in Gegensatz zur Kirche bringt, aber nur scheinbar; denn nie äußert er sich verbal gegen die „sündige Kirche“, sondern bietet vital ein Programm, eine Alternative zu ihrer Erneuerung von innen.30
Doch was bedeutet „leben nach der Form des heiligen Evangeliums“? Alle Christen sind verpflichtet, nach dem Evangelium zu leben, alle Ordensleute wollen nichts anderes; Benedikt z. B. bezeichnet seine Gemeinschaft als „Schule des Evangeliums“ (Prolog der Regel). Wenn Franziskus von einer „Form des hl. Evangeliums“ spricht, dann hat er konkrete Verhaltensweisen vor Augen, eben jene, die er selber und dann seine Gefährten aus dem Evangelium vernommen haben: die Nachfolge Jesu in Armut, Geduld und Gewaltverzicht. Als Modell für seine wachsende Gemeinschaft übernimmt er nicht das Leben der Urgemeinde in Jerusalem (Apg 2,44-47), wie es zu seiner Zeit vielfach als Modell des Ordenslebens galt, sondern er geht noch hinter die Apostelgeschichte zurück und greift direkt das Leben Jesu mit seinen Jüngern auf: „ein Wanderleben unter ärmsten Bedingungen, ohne den Schutz, den der Besitz und eine Großfamilie bieten; ein Leben, das der Verkündigung des Friedens dient und das eine dem Frieden entsprechende Methode wählt, nämlich den Gewaltverzicht. Von allem Anfang an bindet Franziskus dieses Leben nach dem Evangelium in das kirchliche Leben ein, indem er die Bestätigung der Lebensform durch den Papst erhält.“ So schrieb vor mehr als 25 Jahren mein damaliger Lehrer Willi Egger,31 der dann zum Bischof von Bozen-Brixen berufen wurde, in seinem Amt die Menschen an die Bibel heranzuführen verstand, im Sommer 2008 Papst Benedikt als Feriengast empfangen durfte und kurz danach am 16. August im Alter von erst 68 Jahren plötzlich verstorben ist.
Jene Stellen des Evangeliums, welche den langen „Bekehrungsprozess“ des reichen und verwöhnten Sohnes des Kaufmanns Bernardone begleiteten, wie auch jene, welche den ersten beiden Gefährten beim Bibellos zugefallen sind, kehren auch in der ersten greifbaren Ordensregel wieder, und zwar schon im ersten Kapitel (NbR 1,2-5). Vorgeschoben ist nur der Ternar der drei Gelübde, wie er auch schon in der von Innozenz III. 1198 bestätigten Regel des hl. Johannes von Matha für die Trinitarier steht. Selbst wenn dieser Vorspann der drei Gelübde nicht auf Franziskus, sondern auf Innozenz bzw. die Kurie zurückgehen sollte, so enthält er dennoch drei typisch franziskanische Merkmale: die Verbindung von Regel und Leben, die Bezeichnung „Brüder“ und das Nachfolgen Jesu auf seinen Spuren: „Regel und Leben der Brüder ist dieses: zu leben in Gehorsam, in Keuschheit und ohne Eigentum und unseres Herrn Jesu Christi Lehre und Fußspuren zu folgen, der sagt: ‘Wenn du vollkommen sein willst, dann geh und verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen [...]’ [...]“ (NbR 1,1). Sendungsrede und Bergpredigt Jesu bestimmen dann nochmals die Kapitel 14-16, die programmatisch überschrieben sind: „Wie die Brüder durch die Welt ziehen sollen“ (NbR 14,1). Damit ist der Unterschied zum benediktinischen Mönchtum klar ausgedrückt: An die Stelle des monasterium tritt mundus – was eine spätere Schrift dann emphatisch so ausdrückt: „Unser Kloster ist die Welt!“32 – und an die Stelle der Beständigkeit am Ort (stabilitas loci) tritt das Ziehen durch die Welt (ire per mundum).
Bei diesem Unterwegssein bei Wind und Wetter, bei der Mission nördlich der Alpen und sogar unter Muslimen in Ägypten traten bald erhebliche Schwierigkeiten, Missverständnisse und Verfolgungen auf. Ihnen begegnet Franziskus, indem er auf den jährlich stattfindenden Kapiteln in Portiunkula den Brüdern unermüdlich das Evangelium auslegt und in die Regel Zusätze einfügt, welche Missstände beheben und zum guten Verhalten ermutigen sollen. Wohl aus diesen Kapitelsansprachen ist jene Sammlung von 28 Ermahnungen (Admonitiones) erwachsen, die zumeist mit einem Schriftzitat beginnen und es auf das konkrete Leben anwenden; so z. B. die kurze Ermahnung 15:
„Selig die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Jene sind in Wahrheit friedfertig, die bei allem, was sie in dieser Welt erleiden, um der Liebe unseres Herrn Jesus Christus willen in Geist und Leib den Frieden bewahren (Erm 15).
Da die Brüder unterwegs immer wieder provoziert oder gar misshandelt wurden, ist die Regel voll von solchen Weisungen, die zu Geduld und Beharrlichkeit ermahnen. Sie gipfeln in jener Anweisung für Brüder „die auf göttliche Inspiration hin unter die Sarazenen und andere Ungläubige gehen: Sie sollen als erstes weder zanken noch streiten, sondern um Gottes willen jeder menschlichen Kreatur untertan sein und bekennen, dass sie Christen sind“ (NbR 16,3.6). Es folgen dann etliche Schriftzitate aus Mt und Lk, die belegen, dass den Jünger kein anderes Schicksal erwartet als es der Meister erfahren hat. „Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden“ (Mt 10,22). Mit diesem Jesus-Wort endet das bekannte Missionskapitel (NbR 16,21), das eine Alternative zum damaligen Kreuzzug bietet und eine Wende in der Missionsgeschichte darstellt – zumindest theoretisch.33 Denn in der Praxis haben sich schon die Minderbrüder Berard und Gefährten ganz anders verhalten und das Gebot, keine Streitgespräche zu führen, sondern den Muslimen untertan zu sein, übertreten, als sie 1220 in Marokko gegen Mohammed predigten und deswegen zum Tode verurteilt wurden. Sie als Märtyrer kanonisiert zu sehen und sie jedes Jahr am 16. Januar als Heilige zu ehren, bereitet aus heutiger Sicht manchem Franziskaner Schwierigkeiten. Sie stehen aber auch für die Tatsache, dass die Ideale des Evangeliums zu leben nie einfach ist und wir sie gern mit dem Zeitgeist vermischen. Jedenfalls ist das Prinzip, allen Menschen, ja sogar allen Geschöpfen untertan zu sein, das Franziskus aus 1 Petr 2,13 herauslas, eine Folge des Minderseins, das die Minderen Brüder nicht nur dem Namen nach sein, sondern auch leben sollten, zum Beispiel in ihren Tätigkeiten, wie die Nicht-bullierte Regel betont:
Wenn die Brüder bei anderen Leuten weilen, um zu dienen oder zu arbeiten, dann sollen sie weder Verwalter noch Hausmeister sein, noch sonst eine leitende Stellung in den Häusern innehaben, in denen sie dienen. […] Sie sollen vielmehr die Minderen und allen untergeben sein, die im gleichen Haus sind (NbR 7,1-2).34
In dem Komparativ minor steckt die Dynamik, den jeweils niedrigeren Platz zu suchen wie etwa das Wasser, das immer abwärts, nie aufwärts fließt und wohl deswegen von Franziskus in seinem Sonnengesang „demütig“ genannt wird (Sonn 5). Der Minderbruder sucht nicht die „Karriere nach oben“, sondern die „Karriere nach unten“. Diese franziskanische Demut, diesen Abstieg, diese Erniedrigung haben aufrührerisch und spektakulär zwei Frauen vollzogen, die wir heute als Heilige verehren: die Adelstochter Klara von Assisi, die den Eltern aus der Wohnburg entfloh, und Elisabeth, die Königstochter von Ungarn, die nach dem frühen Tod ihres heiß geliebten Gatten, des Landgrafen von Thüringen, ihre Wartburg verließ, ins Elend der Armen und Kranken hinabstieg, für sie in Marburg das Franziskus-Hospital baute (das erste nördlich der Alpen) und dort persönlich die Schwerstkranken pflegte.
Diese Beispiele zeigen, in welche Tiefen die Nachfolge Jesu führen kann: in die Aufgabe des eigenen Selbst und in das Elend der anderen. Dies ist aber nur die eine Seite der franziskanischen Art des Lebens nach dem Evangelium. Die andere und bei Franziskus vorrangige Art ist die Verbindung mit Gott in Gebet und Kontemplation; sie führt ihn auf die Höhe seiner selbst, was sich z.B. auch darin zeigt, dass seine erhaltenen Gebete ein höheres Sprachniveau zeigen als andere Texte. Hier schwingt er sich so zu Dank und Jubel auf, dass seine Äußerungen zu Liedern werden. So sehr seine Laudes den Psalmen nachgebildet sind, so sehr klingt doch aus ihnen seine eigene Seele. Nicht erst im weltbekannten Sonnengesang, der gleichsam als Wiegenlied am Anfang der italienischen Sprache steht, lädt er die gesamte Schöpfung ein, ihren Schöpfer zu loben, und macht sie durch die Anrede von „Bruder“ und „Schwester“ dem Menschen geschwisterlich verbunden. Auch die anderen meist kurzen Gebete preisen Gottes Größe und Güte und stellen auf Seiten des Menschen dessen hohe Würde und Berufung trotz Erbärmlichkeit und Todverfallenheit heraus.
„Leben nach der Form des heiligen Evangeliums“ ist für Franziskus nicht nur die Nachfolge Jesu in Armut und Demut, sondern auch und zuerst ein Nachvollzug seiner innigen Verbundenheit mit dem Vater. Wie Jesus sich in die Wüste zurückzog, so zieht auch Franziskus sich immer wieder an einsame Orte, in Grotten und Schluchten zurück, um mit Gott allein zu sein. „Dort sprach er oft in lautem Zwiegespräch mit seinem Herrn. Dort stand er Rede und Antwort seinem Richter, dort flehte er zum Vater, dort besprach er sich mit dem Freund, dort spielte er mit dem Bräutigam. Ja wirklich, um alle Fasern seines Herzens auf vielfache Weise zu einem Ganzopfer zu machen, stellte er sich den höchst Einfachen in vielfacher Gestalt vor Augen. Oft betete er, ohne die Lippen zu bewegen, in seinem Inneren. [...] Der ganze Mensch war nicht so sehr Beter als vielmehr selbst Gebet geworden“ (2 C 95). Mit diesem Urteil macht Thomas von Celano wohl die tiefste Aussage über den Poverello: Sein Beten wirkt zurück auf ihn selbst; er wird, was er tut. Seine ständige Gebetsbereitschaft und innere Haltung gestaltet ihn um zum Gebet selbst, er wird ein lebendiges Gebet. Von daher wird auch das, was für seine Zeitgenossen, für viele Menschen nach ihm und zumal in unserer Zeit ein Rätsel war und ist, einigermaßen verständlich: seine Stigmatisation. Francesco war vom Kreuzbild in San Damiano angesprochen; er fühlte sich von dem darauf in lebendigen Farben dargestellten „Christus gloriosus“ berufen, die Kirche zu reparieren; er meditiert, wie der Sohn des erhabenen Gottes sich zu uns Menschen Compassio35