DESIGNGESCHICHTE(n)
Prof. Walter Maria Kersting der erste Lehrer
Books on Demand
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 978-3-8482-9595-1
„Ich kann das nicht, das müssen Sie machen.“ Dies antwortete mir Arno Kersting bei einem Mittagessen, bei dem er mir wieder einmal eine der Geschichten über seinen Vater, Prof. Walter Maria Kersting erzählte, worauf hin ich ihm vorschlug dies alles in einem Buch zu veröffentlichen. Damit war die Idee geboren, dieses Buch zu schreiben.
Das liegt nun einige Jahre zurück und Arno Kersting, der als einer von drei Söhnen als Gestalter in die Fußstapfen seines Vaters trat, ist in der Zwischenzeit verstorben. Ich hatte das Glück und das Vergnügen einige Jahre mit ihm zusammen arbeiten zu dürfen. Arno Kersting arbeitete als Industriedesigner für ein Maschinenbauunternehmen, die HYDAC GmbH, bei der ich zu dieser Zeit für das Produktdesign verantwortlich war. Oft arbeiteten wir gemeinsam in seinem Studio in Erftstadt, wo ich ihn auch später noch besucht habe. Alle Informationen stammen somit aus erster Hand. Dies ist umso wichtiger zu erwähnen, als in der Designliteratur das Wirken von Prof. Walter Maria Kersting häufig auf den Entwurf des Volksempfängers aus der NS Zeit reduziert wird. Dazu werden die Zusammenhänge häufig falsch dargestellt. Es war ein Anliegen von Arno Kersting – und es ist auch meines – dies ins richtige Licht zu rücken. Darüber hinaus soll das Buch das unglaublich vielfältige Wirken Kerstings beleuchten. Völlig untergegangen ist mittlerweile, dass Prof. Kersting der erste Lehrer für industrielle Formgestaltung in Deutschland war. Die Arbeiten seiner Experimentalklasse an der Kölner Werkkunstschule werden in diesem Buch ebenfalls beleuchtet.
Das Schreiben des Buches wurde nicht nur dadurch erleichtert, dass ich Vieles in langen Gesprächen mit Arno Kersting erfahren habe, sondern auch dadurch, dass Walter Maria Kersting stets über seine Ideen und Projekte geschrieben hat. Ob es die Erfindung des Kreiskolbenmotors war, die Idee einen Kleinwagen zu bauen oder einen Rat für Formgebung ins Leben zu rufen. An vielen Stellen konnte auf Schriftstücke Bücher und Hefte zurückgegriffen werden. Deren Alter und Zustand ist auch die Qualität der Abbildungen hier geschuldet.
Prof. Walter Maria Kersting war ein Designer, Lehrer und Erfinder, der die deutsche Designgeschichte ganz wesentlich geprägt hat und den zu entdecken sich lohnt.
REKLAME, REKLAME!
„Noch stärkere Reklame?“ fragte Walter Maria Kersting 1933. Diese Frage war gleichzeitig Titel eines Heftes, das Kersting im Berliner Leonardo Presse-Verlag herausbrachte. Als Gebrauchsgrafiker trug Kersting selbst zu dieser Zeit seinen Teil zur damaligen Werbelandschaft bei. Aber Kersting war Ästhet. Die zunehmende Überfrachtung des öffentlichen Raumes mit schreiender Reklame empfand er geradezu als kulturellen Verfall.
Dies war für ihn der Anlass, seine diesbezüglichen Gedanken zu veröffentlichen. Eine Idee, die ihm von Staatswegen allerdings übel genommen wurde. Bereits wenige Tage nach Erscheinen des Heftes besuchten ihn einige der Herren, die auch in den nächsten Jahren darüber entscheiden würden, was veröffentlicht werden durfte und was nicht. Besonderes Missfallen erregte dabei die von Kersting am Anfang des Heftes skizzierte Berliner Straßenszene, in deren Mittelpunkt das damals zu den größten Kaufhäusern zählende Haus ISRAEL zu sehen war.
Allerdings zeigte sich Kersting von der Kritik seiner aufdringlichen Besucher recht unbeeindruckt. Er vertrieb das Heft in seiner ursprünglichen Fassung. Die zu erwartenden Restriktionen nahm er als Preis dafür in Kauf, öffentlich deutlich zu machen, dass Werbung, sowohl gute als auch schlechte, Teil unserer Kultur ist.
Sein Anliegen war es, den „Industriekapitänen und ihren Werbeleitern, Kaufleuten und Behörden einen Spiegel vorzuhalten und zu mehr Verantwortung in ihrem Tun zu ermahnen.“
Kersting sah sich auch selbst in die Verantwortung genommen. Gleichwohl war ihm jedoch bewusst, dass der Einzelne wenig auszurichten vermochte, wenn seine redlichen Bemühungen in einem Sumpf der Geschmacklosigkeit versinken.
Der Verkehr rollt seinen Film ab: Fahrende Dauerreklame. Oft sausen originelle Dinge vorbei. Aber alles erschlagen zwei Kanonen – zwei Kinos. Die Ufa! Die Industrie der Scheinarchitektur in voller Maske. Die alte steinerne Warenhausarchitektur trägt ein Harlekinsgewand. Über dem Eingang geht quer über die Fassade ein Riesenbildertheater aus Pappe, eine kulissenartige Orgie in Farben, die es sonst einfach nicht gibt.
Und abends wird alles unwahrscheinlich magisch beleuchtet. Schilder überdecken Schilder, und Stehtafeln stehen vor Programmwechselrahmen.
Der staunende Blick wird abgelenkt. Links schreit ein schrecklicher, großer Palastbau, bedeckt mit vergrößerten Szenen aus ausgeschnittener Pappe. Dazwischen steht irgendwo „Theater am Nollendorfplatz“. Damit nichts fehlt, gibt es auch hier eine Kulissenplastik.
Und Kersting zögerte nicht, die Verantwortlichen beim Namen zu nennen „… die Behörden verschachern um ein Trinkgeld in die öffentliche Hand ihren Buckel, um Reklame darauf zu machen. Und die Pest frisst sich ein.“
Und in der Tat verbreitete sich immer schreierische Werbung in diesen Monaten wie ein Bazillus in den deutschen Großstädten. Schließlich erstarkte das Land der Dichter und Denker. Und das großmannsüchtige Selbstbewusstsein, das die Welt in eine nie da gewesene Katastrophe stürzen sollte, erfasste zunehmend auch Industrie und Kaufmannschaft.
Wirtschaft und Verwaltung gingen eine unheilige Allianz ein. Der Berliner Magistrat beispielsweise vermietete alle Masten und Laternenpfähle an die Berliner Reklame AG.
Diese wiederum verpachtete den zu den Laternen gehörigen Luftraum zur Anbringung von Werbetafeln. Unverhohlen zelebrierte man Eigennutz vor Allgemeinwohl. Und Kaufleute, die sich weigerten, Laternenpfähle vor ihrer Tür mit teuren Werbetafeln auszustatten, konnten sicher sein, dort schon bald die Reklame ihres ärgsten Konkurrenten zu sehen.
Wie sich solcherlei Stadtplanung in der Praxis auswirkt, beschrieb Kersting am Beispiel des Nollendorfplatzes in Berlin so: „… schon von weitem sieht man schweres Geschütz. Zwischendurch rasseln Straßenbahnen. Ja, wir wissen schon, sie verkünden ODOL. Und noch ein Omnibus: STARTE MIT VARTA. Am Bahnhof steht, wie auch sonst an vielen Stellen in Berlin, eine dicke Tafel mit seitlichen Türmchen, oben am Turn zwei waagerechte Bretter. Sinn ist nicht darin zu finden. Aber eine Ausstellungsankündigung klebt auf der Tafel. Ob das ganze Ding bloß wegen des Plakates da ist?
Wo gerade Platz ist, hängen große und grausige Schilder. Ein Verbrecherkopf in Blau hängt da oben, er hat eine Höhe von fünf Metern, eine karierte Stirn und gelbe Flecken im Gesicht. Der blaue Kopf hat einen vier Meter langen schwarzen Hals, und unten am Halse steht: „Mozartsaal“. Mozart!
Dann kommt die Beireklame. Der Eingang ist unsäglich gepflastert. Das Ganze macht einen spukhaften Eindruck. Hier ist jede Reklame erlaubt, Tollheit und Irrsinn. Die Augen irren umher.
Der Omnibus empfiehlt Kölnisch Wasser Farina, die stilisierte rote Blume winkt. Auto um Auto rollt vorbei und gelbe Straßenbahnen mit Reklameschildern und Wimpeln an der Stange.
Weiter links häufen sich die Schilder auf der Häuserfront. Kugellager, Apotheke, Zander, Erbranjo, Schultheiß und wie sie alle lauten mögen. … Es ist unglaublich, wie viele Riesenschilder, Blechkastenbuchstaben, Transparentverglasungen, Farben und Ideen auf einer Häuserfront von zehn Schritt untergebracht werden können! Die heterogensten Formen schieben sich ineinander und überbieten sich gegenseitig, um hervorzuspringen. Eine Normaluhr steht vor der Front in lachhaft zusammengeknickter Architektur, natürlich dient sie wie immer der Reklame.
Der Blick geht weiter um den Platz. Tolle Farben schreien durcheinander. Eine Ecke ist blutrot verglast. Zehn Meter hoch ist das Blut schon gestiegen“.