FELIX AESTHETICUS
KONVERSATIONSKUNST
IM ZENTRUM FÜR KUNST UND MEDIENTECHNOLOGIE,
ZKM KARLSRUHE
herausgegeben von
Kurd Alsleben, Antje Eske, Heiko Idensen
Books on Demand
Hrsg: Alsleben/Eske/Idensen: felix aestheticus
Konversationskunst im ZKM Karlsruhe
mit Beiträgen von
Zorah Mari Bauer_ Stefan Beck_ Steffi Beckhaus_ Julia Bonn_
Sven Braun_ Tanja Döring_ Hans Joachim Engel_
Detlev Fischer_ Torsten Juckel_ Stefanie Körner_ Tilo Kremer_
Michael Kress_ Matthias Lehnhardt_
Volker Lettkemann_ Julian Rohrhuber_ Heidi Salaverría_ Claudia
Schmölders_ Karen Scholz_ Roland Schröder-Kroll_
Axel Sylvester_ Bernhard H.F. Taureck_ Rolf Todesco_
Martin Warnke_ Renate Wieser_
Chrisdian Wittenburg_ Frank Wörler
edition kuecocokue
Im vorjährigen Frühling brachte zu einem Besuch in Göttingen, bei Manfred R. SchroederG und seiner Frau Anni, Margit Rosen von Peter Weibel die glückliche Nachricht mit, dass wir, Antje Eske und Kurd Alsleben, in Karlsruhe im ZKM ein Konversatorium realisieren können.
Dieses Konversatorium hieß mit Arbeitstitel ‘Social_Software_Künste‘ und später ‘Konversationskunst’: http://konversationskunst.org/
Es umfasste als
I. Teil eine Ausstellung, die via verschiedener Medien Informationen quasi als Anregungen vorausstellte.
II. im Hauptteil fanden 15 Konversationen unter Besucherinnen, Besuchern und wechselnden Freunden und Freundinnen im ungezwungenen Lauf ihrer Intentionen statt.
III. Teil ist das vorliegende Buch, das Kurd Alsleben, Antje Eske und Heiko Idensen - die vor 10 Jahren schon das NetzkunstWörterBuch bearbeitet haben - in Kooperation mit 26 Mitautoren, die alle Teilgeber und -nehmer von Konversationen im ZKM waren, herausgeben.
‘Terpsichore‘
Uns wurde damals die Zeit bis zum vereinbarten Termin zu lang, so dass wir unverzüglich mit ambulanten Konversatorien begannen. Wir fuhren für zwei Tage zu Stefan Beck ins multi-trudiG nach Frankfurt /Main, zu Martin Warnke in die Uni Lüneburg, zu den Informatikern an die Uni Dresden und anderen, um jeweils in offiziösen Gruppen zu konversieren.
Den Transfer ins Konversatorium nach Karlsruhe leistete die ausführliche Dokumentation «Terpsichore» ISBN 978-3-8423-1868-7.
Ausstellung.
Die Räumlichkeit im ZKM diente als Ausstellungs- und als Konversationsarchitektur. Die eine Längswand des Ausstellungsraumes war die so genannte WACHSENDE WAND. Auf ihr wurden in Schrift und Bild nach und nach die Berichte der Konversationen gepostet. Sie hob so im Laufe der Zeit die Vorausgestelltheit der Ausstellung auf.
An der gegenüberliegenden Längswand waren fünf COMPUTERZEICHNUNGEN von Kurd Alsleben, Cord Passow gehängt, die als künstlerischer Austausch zwischen K. Alsleben und einer Denkmaschine (Analogcomputer EAI 231R) 1960/61 entstanden waren. Dieses Schlüsselerlebnis, der Künstler empfängt Botschaft, entfremdete von der Jahrtausende festgeschriebenen rhetorischen Figur Künstler-Werk-Publikum zugunsten menschlichen Umgangs und Austauschs. Dass nicht “Kommunikation mit der Maschine“ Thema Nr.1 ist, sondern Austausch unter Menschen, zeigt der Durchbruch des Social Web an. Im Ausstellungsraum gab es Online-Monitore, mit denen die Besucher und Konversanten ins SOCIAL WEB gingen.
Darüber hinaus waren in der Ausstellung für Besucher und Konversationen mehrere MOBILE SCHAUTAFELN und die Carte de tendre (1654) an der Stirnwand. Für alle Tafeln gab es Audioguides.
Von KONVERSATIONSSPIELEN, die mit kleinen Anreizen (felix aestheticus buttons) für Selbsttätigkeit angeboten waren, wurde insbesondere die Carte de Tendre von Madelaine de Scudéry, mit freien Spielregeln und anregend für Gespräche, gern gespielt. Das lag an ihrer außerordentlichen und berührenden sozialästhetischen Qualität.
Historischer Höhepunkt der Ausstellung war das Buch von Baldassare Castiglione: IL LIBRO DEL CORTEGIANO, das Buch vom Hofmann, in Originalfassung 1552 (1528) aus der Badischen Landesbibliothek, das den Anfang der Konversationskunst der Neuzeit repräsentiert. Zwei Computerstationen von Steffi Beckhaus et al., mit der Software SOUNDVISION installiert, waren auf der Suche nach erweiterten menschlichen Ausdrucksformaten. Von Julian Rohrhuber und Renate Wieser war eine SONIFIKATION installiert und zu hören, die erfreuend auf uneinheitliche Koexistenzen in Konversationskunst hinwies. Zu angezeigten Zeiten konnten die Besucher am BILDERCHAT, einem Netzaustausch im Medienwechsel, der von A. Eske u.a. 2001 entwickelt und in dem sich seit 10 Jahren 1 x pro Woche über eine Stunde ausgetauscht wurde, teilnehmen.
Am Ausstellungseingang war der Film ZWANGLOS REDEN IST EINE KUNSTFORM projiziert, von Margit Rosen, Moritz Büchner et al., der in die Konversationskunst einführt. Im hinteren Teil gab es eine Filmabspielstelle. Dort war jeder Sesselplatz mit einer Fernbedienung ausgestattet, damit sich die Besucher untereinander, über die Filme konversierend, austauschen konnten ohne durch die Ablaufform gezwungen zu sein. Es liefen zwei Filme: IL CHAT DI URBINO von Jonas Alsleben, Fritz Saalfeld und DIE WERKFALLE von Jonas Alsleben, Carl-John Hoffmann.
Besucher konnten regelmäßig FÜHRUNGEN seitens des ZKM folgen.
Fünfzehn Konversationen
Jede Woche liefen zu angezeigter Zeit Konversationen. Alle 14 Tage online per Skype (Bildtelefon) und 15 mal visàvis im ZKM. Sven Braun führte das Bildtelefon in die Museologie ein und stellte eine SKYPEVERBINDUNG zwischen Alsleben/Eske in Hamburg und den Besuchern im Ausstellungsraum des ZKM her - eine Verbindung auch zugleich nach Hannover mit Heiko Idensen o.a. scheiterte diesmal noch. Das Bildtelefon ist für Konversationskunst ein vielversprechendes Medium.
Was im Verhältnis zur Visávis-Übertragung ausbleibende Sinnesdaten für Kunst bedeuten, ist vieldeutig. Man sollte es nicht überschätzen. Jedes Medium – auch das Visávis – hat, je nachdem was als richtig gelten soll, Vorteile und Nachteile. So bietet Skype etwa die ästhetische Überraschung, sich ungeniert ununterbrochen ansehen zu können, was für die Beteiligten eine gänzlich unbekannte Freude ist.
An 8 Wochenenden wurden im ZKM insgesamt 15 OFFIZIÖSE KONVERSATIONEN unter Besuchern, Freundinnen, und Freunden gehalten. Außer den BesucherInnen, deren Namen wir leider nicht festgehalten haben, und den MitautorInnen dieses Buches gaben in den Konversationen teil: Wolfgang Coy, Mike Hentz, Sabine Kullenberg, Matthias Weiß.
Die Mitschnitte der Konversationen sind zu finden unter:
http://netzkunstwoerterbuch.de/
oder nachzulesen im Buch (im Druck) von ANTJE ESKE: KUNST OHNE PUBLIKUM.
OffiziösG meint ein Consort mit interessanter Mischung aus konversen und harmonischen Momenten und einem Umfang persönlichen Kontaktes. Als methodisch antikartesische KonversationenG oder KunstaffairenG wurden keine Themenpläne abgehandelt, sondern thematische Anregungen und Spiele eingebracht. Solch ein methodisches Vorgehen fördert eine neue Kulturtechnik, die Konversation – auch als wissenschaftliche Methode, parallel zur Hypothese.
Die inhaltliche Blickrichtung mag wie folgt umschrieben werden: Zum Beispiel In der ‘Computerzeitung‘ erschienen seit 2006/2007 laufend Artikel über Web 2.0, 3.0. Die indoktrinierende Herrschaft der Semantik des Jahrzehnte währenden Human-Computer-Interaction-Paradigmas über die allgemeine Semantik wurde durch das explosionsartig aufgetretene Social Web aufgehoben.
Das bedeutet für die Künste, wegen ihrer essenziellen kommunikativen Mensch-Mensch-Beziehung, eine entscheidende Befreiung des Denken und Fühlens. Unser Konversatorium in Karlsruhe fragte nach bestehenden oder vorgestellten Beziehungen zwischen Künsten und Social WebG.
Das Buch nennt Befunde, Reflexionen und Konsequenzen. Vielleicht geht es darum, das Social Web konversationell zu verwenden und seiner konfektionierten Formen und Lebensformen zu entfremden.
Community-Basierte Kommunikations- und Schreibformen im Social Web
#KoKuSo @konversationskunst #kunst #literatur #sprachspiele
Das Gespräch und der Marktplatz (Agora)
… ist ja letztlich das Modell der abendländischen Demokratie, der sokratisch/platonischen Dialog-Kultur - also Grundlage unserer Politik, Philosophie, Pädagogik.
Es gibt viele (mehr oder minder misslungene) Versuche solch dialogische Verfahrensweisen und Diskursstrukturen in die Computer- und Netzwerk-Kultur einzuschleusen: Hypertext, Netzliteratur und die kollaborativen Momente (Verfahrensweisen, Plattformen ….) bestimmter (netzaffiner) Sub-Szenen der Netzkultur … funktionierten in abgeschlossenen Mikro-Bereichen (Schreibexperimente, kommunikative Gemeinschaftsprojekte …) und blühten kurzfristig mit teils großem diskursivem Pomp und einer Unmenge von Veröffentlichungen auf, konnten sich aber weder nachhaltig als eine relevante Kulturtechnik etablieren, noch gelang es, die Utopien und Versprechungen dieser Verfahrensweisen als eine verbreitete kulturelle Praxis umzusetzen.
Die Ideale und Forderungen etwa der Netzliteratur-Bewegung wie ´Die Leser werden Autoren´1 oder ´Die Poesie kann von allen gemacht werden!´2 blitzen aber immer wieder auf - ähnlich den Praktiken avantgardistischer Künstler3 -und halten somit eine gewisse Tradition kommunitärer Beteiligungskulturen lebendig, wie sie sich auch in Open-Source und Open-Content Initiativen auf breiter Basis zeigt. Mit der Geburt des Social Web geben Community-basierte Wissens-Projekte wie Wikipedia beredte Beispiele für die ´Weisheit der Vielen´ … und Umwälzungen ungeahnten Ausmaßes werden plakativ als ´Facebook-Revolution´4 getaggt …
Social Media hält Einzug in alle Bereiche der Gesellschaft: Literatur 2.05, Kunst2.06, Wissenschaft 2.07, Journalismus 2.08, Politik 2.09 …
… und es erscheint fast so, als könnten nun doch gesellschaftliche Utopien, die unter den Bedingungen der Globalisierung und eines aggressiven Neo-Kapitalismus/ Liberalismus immer mehr in Vergessenheit geraten sind, wieder umgesetzt werden … Schön wär’s!
Ein kleiner Rück-Blick in die Entstehungsgeschichte des SocialWeb soll diese Tendenz erhellen, untermauern und vielleicht auch ein wenig die historischen Wurzeln und Entstehungsbedingungen frei legen, bevor wir uns den vielfältigen neuen konversationellen Praktiken im SocialWeb zuwenden …
Ein wichtiger Meilenstein dieser Entwicklung ist das Cluetrain-Manifest, das auf dem Höhepunkt des Dot.com Booms, kurz vor dem Platzen der Blase, ein anschauliches Dokument dieser fundamentalen Umwälzung ist, inhaltlich sehr interessant, immer noch aktuell, aber auch sprachlich witzig und vielsagend:-)
CLUETRAIN-MANIFEST10
1 Märkte sind Gespräche.
6 Durch das Internet kommen Menschen miteinander ins Gespräch, das war im Zeitalter der Massenmedien undenkbar 38 Grundlegend für die sozialen Gemeinschaften der Menschen ist der Diskurs. Menschen, die sich über menschliche Belange unterhalten.
95 Wir sind aufgewacht und verbinden uns miteinander. Wir beobachten, aber wir warten nicht.11
Gespräche im weitesten Sinne werden also als Grundlage sämtlicher Geschäftsprozesse (wieder) entdeckt … Die Konversationskunst ist somit im Zentrum der post-industriellen (Dienstleistungs-) Gesellschaft, in der alles nach dem Modell 24/7 funktioniert, angekommen und zum zentralen Vehikel (fast) aller grundlegender Wertschöpfungs-, Kommunikations-, Lern-, und Wissens-Prozesse geworden.
Social Media ist die Transformation demokratischer Beteiligungsformen, avantgardistischer Kunstformen (Fluxus, Performance, Interaktionskunst) … auf kommunitäre Netzwerk-Plattformen, in der die Unterscheidung zwischen Konsument/Produzent, Käufer/Verkäufer.. ebenso schwindet wie – auf anderen Spielfeldern der Kultur – die Unterscheidungen zwischen Autor/Leser12, Schauspieler/ Zuschauer, Lehrer/Schüler, Selbstständiger/Arbeiter …
Die neuen sozialen Texte zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort
Platon warf dem geschriebenen Wort vor, es könne, ganz im Gegensatz zum gesprochenen Wort (im mündlichen Dialog) eben gerade nicht antworten13 – und sei deshalb zu verdammen, nicht gesellschaftsfähig, könnte nicht die vorherrschende Kommunikationsform einer ´freien´ Gesellschaft sein.
Dieses nicht-antworten-können der Leser (und in der folgenden Medienentwicklung auch der (Theater-, Fernseh-) Zuschauer, der “Informierten“, der “Empfänger“ (vor den Volksempfängern), der Schüler, der “schweigenden Mehrheit“ (in der demokratischen Massen-Medien-Gesellschaft), der Be-Herrschten, der Kon-sumenten … weicht jetzt mit den Sozialen Medien einer Eingabezeile, einem Reply-, Kommentar- oder share-Button, mit dem jedes Dokument (egal ob Text, Bild, Audio- oder Videodatei) Bestandteil eines kollaborativen, auf Austausch und sozialer Vernetzung beruhenden offenen Kommunikationsraumes wird. Das ´Antworten´ wird somit zur zentralen Aktivität im Social Web:
Die Leser von heute finden keine unabänderlichen, in Stein gemeißelten oder mit Bleilettern gesetzten und auf Papier gedruckten (was immerhin den Vorteil der Haltbarkeit und “Verlässlichkeit“ hat:-) Zeilen von Worten mehr vor, sondern sie stehen permanent vor einer “offenen Seite“, einem leeren Eingabefeld, das fragt:
oder er wird aufgefordert, das gerade angesehene Video oder das gerade betretene Restaurant mit seinen Freunden zu “teilen“ …
… und selbst der Käufer / Konsument findet nicht mehr einfach nur einen Bestellbutton vor, mit dem er ein zuvor ausgewähltes Produkt in den Einkaufskorb legen kann, sondern er kann vielmehr:
… crowdsourcing-, cut-up-, mashup-Projekte14 kulminieren, sammeln, aggregieren Dokumente, Bilder, Texte und Materialien …
… und man fragt sich letztlich, wie das “kollaborative Geld“ aussehen mag, als die Währung, das Zentrum, der Garant, das Äquivalent dieses universellen Austausches: womit und wofür und wodurch “be-zahlen“ wir letztlich die aggregierten Materialien als allzeit aktive Pro-Sumenten … oder “be-zahlen“ wir gar nicht mehr, tauschen wir nur noch aus:
Was ist die Währung, bzw. was sind die Bezugspunkte im Sozial Web, in diesem fluidem Raum des offenen Austausches, worauf Be-ziehen wir uns? Wird dieser universelle Austausch nicht be-liebig? Ist ´Wahrheit´ oder ´Wahrhaftigkeit´ nun lediglich eine Netzwerkvariable, ein quantitatives Konglomerat aus ´Freunden´, Bezugnahmen, ´likes´15 …
Was wird eigentlich bei einer Kon-Versation ausgetauscht?
Die in diesem Text (und in diesem Konversations-Buch) aufgeworfenen Fragen teilen wir gern mit den Leserinnen und Lesern … dazu brauchen wir keine Webseite mehr, nicht einmal einen Weblog, kein Postfach oder keine E-Mail-Adresse16 … sondern lediglich einen hashtag: Da #konversationskunst17 zwar schön, aber zu lang ist, schlage ich vor #KoKuSo …
Heiko Idensen
1 http://www.berlinerzimmer.de/eliteratur/netzautoren/referat1.html
2 http://www.netzliteratur.net/idensen/poesie.htm
3 http://www.netzliteratur.net/idensen/idensen_manovich.htm
4 http://www.diigo.com/user/web2write/twitter-revolution
5 http://www.diigo.com/user/web2write/literatur2.0
6 http://www.diigo.com/user/web2write/kunst2.0
7 http://www.diigo.com/user/web2write/wissenschaft2.0
8 http://www.diigo.com/user/web2write/journalismus2.0
9 http://www.diigo.com/user/web2write/politik2.0
10 http://www.diigo.com/user/web2write/cluetrain
11 http://www.cluetrain.com/auf-deutsch.html
12 http://www.netzliteratur.net/idensen/rache.htm
13 http://www.netzliteratur.net/idensen/hypersciencefiction_text.htm#Heading10
14 Eines der genialsten Plattformen zum Verknüpfen von Text/Bild/Video/ Audio – Streams im Social Web ist storify, benutzt von Künstlern, Literaten, investigativen Journalisten gleichermaßen: http://www.diigo.com/user/web2write/storify
15 Jene vielbeachtete Messzahl, die besagt, wie oft der „gefällt mir“ Button gedrückt wurde, Grundlage von Social Media Monitoring, was früher einmal Marktforschung hieß und zukünftig wahrscheinlich das System der „Wahlen“ mehr oder minder ablösen wird …
16 … die ersten „offenen Texte“ in den 1980er Jahren hatten noch folgende Schnittstelle: wir forderten die Leser auf, Anmerkungen und Kommentare durch das Einschicken von Disketten vorzunehmen (Verweis: siehe Hypercard-Stack-Austausch!)
17 http://twitter.com/#!/konversationen Hier finden sich auch Kurz-Mitschriften einiger Konversationsrunden im ZKM mit besonderem Fokus auf Sprachspiele …
Gewiss wird nicht einmal die Frage jedeR sinnvoll finden, ob Social Web Kunst sein kann - es ist doch das Medium unserer Zeit!
Also, was können wir zur Zeit in unserer Lage empfinden und besprechen?
(Es gab im Zusammenhang mit dem ZKM Karlsruhe visàvis oder online 15 KonversationenG und 10 Terpsichore-Konversationen. In der Kunsthalle Bremen liefen vorher 27 Konversationen/Netzkunstaffairen).
Der Beobachtung nach geht es um eine Kunst sozialästhetischen Umgangs, instigiert auch durch Informationstechnik.
Die Telefonie hat vor eineinhalb Jahrhunderten als revolutionäre Medientechnik keinen Kunstanspruch gestellt - anders als 300 Jahre früher das Printmedium mit der erfolgreichen Essayform von Montaigne.
Fehlt es grundlegend an einem ästhetischen Sinnesorgan und seiner Kunst, Sozialität des Umgangs unmittelbar wahrzugeben und wahrzunehmen und untereinander zu kultivieren? Wenn auch in der Ästhetik nicht besonders abgehandelt, fehlt das durchaus nicht: Freundlicher, offener, interessierter, unterhaltsamer Umgang waren als ars sermonis und Mäeutik schon in der Antike rege und ausgesprochen beliebt.
Bewegten zur Zeit der dialogischen Telefonietechnik vielleicht Massenphänomene oder sich bewegende Bilder die Phantasien? Vielleicht motivierten auch die durch Schopenhauer gerade übersetzten Texte von Balthasar Gracián, die den sozialästhetischen Umgang instrumentell als Strategien und als Weltklugheit darstellten, die Menschen wenig für eine Kunst. Übrigens ist Graciáns Zeitgenossin Madeleine de ScudéryG einen gegenteiligen Weg sozialästhetischG offenen Verhaltens gegangen. Sie schrieb für die Konversationskunst die Maxime: „Wisse niemals was du sagen wirst.“
Bei heutigem künstlerischem Umgang im Social Web oder visàvis kann der Sozialitätssinn sich kultivieren und Sensibilität sich beim Auslegen von Bedeutungen, von Anzeichen oder AnsinnungenG oder bei SemantikenG von Wortformungen bilden. In allgemeiner idealtypischer Ereignisbeschreibung kann man sagen, KonversationskunstG ist eine mehr oder weniger zusammenhängende Zeit, die in einer visàvis oder online zusammenseienden offiziösenG Gruppe einander fremder und vertrauter, sich nicht unmittelbar unsympathischer Personen verbracht wird. Die Personen sind wohl von AntwortnotG getragen, aber man sucht keine Erkenntnis oder Problemlösung. Vielmehr ist man im eigentlichen Sinne interesselosG, ohne Bestimmtes zu wollen. Wahrnehmung und Wahrgebung entsprechen dem felix aestheticus und sind sozialästhetischG orientiert.
Wenn ein CommonsenseG weitgehend konstruiert und fabriziert ist, also die Werte, das was wahr, schön und gut ist, vorgegeben werden, ist Nachahmung ein tüchtiger Modus, der auch zum Tragen kommt, wo sich vorgestellt wird, dynamischer Gemeinsinn könnte wachsen indem metaphorische Richtungsandeutungen und affektive Indizien untereinander empfangen, auch konversiert werden. Konversation sah keinen Streit vor, berichtet Claudia Schmölders über die alteuropäische Konversationskultur. Das möchten wir adaptieren, um nichtmonoideistische Konversitäten zu verwirklichen.
Kurd Alsleben
Mutuell (abgeleitet vom lateinischen « mutuus »: 1. geliehen; 2. wechselseitig, gegenseitig, beiderseitig) bedeutet auf Gegenseitigkeit beruhend, die Qualität einer vernetzten Kunst im Internet und vis à vis1.
Konversationskunst ist das gemeinsame künstlerische Gestalten gemeinsamen gesamtsensorischen Umgangs. Fälle alter Konversationskunst waren die antike ´ars sermonis´G, die Musenhöfe der Renaissance, die Pariser Salons mit den Genres ihrer Zeit: Konversationsspiele, Kammertanz, Lustwandeln, Maskenfreiheit, Musizieren, Parlieren, Tafeln, Theatern etc2. Die Konversation widerspricht dem im 19. und 20. Jahrhundert gültig gewordenen autonomen Kunstbegriff Künstler/Werk/Publikum. In den 1950er Jahren entwickelten sich Formen der Publikums-Partizipation (Karl Gerstner/ Partizipationskunst2). Komplementär dazu stand notwendig die mutuelle Veränderung der Künstlerrolle an: der Künstler, der Nachricht begehrt.
Konversation ist keine Koproduktion. Der Austausch strebt nicht von vornherein etwas Bestimmtes an und entspricht so der Kunst, die niemals Mittel ist. Die Philosophin Heidi Salverría schreibt: In der konversationellen Begegnung «steht man nicht außen, das Selbst steht nicht über oder unter dem Anderen, sondern stellt sich dem Anderen.»3 Dabei geht es auch darum, ein Bewusstsein davon zu erreichen, dass das Anderssein der Anderen jeweils unerkennbare Weiten - auch von Möglichkeiten - umfasst. Das Bestaunen von AnderweitenG halten wir, als erste Reaktion darauf, für angemessen. In dieser Atmosphäre «entsteht ein Klima gegenseitiger AnerkennungG, das den Boden dafür bereitet, (…) sich gemeinsam auf das Feld ungeklärter Fragen und Probleme zu wagen, um dann in gegenseitiger Unterstützung und Verstärkung gemeinsam herauszufinden: ‚Wie wär’s denn schön?»3
Beim konversationellen, spielerischen AustauschG, wie wir ihn im ZKM in Karlsruhe betrieben haben, ging es neben der Verbindung von Kunstgeschichte und Netzkunst und dem Austausch mit adäquaten Ausdrucksmitteln auch darum, neue Möglichkeiten des miteinander Umgehens und des Kennenlernens im unhierarchischen Austausch zu erfahren - bei dem es noch keine eingefleischten Verhaltensweisen gibt - und dabei eine größere individuelle Offenheit für die riskante Anderweite der Anderen zu entwickeln. Durch den Perspektivwechsel, der daraus erfolgen kann, aber auch durch die AnregungG, die eine ProblemhöheG in die Konversation bringt, entwickeln sich Vorraussetzungen dafür, dass der Austausch nicht über alltägliches, smalltalkartiges Schwätzen oder diskursives Debattieren läuft.
Der Perspektivwechsel geht aktiv vom jeweiligen Menschen aus. Er ist dabei nicht der Überzeugte, Überredete oder Getäuschte. Nur über Gespräche ist die Erfahrung des Perspektivwechsels nicht ohne weiteres möglich, denn die Rede ist schnell verflogen und wird meistens im Sinne der eigenen Perspektive interpretiert: ´Man hört nur das, was man hören will.´
Eine wichtige Voraussetzung für die Konversationskunst ist die schon angesprochene Problemhöhe, eine gehobenere Ebene des zwischenmenschlichen Austauschs: poetisch, spielerisch, getragen von interesselosemG Wohlgefallen. Bei dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten heißt sie « magnitudo aesthetica »4 und das interesselose Wohlgefallen «felix aestheticus». Felix aestheticus spielt im Rahmen von Konversationskunst eine tragende Rolle. Es meint nicht zuletzt die Deutlichkeit der Wahrnehmung der Dinge im Status entspannter, flüchtiger Aufmerksamkeit. Diese Offenheit für alles beinhaltet die Chance, Abstand zum produzierten Common Sense zu erlangen und dabei den eigenen Faden durch Bezugnahme auf die Anderen weiterzuspinnen.
Im konversationellen Zusammenhang fällt ´Spielen´ eine besondere Rolle zu. So wurden am Musenhof von Elisabetta Gonzaga im italienischen Urbino zwischen 1503 und 1508 diverse Konversationsspiele erdacht und erprobt. Auch in den Salons des Barock und Rokoko verband die Beteiligten ein spielerischer Umgang. Im 20. Jahrhundert ersetzten die Dadaisten Inhalte durch Verfahren und verwandelten das Werk in ein für Überraschungen offenes Zusammenspiel von Autor, Objekt und Betrachter. Heutzutage findet im Internet ein quasi flächendeckender, auch spielerischer Austausch statt.
Die Technik ist gegeben. Es gilt ihre Kommunikationsformen zu kultivieren. Konversation ist die wesentliche künstlerische Form dafür. Sie führt nicht zu konkreten Ergebnissen, sondern erzeugt durch regelmäßige Wiederholung kulturellen Humus.
Antje Eske
1 Alsleben, Kurd und Antje Eske, (Hg. 2004): Mutualität in Netzkunstaffairen ein Bericht, edition kuecocokue, Hamburg/BoD, Norderstedt
2 Alsleben, Kurd und Antje Eske, (Hg. 2001): NetzkunstWörterBuch, edition kuecocokue, Hamburg/BoD, Norderstedt
3 Heidi Salaverría, « Vorwort », in: Alsleben, Kurd und Antje Eske, (Hg. 2004): Mutualität in Netzkunstaffairen ein Bericht, edition kuecocokue, Hamburg/ BoD, Norderstedt
4 Hans Rudolf Schweizer, « Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis: eine Interpretation der ‚Aesthetica’ A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung », Schwabe, Basel 1973