Sieben Jahre, von April 1933 bis Juni 1940, lebte und arbeitete der spätere SPD-Vorsitzende und Bundeskanzler Willy Brandt als politischer Flüchtling in Norwegen. Im Rückblick bezeichnete er diese Zeit als seine »Lehr- und Wanderjahre«. Der vorliegende Reiseführer lädt dazu ein, das Land der Fjelle und der Fjorde auf seinen Spuren zu erkunden.
Der Autor (Jg. 1960), der sich beruflich als Verwaltungsjurist betätigt, ist erfahrener Norwegen-Urlauber. Die Idee zu seinem Buch kam ihm beim Besuch einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstalteten Ausstellung über den Lebensweg Willy Brandts im Rathaus von Oslo.
An Reiseführern aller Art ist wahrlich kein Mangel. Dieser sticht aus der Fülle kaum mehr zu überschauender Angebote hervor, weil er eine enge Verbindung zwischen einem Land und einer großen Persönlichkeit herstellt. Einer Persönlichkeit, die selbst von außen in dieses Land kam – nämlich zwischen Willy Brandt und Norwegen.
Gewiß: Willy Brandt kam nicht als Tourist. Er kam als Flüchtling, der Deutschland im April 1933 wegen der ihm von Seiten des NS-Regimes drohenden Verfolgung verlassen mußte und sodann bis zum Jahre 1940 in Norwegen eine wichtige Phase seines Lebens verbrachte. Eine Phase, deren Bedeutung für seine politische Sozialisation und seine späteren Leistungen für die Bundesrepublik nicht hoch genug veranschlagt werden kann.
Uwe Heilemann läßt den Touristen in diesem Buch Norwegen auf den Spuren Willy Brandts kennen lernen. Dabei erschließt sich dem Leser nicht nur die besondere Schönheit der norwegischen Landschaft und der eigentümliche Charakter der norwegischen Städte. Vielmehr erfährt er zugleich, was Willy Brandt seinerzeit an diesen Orten – also beispielsweise in Oslo und in Bergen oder an den Fjorden – erlebte und was er dort gelernt und getan hat. Die Reise verhilft dem, der sie anhand dieses Buches unternimmt, nicht nur zu neuen Eindrücken, sondern zu einer Erweiterung seines Gesichtskreises in mehrfacher Hinsicht und erinnert ihn auch an Ereignisse der Vergangenheit, die vor dem Vergessen bewahrt werden sollten.
Ich begrüße daher, daß ein solches Buch aus eigener Initiative des Verfassers erscheint und wünsche ihm eine gute Aufnahme.
München, im Juli 2003
Dr. Hans-Jochen Vogel
»Tysker søker asyl« (»Deutscher beantragt Asyl«) – mit diesem Aufmacher präsentierte sich die Trondheimer »Adresseavisen«, Norwegens älteste Tageszeitung, am 24. Mai 1993 ihren Lesern. Die Geschichte hinter der Neugier erweckenden Schlagzeile ist schnell erzählt: Auf der Flucht vor Hetze, Stress und Ärger in seiner Heimat hatte ein junger deutscher Bankangestellter vor den ob dieses Ansinnens sprachlosen Beamten des Trondheimer Polizeipräsidiums um Asyl in Norwegen nachgesucht. Stress als Asylgrund? – die norwegische Ausländerbehörde sah sich mit einem Fall konfrontiert, der in ihren Richtlinien nicht vorgesehen war. Doch glücklicherweise kam ihr bereits nach kurzer Zeit die Familie des so sehr aus dem Rahmen fallenden Asylbewerbers zu Hilfe. Ihr gelang es, den verlorenen Sohn zu einer Rückkehr in die Heimat zu überreden und eine Entscheidung über seinen Asylantrag hierdurch entbehrlich zu machen. Den weitgehend problemlosen deutsch-norwegischen Beziehungen dürfte damit eine einschneidende Belastungsprobe erspart geblieben sein.
Ungleich ernster als in dieser vergnüglichen Episode waren die Umstände, die einen anderen jungen Deutschen sechs Jahrzehnte zuvor zum Asylbewerber in Norwegen werden ließen. Auf der Flucht vor den in seiner Heimat an die Macht gekommenen Nazis und mit dem Auftrag, sich um einen Ausbau der Zusammenarbeit zwischen seiner Partei, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), und der Norwegischen Arbeiterpartei (NAP) zu bemühen, kam der gerade 19-jährige Schiffsmaklerlehrling Herbert Frahm aus Lübeck im April 1933 in die norwegische Hauptstadt Oslo. Er ging damals davon aus, dass die Diktatur der Braunhemden und sein hierdurch erzwungenes Exil längstens vier Jahre dauern würden. Doch erst im November 1945 sollte er in seine nunmehr in Trümmern liegende Heimat zurückkehren, als norwegischer Staatsbürger und mit einem neuen Namen: Willy Brandt. Der vorliegende Reiseführer folgt seinem Weg durch Norwegen.
Auf dem Weg nach Norwegen kann man sich selbstverständlich in Frankfurt, München oder Hamburg einer Linienmaschine der Lufthansa anvertrauen und nach einer Flugzeit von eineinhalb bis zwei Stunden auf dem 50km nordöstlich der Osloer Innenstadt gelegenen Flughafen Gardermoen norwegischen Boden betreten. Seit dem Bau der Öresundbrücke zwischen der dänischen Hauptstadt Kopenhagen und dem schwedischen Malmö besteht auch die Möglichkeit, die skandinavische Halbinsel von Deutschland aus auf dem Landweg zu erreichen, ohne hierzu einen zeitraubenden Umweg über Polen, Russland und Finnland in Kauf nehmen zu müssen. Als die mit Abstand interessanteste und stimmungsvollste Art und Weise, sich der norwegischen Hauptstadt zu nähern, dürfte jedoch die Anreise auf dem Seeweg anzusehen sein.
Der Höhepunkt einer Schiffsreise nach Oslo erwartet den Passagier hierbei auf deren letztem Abschnitt: Die Fahrt durch den gut 100km langen Oslofjord. Zwar entspricht diese breite Wasserstraße mit ihren flachen Ufern nicht gerade den Vorstellungen, die man gemeinhin mit einem norwegischen Fjord verbindet. Gleichwohl vermittelt die abwechslungsreiche Szenerie aus sattgrünen Wäldern, weiß schimmernden Sandstränden, bunt gewürfelten Fischerund Ferienhäusern, friedlich schlummernden Inseln und geschäftigen kleinen Städten einen Lust auf mehr weckenden ersten Eindruck von der vielgestaltigen Schönheit Norwegens. An seinem nördlichen Ende wird der Fjord hufeisenförmig von der norwegischen Hauptstadt umfasst, die mit ihrem nur durch den Rathausplatz vom Ufer getrennten Rathaus den Besucher willkommen heißt.
Auch Willy Brandt erreichte die erste Station seines Exils auf diesem Wege. Mit Hilfe des Fischers Paul Stooß glückte ihm in der Nacht vom 1. auf den 2. April 1933 an Bord des Fischkutters »TRA 10« die Flucht von Travemünde nach Rødbyhavn auf der dänischen Insel Lolland. Von hier aus fuhr er mit der Eisenbahn weiter nach Kopenhagen, wo er drei Tage später einen Dritte-Klasse-Platz auf dem norwegischen Dampfer »Dronning Maud« belegte. Am 7. April 1933 ging er in Oslo an Land.
»Nicht besonders schön, aber dafür um so schöner gelegen« – so beschreibt Willy Brandt seinen ersten Eindruck von der bei seiner Ankunft etwa 250.000 Einwohner zählenden Hauptstadt des Königreiches Norwegen in seinen 1982 erschienenen Erinnerungen »Links und frei«.1 Ob er am ersten Teil dieses Urteils heute noch festhalten würde, darf in Zweifel gezogen werden. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich das Gesicht der mittlerweile auf über 600.000 Einwohner angewachsenen Metropole – begünstigt durch die für eine gut gefüllte Staatskasse sorgenden Konzessionseinnahmen aus der Öl- und Gasförderung in der Nordsee – stärker gewandelt, als das anderer europäischer Städte von vergleichbarer Größenordnung. Der durch die Innenstadt führende Straßen- und Schienenverkehr wurde zu einem erheblichen Teil unter die Erde verbannt und selbst am Himmel über Oslo ist durch die 1998 erfolgte Stilllegung des Stadtflughafens Fornebu eine Verkehrsberuhigung eingetreten. Die alten Fabrikgebäude an den Ufern des die Stadt durchfließenden Akerselv sind modernen Bürohäusern und gepflegten Grünstreifen gewichen. Im nördlich des Hauptbahnhofes gelegenen Stadtteil Vaterland sucht man die verruchten Absteigen, in denen sich in Knut Hamsums 1890 erschienenem Roman »Hunger« Matrosen, Dirnen und gescheiterte Literaten begegnen, heutzutage vergebens. Stattdessen ist hier das mit 37 Stockwerken höchste Hotel Skandinaviens, das »Oslo-Plaza«, in den Himmel gewachsen. Gewandelt hat sich aber nicht nur das bauliche Erscheinungsbild der Stadt, sondern auch ihre Atmosphäre. Eine weitgehende Liberalisierung der einstmals strengen Sperrzeitregelungen und Ausschankbeschränkungen für alkoholische Getränke hat in ihrem Zentrum, in dem vor noch nicht allzu langer Zeit am Abend die Bürgersteige hochgeklappt wurden, eine Kneipen- und Restaurantszene entstehen lassen, die mit der deutscher Großstädte ohne weiteres konkurrieren kann. Und wenn an sonnigen Frühlings- und Sommertagen Scharen von leichtgekleideten und sonnengebräunten Menschen auf der vom Hauptbahnhof zum Königlichen Schloss führenden Karl Johans gate flanieren und die Rasenflächen der Grünanlagen zu Liegewiesen werden, würde man die kleinste der skandinavischen Hauptstädte eher an den Gestaden des Mittelmeers denn an einem Ausläufer der Nordsee vermuten. In den schattigen Gartenlokalen des Studenterlunden, einer beliebten innerstädtischen Parkanlage zwischen Nationaltheater und Universität, können sich an lauen Sommerabenden (die hier durchaus nicht selten sind) vielleicht sogar biergartenverwöhnte Bayern trotz der horrenden Preise für alkoholische Getränke ein wenig heimisch fühlen. Am augenfälligsten sind alle diese Veränderungen am westlichen Ufer der unmittelbar vor dem Rathaus endenden Pipervika-Bucht, wo auf dem früheren Werft- und Fabrikgelände von »Akers mekaniske Verkstad« in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit »Aker Brygge« ein vielbesuchtes Einkaufs- und Freizeitzentrum mit Dutzenden von exklusiven Geschäften und Restaurants entstanden ist. Der eindrucksvolle Kontrast, den die moderne Architektur dieser Glitzerwelt mit der am östlichen Ufer der Bucht gelegenen mittelalterlichen Festung »Akershus« bildet, kann geradezu als Symbol für den im Großen und Ganzen gelungenen Spagat des Landes zwischen Tradition und Moderne angesehen werden.
Alle baulichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte überdauert hat hingegen die einmalige Lage der norwegischen Hauptstadt zwischen der bis in ihr Zentrum hineinreichenden Wasserfläche des Oslofjordes und den sie umgebenden Höhenzügen der Oslomarka. Lediglich ein Fünftel des 454km2 umfassenden Stadtgebietes ist bebaut, der Rest besteht aus Grünflächen, Inseln, Seen und vor allem aus Wald. Nicht einmal eine halbe Stunde dauert eine Fahrt mit der T-Bahnlinie 1 (das »T« steht zwar für »Tunnel«, doch verkehrt die Bahn nur innerhalb des Stadtzentrums unterirdisch) von der Station Majorstuen zum Hausberg der norwegischen Hauptstadt, dem 371m über dem Fjord gelegenen Holmenkollen mit seiner 1892 eröffneten und sechs Jahrzehnte danach als Wettkampfstätte der VI. Olympischen Winterspiele zu weltweiter Bekanntheit gelangten Weitsprungschanze oder zur noch etwas höher gelegenen Frogneralm, einem beliebten Ausflugslokal, von dessen Terrasse aus man einen herrlichen Fernblick über Stadt und Fjord genießen kann und das einen idealen Ausgangspunkt für Wanderungen durch das weitläufige Waldgebiet der Oslomarka darstellt. An den Wochenenden der Sommermonate kann von hier aus jener Teil der Stadtbevölkerung, den es zur Erholung unter das grüne Dach harzduftender Bäume zieht, das Treiben derjenigen Mitbürger beobachten, die auf unzähligen Motor- und Segelbooten die blau schimmernde Oberfläche des Fjords bevölkern. An den Wochenenden der Wintermonate trifft sich hingegen die gesamte frischluftsüchtige Einwohnerschaft der Stadt auf den die Wälder der Oslomarka durchziehenden Langlaufloipen, die streckenweise sogar beleuchtet sind.
Auch Willy Brandt unternahm hier, wie er sich in »Links und frei« erinnerte, Sonntags »fast immer mehrstündige Wanderungen, zur Winterszeit auf Skiern«.2 (Norwegischen Maßstäben genügende Fähigkeiten im Umgang mit diesen Sportgeräten hat er sich hierbei allerdings offensichtlich nicht angeeignet: »Er lernte es nie richtig« urteilte Rut Brandt in ihren Erinnerungen »Freundesland« ungnädig über die Skikünste ihres geschiedenen Mannes).3
Nicht schön, aber schön gelegen: Osloer Stadtsilhouette zwischen Meer und Bergen.
1 Brandt, Willy: Links und frei (Hamburg 1982), S. 82
2 Wie Anm. 1)
3 Brandt, Rut: Freundesland (Hamburg 1992), S. 273
Nur wenig mehr als zwei Monate liegen zwischen jenem verhängnisvollen 30. Januar 1933, an dem mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland ihren Anfang nahm, und der Ankunft Willy Brandts in Norwegen. Brandt war damit einer der ersten politischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich, die in diesem Land Aufnahme fanden. Die genaue Zahl der verfolgten Deutschen, für die Norwegen in den folgenden Jahren zur Zufluchtsstätte wurde, ist nicht bekannt. Nach offiziellen norwegischen Statistiken hielten sich im Jahre 1940 etwa 840 deutsche Flüchtlinge im Lande auf. Willy Brandt schätzte in »Links und frei«, dass zu jener Zeit etwa 1.000 »missliebige Personen« aus dem Deutschen Reich in Norwegen ansässig waren.4