Artikel 1
Stuttgart, 22.05.2012
Wer hat denn nicht schon einmal darüber nachgedacht auszubrechen? Nicht nur kurz Urlaub zu machen, sondern den Job für ein ganzes Jahr an den Nagel zu hängen. Die Zeit zu nutzen, um wirklich zu reisen und fremde Länder und Kulturen kennenzulernen. Zumindest für eine Weile das bequeme, routinierte Alltagsleben einzutauschen, gegen unbekannte Abenteuer und neue Herausforderungen. Diese Perspektive, die für viele ein ewig unerfüllter Traum bleibt, liegt jetzt greifbar vor uns. Wir werden die Gunst der Stunde nutzen und uns auf eine lange Reise begeben. Unsere Jobs sind schon gekündigt. Ein Untermietvertrag für unsere Wohnung wird demnächst unterzeichnet. Der Zeitpunkt, an dem es keine Abkehr vom Vorhaben mehr geben kann, rückt näher und näher. Einmal rundherum soll es gehen. Als Besonderheit in der Reiseplanung sollen Flugzeuge als Fortbewegungsmittel während der gesamten Dauer Tabu bleiben. Wir nehmen uns die Zeit und gönnen uns das Erlebnis, auch in der Epoche düsenbetriebener Großraumjets, die Entfernungen und Dimensionen unverfälscht erleben zu wollen. Anstatt uns in Überdruckröhren aus Aluminium und Kohlenfaserverbundstoffen auf zehntausend Meter Höhe von einem Kontinent zum nächsten katapultieren zu lassen, werden wir für Tage und Wochen über die Ozeane dieser Welt reisen.
Der schwierigste Teil, noch vor den eigentlichen Vorbereitungen, ist wohl die Entscheidung zu treffen, dass man mit dem Träumen aufhört und sich die Reise als ganz konkrete Aufgabe stellt. Ist diese Entscheidung gefallen, hat man den wichtigsten Punkt bereits erledigt. Was nun folgt, ist der Einstieg in die wirklich greifbare Reiseplanung. Die Route abstecken und das Budget planen, Arztbesuche und Behördengänge unternehmen, Impfungen abholen, Versicherungen abschließen, einen Zwischenmieter finden und, und, und … Viel gilt es zu organisieren. Manchmal scheint es, dass eine erledigte Sache zwei neue, offene Punkte aufwirft. Die Entscheidung, die Reise tatsächlich zu beginnen, kann hiervon aber nicht mehr umgestoßen werden. Die Vorfreude steigt mit jeder abgehakten Position auf der todo-Liste und ist schon jetzt kaum noch im Zaum zu halten. Von heute an sind es noch knapp drei Monate bis zum Reisebeginn. Vieles ist bereits am Werden und noch mehr Aufgaben warten für die verbleibende Zeit bis zum Start.
Artikel 2
Stuttgart, 23.05.2012
Die Planung der Reiseroute ist der wohl zeitintensivste Teil der Vorbereitungen. Vor allem unsere Absicht, alle Strecken ohne Flugzeug zurückzulegen, birgt großen organisatorischen Aufwand und schränkt an der einen oder anderen Stelle die Flexibilität ein wenig ein. Da alle Transkontinentalverbindungen auf dem Seeweg zurückgelegt werden sollen, ergeben sich hieraus vier fixe Daten während der einjährigen Reise, an denen man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein muss. Sicher könnten diese Strecken auf dem Luftweg schneller, günstiger und flexibler abgeflogen werden. Der Wert, die wirkliche Entfernung zu erfahren, ginge hierbei aber weitgehend verloren. Da wir durch die Schiffspassagen teilweise mehrere Wochen auf See sein werden, entschleunigt dies auf ganz natürlichem Weg den Reiseablauf. Es bleibt mehr Zeit, dass Erlebte und Gesehene zu reflektieren und zu verarbeiten. Jetlag wird es nicht geben. Die Fahrten über die Ozeane werden bereits von Deutschland aus gebucht. Alle anderen Wegstrecken, egal ob mit Bus, Bahn oder Mietauto als Transportmittel, werden von unterwegs und vor Ort organisiert.
Ein grobes Gerüst für die Reiseroute ergibt sich bereits ganz automatisch dadurch, dass Klima- und Wetterverhältnisse berücksichtigt werden sollen. Auch da die meisten Reedereien nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten der Welt Verbindungen anbieten, ergeben sich weitere Einschränkungen in der Flexibilität. Für die Abreise aus Mitteleuropa im Hochsommer, scheint uns der Weg nach Westen die richtige Wahl. Die erste große Ozeanüberquerung steht gleich ganz am Anfang der Reise. Mit der Queen Mary 2 werden wir Mitte August in Hamburg auslaufen, den Atlantik überqueren und nach insgesamt acht Seetagen New York City erreichen. Im Spätsommer und Frühherbst wollen wir mit einem Mietwagen die USA und ein kleines Stück Kanada von Nordosten nach Nordwesten und zurück nach Südosten erfahren. Ungefähr zwölftausend Kilometer Straße, große Städte und weite Landschaften stehen auf dem Programm. Nach zwei Monaten muss der zweite Fixpunkt der Reiseroute erreicht sein.
Ab Fort Lauderdale in Florida geht es Ende Oktober auf der zweiten Schiffspassage durch den Panamakanal und die südamerikanische Pazifikküste entlang in vierzehn Seetagen nach Valparaiso in Chile. Im November beginnt hier der südamerikanische Sommer. Über Santiago de Chile werden wir auf dem Landweg den Kontinent Richtung Osten durchqueren und mit Aufenthalten in Buenos Aires, Rio de Janeiro und Sao Paulo Argentinien und Brasilien erleben. Der Rückweg an die Pazifikküste erfolgt im Dezember und Januar über die Iguazú-Fälle, durch den Norden Argentiniens sowie durch Bolivien und Peru. Aller Voraussicht nach werden wir den Jahreswechsel in La Paz verbringen. Vom tropischen Tiefland bis zu den Hochgebirgslandschaften der Anden, von südamerikanischer Lebensart bis zu den alten Kulturen der Indios erwarten uns in Südamerika vielfältigste Impressionen. Als dritter Fixpunkt der Reise muss Mitte Januar Lima erreicht werden.
Von hieraus begeben wir uns auf die längste der vier Schiffspassagen. In 30 Tagen bringt uns ein Kreuzfahrtschiff über den Pazifik Richtung Westen. Die Osterinsel, Südseeatolle und Neuseeland warten als Abwechslung zwischen den langen Seetagen. Mitte Februar werden wir Sydney erreichen und dort von Bord gehen. Für die Durchquerung Australiens haben wir leider nur gut drei Wochen zur Verfügung. Dies sollte aber genügen, um mit Auto oder Bus und Bahn von Sydney Richtung Westen an den Indischen Ozean zu gelangen. Mitte März wartet mit dem vierten Fixpunkt die letzte Schiffspassage von Perth nach Singapur auf uns.
In weiteren vierzehn Seetagen legen wir die Strecke zwischen Australien und Südostasien zurück. Ab Singapur erfolgt die komplette Rückreise nach Europa auf dem Landweg und ist somit offen und flexibel. Die geplante Route führt uns durch Malaysia, Thailand, Kambodscha, Vietnam, China, die Mongolei und Russland zurück Richtung Heimat. Die letzten Monate der Reise versprechen das Kennenlernen der uns fremden asiatischen Kulturen, exotische Essgewohnheiten, üppige Vegetation und tropisches Klima im Südosten, boomende chinesische Wirtschaftsmetropolen, Steppen und Wüsten in der Mongolei sowie die unermesslichen Weiten des riesigen Russlands. Wir sind gespannt auf die vielfältigen Eindrücke und Erlebnisse, aber auch auf Schwierigkeiten und Herausforderungen die sich uns vielleicht während der Reise stellen werden.
Artikel 3
Stuttgart, 16.08.2012
Was vorbereitet werden konnte, ist erledigt. Wir möchten jetzt los! Die Rucksäcke sind gepackt, die Koffer für die Schiffspassagen auch. Ein ordentlicher Marathon von Abschiedspartys wurde zuvor absolviert. Selbstverständlich auch ausgiebig geräumt, sortiert und geputzt. Seit gestern wohnt ein koreanisches Ehepaar als Untermieter in unserer Wohnung. Die Schlüsselübergabe hat stattgefunden. Ein wenig eigenartig war das Gefühl schon, von zwar sympathischen, aber trotzdem fremden Menschen in der eigenen Wohnung verabschiedet zu werden und die Tür, für die nächsten fast zwölf Monate von außen zuzuziehen. Ein Tag bleibt uns noch in Stuttgart – ein seltsamer Tag irgendwie. Man fühlt sich noch nicht so richtig weg, ist aber auch nicht mehr so ganz da. Nach einer allerletzten Abschiedsrunde morgen Abend geht es dann am Samstag endlich los. Zuerst einmal nach Hamburg, wo wir dann am Sonntagnachmittag an Bord der Queen Mary 2 gehen werden.
Artikel 4
Hamburg, 18.08.2012
Nach einer ganzen Reihe von Abschiedsbesuchen, Abschiedsfeiern, Abschiedsessen und Abschiedstreffen in den letzten Tagen und Wochen ging es heute Morgen tatsächlich los. Am Samstag, gegen halb zehn Uhr morgens, starteten wir mit Sack und Pack im Zug nach Hamburg. Für eine Nacht haben wir uns in St. Pauli ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gemietet und wurden sehr nett aufgenommen. Nur zwei Blocks entfernt findet ein buntes, alternatives Straßenfest statt. Punk trifft auf spätgebärende, vegan lebende Akademikerin. Linksalternative Szene mischt sich mit urbanem Gutmenschentum. Bei Falafel und Öko-Apfelschorle werden das Ende des Kapitalismus und die Befreiung Palästinas diskutiert. Alles in allem aber auf den ersten Eindruck eine sehr angenehme, lebendige, junge Wohngegend mit Kiezflair und schrulligen Kneipen. Später am Abend werden wir uns noch ein wenig unters Volk mischen, bevor wir morgen Hamburg schon wieder verlassen und auf große Fahrt gehen werden.
Artikel 5
Queen Mary 2, 20.08.2012
Einfach war es nicht, zur Queen zu kommen. Für Norddeutschland ungewöhnlich schwül-warmes Wetter und wegen einem Radrennen gesperrte Straßen, ließen die Anfahrt zum Hafen zu einer Odyssee werden. Taxis kamen nicht bis zur Anlegestelle durch, eine U-Bahnstation ist zwar geplant, öffnet aber erst Ende 2012 und Shuttlebusse waren reines Wunschdenken. Nach einem kleinen Stück mit dem Taxi bis zu den Straßensperren, einer kurzen S-Bahnfahrt, einer noch kürzeren U-Bahnfahrt und rund zwei Kilometer Fußmarsch bei gefühlten 35 Grad, erreichten wir nach fast zwei Stunden, mit schwerem Gepäck und kurz vor dem Kollaps, das Hamburg Cruise Center. Das Einchecken verlief dann glücklicherweise reibungslos, so dass wir zügig zu einer kühlen Dusche kamen. Die Hamburger lieben die Queen. Tausende kamen, um die Gigantin an der Anlegestelle zu bestaunen. Abertausende Zuschauer und unzählige Begleitbote verabschiedeten das Schiff auf dem Weg aus Hamburg hinaus und die Elbmündung hinauf. Die jubelnden Menschen und die dröhnenden Schiffshörner schufen eine phänomenale Atmosphäre. Gänsehaut pur! Ein wirklich einzigartiges Abreiseerlebnis, dass einem an keinem Flughafen dieser Welt geboten werden kann.
Nach dem Dinner, mit fester Platzzuweisung und schleppenden Tischgesprächen, starteten wir zu einer ersten Erkundungstour an Bord. Abseits der steifen Atmosphäre beim Abendessen, ergaben sich dann doch noch interessante Begegnungen und Gespräche. Ob nun beim Gin-Tonic mit einem New Yorker Reiseveranstalter, der mit seinem jugendlichen Liebhaber eine der Luxussuiten auf dem Oberdeck bewohnt oder beim „Late-Night-Dinner“ morgens um drei mit einem englisch/amerikanischen Ehepaar - es gibt viele interessante Geschichten zu hören.
Heute, am ersten Seetag auf der Nordsee, wechseln sich dichte Nebelbänke mit strahlendem Sonnenschein ab. Die See ist ruhig, es gibt keinen Wellengang. Morgen Vormittag werden wir für einen eintägigen Zwischenstopp in Southampton festmachen.
Artikel 6
Queen Mary 2, 21.08.2012
Tag 1 an Bord. Gestern Nachmittag haben wir mit leichter Verspätung Southampton verlassen. Die Verabschiedungszeremonie fiel im Vergleich zu Hamburg kurz und bündig aus. Unsere deutsche Dinner-Runde wird von Abend zu Abend gesprächiger. Bekanntschaften macht man aber besser in lockererem Rahmen in den vielen verschiedenen Bars oder nachts im G32-Club. Es sind viele Amerikaner an Bord, so dass wir auch gestern Nacht mit einer Gruppe New Yorker den Beginn der Atlantiküberquerung ausschweifend gefeiert haben. Wir sind so gespannt, auf die Amerikaner, die uns auf unserem Weg durch die USA abseits der großen Städte begegnen werden. Hier an Bord entspricht bis jetzt keiner dem Klischeebild des übergewichtigen, religiös verblendeten Republikaner-Wählers. Wir befinden uns gerade südlich von Irland und steuern auf den offenen Atlantik hinaus. An Deck weht eine frische Brise, die Sonne scheint kräftig und die Queen Mary 2 pflügt schnurgerade durch die leichte Dünung des Atlantiks. Gerade eben, nach einem Spaziergang auf Deck und einem Besuch in der Bibliothek, fanden wir auf unseren Betten eine Einladung zum Dinner am Tisch des Hotelmanagers. Keine schlechte Leistung, nach nur drei Tagen an Bord.
Tag 2 an Bord. Heute Morgen ist alles grau in grau. Wir durchfahren gerade die Ausläufer eines Tiefdruckgebietes. Der Wellengang hat spürbar zugenommen, ist aber mit zweieinhalb bis vier Meter für den Nordatlantik wohl immer noch moderat. Der Wind auf Deck bläst kräftig mit Stärke acht und treibt die Gischt vor sich her. Das gestrige Dinner mit Robert, dem Hotelmanager der QM2, war eine spannende Erfahrung. Seit mittlerweile acht Jahren fährt er nun schon an Bord von Cunard-Schiffen. Das bedeutet, vier Monate arbeiten auf See und zwei Monate Urlaub zu Hause. Danach beginnt der Dienst von vorne. Einmal pro Woche lädt er acht Passagiere zum gemeinsamen Abendessen ein. Außer ihm dürfen nur der Veranstaltungsdirektor, der erste Offizier und selbstverständlich der Kapitän zum Dinner empfangen. Da gestern außerdem der große „Black & White Ball“ stattfand, war die Garderobenvorschrift besonders streng. Der Herr trug schwarzen Anzug oder Smoking mit Fliege, die Dame ein festliches Abendkleid. Außer uns waren zwei ältere amerikanische Ehepaare geladen. Oberschicht, steinreich, eher konservativ. Ebenso mit dabei, ein frühpensionierter Engländer, der kürzlich geheiratet hat und mit seiner Frau die Flitterwochen auf der Queen Mary 2 verbringt. Beide lebten längere Zeit in Deutschland, arbeiteten als Lehrer für das britische Militär und lernten sich dort kennen. Nun, nach seiner Pensionierung, sind beide aber nach Großbritannien zurückgekehrt. Bodenständige, normale Menschen, beide sehr offen und sympathisch.
Tag 3 an Bord. Fast jeden Tag wird die Uhr um eine Stunde zurückgestellt. Seit unserer Abreise in Hamburg jetzt schon zum vierten Mal. Heute zeigt sich der Atlantik wieder von seiner ruhigen Seite. Der Wind hat nachgelassen, der Wellengang ist kaum spürbar. Vom Rauschen der Wellen und dem leisen Brummen der Motoren abgesehen, herrscht hier draußen eine unglaubliche Ruhe. Ein paar Seevögel begleiten das Schiff, obwohl das nächste Land mehr als tausend Meilen entfernt ist. Auch eine Gruppe Delfine hat sich heute gezeigt und ist eine Weile neben dem Schiff hergeschwommen. Zum Abendessen war unser Tisch gestern erstmals komplett. Die Gespräche kommen jeden Tag besser in Gang.
Tag 4 an Bord. Mittlerweile befinden wir uns südöstlich von Neufundland. Der Wind hat wieder aufgefrischt. Die Queen Mary 2 nutzt in dieser Jahreszeit die sogenannte Sommerroute zur Überquerung des Atlantiks, die, im Gegensatz zur Winterroute, ein ganzes Stück weiter nördlich verläuft. Ungefähr dreihundertfünfzig Seemeilen südlich von unserer aktuellen Position, spielte sich vor ziemlich genau einhundert Jahren ein Drama ab. Die Titanic stieß in einer kalten Aprilnacht mit einem Eisberg zusammen und sank. Bis heute liegt sie, in zwei Teile zerbrochen, auf dem Grund des Ozeans. Gerade haben sich Wale neben dem Schiff gezeigt. Wenn man das Meer aufmerksam und ausdauernd beobachtet, entdeckt man ab und zu kleine Wasserfontänen, die in die Luft gestoßen werden. Mit ein wenig Glück, sieht man kurz darauf die Rücken- oder Schwanzflosse für einen Moment aus dem Wasser auftauchen. Am Nachmittag sind wir zum ersten Mal beim traditionell englischen Afternoon-Tea. Zu Darjeeling oder Earl Grey werden mit weißen Handschuhen kleine Sandwiches und verschiedene Kuchen gereicht. Alles scheint hier wie aus einer längst vergangenen Epoche, einer Zeit, bevor die Transatlantikliner als Haupttransportmittel zwischen Europa und Amerika von Flugzeugen abgelöst wurden.
Tag 5 an Bord. Land in Sicht! Endlich, nach vier langen Tagen auf hoher See kam gestern Abend, pünktlich zum Sonnenuntergang, die Südostspitze Neufundlands in Sicht. Heute ist wieder ein Bilderbuchtag. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel auf einen fast spiegelglatten Ozean. Mehrere große Wale wurden in der Nähe des Schiffs gesichtet. Die anfängliche Steifheit beim Abendessen hat sich zu einer wirklich lockeren, angenehmen Stimmung entwickelt. Wahrscheinlich auch, weil seit zwei Abenden ein Paar aus Berlin für mehr Lockerheit am Tisch sorgt. Heute trafen wir uns sogar fast vollzählig zum Shuffleboard-Turnier auf dem Sonnendeck. Sehr witzig! Später am Abend geht es beim Royal-Ascot-Ball garderobentechnisch noch einmal in die Vollen.
Tag 6 an Bord. Ein weiterer traumhafter Tag auf See. Die Sonne brennt vom Himmel. Die kühle Atlantikluft ist einer feuchtwarmen, fast drückenden Schwüle gewichen. Morgen, ganz in der Frühe, werden wir New York City erreichen. Die Taschen sind gepackt. Zum letzten Dinner heute Abend, werden wir noch einmal mit unseren Tischnachbarn auf die Überfahrt anstoßen. Wir genossen eine sehr angenehme Zeit an Bord, machten neue Bekanntschaften, erlebten einige tolle Gespräche und hatten in jeder Beziehung sehr viel Spaß.
Artikel 7
Queen Mary 2, 28.08.2012
Halb fünf heute Morgen war die Nacht zu Ende. Wer das Einlaufen in den New Yorker Hafen erleben wollte, musste früh aufstehen. Das Passieren der Verrazano-Narrows-Bridge ist nur bei Ebbe möglich und selbst dann immer noch Millimeterarbeit. Bis zum letzten Augenblick glaubt man, dass der Schlot an der Brücke kratzen wird. Ein paar Minuten später fahren wir dann an der Freiheitsstatue vorbei zum Anlegeplatz beim Brooklyn-Cruise-Center. Die Statue zu sehen, war weniger spektakulär als erwartet. Die Queen Mary 2 hält doch einigen Abstand zu den vorgelagerten Inseln. Nach neun Tagen an Bord, können wir gegen elf Uhr vormittags das Schiff verlassen.
Artikel 8
New York City, 28.08.2012
Bei unserer Ankunft ist es drückend heiß in der Stadt. In den nächsten Tagen sollen die Temperaturen sogar noch zulegen. Im Vergleich zu meinem letzten Besuch, vor über zwölf Jahren, fällt natürlich am augenscheinlichsten das Fehlen der Twin-Tower auf. An deren Stelle entsteht zurzeit der neue Freedom-Tower, der bereits eine stattliche Höhe erreicht hat. Ansonsten scheint für den ersten Moment alles wie immer. Irgendetwas fehlt aber. Irgendetwas hat sich verändert. Es dauert eine Weile, bis ich glaube zu wissen, was es ist: Der Sound der Stadt hat sich verändert. Der typische New York Sound, den es vor zwölf Jahren noch gab, ist fast verstummt. Damals sorgte ein immer währendes Rauschen des Verkehrs, das Rattern der U-Bahnen, das Hupen der Autos und vor allem die andauernden, nicht abreißenden Sirenen für die ganz typische Atmosphäre. Die Blechkolonnen donnern heute zwar nach wie vor durch die Straßen, das Jaulen der Polizeiwagen und das durchdringende Kreischen der Löschzüge sind aber nur noch selten zu vernehmen.
Unser Zimmer im Apartment einer slowakischen Geschäftsfrau ist perfekt gelegen. Zwischen Midtown und Upper East Side, sind wir im sechzehnten Stock eines Wohnhochhauses eingezogen. Tolle Aussicht, U-Bahn, Waschsalon, Shops, Restaurants – alles liegt direkt vor der Tür.
Artikel 9
New York City, 30.08.2012
Nachdem wir gestern den ganzen Tag in Manhattan unterwegs waren, unter anderem den neuen Highline-Park abgelaufen sind und einen Spaziergang durch das Westvillage gemacht haben, trafen wir am Abend unseren QM2-Freund Bruce in seinem Büro wieder. Die Reiseagentur befindet sich in einem Hochhaus in Midtown. Nach einer Führung durch die Büros ließen wir den Abend in einer benachbarten Bar ausklingen. Heute haben wir uns dann auf eine kleine Weltreise mit der New Yorker U-Bahn begeben. Ab dem Times Square fährt die Linie 7 unter dem East River hindurch nach Queens. Latinos, Ostasiaten, Inder, Afghanen – viele verschiedene Kulturen haben sich in den Stadtvierteln entlang der Strecke niedergelassen. Ist man eben in Jackson Heights noch in einer Art Klein-Delhi, so befindet man sich ein paar Stationen später in Flushing schon in Chinatown. Selbstverständlich findet man auch in Manhattan ein Chinatown oder ein Little Italy – jenseits der Touristenströme hier auf der Insel findet das Leben der verschiedenen Einwanderergruppen in Brooklyn oder Queens aber wesentlich authentischer statt. Und günstiger ist es obendrein. Da wir uns während der Reise selbstverständlich an ein Budget halten wollen und müssen, hat der Ausflug nach Queens der Reisekasse recht gut getan. Für elf Dollar konnten wir uns beide an einem China-Buffet in Flushing satt essen und trinken. In Manhattan hätte der Betrag nicht einmal für eine Person gereicht.
Artikel 10
New York City, 01.09.2012
Den Freitag verbrachten wir damit, Brooklyn zu durchfahren, in Little Odessa Pirogen und andere russische Leckereien zu probieren, in Brighton Beach etwas Sonne am Strand zu tanken und am Abend die Aussicht vom Rockefeller Center zu genießen. Wenn die Nacht über New York hereinbricht, ist es einfach immer wieder atemberaubend, von einer Aussichtsplattform die schnurgeraden Avenues mit den Autokolonnen zu beobachten, den blinkenden und funkelnden Times Square von oben zu sehen und das bis zum Horizont reichende Lichtermeer der Millionenmetropole zu bestaunen.
Heute dann, am Samstag, haben wir es vielen anderen New Yorkern gleich getan. Wir verlassen die Stadt und unternehmen mit Bruce einen Ausflug nach Long Island. New York scheint jetzt am Wochenende verhältnismäßig leer, da der kommende Montag ein allgemeiner Feiertag ist. Verlässt man die Stadt Richtung Nordosten, also hinüber nach Long Island, begleiten einen entlang des Highways erst einmal die nicht enden wollenden Vororte. Nach einer Weile aber, verändert sich die Umgebung. Es wird grün, Bäume säumen die Straßen, die Luft ist viel angenehmer und sanfte Hügel, an denen Weinreben wachsen, prägen die Landschaft. Man passiert viele Farmen, kann in einer Art Hofläden frische Lebensmittel einkaufen oder an Weinverkostungen teilnehmen. Fast ganz an der Spitze von Long Island, in Green Port, genießen wir die frische Seeluft, die Sonne und die Ruhe. Ein wirklich wunderbarer Tag!
Artikel 11
New York City, 02.09.2012
Heute, unseren letzten Tag in New York City, haben wir mit einem Spaziergang am Hudson River, einer kurzen Runde durch Downtown Manhattan und einem netten Abendessen bei einem Thai in Williamsburg verbracht. Nach Williamsburg, einem Teil Brooklyns, sind wir hauptsächlich gekommen, um eines der jüdischen Wohnviertel in New York zu sehen. Vor zwölf Jahren, bei meinem letzten Besuch, wurde der Stadtteil von vielen orthodoxen Juden bewohnt. Heute hat sich an der Bevölkerungsstruktur einiges geändert. Viele Latinos sind nach Williamsburg gezogen, man spricht Spanisch mit karibischem Akzent, kubanische Fahnen hängen an den Balkonen, ältere Männer treffen sich zum Domino spielen auf den Gehwegen – ein wenig Kuba-Flair weht durch die Straßen. Entlang der Bedford Avenue, eine der Hauptstraßen durch Williamsburg, reiht sich Bar an Bar und Restaurant an Restaurant. Von chinesisch bis italienisch, von mexikanisch bis thailändisch, für jeden Geschmack ist etwas dabei. Allerdings keine der typisch amerikanischen Kettenrestaurants oder Fastfood-Läden. Alles mutet ziemlich kreativ an, so wie in den trendigen Vierteln europäischer Großstädte. Als Eindruck nach dieser Woche in New York, sofern man sich nach einer Woche überhaupt eine Meinung bilden kann, denke ich, dass die Stadt nach wie vor ein Schmelztiegel der Kulturen ist und fasziniert, Trends setzt, laut, hektisch und bunt daher kommt, aber eben in den letzten Jahren auch sauberer und vielleicht auch sicherer geworden ist, was dem Flair einer Stadt und Ihrer Offenheit und Lockerheit nicht immer zuträglich ist. Morgen Vormittag holen wir den Mietwagen ab und dann geht es raus, ins richtige Amerika.
Artikel 12
Buffalo, 03.09.2012
Wir haben unser Auto für die nächsten Wochen bekommen. Früh am Vormittag holen wir unseren schwarzen Jeep, namens „Patriot“ (ausgerechnet!), am John F. Kennedy Flughafen ab und fahren in Richtung Westen aus der Stadt hinaus. Hat man den Hudson River überquert und die letzten Orte im Speckgürtel auf der Jersey-Seite hinter sich gelassen, findet man sich in einer bewaldeten Mittelgebirgslandschaft wieder. Weiter nördlich rasten wir für eine Weile in Ithaca. Die Kleinstadt liegt in der sogenannten Finger-Lakes-Region. Elf kleinere und größere Seen, langgestreckt wie Finger, zwischen Hügeln und dichtem Laubwald, geben dem Gebiet seinen Namen. Am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, erreichen wir das wie ausgestorben wirkende Buffalo.
Auf dem Weg vom Hotel, in der menschenleeren Innenstadt, hinauf nach Elmwood, dem Ausgehviertel der Stadt, durchqueren wir verlassene Straßen. Links und rechts Häuser, denen man nicht immer sofort ansieht, ob es sich um eine leerstehende Ruine oder um doch noch bewirtschaftete oder bewohnte Häuser handelt. Alle Läden und Bars geschlossen. Stille! Eine bleierne Schwüle liegt auf der Stadt. Wenn man es noch ein wenig dramatisieren wollte, könnte man sagen, es schwingt so eine Art postapokalyptische Stimmung durch die frühere Industriemetropole. Nach ein paar Blocks wird es uns zu mulmig und wir machen kehrt, um das Auto zu holen und die relativ kurze Strecke nach Elmwood hinaufzufahren. In Elmwood sind tatsächlich einige Bars geöffnet und ein paar wenige Menschen huschen auf den spärlich beleuchteten Straßen herum. Zwei Obdachlose, zerlumpt, zerfetzt und in der Dunkelheit und Stille irgendwie zombiehaft, schieben einen mit ihren Habseligkeiten beladenen Einkaufswagen den holprigen Gehweg entlang. Auf einen Welcome-Drink landen wir in der Q-Bar, der einzigen halbwegs belebt wirkenden Kneipe. Dienstags ist Happy-Hour mit Long-Island-Icetea – das ein Liter Einmachglas zum Schnäppchenpreis. Den vielleicht zwanzig Gästen ist es offensichtlich anzumerken, dass schon einige Gläser über die Theke gegangen sind. Hier ist keiner mehr nüchtern. Wir bleiben solide und treten nach einem Gin-Tonic den geordneten Rückzug an. Die ausschließlich Einheimischen begegnen uns sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Fast ärgert es mich im Nachhinein, dass wir nicht länger geblieben sind. Sicher hätte es eine sehr aufschlussreiche Nacht über den Zustand einer niedergegangenen Industriemetropole und ihrer Bevölkerung werden können. Aber, wir wollen am nächsten Morgen rechtzeitig raus, um zu den Niagarafällen zu fahren.
Artikel 13
Huron, OH, 04.09.2012
Nachdem wir gestern die Kurve in der Q-Bar haarscharf noch bekommen hatten, schaffen wir es heute Morgen rechtzeitig aus den Federn, um die letzten paar Kilometer hinauf zur kanadischen Grenze an die Niagarafälle zu fahren. In einem Vorort Buffalos frühstücken wir kurz in einem der Kettenläden am Highway. Auch hier herrscht hauptsächlich trostlose Stimmung. Die Wohnviertel ringsum wirken ungepflegt, teilweise offensichtlich verlassen. Tankstellen, Autoreparaturwerkstätten und alle Arten von Kettenrestaurants sind zu finden. Dass es auch noch regnet, verpasst der sowieso trostlosen Umgebung den letzten Feinschliff. Die Grenze zwischen den USA und Kanada kann man per pedes über eine Brücke passieren. Die Ein- und Ausreise läuft auf beiden Seiten zügig, die US-amerikanischen Beamten arbeiten jedoch wesentlich unfreundlicher als ihre kanadischen Kollegen. Die Wasserfälle sind ein beeindruckendes Naturschauspiel. Im Schnitt stürzen viertausendzweihundert Kubikmeter Wasser pro Sekunde über die Bruchkante mit lautem Getöse in die Tiefe. Eine riesige Gischtwolke steigt über dem brodelnden Sammelbecken auf.
Am Nachmittag machen wir uns dann auf den Weg, den Eriesee entlang, in Richtung Chicago. Auf halber Strecke, in Huron (Ohio), verbringen wir die Nacht in einem Motel, bevor es morgen weiter in Richtung Westen geht.
Artikel 14
Chicago, IL, 05.09.2012
Wir verlassen den Eriesee in westlicher Richtung, um unseren Weg auf der Interstate 90 fortzusetzen. Diese autobahnähnliche Fernstraße ist die längste der Vereinigten Staaten und verbindet auf direktem Wege die Ostküste mit der Westküste. Beginnend in Boston, endet die Straße nach fast fünftausend Kilometern in Seattle. Auf unserem Weg durch die nördlichen Bundesstaaten wird uns diese Hauptverkehrsader die meiste Zeit begleiten. Heute, bei der Durchfahrt durch Indiana, verlassen wir die Interstate für ein paar Stunden und folgen kleineren Landstraßen, um etwas mehr von der Landschaft und den Orten links und rechts mitzubekommen. Anstatt die sich immer gleichenden Parkplätze und Rasthäuser an der Interstate anzufahren, empfiehlt es sich, die Pausen etwas abseits der großen Straßen einzulegen. Hier ist es wesentlich authentischer, etwas abwechslungsreicher und nicht zuletzt oft auch günstiger.
Indiana ist, neben Ohio und Pennsylvania, einer der Bundesstaaten in denen relativ viele Amische siedeln. Knapp fünfzigtausend von ihnen leben heute in Indiana, viele davon im Middlebury County. Auf den schmalen Wegen begegnen einem häufig Familien mit Einspännern oder auf Fahrrädern. Man sieht sie in ihrer traditionellen Kleidung auf den Feldern arbeiten oder die eigenen Produkte direkt an der Straße neben ihren Farmen verkaufen. Als nach weiteren zweihundert Kilometern auf der Interstate am späten Nachmittag die Skyline Chicagos am Horizont auftaucht, scheint einem das Leben der traditionellen Amischen in Middlebury nicht nur wie aus einer anderen Zeit, sondern fast wie das Leben in einer anderen Galaxie.
Artikel 15
Chicago, IL, 06.09.2012
Die Amerikaner haben ihrem Chicago den Spitznamen “The Windy City” gegeben. Und tatsächlich, eine permanente Brise weht durch die Stadt. Jetzt bei den sommerlichen Temperaturen sehr angenehm, in den langen eisigen Wintern aber sicher höllisch. Chicago präsentiert sich mondän. Die breite, begrünte Michigan Avenue in Downtown, der wunderschöne Grant Park mit seinen modernen Skulpturen und Installationen, der Lakeshore Drive direkt am See entlang, zwischen kleinen Parks und Stränden auf der einen und der Glitzer-Skyline auf der anderen Seite – an einem so schönen Sommertag wie bei unserer Ankunft, überträgt die Stadt auf Anhieb ein Wohlgefühl. Und dieses Gefühl wurde in den ersten Tagen auch noch nicht widerlegt. Ganz im Gegenteil. Trotz der Größe, Chicago ist die drittgrößte Stadt der USA, kommt an keiner Stelle eine solche Hektik auf wie in Manhattan. Selbst in den Straßenschluchten von Downtown geht es im Vergleich zu New York ruhiger, entspannter und relaxter zu, ohne dabei aber das Großstadtflair zu verlieren. Auch die Menschen scheinen hier freundlicher, kommunikativer und auch hilfsbereiter untereinander. So eine pauschale Behauptung ist natürlich schwierig, aber die ersten Tage vermitteln uns diesen Eindruck. Wenn wir schon bei pauschalen Behauptungen und Klischees sind, lege ich noch einen nach: Während der New Yorker ständig unter Druck steht, dem Anspruch seiner Stadt gerecht zu werden, hip zu sein, cool und trendy, dabei aber individuell genug bleiben muss, um in der Masse der vielen anderen Hippen und Trendigen nicht unterzugehen, scheint man sich hier in Chicago solchen Zwängen nicht hingeben zu wollen. Chicago ist einfach lässiger.
Artikel 16
Chicago, IL, 07.09.2012
Für die Tage in Chicago haben wir ein Zimmer in einer Privatwohnung gemietet. Unser Raum ist recht klein, aber ausreichend. Bad und Küche werden geteilt. Außer uns und dem Hauptmieter leben noch zwei Katzen in der Wohnung. Es riecht zwar ein wenig, dafür ist es aber günstig. Das Budget wird geschont und es bleibt mehr Geld für Aktivitäten am Tag und für nächtliche Exkursionen durch unser Viertel. Wir wohnen wirklich rein zufällig in Boystown. Der Stadtteil liegt ungefähr zehn Kilometer nördlich von Downtown, ist lebendig, viele junge Leute sind hier zu Hause, es gibt Bars und Restaurants in Hülle und Fülle. Um es mit den Worten eines guten Freundes zu sagen: Hier ist für jeden etwas dabei.
Wie schon in New York, so versuchen wir auch in Chicago Dinge abseits der Touristen-Hotspots in Downtown zu sehen. Gestern waren wir in Chinatown, südlich der Innenstadt und abends zum Ausgehen zog es uns nach Andersonville, noch weiter nördlich von unserer Unterkunft. Heute haben wir mit der Hochbahn einen Ausflug nach Oak Park, einem Vorort im Westen, unternommen. Mit Eichen gesäumte Anwohnerstraßen, kleine Cafés, Restaurants und ein wunderbares, altes Art-Déco Kino an der Hauptstraße geben dem Quartier ein sehr charmantes Flair. Allein das wäre schon die Anfahrt durch den etwas heruntergekommenen Westen Chicagos wert gewesen, die meisten kommen aber wegen dem bekannten amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright, der hier lebte und arbeitete. Außerdem ist Oak Park der Geburtstort von Ernest Hemingway.
Artikel 17
Sioux Falls, SD, 09.09.2012
Nachdem am Samstag, unserem letzten Tag in Chicago, Alltagserledigungen wie der Gang zum Waschsalon erledigt waren, verbrachten wir den Nachmittag mit einem Spaziergang am Lakeshore und am Golden Beach und ließen die schöne Zeit in der „windigen“ Stadt am Abend in einer Bluesbar in Downtown ausklingen.
Ganz früh am Morgen verlassen wir Boystown und setzen unsere Fahrt gen Westen auf der Interstate 90 fort. Heute haben wir mit gut neunhundert Kilometern Strecke, eine der längsten Tagesetappen auf der Reise durch die USA zu bewältigen. Am frühen Nachmittag, auf halbem Wege, erreichen wir die Kleinstadt La Crosse in Wisconsin. Der Ort befindet sich direkt am Ufer des Mississippi, der hier auch die Grenze zum Nachbarstaat Minnesota markiert. Spätestens als wir das Verbotsschild mit einem durchgestrichenen Revolver im Lunch-Lokal in La Crosse entdecken, stellt sich so langsam das Gefühl ein, dass wir nun tatsächlich im ländlichen Amerika angekommen sind. Mit der Überquerung des Flusses verändert sich auch die Landschaft. Das Gelände wird eben, nur wenige Siedlungen oder Farmen entdeckt man links und rechts der Interstate, Mais- und Weizenfelder soweit das Auge reicht. Die Nacht verbringen wir in einem Motel in Sioux Falls, bevor es morgen weiter Richtung Westen auf der I-90 geht.
Artikel 18
Rapid City, SD, 10.09.2012
Nach einem Frühstück im Diner neben dem Motel setzen wir unsere Reise auf der I-90 durch South Dakota fort. Heute durchfahren wir den dünn besiedelten und landwirtschaftlich geprägten Staat einmal von Ost nach West und überschreiten damit auch wieder eine Zeitzonengrenze. Bis zur Überquerung des Missouri liegen dicht beim Highway immer wieder kleine Orte – so wie beispielsweise Mitchell, mit seinem aus Maispflanzen geschmückten Corn Palace. Kitschig und fragwürdig ist hier, was überhaupt der Sinn der Ausstellung sein soll. Es gibt nicht viel in South Dakota, da bekommen eben auch ein paar Plastikmaiskolben und bedruckte Kaffeetassen eine gewisse Bedeutung. Weiter westlich entlang der I-90 wird die Landschaft immer karger. Die Straße zieht sich über große Strecken fast schnurgerade über die leicht wellige Ebene. Gelb und braun sind die vorherrschenden Farbtöne. Faszinierend ist aber, in wie vielen Schattierungen gelb und braun leuchten können. Man könnte meinen, die Landschaft sei langweilig, das Gegenteil ist aber der Fall: Hier in der Prärie von South Dakota, bekommen wir zum ersten Mal seit unserer Abreise in New York einen wirklichen Eindruck von der Weite und Größe der USA.
Die Sonne brennt vom Himmel und ein kräftiger, heißer Wind bläst über die Prärie. Mitten in dieser menschenlosen, unwirklichen Gegend sind bis heute Minuteman-3 Raketen stationiert. Die Air Force hat einen Teil der Anlagen für Besucher zugänglich gemacht, und beim Blick in das Raketensilo sind die Schrecken des kalten Krieges für einen Moment wieder präsent. Innerhalb von dreißig Minuten hätten die über einhundertfünfzig in South Dakota stationierten Raketen jedes wichtige Ziel in der damaligen Sowjetunion und Osteuropa erreichen können. Andersherum hätte diese Gegend, fernab von Washington oder Moskau, innerhalb einer halben Stunde mit einem nuklearen Volltreffer rechnen können. Ziel der heutigen Etappe ist Rapid City, im Südwesten South Dakotas, wo wir für zwei Nächte bleiben werden. Im USA Road Atlas 2012 wurde Rapid City zur „Most Patriotic City oft the United States“ gekürt. Was das heißen mag, können wir im nächsten Artikel berichten …
Artikel 19
Rapid City, SD, 11.09.2012
Was Rapid City nun wirklich zur „Most Patriotic City“ macht, erschließt sich uns nicht wirklich. Vielleicht sind es die Präsidentenstatuen, die an jeder Ecke rund um die Main Street, im Stadtzentrum der knapp siebzigtausend Einwohner zählenden Kleinstadt, am Fuße der Black Hills, zu finden sind. Oder aber die Passion der Menschen zu unglaublich riesigen Pick-Ups, neben denen unser Jeep wie ein Kleinwagen wirkt. Vielleicht aber auch die so klischeehaft amerikanisch, konservativ, waffenvernarrt und bibeltreu wirkende Bevölkerung. South Dakota mit seiner dünnen Besiedlung und den ländlichen Strukturen ist seit je her konservativ und von Republikanern regiert. Mit Forderungen nach der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, der Gleichstellung von Schwulen und Lesben oder der Einführung eines schärferen Waffengesetzes kann man im Kernland Amerikas nicht punkten. Auffallend ist auch, dass hier fast ausschließlich Weiße leben.
Der Anteil der Schwarzen und Latinos liegt bei unter einem Prozent. Noch knapp zehn Prozent der Bevölkerung sind Natives vom Stamm der Sioux-Lakota. Während am Mount Rushmore die berühmten Konterfeis von vier Präsidenten in den Fels gearbeitet wurden, wird ein paar Kilometer weiter seit 1948 am sogenannten Crazy Horse Monument gearbeitet. Ist das Monument irgendwann fertiggestellt, wird es mit einhundertfünfundneunzig Meter Länge und einhundertzweiundsiebzig Meter Höhe das größte seiner Art weltweit sein und den Lakota-Krieger Crazy Horse auf einem Pferd sitzend zeigen. Obwohl der Bau von einem Häuptling der Lakota in den dreißiger Jahren initiiert wurde, stehen Teile der indigenen Bevölkerung dem Projekt skeptisch gegenüber. Der Fels in den Black Hills, der jetzt seit Jahrzehnten mit Sprengladungen und Presslufthämmern bearbeitet wird, gilt den Lakota eigentlich als heilig.
Artikel 20
US 212, MT, 12.09.2012
Nach einem kurzen Frühstück neben dem Hotel in Rapid City sind wir mit unserem Jeep Patriot wieder auf der Straße. Wir lassen South Dakota hinter uns und überqueren die Grenze zum nächsten, ebenfalls sehr dünn besiedelten und ländlichen Bundesstaat Montana. Die Landschaft ist grandios. Die steppenartige Gegend, die uns seit mehreren hundert Kilometern in South Dakota umgibt, zieht sich bis weit in die Mitte Montanas hinüber. Unser Mittagsziel wird Billings sein. Mit knapp einhunderttausend Einwohnern ist die Stadt bereits die größte Siedlung in Montana. Einen Großteil der Strecke haben wir heute abseits der I-90 auf dem Highway US-212 zurückgelegt. Auf der einspurigen Landstraße herrscht wenig Verkehr und nur in großen Abständen befinden sich kleine Ortschaften entlang der Route.
Obwohl wir uns bereits auf rund tausend Meter Höhe befinden, ist die Landschaft nach wie vor eine leicht wellige, sehr trockene Ebene, aus der hier und dort schroffe Felsen oder ein paar vertrocknete Kiefern aufragen. Es muss gebrannt haben. Das verdorrte Gras und die wenigen Bäume sind an vielen Stellen vom Feuer schwarz gezeichnet. Einige Farmen tauchen hin und wieder in der Ferne auf. Ackerbau mit Mais und Weizen, wie im Osten South Dakotas, kann hier in dieser trockenen, kargen Gegend offensichtlich nicht betrieben werden. Es scheint, dass sich die Bauern auf Viehzucht spezialisiert haben. Vorhin konnten wir ein paar Cowboys beim Zusammentreiben einer Viehherde beobachten. Bis zu unserer Ankunft am heutigen Zwischenziel wird sich die Landschaft verändern. Gardiner in Montana, das Nordtor zum Yellowstone Nationalpark, befindet sich an den Osthängen der Rocky Mountains. Laut Wetterbericht soll es dort nachts bereits empfindlich kalt werden.
Artikel 21
Gardiner, MT, 13.09.2012
Bekannt vor allem durch seine Geysire, heiße Quellen und brodelnde Schwefelschlammtöpfe, hat der Yellowstone Nationalpark doch viel mehr zu bieten. Auf einer Fläche von fast neuntausend Quadratkilometern kann der größte Nationalpark der USA neben dem Vulkanismus mit tiefen Schluchten, Wasserfällen, dichten Wäldern, wunderschönen Flussauen und allerlei wildem Getier aufwarten. Die Grand Loop Road, eine über zweihundertzwanzig Kilometer lange Ringstraße durch die verschiedenen Parkgebiete, ist stark frequentiert. Typisch amerikanisch ist, dass fast alle wichtigen Attraktionen, wie z. B. der Old Faithful Geysir, manche Wasserfälle oder Schluchten, so erschlossen sind, dass zum Besichtigen und Fotografieren das Verlassen des Autos nicht mehr nötig ist. Abseits der Hotspots an der Ringstraße kann man aber Ruhe und Abgeschiedenheit finden und sich von der Natur in vollen Zügen faszinieren lassen.
Artikel 22
Missoula, MT, 14.09.2012
Wir sind wieder auf der I-90, nach wie vor in Richtung Westen. Fast fünftausend Kilometer sind wir mittlerweile mit unserem Jeep gefahren, aber immer noch ein ganzes Stück von der Westküste entfernt. Heute überqueren wir die Rocky Mountains. Unser Zwischenziel zum Mittag war Missoula, die zweitgrößte Stadt Montanas und Sitz der Universität des Bundesstaates. Die Stadt wirkt jung, freundlich und im Vergleich zu Billings lebendiger und lebenswerter. Was die Lebensqualität deutlich beeinträchtigt, ist der dichte Smog, der über der Landschaft hängt. Die Bergkämme links und rechts der Interstate sind kaum auszumachen, die Sicht ist stark eingeschränkt. Brandgeruch liegt in der Luft und der Qualm ist so dicht, dass die Sonne vom eigentlich strahlend blauen Himmel nicht durchdringen kann. In den Wäldern rings um die Stadt sind mehrere Feuer ausgebrochen, was die Luft in der ganzen Region zu einer diesigen, rauchigen Suppe macht. Laut den Einheimischen sind die Waldbrände im Spätsommer nichts Ungewöhnliches. Schon die Indianer, die lange vor den Weißen das Tal in dem heute Missoula liegt, besiedelt hatten, wussten um das jährlich wiederkehrende Problem. Allerdings konnten sie ihre Zelte abbauen und der sauberen Luft folgen, was den Einwohnern heute nicht mehr so einfach möglich ist. Für Asthmatiker ist hier sicher kein angenehmer Ort. In ungefähr einer Stunde werden wir die Grenze zwischen Montana und Idaho überqueren und damit in die Pazifik-Zeitzone einfahren. Am späten Nachmittag werden wir dann unser Tagesziel Spokane in Washington State erreichen.
Artikel 23
Spokane, WA, 15.09.2012
Nach einer langen, kurvenreichen Autofahrt durch dichten Qualm, erreichen wir am späten Nachmittag Spokane. Die Westküste ist jetzt nur noch ein paar hundert Kilometer entfernt. Vom ersten Eindruck her scheint ein etwas liberalerer Wind durch die Straßen Spokanes zu wehen, als in den Kleinstädten der Prärie Minnesotas, South Dakotas oder Montanas. Der zweite Eindruck ist dann aber gleich, dass auch hier alle Anzeichen des Niedergangs zu finden sind. Vieles ist alt, trist und abgelebt. Irgendwie empfängt einen die Stadt mit so einer Grundstimmung der Resignation. Die besten Zeiten scheinen einfach unwiederbringlich vorbei. Zwei, drei schöne Art-Déco Hochhäuser zeugen noch von diesen besseren Tagen. In der ein paar Blocks umfassenden Innenstadt haben viele Geschäfte geschlossen. Einige Bars sind geöffnet, aus denen schon am frühen Abend die ersten Betrunkenen auf die Straße wanken – trotz der, in meinen Augen albernen, strengen Reglementierung des Alkoholkonsums. Die meisten Menschen die auf den Straßen unterwegs sind, scheinen von den Alltagsstrapazen gezeichnet. Sich sechs Jahre hocharbeiten zu müssen, um jetzt zwölf Dollar in der Stunde und zehn Urlaubstage im Jahr zu bekommen, kostet Kraft. Nicht wenige haben schlechte Zähne, einige sind von Fastfood und Co. so stark aus dem Leim gegangen, das die seltsamsten Körperformen zu Stande kommen. Ausgelaugt und fertig wirken die meisten, die uns am Abend begegnen.
Am besten funktioniert die Kontaktaufnahme mit den Einheimischen meist in den Bars. In einem Lokal namens Irv´s, mitten in Downtown, scheinen sich die schrägen Gestalten der Nacht zu treffen. Man ist hier rauer und verschwendet keine Zeit mit dem etwas nervigen, aber sonst üblichen amerikanischen Geplänkel „How are you?“ oder „How is it going?“. Wozu auch!? Dafür ist man offensichtlich deutlich toleranter. In Sioux Falls oder Rapid City würde eine solche Bar wahrscheinlich schon als Affront gegen konservative, christliche Werte gesehen werden. In Spokane scheint sich aber keiner an irgendetwas zu stören. Ältere, zahnlose Herren sitzen beim Bier an der Bar und schauen American Football. Eine Frauenrunde kreischt zur Karaoke im Nebenzimmer lauthals „Highway to Hell“ in die Mikrofone. Gegenüber vom Tresen spielt eine etwas ältere, leicht O-beinige Transe im weißen Poncho, vollkommen unbeachtet und alleine, Billard gegen sich selbst. Vor der Tür, beim Rauchen, bleiben auch einige schräge Gestalten hängen, die nicht in die Bar hinein können, dürfen oder wollen. Manche sind offensichtlich nicht nur vom Alkohol berauscht. Crystal-Meth, eine synthetische Droge, die innerhalb kurzer Zeit zerstörerisch wirkt, ist ein großes Problem in den USA.
Artikel 24
I-90, WA, 15.09.2012
Trotz des vergangenen Abends in Spokane, sitzen wir heute Morgen frisch und munter im Auto, auf dem letzten Wegstück an die Westküste. Die Tagesetappe von sechshundertfünfzig Kilometer bis zu unserem Ziel in Vancouver, wollen wir bis zum frühen Abend zurückgelegt haben. Zum Mittagessen pausieren wir auf halber Strecke in Leavenworth. Ein Dorf, ganz auf bayrisch getrimmt, kitschig, aber nicht kitschiger als Touristenorte in Bayern. Das Essen ist überraschend authentisch. Nach einer Woche auf Achse, werden wir die nächsten knapp zwei Wochen etwas sesshafter. So spannend und eindrucksvoll der Weg quer durch die USA von Ost nach West auch war, so sehr freuen wir uns jetzt auch auf die (fast) autofreien Tage. Erst eine Woche Vancouver, dann jeweils mehrere Tage in Seattle und Portland – für das amerikanische Verständnis von Entfernung also nur Kurzstrecken.
Artikel 25
Vancouver, BC, 17.09.2012
Vancouver zeigt sich bei herrlichem Spätsommerwetter von seiner Schokoladenseite. Dass die Metropole am Pazifik im jährlich stattfindenden Ranking der „World´s Most Livable Cities“ des Economist Magazins zu Recht regelmäßig unter den Top 5 landet, wird uns in diesen Tagen glaubhaft und eindrucksvoll bewiesen. Die teilweise schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains im Hinterland und der Pazifische Ozean vor der Haustür, bescheren der Stadt eine traumhafte Lage, mit der nur wenige Städte weltweit aufwarten können. Die Stadt ist wohlhabend und prosperiert. Den meisten Menschen geht es wirtschaftlich gut. Es gibt eine breite Mittelklasseschicht. Wer glaubt, die kanadische Gesellschaft sei nur eine Kopie des großen Nachbarn im Süden, der irrt. Außer der geografischen Nähe und der ähnlichen Siedlungsgeschichte, kann man nach den Eindrücken der ersten Tage nur wenig Gemeinsames ausmachen. Die Zeit in Vancouver verbringen wir mit unserer „Gastfamilie“. Während seines Englischkurses im letzten Jahr, war Alain bereits bei Brenda und Erich untergebracht. Beide sind unglaublich gastfreundlich, herzlich und unkompliziert. Selbst für mich, der die beiden zum ersten Mal persönlich traf, war der Empfang, als ob man sich schon ewig kennen würde. Man fühlt sich hier wirklich wie zu Hause – was gut tut und ein bisschen wie Urlaub von der Reise wirkt. Toll ist, dass die vielen Fragen, die sich immer wieder zu Land und Leuten ergeben, aus erster Hand beantwortet werden können.
Die Bindung zwischen Kanada und Europa, vor allem zu Großbritannien und Frankreich, ist nach wie vor sehr eng. Und dass drückt sich keinesfalls nur darin aus, dass die Königin von England das offizielle Staatsoberhaupt Kanadas ist. In den Ansichten zur sozialen Marktwirtschaft, zu den Aufgaben die ein Staat erfüllen sollte, der Kultur, der Lebensart oder der Interpretation von Freiheit, hat Kanada offensichtlich viel mehr gemein mit Europa, als mit den USA. Über zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben sich, laut Brenda und Erich, die Schnittpunkte zwischen den beiden Staaten sogar eher noch reduziert. Am augenscheinlichsten wird das bei der Überquerung der Grenze, die uns tatsächlich fast zwei Stunden gekostet hat – und das in Richtung Kanada. Für die Rückkehr in die USA in ein paar Tagen, stellen wir uns auf noch längere Wartezeiten, schärfere Kontrollen und unfreundlichere Zollbeamte ein. Vancouver wirkt weltoffen, liberal und multikulturell. Fast die Hälfte der Einwohner haben ihre Wurzeln in Asien.
Artikel 26
Vancouver, BC, 19.09.2012